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Johann Wolfgang Goethe

WINTER

Herausgegeben von Mathias Mayer

Insel Verlag

Inhalt

Die Macht des Winters

Harzreise im Winter

Der Winter in Italien

Die dunkle Jahreszeit

Da blüht der Winter schön

Auf dem Eis

Goethe als Naturbeobachter

In Erwartung des Frühjahrs

Nachwort

Siglenverzeichnis

Die Macht des Winters

 

Leipzig, 31. Dezember 1765/2. Januar 1766
An Cornelia Goethe

Liebe Schwester!

Das Jahr recht fleißig zu beschließen, schreibe ich an dich.

Wir haben hier schröckliche Kälte schönen Schnee und gute Schlitten Bahn. Sage Herrn Agenten ich sey auf seine Gesundheit gestern eins ums thor geraßelt. Ich habe auch Dythyramben gemacht, ihr kriegt sie aber noch nicht zu sehen.

 

<Do.> den 2 Jen 1766.

Es ist eine schröckliche Kälte hier, 13 Reaumürische Grade unter dem Eispunckte. also fast so tief als Ao. 40.

 

FA II.1, S. 34

Aus »Ephemerides«, Januar 1770

In der Hälfte des Januars erschien folgendes Phänomen. An der Gegend des Horizonts wo im Sommer die Sonne unterzugehen pflegt, war es ungewöhnlich helle, und zwar ein blaulig gelber Schein, wie in der reinsten Sommernacht von dem Ort wo die Sonne untergegangen ist heraufscheindt, dieses Licht nahm den vierten Theil des sichtbaaren Himmels hinaufzu ein, darüber erschienen Rubinrothe Streifen, die sich |:zwar etwas ungleich:| nach dem Lichten Gelb zuzogen. Diese Streifen waren sehr abwechselnd und kammen biss in den Zenith. Man sah die Sterne durchfunckeln. Auf beyden Seiten von Abend und Norden war es von dunckeln Wolcken eingefasst, davon auch einige in dem gelben Scheine schwebten. Überhaupt war der Himmel rings umzogen. Die Röthe war so starck dass sie die Häusser und den Schnee färbte und dauerte ohngefähr eine Stunde von sechs bis 7. Abends. Bald überzog sich der Himmel, und es fiel ein starcker Schnee.

 

FA II.1, S. 190f.

Rastlose Liebe

Dem Schnee, dem Regen,

Dem Wind entgegen,

Im Dampf der Klüfte,

Durch Nebeldüfte,

Immer zu! Immer zu!

Ohne Rast und Ruh!

 

Lieber durch Leiden

Möcht' ich mich schlagen,

Als so viel Freuden

Des Lebens ertragen.

Alle das Neigen

Von Herzen zu Herzen,

Ach wie so eigen

Schaffet das Schmerzen!

 

Wie soll ich fliehen?

Wälderwärts ziehen?

Alles vergebens!

Krone des Lebens,

Glück ohne Ruh,

Liebe, bist du!

 

FA I.1, S. 298f.

Vier Jahrszeiten

Winter

85

Wasser ist Körper und Boden der Fluß. Das neuste Theater

 Tut, in der Sonne Glanz, zwischen den Ufern sich auf.

 

86

Wahrlich, es scheint nur ein Traum! Bedeutende Bilder des Lebens

 Schweben, lieblich und ernst, über die Fläche dahin.

 

87

Eingefroren sahen wir so Jahrhunderte starren,

 Menschengefühl und Vernunft schlich nur verborgen am Grund.

 

88

Nur die Fläche bestimmt die kreisenden Bahnen des Lebens;

 Ist sie glatt, so vergißt Jeder die nahe Gefahr.

 

89

Alle streben und eilen und suchen und fliehen einander;

 Aber Alle beschränkt freundlich die glättere Bahn.

 

90

Durch einander gleiten sie her, die Schüler und Meister,

 Und das gewöhnliche Volk, das in der Mitte sich hält.

 

91

Jeder zeigt hier, was er vermag; nicht Lob und nicht Tadel

 Hielte Diesen zurück, förderte Jenen zum Ziel.

 

92

Euch, Präconen des Pfuschers, des Meisters Verkleinerer, wünscht' ich,

 Mit ohnmächtiger Wut, stumm hier am Ufer zu sehn.

 

93

Lehrling, du schwankest und zauderst, und scheuest die glättere Fläche.

 Nur gelassen! du wirst einst noch die Freude der Bahn.

 

94

Willst du schon zierlich erscheinen? und bist nicht sicher. Vergebens!

 Nur aus vollendeter Kraft blicket die Anmut hervor.

 

95

Fallen ist der Sterblichen Los. So fällt hier der Schüler,

 Wie der Meister; doch stürzt dieser gefährlicher hin.

 

96

Stürzt der rüstigste Läufer der Bahn, so lacht man am Ufer;

 Wie man bei Bier und Tabak über Besiegte sich hebt.

 

97

Gleite fröhlich dahin, gib Rat dem werdenden Schüler,

 Freue des Meisters dich, und so genieße des Tags.

 

98

Siehe, schon nahet der Frühling; das strömende Wasser verzehret

 Unten, der sanftere Blick oben der Sonne, das Eis.

 

99

Dieses Geschlecht ist hinweg, zerstreut die bunte Gesellschaft;

 Schiffern und Fischern gehört wieder die wallende Flut.

 

100

Schwimme, du mächtige Scholle, nur hin! und kommst du als Scholle

 Nicht hinunter, du kommst doch wohl als Tropfen ins Meer.

 

FA I.2, S. 247-249

Zigeunerlied

Im Nebelgeriesel, im tiefen Schnee,

Im wilden Wald, in der Winternacht,

Ich hörte der Wölfe Hungergeheul,

Ich hörte der Eulen Geschrei:

     Wille wau wau wau!

      Wille wo wo wo!

       Wito hu!

 

Ich schoß einmal eine Katz' am Zaun,

Der Anne, der Hex', ihre schwarze liebe Katz';

Da kamen des Nachts sieben Wehrwölf zu mir,

Waren sieben sieben Weiber vom Dorf.

     Wille wau wau wau!

      Wille wo wo wo!

       Wito hu!

 

Ich kannte sie all', ich kannte sie wohl

Die Anne, die Ursel, die Käth',

Die Liese, die Barbe, die Ev', die Beth;

Sie heulten im Kreise mich an.

     Wille wau wau wau!

      Wille wo wo wo!

       Wito hu!

 

Da nannt' ich sie alle bei Namen laut:

Was willst Du, Anne? was willst Du, Beth?

Da rüttelten sie sich, da schüttelten sie sich

Und liefen und heulten davon.

     Wille wau wau wau

      Wille wo wo wo!

       Wito hu!

 

FA I.2, S. 102

Jena, 19. Dezember 1803
An Charlotte von Schiller

Am liebsten wäre mirs wir hielten uns in so kleiner Gesellschaft; haben Sie aber sonst noch irgend einen Gedanken, wen ich einladen könnte, so teilen Sie mir ihn inzwischen mit. Wir können uns Glück wünschen, daß diese winternächtliche Kranken- und Totenbilder durch eine so geistreiche Natur einigermaßen verscheucht und der Glaube ans Leben wieder gestärkt wird.

 

FA II.5, S. 426

Weimar, 31. März 1809
An August Goethe

Hab' ich dir schon geschrieben, daß der große Sturm am 30. Januar den großen Wachholderbaum im untern Garten umgeworfen hat? Ich habe ihn zeichnen und messen lassen. Er war 43 Fuß hoch. Der Hauptstamm, 12 Fuß von der Erde, war innwendig vertrocknet und morsch ja wurmstichig, die Äste aber gesund. Diese letztern habe ich aufheben lassen. Daraus kannst du dir einmal einige Tischerarbeit bestellen. Blumenbachen will ich eine Dose aus dem Gipfel drehen lassen. Lebe nun wohl und grüße deine Gönner und Freunde zum schönsten.

 

WA IV.20, S. 309f.

Aus »Tag- und Jahres-Hefte« 1809

Von Naturereignissen erwähne ich des gewaltsamen Sturms in der Nacht vom 29n auf den 30. Januar, welcher weit und breit wüthete und auch mir einen empfindlichen Schaden brachte, indem er einen alten ehrwürdigen Wachholderbaum in meinem Garten am Sterne niederwarf und so einen treuen Zeugen glücklicher Tage von meiner Seite riß. Dieser Baum, der einzige in der ganzen Gegend, wo der Wachholder fast nur als Gestrüppe vorkommt, hatte sich wahrscheinlich aus jenen Zeiten erhalten wo hier noch keine Gartenkultur gewesen. Es hatten sich allerley Fabeln von ihm verbreitet: ein ehemaliger Besitzer, ein Schulmann, sollte darunter begraben seyn, zwischen ihm und dem alten Hause in dessen Nähe er stand, wollte man gespensterhafte Mädchen, die den Platz reine kehrten gesehen haben; genug er gehörte zu dem abenteuerlichen Complex jenes Aufenthalts, in welchem so manche Jahre meines Lebens hingefloßen und der mir und andern durch Neigung und Gewohnheit, durch Dichtung und Wahn so herzlich lieb geworden.

 

FA I.17, S. 232f.

Johanna Sebus

Zum Andenken

der Siebzehnjährigen Schönen Guten

aus dem Dorfe Brienen

die am 13. Januar 1809

bei dem Eisgange des Rheins und dem großen Bruche

des Dammes von Cleverham

Hülfe reichend unterging.

 

Der Damm zerreißt, das Feld erbraust,

Die Fluten spülen, die Fläche saust.

»Ich trage dich, Mutter, durch die Flut,

Noch reicht sie nicht hoch, ich wate gut.« –

»Auch uns bedenke, bedrängt wie wir sind,

Die Hausgenossin, drei arme Kind!

Die schwache Frau! … Du gehst davon!« –

Sie trägt die Mutter durch's Wasser schon.

»Zum Bühle da rettet Euch! harret derweil;

Gleich kehr' ich zurück, uns allen ist Heil.

Zum Bühl ist's noch trocken und wenige Schritt;

Doch nehmt auch mir meine Ziege mit!«

 

Der Damm zerschmilzt, das Feld erbraust,

Die Fluten wühlen, die Fläche saust.

Sie setzt die Mutter auf sichres Land

Schön Suschen, gleich wieder zur Flut gewandt.

»Wohin? Wohin? Die Breite schwoll;

Des Wassers ist hüben und drüben voll.

Verwegen in's Tiefe willst du hinein!« –

»Sie sollen und müssen gerettet sein!«

 

Der Damm verschwindet, die Welle braust,

Eine Meereswoge, sie schwankt und saust.

Schön Suschen schreitet gewohnten Steg,

Umströmt auch gleitet sie nicht vom Weg,

Erreicht den Bühl und die Nachbarin;

Doch der und den Kindern kein Gewinn!

 

Der Damm verschwand, ein Meer erbraust's,

Den kleinen Hügel im Kreis umsaust's.

Da gähnet und wirbelt der schäumende Schlund

Und ziehet die Frau mit den Kindern zu Grund;

Das Horn der Ziege faßt das Ein',

So sollten sie alle verloren sein!

Schön Suschen steht noch strack und gut:

Wer rettet das junge, das edelste Blut!

Schön Suschen steht noch wie ein Stern;

Doch alle Werber sind alle fern.

Rings um sie her ist Wasserbahn,

Kein Schifflein schwimmet zu ihr heran.

Noch einmal blickt sie zum Himmel hinauf,

Da nehmen die schmeichelnden Fluten sie auf.

 

Kein Damm, kein Feld! Nur hier und dort

Bezeichnet ein Baum, ein Turn den Ort.

Bedeckt ist Alles mit Wasserschwall;

Doch Suschens Bild schwebt überall. –

Das Wasser sinkt, das Land erscheint

Und überall wird schön Suschen beweint. –

Und dem sei, wer's nicht singt und sagt,

Im Leben und Tod nicht nachgefragt!

 

FA I.2, S. 271f.

Bauernregeln aus »Sanct Rochus-Fest«

– Je näher das Christfest dem neuen Monde zufällt, ein desto härteres Jahr soll hernach folgen, so es aber gegen den vollen und abnehmenden Mond kommt, je gelinder es sein soll. – Die Fischer haben von der Hechtsleber dieses Merkmal, welches genau eintreffen soll: wenn dieselbe gegen dem Gallenbläschen zu breit, der vordere Teil aber spitzig und schmal ist, so bedeutet es einen langen und harten Winter. – Wenn die Milchstraße im Dezember schön weiß und hell scheint; so bedeutet es ein gutes Jahr. – Wenn die Zeit von Weihnachten bis drei König neblicht und dunkel ist; sollen das Jahr darauf Krankheiten folgen. – Wenn in der Christnacht die Weine in den Fässern sich bewegen, daß sie übergehen; so hofft man auf ein gutes Weinjahr. –

 

FA I.16, S. 364f.

Weimar, 12. Januar 1830
An Carl Friedrich Zelter

Die allgemeine Schneelast ruht auch auf uns. Ich komme kaum aus meiner Stube und sehe den Garten wie mit einem großen Teppich überdeckt, weder Beete noch Rabatten sichtbar, kaum die Wege zu unterscheiden. Die Streifen Buchsbaum erscheinen kaum als geringe Wülstchen und zu allem diesem sind die atmosphärischen Erscheinungen aus aller Regel getreten. Barometer- und Thermometerstand, Windfahne und Wolkenzüge, nichts trifft mehr zusammen. Die Fuhrleute bleiben unterwegs liegen, die Eilposten werden ausgeschaufelt, und so wird es denn vollkommen bey Euch dasselbe seyn. Glücklicherweise stört es mich nicht in meinem Thun und Betreiben, wovon dir denn doch zuletzt wohl einiges Vergnügliche zugehen wird.

 

WA IV.46, S. 209f.