Stefan Zweig

Castellio gegen Calvin

Ein Gewissen gegen die Gewalt

Books

- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
musaicumbooks@okpublishing.info
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-1713-7
»Die Nachwelt wird es nicht fassen können, daß wir abermals in solchen dichten Finsternissen leben mußten, nachdem es schon einmal Licht geworden war.«
Castellio in ›De arte dubitandi‹ 1562


Einleitung

Inhaltsverzeichnis


»Celui qui tombe obstiné en son courage, qui, pour quelque danger de la mort voisine, ne relâche aucun point de son assurance, qui regarde encore, en rendant l’âme, son ennemi d’une vue ferme et dédaigneuse, il est battu, non pas de nous, mais de la fortune; il est tué, non pas vaincu: les plus vaillants sont parfois les plus infortunés. Aussi y a-t-il des pertes triomphantes à l’envi des victoires …«

Montaigne




»Die Mücke gegen den Elefanten«, zunächst wirkt sie befremdlich, diese eigenhändige Inschrift Sebastian Castellios in dem Basler Exemplar seiner Kampfschrift gegen Calvin, und es läge nahe, bloß eine der üblichen Humanistenübertreiblichkeiten darin zu vermuten. Aber Castellios Worte waren weder hyperbolisch noch ironisch gemeint. Mit einem so schroffen Vergleich wollte dieser Tapfere seinem Freunde Amerbach nur deutlich dartun, wie sehr und wie tragisch er selber im klaren war, welchen riesigen Gegner er herausforderte, wenn er Calvin öffentlich anklagte, aus fanatischer Rechthaberei einen Menschen und damit die Gewissensfreiheit innerhalb der Reformation ermordet zu haben. Von der ersten Stunde an, da Castellio die Feder wie eine Lanze hebt zu diesem gefährlichen Streit, weiß er genau um die Ohnmacht jedes rein geistigen Krieges gegen die Übermacht einer geharnischten und gepanzerten Diktatur und damit um die Aussichtslosigkeit seines Unterfangens. Denn wie könnte ein einzelner, ein Unbewehrter Calvin noch bekriegen und besiegen, hinter dem Tausende und Zehntausende stehen und dazu noch der militante Apparat der Staatsgewalt! Dank einer großartigen organisatorischen Technik ist es Calvin gelungen, eine ganze Stadt, einen ganzen Staat mit tausenden bisher freien Bürgern in eine starre Gehorsamsmaschinerie zu verwandeln, jede Selbständigkeit auszurotten, jede Denkfreiheit zugunsten seiner alleinigen Lehre zu beschlagnahmen. Alles, was Macht hat in Stadt und Staat, untersteht seiner Allmacht, sämtliche Behörden und Befugnisse, Magistrat und Konsistorium, Universität und Gericht, die Finanzen und die Moral, die Priester, die Schulen, die Büttel, die Gefängnisse, das geschriebene, das gesprochene und sogar das heimlich geflüsterte Wort. Seine Lehre ist Gesetz geworden, und wer wider sie gelindesten Einspruch wagt, den belehren baldigst Kerker, Verbannung oder Scheiterhaufen, diese blank alle Diskussion erledigenden Argumente jeder geistigen Tyrannei, daß in Genf nur eine Wahrheit geduldet ist und Calvin ihr Prophet. Aber noch weit über die Stadtmauern hinaus reicht die unheimliche Macht dieses unheimlichen Mannes; die Schweizer Bundesstädte erblicken in ihm den wichtigsten politischen Verbündeten, der Weltprotestantismus wählt sich den violentissimus Christianus zum geistigen Feldherrn, Fürsten und Könige bemühen sich um die Gunst des Kirchenführers, der neben der römischen die mächtigste Organisation des Christentums in Europa aufgebaut hat. Kein zeitpolitisches Geschehnis vollzieht sich mehr ohne sein Wissen, kaum eines gegen seinen Willen: schon ist es ebenso gefährlich geworden, den Prediger von St. Pierre zu befeinden wie Kaiser oder Papst.

Und sein Gegenredner Sebastian Castellio, der als einsamer Idealist im Namen der menschlichen Denkfreiheit dieser und jedweder geistigen Tyrannis Fehde ansagt, wer ist er? Wahrhaftig – verglichen mit der phantastischen Machtfülle Calvins – die Mücke gegen den Elefanten! Ein nemo, ein Niemand, ein Nichts im Sinne öffentlichen Einflusses und obendrein noch ein Habenichts, ein bettelarmer Gelehrter, der mit Übersetzungen und Hauslehrerstunden Weib und Kinder mühsam ernährt, ein Flüchtling im Fremdland ohne Bleibe-und Bürgerrecht, ein zwiefacher Emigrant: wie immer in den Zeiten des Weltfanatismus steht der Humane machtlos und völlig allein zwischen den streitenden Zeloten. Jahrelang lebt im Schatten der Verfolgung, im Schatten der Armut dieser große und bescheidene Humanist ein kärglichstes Dasein dahin, ewig beengt, aber ewig auch frei, weil keiner Partei verbunden und keinem Fanatismus verschworen. Erst als er durch den Mord an Servet sein Gewissen mächtig angerufen fühlt und er aufsteht von seinem friedlichen Werke, um Calvin im Namen der geschändeten Menschenrechte anzuklagen, erst dann wächst diese Einsamkeit ins Heldische. Denn nicht wie seinen kriegsgewohnteren Gegner Calvin deckt und umschart Castellio eine brutal geschlossene und planhaft organisierte Gefolgschaft, keine Partei, weder die katholische noch die protestantische, bietet ihm Beistand, keine hohen Herren, keine Kaiser und Könige halten über ihn wie einst über Luther und Erasmus die schirmende Hand, und selbst die wenigen Freunde, die ihn bewundern, selbst sie wagen nur heimlich, ihm Mut zuzuflüstern. Denn wie gefährlich, wie lebensgefährlich, sich öffentlich an die Seite eines Mannes zu stellen, der unerschrocken, während in allen Ländern die Ketzer vom Wahne der Zeit gleich Treibvieh gejagt und gefoltert werden, für diese Entrechteten und Geknechteten das Wort erhebt und über den Einzelfall hinaus allen Machthabern der Erde ein für allemal das Recht bestreitet, irgendeinen Menschen ebendieser Erde um seiner Weltanschauung willen zu verfolgen! Der es wagt, in einem jener furchtbaren Augenblicke der Seelenverfinsterung, wie sie von Zeit zu Zeit über die Völker fallen, sich den Blick klar und menschlich zu bewahren und alle diese frommen Schlächtereien, obwohl angeblich zu Gottes Ehre vollzogen, mit ihrem wahren Namen: Mord, Mord und abermals Mord zu nennen! Der, im tiefsten Gefühl seiner Menschlichkeit herausgefordert, als einziger das Schweigen nicht mehr erträgt und bis in die Himmel seine Verzweiflung über die Unmenschlichkeiten schreit, allein für alle kämpfend und gegen alle allein! Denn immer wird, wer gegen die Machthaber und Machtausteiler der Stunde das Wort erhebt, wenig Gefolgschaft erwarten dürfen bei der unsterblichen Feigheit unseres irdischen Geschlechts; so hat auch Sebastian Castellio in entscheidender Stunde niemanden hinter sich als seinen Schatten und mit sich keine Habe als das einzige unveräußerliche Eigentum des kämpfenden Künstlers: ein unbeugsames Gewissen in einer unerschrockenen Seele.

Gerade dies aber, daß Sebastian Castellio von Anfang an die Aussichtslosigkeit seines Kampfes vorauswußte und ihn, gehorsam gegen sein Gewissen, dennoch unternahm, dies heilige Dennoch und Trotzalledem rühmt für alle Zeiten diesen »unbekannten Soldaten« im großen Befreiungskriege der Menschheit als Helden; schon um solchen Mutes willen, als einzelner und einziger leidenschaftlichen Protest gegen einen Weltterror erhoben zu haben, sollte die Fehde Castellios gegen Calvin für jeden geistigen Menschen denkwürdig bleiben. Aber auch in ihrer innern Problemstellung überschwingt diese historische Diskussion weithin ihren zeitlichen Anlaß. Denn hier geht es nicht um ein enges Theologicum, nicht um den einen Menschen Servet und nicht einmal um die entscheidende Krise zwischen dem liberalen und orthodoxen Protestantismus: in dieser entschlossenen Auseinandersetzung ist eine viel weitläufigere, eine überzeitliche Frage aufgeworfen, nostra res agitur, ein Kampf ist eröffnet, der unter anderen Namen und unter anderen Formen immer neu wird ausgekämpft werden müssen. Theologie bedeutet hier nichts als eine zufällige Zeitmaske, und selbst Castellio und Calvin erscheinen nur als sinnlichste Exponenten eines unsichtbaren, aber unüberwindbaren Gegensatzes. Gleichgültig, wie man die Pole dieser ständigen Spannung benennen will – ob Toleranz gegen Intoleranz, Freiheit gegen Bevormundung, Humanität gegen Fanatismus, Individualität gegen Mechanisierung, das Gewissen gegen die Gewalt –, alle diese Namen drücken im Grunde eine letzte allerinnerlichste und persönlichste Entscheidung aus, was wichtiger sei für jeden einzelnen – das Humane oder das Politische, das Ethos oder der Logos, die Persönlichkeit oder die Gemeinsamkeit.

Diese immer wieder notwendige Abgrenzung zwischen Freiheit und Autorität bleibt keinem Volke, keiner Zeit und keinem denkenden Menschen erspart: denn Freiheit ist nicht möglich ohne Autorität (sonst wird sie zum Chaos) und Autorität nicht ohne Freiheit (sonst wird sie zur Tyrannei). Zweifellos lebt im Grunde der menschlichen Natur ein geheimnisvolles Verlangen nach Selbstauflösung in der Gemeinschaft, unaustilgbar bleibt unser Urwahn, es könne ein bestimmtes religiöses, nationales oder soziales System gefunden werden, das allgerecht für alle der Menschheit endgültig Friede und Ordnung schenke. Dostojewskis Großinquisitor hat es mit grausamer Dialektik bewiesen, daß die Mehrzahl der Menschen die eigene Freiheit eigentlich fürchtet, und tatsächlich sehnt sich aus Müdigkeit angesichts der erschöpfenden Vielfalt der Probleme, angesichts der Kompliziertheit und Verantwortlichkeit des Lebens die große Masse nach einer Mechanisierung der Welt durch eine endgültige, eine allgültige, eine definitive Ordnung, die ihr jedwede Denkarbeit abnimmt. Diese messianische Sehnsucht nach einer Entproblematisierung des Daseins bildet das eigentliche Ferment, das allen sozialen und religiösen Propheten die Wege ebnet: immer braucht nur, wenn die Ideale einer Generation ihr Feuer, ihre Farben verloren haben, ein suggestiver Mann aufzustehen und peremptorisch zu erklären, er und nur er habe die neue Formel gefunden oder erfunden, und schon strömt das Vertrauen von Tausenden dem angeblichen Volkserlöser oder Welterlöser entgegen – immer erschafft eine neue Ideologie (und dies ist wohl ihr metaphysischer Sinn) zunächst einen neuen Idealismus auf Erden. Denn jeder, der Menschen einen neuen Wahn der Einheit und Reinheit schenkt, holt zunächst aus ihnen die heiligsten Kräfte heraus: ihren Opferwillen, ihre Begeisterung. Millionen sind wie in einer Bezauberung bereit, sich nehmen, befruchten, ja vergewaltigen zu lassen, und je mehr ein solcher Verkünder und Versprecher von ihnen fordert, desto mehr sind sie ihm verfallen. Was gestern noch ihre höchste Lust, ihre Freiheit gewesen, das werfen sie ihm zuliebe willig weg, um sich nur noch widerstandsloser führen zu lassen, und das alte taciteische »ruere in servitium« erfüllt sich aber und abermals, daß in einem feurigen Rausch der Solidarität die Völker sich freiwillig in Knechtschaft stürzen und die Geißel noch rühmen, mit der man sie schlägt.

Nun läge an sich für jeden geistigen Menschen ein Erhebendes in dem Gedanken, daß es immer wieder eine Idee ist, diese immateriellste Kraft auf Erden, welche solche unwahrscheinliche Suggestionswunder in unserer alten, nüchternen und technisierten Welt vollbringt, und man geriete leicht in Versuchung, diese Weltbetörer zu bewundern und zu rühmen, weil es ihnen gelingt, vom Geiste her die stumpfe Materie zu verwandeln. Aber verhängnisvollerweise entlarven sich gerade diese Idealisten und Utopisten sofort nach ihrem Sieg fast immer als die schlimmsten Verräter am Geist. Denn Macht treibt zur Allmacht, Sieg zum Mißbrauch des Siegs, und statt sich zu begnügen, viele Menschen so sehr für ihren persönlichen Wahn begeistert zu haben, daß sie freudig bereit sind, für ihn zu leben und sogar zu sterben, fallen diese Konquistadoren alle der Versuchung anheim, Majorität in Totalität zu verwandeln und auch den Parteilosen ihr Dogma aufzwingen zu wollen; nicht genug haben sie an ihren Gefügigen, ihren Trabanten, ihren Seelensklaven, an den ewigen Zuläufern jeder Bewegung – nein, auch die Freien, die wenigen Unabhängigen wollen sie als ihre Lobpreiser und Knechte, und um ihr Dogma als alleiniges durchzusetzen, brandmarken sie von Staats wegen jede Andersmeinung als Verbrechen. Ewig erneut sich dieser Fluch aller religiösen und politischen Ideologien, daß sie in Tyranneien ausarten, sobald sie sich in Diktaturen verwandeln. Im Augenblick aber, da ein Geistiger nicht mehr der immanenten Gewalt seiner Wahrheit vertraut, sondern zur Brachialgewalt greift, erklärt er der menschlichen Freiheit den Krieg. Gleichgültig, welche Idee immer – jede und jedwede ist von der Stunde an, da sie zum Terror greift, um fremde Überzeugungen zu uniformieren und zu reglementieren, nicht mehr Idealität, sondern Brutalität. Selbst die reinste Wahrheit, wenn andern mit Gewalt aufgezwungen, wird zur Sünde wider den Geist.

Doch der Geist ist ein geheimnisvolles Element. Ungreifbar und unsichtbar wie die Luft, scheint er nachgiebig in alle Formen und Formeln zu passen. Und dies verlockt immer wieder die despotischen Naturen zu dem Wahn, man könne ihn gänzlich niederpressen, verschließen, verstöpseln und gehorsam auf Flaschen ziehen. Aber mit jeder Unterdrückung wächst sein dynamischer Gegendruck, und gerade, wenn zusammengepreßt und komprimiert, wird er zum Sprengstoff, zum Explosiv; jede Unterdrückung führt früher oder später zur Revolte. Denn die moralische Selbständigkeit der Menschheit bleibt auf die Dauer – ewiger Trost dies! – unzerstörbar. Nie ist es bisher gelungen, der ganzen Erde eine einzige Religion, eine einzige Philosophie, eine einzige Form der Weltanschauung diktatorisch aufzuzwingen, und nie wird es gelingen, denn immer wird der Geist sich jeder Knechtschaft zu erwehren wissen, immer sich weigern, in vorgeschriebenen Formen zu denken, sich verflachen und flau machen, sich kleinschalten und gleichschalten zu lassen. Wie banal und wie vergeblich darum jedes Bemühen, die göttliche Vielfalt des Daseins auf einen einzigen Nenner bringen zu wollen, die Menschheit schwarz oder weiß aufzuteilen in Gute und Böse, in Gottesfürchtige und Ketzer, in Staatsgehorsame und Staatsfeinde auf Grund eines bloß mit dem Faustrecht durchgesetzten Prinzips! Allezeit werden sich unabhängige Geister finden zur Auflehnung gegen eine solche Vergewaltigung der menschlichen Freiheit, die »conscientious objectors«, die entschlossenen Dienstverweigerer jedes Gewissenszwanges, und nie konnte eine Zeit so barbarisch sein, nie eine Tyrannei so systematisch, daß nicht immer einzelne es verstanden hätten, der Massenvergewaltigung zu entweichen und das Recht auf eine persönliche Überzeugung gegen die gewalttätigen Monomanen ihrer einen und einzigen Wahrheit zu verteidigen.

Auch das sechzehnte Jahrhundert, obzwar ähnlich überreizt in seinen gewalttätigen Ideologien wie das unsere, hat solche freie und unbestechliche Seelen gekannt. Liest man die Briefe der Humanisten aus jenen Tagen, so fühlt man brüderlich ihre tiefe Trauer über die Verstörung der Welt durch die Gewalt, ergriffen leidet man ihren Seelenabscheu vor den stupiden marktschreierischen Ankündigungen der Dogmatiker mit, deren jeder verkündet: »Was wir lehren, ist wahr, und was wir nicht lehren, ist falsch.« Ach, welches Grauen schüttelt diese abgeklärten Weltbürger vor diesen unmenschlichen Menschheitsverbesserern, die in ihre schönheitsgläubige Welt eingebrochen sind und mit Schaum vor dem Munde ihre gewalttätigen Orthodoxien proklamieren, oh, wie ekelt es sie zutiefst vor diesen Savonarolas und Calvins und John Knox’, welche die Schönheit auf Erden abtöten wollen und die Erde in ein Moralseminar verwandeln! Mit tragischer Hellsichtigkeit erkennen alle jene weisen und humanen Menschen das Unheil, das diese rasenden Rechthaber über Europa bringen müssen, schon hören sie hinter diesen eifernden Worten die Waffen klirren und erahnen in diesem Haß den kommenden, den fürchterlichen Krieg. Aber wenn auch um die Wahrheit wissend, wagen diese Humanisten doch nicht, für sie zu kämpfen. Fast immer sind im Leben die Lose geschieden, die Erkennenden nicht die Täter, und die Täter nicht die Erkennenden. Alle diese tragischen und trauernden Humanisten schreiben einander rührende und kunstvolle Briefe, sie klagen hinter verschlossenen Türen in ihren Studierstuben, aber keiner tritt vor und dem Antichrist entgegen. Ab und zu wagt Erasmus, ein paar Pfeile aus dem Schatten zu entsenden, Rabelais schlägt grimmigen Lachens mit der Peitsche zu, vom Narrenkleid gedeckt; Montaigne, dieser noble und weise Philosoph, findet in seinen Essais beredteste Worte, aber keiner versucht, ernstlich einzugreifen und auch nur eine einzige dieser infamen Verfolgungen und Hinrichtungen zu verhindern. Mit Rasenden, so erkennen diese Welterfahrenen und darum vorsichtig Gewordenen, soll der Weise nicht streiten; besser, man flüchtet in solchen Zeiten in den Schatten zurück, um nicht selber gefaßt und geopfert zu werden.

Castellio aber – dies sein unvergänglicher Ruhm – tritt als einziger von all diesen Humanisten entschlossen vor und seinem Schicksal entgegen. Heldisch wagt er das Wort für die verfolgten Gefährten und damit sein eigenes Leben. Völlig unfanatisch, obwohl von den Fanatikern stündlich bedroht, durchaus leidenschaftslos, aber mit einer tolstoianischen Unerschütterlichkeit, hebt er wie ein Panier sein Bekenntnis über die grimmige Zeit, daß keinem Menschen eine Weltanschauung aufgezwungen werden und über das Gewissen eines Menschen keine irdische Macht auf Erden jemals Gewalt haben dürfe; und weil er dieses Bekenntnis nicht im Namen einer Partei, sondern aus dem unvergänglichen Geiste der Humanität gestaltet, sind seine Gedanken wie manche seiner Worte zeitlos geblieben. Immer bewahren, wenn von einem Künstler geformt, die allhumanen, die überzeitlichen Gedanken ihre Prägung, immer überdauert das weltverbindende Bekenntnis das einzelne doktrinäre und aggressive. Vorbildlich aber sollte vor allem im sittlichen Sinne für spätere Geschlechter der beispiellose und beispielgebende Mut dieses vergessenen Mannes bleiben. Denn wenn Castellio den von Calvin hingeopferten Servet allen Theologen der Welt zum Trotz einen unschuldig Gemordeten nennt, wenn er allen Sophismen Calvins das unsterbliche Wort entgegenschleudert: »Einen Menschen verbrennen heißt nicht, eine Lehre verteidigen, sondern: einen Menschen töten«, wenn er in seinem Manifest der Toleranz (lange vor Locke, Hume, Voltaire und viel großartiger als sie) ein für allemal das Recht auf Gedankenfreiheit proklamiert, dann setzt dieser Mann für seine Überzeugung sein Leben als Pfand. Nein, man versuche nicht, Castellios Protest gegen den Justizmord an Miguel Servet mit den tausendmal berühmteren Protesten Voltaires im Fall Calas’ und Zolas in der Affäre Dreyfus zu vergleichen – diese Vergleiche erreichen nicht entfernt die moralische Höhe seiner Tat. Denn Voltaire, als er den Kampf für Calas unternimmt, lebt schon in einem humaneren Jahrhundert; überdies steht hinter dem weltberühmten Dichter die Protektion von Königen, von Fürsten, und ebenso schart sich wie eine unsichtbare Armee hinter Emile Zola die Bewunderung ganz Europas, einer ganzen Welt. Beide wagen sie mit ihrer Hilfstat viel ihrer Reputation und ihrer Bequemlichkeit um eines fremden Schicksals willen, nicht aber – und dieser Unterschied bleibt der entscheidende – ihr eigenes Leben wie Sebastian Castellio, der in seinem Kampfe um die Humanität mit ihrer ganzen mörderischen Wucht die Unhumanität seines Jahrhunderts erlitten.

Voll und bis zur letzten Neige seiner Kraft hat Sebastian Castellio den Preis seines moralischen Heldentums gezahlt. Erschütternd, wie dieser Verkünder der Gewaltlosigkeit, der sich keiner als der bloß geistigen Waffe bedienen wollte, abgewürgt wurde von der brutalen Gewalt – ach, immer wieder wird man gewahr, wie aussichtslos jedesmal der Kampf bleibt, wenn ein einzelner, ohne andere Macht hinter sich als das moralische Recht, gegen eine geschlossene Organisation sich zur Wehr setzt. Ist es einer Doktrin einmal gelungen, sich des Staatsapparats und all seiner Pressionsmittel zu bemächtigen, dann schaltet sie unbedenklich den Terror ein; wer ihre Allmacht in Frage stellt, dem würgt sie das Wort in der Kehle und meist noch die Kehle dazu. Calvin hat Castellio nie ernstlich geantwortet; er hat vorgezogen, ihn stumm zu machen. Man zerreißt, man verbietet, man verbrennt, man beschlagnahmt seine Bücher, man erzwingt mit politischer Erpressung im Nachbarkanton ein Schreibeverbot, und kaum kann er nicht mehr antworten, nicht mehr berichtigen, so fallen die Trabanten Calvins verleumderisch über ihn her: bald ist es kein Kampf mehr, sondern nur die erbärmliche Vergewaltigung eines Wehrlosen. Denn Castellio kann nicht sprechen, nicht schreiben, stumm liegen seine Schriften in der Lade, Calvin aber hat die Druckerpressen und die Kanzel, die Katheder und die Synoden, den ganzen Apparat der Staatsgewalt, und mitleidslos läßt er ihn spielen; jeder Schritt Castellios ist überwacht, jedes Wort belauscht, jeder Brief abgefangen – was Wunder, daß eine solche hundertköpfige Organisation gegen den einzelnen die Oberhand behält; nur der vorzeitige Tod hat Castellio gerade noch vor dem Exil oder dem Brandstoß gerettet. Aber auch vor seiner Leiche macht der frenetische Haß der triumphierenden Dogmatiker nicht halt. Noch in die Grube werfen sie ihm wie fressenden Kalk Verdächtigungen und Verleumdungen nach und streuen Asche auf seinen Namen; das Angedenken an diesen einen, der nicht nur Calvins Diktatur, sondern überhaupt das Prinzip jeder geistigen Diktatur bekämpft, soll für alle Zeiten vergessen und verloren sein.

Beinahe ist auch dies Äußerste der Gewalt wider den Gewaltlosen gelungen: nicht nur die zeitliche Wirkung dieses großen Humanisten hat jene methodische Unterdrückung erdrosselt, sondern für viele Jahre auch seinen Nachruhm; noch heute muß ein Gebildeter sich keineswegs schämen, den Namen Sebastian Castellios nie gelesen, nie vernommen zu haben. Denn wie ihn auch kennen, da die wesentlichsten seiner Werke von der Zensur für Jahrzehnte und Jahrhunderte dem Druck vorenthalten wurden! Kein Drucker in Calvins Nähe wagt sie zu veröffentlichen, und als sie dann lang nach seinem Tode erscheinen, da ist es schon zu spät für den gerechten Ruhm. Andere haben inzwischen Castellios Ideen übernommen, unter fremden Namen wird der Kampf weitergeführt, in dem er, der erste Führer, zu früh und fast unbemerkt gefallen. Manchen ist es verhängt, im Schatten zu leben, im Dunkel zu sterben – Nachfahren haben Sebastian Castellios Ruhm geerntet, und noch heute ist in jedem Schulbuch der Irrtum zu lesen, Hume und Locke seien die ersten gewesen, welche die Idee der Toleranz in Europa verkündet, als wäre Castellios Ketzerschrift nie geschrieben und nie gedruckt worden. Vergessen ist seine moralische Großtat, der Kampf um Servet, vergessen der Krieg gegen Calvin, »der Mücke gegen den Elefanten«, vergessen seine Werke – ein unzulängliches Bild in der holländischen Gesamtausgabe, ein paar Manuskripte in Schweizer und holländischen Bibliotheken, ein paar dankbare Worte seiner Schüler, das ist alles, was von einem Manne geblieben ist, den seine Zeitgenossen einhellig nicht nur als einen der gelehrtesten, sondern auch der edelsten Männer seines Jahrhunderts gerühmt. – Welch eine Dankesschuld ist an diesem Vergessenen noch zu begleichen! Welch ein ungeheures Unrecht hier noch zu sühnen!

Denn die Geschichte, sie hat keine Zeit, um gerecht zu sein. Sie zählt als kalte Chronistin nur die Erfolge, selten aber mißt sie mit moralischem Maß. Nur auf die Sieger blickt sie und läßt die Besiegten im Schatten; unbedenklich werden diese »unbekannten Soldaten« eingescharrt in die Grube des großen Vergessens, nulla crux, nulla corona, kein Kreuz und kein Kranz rühmt ihre verschollene, weil vergebliche Opfertat. In Wahrheit aber ist keine Anstrengung, die aus reiner Gesinnung unternommen war, vergeblich zu nennen, kein moralischer Einsatz von Kraft geht jemals völlig im Weltall verloren. Auch als Besiegte haben die Unterlegenen, die zu früh Gekommenen eines überzeitlichen Ideals ihren Sinn erfüllt; denn nur, indem sie sich Zeugen und Überzeugte schafft, die für sie leben und sterben, wird eine Idee auf Erden lebendig. Vom Geiste aus gewinnen die Worte »Sieg« und »Niederlage« einen andern Sinn, und darum wird es not tun, immer und immer wieder eine Welt, die bloß auf die Denkmäler der Sieger blickt, daran zu mahnen, daß nicht jene die wahrhaften Helden der Menschheit sind, die über Millionen von Gräbern und zerschmetterten Existenzen ihre vergänglichen Reiche errichten, sondern gerade diejenigen, die gewaltlos der Gewalt unterliegen, wie Castellio gegen Calvin in seinem Kampf um die Freiheit des Geistes und um die endliche Herankunft der Humanität auf Erden.


Die Machtergreifung Calvins

Inhaltsverzeichnis



Sonntag, den 21. Mai 1536 versammeln sich, feierlich von Fanfaren zusammengerufen, die Genfer Bürger auf dem öffentlichen Platz und erklären einhellig durch Händeerheben, daß sie von nun ab einzig »selon l’évangile et la parole de Dieu« leben wollten. Auf dem Wege des Referendums, dieser noch heute in der Schweiz üblichen erzdemokratischen Einrichtung, ist in der ehemaligen Bischofsresidenz die reformierte Religion als Stadt-und Staatsglauben, als das einzig gültige und erlaubte Bekenntnis eingeführt. Wenige Jahre hatten genügt, um den alten katholischen Glauben in der Rhônestadt nicht nur zurückzudrängen, sondern zu zerschmettern und auszurotten. Vom Pöbel bedroht, sind die letzten Priester, Domherren, Mönche und Nonnen aus den Klöstern geflüchtet, ausnahmslos alle Kirchen von Bildern und andern Wahrzeichen des »Aberglaubens« gereinigt. Dieser festliche Maitag besiegelt nun den endgültigen Triumph: von jetzt an hat der Protestantismus in Genf gesetzlich nicht nur die Obermacht und Übermacht, sondern die Alleinmacht.

Diese radikale und restlose Durchsetzung der reformierten Religion in Genf ist im wesentlichen die Leistung eines einzigen radikalen und terroristischen Mannes, des Predigers Farel. Eine fanatische Natur, eine enge, aber eiserne Stirn, ein mächtiges und zugleich rücksichtsloses Temperament – »nie in meinem Leben ist mir ein so anmaßender und schamloser Mensch vorgekommen«, sagt von ihm der milde Erasmus –, übt dieser »welsche Luther« zwingende, bezwingende Macht über die Massen. Klein, häßlich, roten Bartes und struppigen Haares, reißt er von der Kanzel mit seiner donnernden Stimme und dem maßlosen Furor seiner Gewaltnatur das Volk in einen fiebernden Gefühlsaufruhr; wie Danton als Politiker, weiß dieser religiöse Revolutionär die verstreuten und versteckten Instinkte der Straße zusammenzurotten und anzufeuern zum entscheidenden Stoß und Angriff. Hundertmal hat vor dem Siege Farel sein Leben gewagt, mit Steinwürfen auf dem flachen Land bedroht, von allen Behörden verhaftet und geächtet; aber mit der primitiven Stoßkraft und Intransigenz eines Menschen, den nur eine einzige Idee beherrscht, zertrümmert er gewaltsam jeden Widerstand. Barbarisch bricht er mit seiner Sturmgarde in die katholischen Kirchen ein, während der Priester am Altar das Meßopfer darbringt, und besteigt eigenmächtig die Kanzel, um unter dem Tosen seiner Anhänger wider die Greuel des Antichrist zu predigen. Er formiert aus Straßenjungen ein Jungvolk, er dingt Scharen von Kindern, daß sie während des Gottesdienstes in die Kathedralen eindringen und durch Schreien, Quäken und Gelächter die Andacht stören; schließlich, durch den immer stärkeren Zustrom seiner Anhänger kühn gemacht, mobilisiert er seine Garden zum letzten Vorstoß und läßt sie gewalttätig in die Klöster einbrechen, die Heiligenbilder von den Wänden reißen und verbrennen. Diese Methode der nackten Gewalt zeitigt ihren Erfolg: wie immer schüchtert eine kleine, aber aktive Minorität, sofern sie Mut zeigt und mit Terror nicht spart, eine große, aber lässige Majorität ein. Zwar klagen die Katholiken über Rechtsbruch und bestürmen den Magistrat, jedoch sie bleiben gleichzeitig resigniert in ihren Häusern, und wehrlos überläßt am Ende der geflüchtete Bischof seine Residenzstadt der siegreichen Reformation.

Aber nun im Triumphe zeigt es sich, daß Farel doch nur der Typus des unschöpferischen Revolutionärs gewesen, zwar fähig, durch Elan und Fanatismus eine alte Ordnung umzustoßen, doch nicht berufen, eine neue aufzurichten. Farel ist ein Schimpfer, aber kein Gestalter, ein Aufrührer, aber kein Aufbauer; er konnte grimmig Sturm laufen gegen die römische Kirche, die dumpfen Massen aufreizen zum Haß gegen Mönche und Nonnen, er vermochte mit seiner Empörerfaust die steinernen Tafeln des alten Gesetzes zu zerschlagen. Aber ratlos und ziellos steht er vor den Trümmern. Jetzt, da an die Stelle der verdrängten katholischen Religion in Genf eine neue Satzung zu stellen wäre, versagt Farel vollkommen; als bloß destruktiver Geist wußte er nur einen leeren Raum für das Neue zu schaffen, aber niemals kann ein Straßenrevolutionär geistig-konstruktiv gestalten. Mit dem Niederreißen ist seine Tat zu Ende, zum Aufbau muß ein anderer erstehen.

Nicht Farel allein erlebt damals diesen kritischen Augenblick der Unsicherheit nach einem zu raschen Sieg; auch in Deutschland und in der übrigen Schweiz zaudern die Führer der Reformation uneinig und ungewiß vor der ihnen zugefallenen historischen Aufgabe. Was Luther, was Zwingli ursprünglich durchsetzen wollten, war nichts als eine Reinigung der bestehenden Kirche gewesen, eine Rückführung des Glaubens von der Autorität des Papstes und der Konzile auf die vergessene evangelische Lehre. Reformation bedeutete für sie im Sinne des Wortes anfangs wirklich nur reformieren, also verbessern, reinigen, rückverwandeln. Aber da die katholische Kirche starr auf ihrem Standpunkt beharrte und sich zu keinen Konzessionen bereit gefunden, wächst ihnen unvermutet die Aufgabe zu, statt innerhalb nun außerhalb der katholischen Kirche ihre geforderte Religion zu verwirklichen; und sofort, da es vom Destruktiven an das Produktive geht, scheiden sich die Geister. Selbstverständlich wäre nichts logischer gewesen, als daß die religiösen Revolutionäre, daß Luther, Zwingli und die andern Reformationstheologen sich brüderlich auf eine einheitliche Glaubensform und Praxis der neuen Kirche geeinigt hätten; aber wann setzt sich jemals das Logische und Natürliche in der Geschichte durch? Statt einer protestantischen Weltkirche erstehen überall Einzelkirchen; Wittenberg will nicht die Gotteslehre von Zürich und Genf wieder nicht die Gebräuche Berns übernehmen, sondern jede Stadt will ihre Reformation auf ihre zürichsche, bernische und genferische Art; schon in jener Krise spiegelt sich der nationalistische Eigendünkel der europäischen Staaten im Verkleinerungsglas des Kantongeistes prophetisch voraus. In kleinen Zänkereien, in theologischen Haarspaltereien und Traktaten vergeuden Luther, Zwingli, Melanchthon, Bucer und Karlstadt, sie alle, die gemeinsam den Riesenbau der Ecclesia Universalis unterhöhlten, nun ihre beste Kraft. Völlig ohnmächtig aber steht Farel in Genf vor den Trümmern der alten Ordnung, ewige Tragik eines Menschen, der die ihm zubestimmte historische Tat vollbracht hat, aber sich ihren Folgen und Forderungen nicht mehr gewachsen fühlt.


Eine Glücksstunde ist es darum für den tragischen Triumphator, als er durch Zufall erfährt, Calvin, der berühmte Jehan Calvin, halte sich auf der Durchreise von Savoyen für einen Tag in Genf auf. Sofort besucht er ihn in seinem Gasthofe, um sich von ihm Rat zu holen und seine Hilfe für das Werk des Aufbaus zu erbitten. Denn obzwar beinahe zwanzig Jahre jünger als Farel, gilt dieser Sechsundzwanzigjährige bereits als eine unbestrittene Autorität. Sohn eines bischöflichen Zolleinnehmers und Notars, zu Noyon in Frankreich geboren, in der strengen Schule des Kollegiums von Montaigu (ebenso wie Erasmus und Loyola) erzogen, erst für den Priesterstand und dann zum Juristen bestimmt, hatte Jehan Calvin (oder Chauvin) mit vierundzwanzig Jahren wegen seiner Parteinahme für die lutherische Lehre aus Frankreich nach Basel flüchten müssen. Aber ihm wird im Gegensatz zu den meisten, die mit der Heimat auch die innere Kraft verlieren, Emigration zum Gewinn. Gerade in Basel, dieser Wegkreuzung Europas, wo sich die verschiedenen Formen des Protestantismus begegnen und befeinden, begreift Calvin mit dem Genieblick des weitdenkenden Logikers die Notwendigkeit der Stunde. Schon sind vom Kern der evangelischen Lehre immer radikalere Thesen abgesplittert, Pantheisten und Atheisten, Schwärmer und Zeloten beginnen den Protestantismus zu entchristlichen und zu überchristlichen, schon vollendet sich mit Blut und Grauen in Münster die schauervolle Tragikomödie der Wiedertäufer, schon droht die Reformation in einzelne Sekten zu zerfallen und national zu werden, statt sich zu einer Universalmacht zu erheben gleich ihrem Widerpart, der römischen Kirche. Gegen solche Selbstzersplitterung muß, dies überblickt der Vierundzwanzigjährige mit seherischer Sicherheit, rechtzeitig eine Zusammenfassung gefunden werden, eine geistige Kristallisierung der neuen Lehre in einem Buch, einem Schema, einem Programm; ein schöpferischer Grundriß des evangelischen Dogmas muß endlich entworfen werden. So zielt dieser unbekannte junge Jurist und Theologe mit der herrlichen Verwegenheit der Jugend vom ersten Augenblick an, während die eigentlichen Führer noch um Einzelheiten quengeln, entschlossen auf das Ganze und schafft in einem Jahr mit seiner ›Institutio religionis Christianae‹ (1535) den ersten Grundriß der evangelischen Lehre, das Lehrbuch und Leitbuch, das kanonische Werk des Protestantismus.

Diese ›Institutio‹ ist eines der zehn oder zwanzig Bücher der Welt, von denen man ohne Übertreibung sagen darf, daß sie den Ablauf der Geschichte bestimmt und das Antlitz Europas verändert haben; seit Luthers Bibelübersetzung das wichtigste Tatwerk der Reformation, hat sie von der ersten Stunde bei den Zeitgenossen durch ihre logische Unerbittlichkeit, ihre konstruktive Entschlossenheit entscheidenden Einfluß geübt. Immer braucht eine geistige Bewegung einen genialen Menschen, der sie beginnt, und einen genialen, der sie beendet. Luther, der Inspirator, hat die Reformation ins Rollen gebracht, Calvin, der Organisator, sie aufgehalten, ehe sie in tausend Sekten zerschellte. In gewissem Sinne schließt die Institutio darum die religiöse Revolution so ab, wie der Code Napoléon die französische: beide ziehen, indem sie den Schlußstrich setzen, ihre Summe, beide nehmen sie einer strömenden und überströmenden Bewegung das Feurigflüssige ihres Anfangs, um ihr die Form des Gesetzes und der Stabilität aufzuprägen. Aus Willkür ist damit Dogma, aus Freiheit Diktatur geworden, aus seelischer Erregtheit eine harte geistige Norm. Freilich: wie jeder Revolution, wenn sie innehält, geht auch dieser religiösen auf dieser letzten Stufe etwas von ihrer ursprünglichen Dynamik verloren; aber als geistig geeinte Weltmacht steht von nun ab der katholischen Kirche eine protestantische entgegen.

Es gehört zur Kraft Calvins, daß er die Starre seiner ersten Formulierung niemals gelindert oder geändert hat; alle späteren Ausgaben seines Werkes bedeuten fortan nur Erweiterung, aber keine Korrektur seiner ersten entscheidenden Erkenntnisse. Mit sechsundzwanzig Jahren hat er ähnlich wie Marx oder Schopenhauer seine Weltanschauung schon vor aller Erfahrung logisch durchdacht und zu Ende gedacht, alle folgenden Jahre werden nur dazu dienen, seine organisatorische Idee im realen Raume durchzusetzen. Kein wesentliches Wort wird er mehr ändern und vor allem sich selber nicht, keinen Schritt wird er zurückweichen und niemandem einen Schritt entgegengehen. Einen solchen Mann kann man nur zerbrechen oder an ihm zerbrechen. Alles mittlere Gefühl für ihn oder gegen ihn ist vergeblich. Es gibt nur eine Wahl: ihn zu verneinen oder sich völlig ihm zu unterwerfen.


Das spürt – und darin liegt menschliche Größe – Farel sofort bei der ersten Begegnung, bei dem ersten Gespräch. Und obwohl zwanzig Jahre älter, unterordnet er sich von dieser Stunde an vollkommen Calvin. Er anerkennt ihn als seinen Führer und Meister, er macht sich von diesem Augenblick an zu seinem geistigen Diener, zu seinem Untergebenen, zu seinem Knecht. Nie wird Farel in den nächsten dreißig Jahren ein einziges Wort des Widerspruchs gegen den Jüngeren wagen. In jedem Kampf, in jeder Sache wird er seine Partei nehmen, auf jeden Ruf von jedem Ort herbeieilen, um für ihn und unter ihm zu kämpfen. Als erster bietet Farel das Vorbild jenes fraglosen, unkritischen, sich selbst preisgebenden Gehorsams, den Calvin, der Subordinationsfanatiker, in seiner Lehre von jedem Menschen als oberste Pflicht verlangt. Nur eine einzige Forderung hat dagegen Farel in seinem Leben an ihn gestellt, und diese zu dieser Stunde: Calvin möge als der einzige Würdige die geistliche Führung Genfs übernehmen und mit seiner überlegenen Kraft das reformatorische Werk aufbauen, das zu vollenden er selbst zu schwach sei.

Calvin hat später berichtet, wie lange und wie heftig er sich geweigert habe, diesem überraschenden Rufe Folge zu leisten. Immer wird es für den geistigen Menschen ein verantwortlicher Entschluß, die reine Sphäre des Gedanklichen zu verlassen und in die trübe der Realpolitik einzutreten. Ein solches geheimes Bangen bemächtigt sich auch Calvins. Er zögert, er schwankt, er weist auf seine Jugend, seine Unerfahrenheit hin; er bittet Farel, er möge ihn doch lieber in seiner schöpferischen Welt der Bücher und der Probleme belassen. Schließlich wird Farel ungeduldig über Calvins Hartnäckigkeit, sich der Berufung zu entziehen, und mit biblischer Prophetenkraft donnert er den Zögernden an: »Du schützt deine Studien vor. Aber im Namen des allmächtigen Gottes verkündige ich dir: Gottes Fluch wird dich treffen, wenn du dem Werke des Herrn deine Hilfe versagst und dich mehr suchst als Christum.«

Erst dieser Anruf bestimmt Calvin und entscheidet sein Leben. Er erklärt sich bereit, in Genf die neue Ordnung aufzubauen: was er bislang in Wort und Idee vorgezeichnet, soll nun Tat und Werk werden. Statt einem Buch, wird er nun versuchen, einer Stadt, einem Staat die Form seines Willens aufzuprägen.


Immer wissen die Zeitgenossen am wenigsten von ihrer Zeit. Die wichtigsten Augenblicke fliehen an ihrer Aufmerksamkeit unbemerkt vorbei, und fast nie finden die wahrhaft entscheidenden Stunden in ihren Chroniken die gebührende Beachtung. So fühlt auch das Genfer Ratsprotokoll vom 5. September 1536, das Farels Antrag vermerkt, Calvin als »lecteur de la Sainte Escripture« dauernd anzustellen, sich nicht einmal bemüßigt, den Namen jenes Mannes hinzuschreiben, der Genf unermeßlichen Ruhm vor der Welt geben wird. Dürr vermerkt der Ratsschreiber bloß die Tatsache, daß Farel vorgeschlagen habe, »iste Gallus«, »jener Franzose« möge seine Predigertätigkeit fortsetzen. Das ist alles. Wozu sich bemühen, den Namen erst zu buchstabieren und in die Akten einzutragen? Es scheint doch nur ein unverpflichtender Entschluß, diesem brotlosen ausländischen Prediger einen kleinen Gehalt zu bewilligen. Denn noch ist der Magistrat der Stadt Genf der Meinung, er habe nichts anderes getan, als einen untergeordneten Beamten angestellt, der fürder ebenso bescheidentlich und gehorsam sein Amt erfüllen wird wie irgendein neubestallter Schullehrer oder Säckelwart oder Scharfrichter.

Allerdings: die biedern Räte sind keine Gelehrten, sie lesen in ihren Mußestunden keine theologischen Werke, und gewiß hat keiner von ihnen zuvor Calvins ›Institutio religionis Christianae‹ auch nur angeblättert. Denn sonst wären sie wohl aufgeschreckt, weil dort in klaren Worten herrisch festgelegt war, welche Fülle der Macht »iste Gallus« für den Prediger innerhalb der Gemeinde beansprucht: »Klar möge hier umschrieben sein die Macht, mit der die Prediger der Kirche bekleidet werden sollen. Da sie als Verwalter und Verkündiger des göttlichen Wortes bestellt sind, haben sie alles zu wagen und alle Großen und Mächtigen dieser Welt zu zwingen, sich vor der Majestät Gottes zu beugen und ihm zu dienen. Sie haben allen zu befehlen vom Höchsten bis zum Niedrigsten, sie haben die Satzung Gottes aufzurichten und das Reich des Satans zu zerstören, die Lämmer zu schonen und die Wölfe auszurotten, sie haben die Folgsamen zu ermahnen und zu unterrichten, die Widerstrebenden anzuklagen und zu vernichten. Sie können binden und können lösen, den Blitz und den Donner schleudern, aber all dies gemäß Gottes Wort.«