Meike Dahlström
Adalbert Stifter als Pädagoge
© 2017 Meike Dahlström
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback: | 978-3-7439-0553-5 |
Hardcover: | 978-3-7439-0554-2 |
e-Book: | 978-3-7439-0555-9 |
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Zuerst erschienen unter dem Titel: „Ich bin ein Mann des Maßes und der Freiheit“. Adalbert Stifter als Pädagoge, Marburg 2008 (Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag: Literaturwissenschaft | Band 6).
Die erste Ausgabe dieser Arbeit wurde mit einem Stipendium des Adalbert Stifter Vereins München gefördert.
Meinen lieben Eltern
Alfred (†) und Gertraud Gerhardt
in Dankbarkeit gewidmet
„Ich fragte wenig darum, was ich sie lehren soll,
sondern fing auf eigene Faust an, sie zu bilden.“
(Adalbert Stifter)
Warum überhaupt eine Neuauflage? Noch dazu ein Buch über Adalbert Stifter, einen Schriftsteller, der außerhalb der Literaturwissenschaft ohnehin kaum noch Beachtung findet? Eben darum: Ich möchte ihm Raum geben, dem Verkannten, Belächelten, oft nicht als ganz vollwertig Angesehenen – der doch einer der großen österreichischen Autoren des 19. Jahrhunderts ist.
Letztlich waren verschiedene Gespräche über Adalbert Stifter ausschlaggebend für den Entschluss, meine Dissertation aus dem Jahr 2008 nochmals zu überarbeiten und neu aufzulegen: Gespräche, die Interesse wie Desinteresse, Begeisterung wie Unkenntnis, erstaunliches Wissen wie Vorurteile bekundeten. Anlass genug also, es noch einmal mit ihm zu versuchen: Adalbert Stifter – Schriftsteller, Schulrat, Journalist und, nicht zuletzt, pädagogischer Vordenker.
Darüber hinaus ist Stifter aber auch ein mit seiner Wahlheimat Oberösterreich verbundener Autor; ein Umstand, den ihn oftmals noch als den biedermeierlichen Heimaterzähler in den Köpfen der Menschen weiterleben lässt – wofür seine offenkundige Leibesfülle für manche ein weiteres Argument darstellt. Ein schlechter Esser war Adalbert Stifter sicherlich nicht, ein literarisches Adalbert-Stifter-Kochbuch1 gibt es bereits. Mit heimeliger Biedermeierdichtung haben seine Werke hingegen nichts gemein, der tiefe Schrecken sitzt unter der Oberfläche; die vermeintliche Idylle bröckelt, wenn Stifters Figuren inmitten ihrer bekannten Umgebung an Einsamkeit und Trauer zerbrechen; seelisch wie körperlich zugrunde gehen.
Sein modernes Gedankengut zeigt sich erstmals in den Revolutionsjahren 1848/49. Stifter möchte am Aufbau eines konstitutionellen Staates mitwirken, der jedem Bürger die gleichen Rechte und Pflichten zugesteht. Doch die zunehmende Radikalisierung erschüttert ihn als Vorzeichen einer drohenden Katastrophe; von seiner ersten Revolutionsbegeisterung nimmt er Abstand: Wie ist es möglich, dass Menschen sich der rohen Gewalt hingeben? Sind die Ausschreitungen am Ende nicht dem Staat anzulasten, der die erzieherische Pflicht gegenüber seinem Volk vernachlässigt hat? Um eine erneute Radikalisierung zu vermeiden, plädiert er in seinen Aufsätzen für einen Unterricht, in dem sowohl Geistesbildung als auch ein verantwortungsvoller Umgang mit Freiheit an oberster Stelle stehen. Seinen Forderungen gibt er auch als Schriftsteller Ausdruck: Der Nachsommer ist nicht nur ein Bildungsroman im herkömmlichen Sinne, sondern zugleich ein anschauliches Beispiel für sein literarisches Erziehungsmodell. Die Revolution nimmt Stifter zum Anlass, selbst am Aufbau eines neuen Schulwesens mitzuarbeiten. Als Schulrat für Oberösterreich kämpft er für eine auf die Entwicklung von Herz und Geist ausgelegte Pädagogik sowie für eine Besserstellung der geringgeschätzten und oft in ärmlichsten Verhältnissen lebenden Volksschullehrer. Stifters Überzeugungen haben auch heute nichts von ihrer Relevanz verloren; pädagogische Konzepte sowie Bild und Rolle des Lehrers sind weiterhin viel diskutierte Themen in unserer Gesellschaft.
Den Titel der Erstauflage „Ich bin ein Mann des Maßes und der Freiheit. Adalbert Stifter als Pädagoge“ habe ich in den griffigeren und, so wie ich hoffe, zugänglicheren Titel „Beruf und Berufung. Adalbert Stifter als Pädagoge“ abgewandelt.
Allen Interessierten wünsche ich viel Freude bei der Lektüre.
Bad Teinach, im Juni 2017 | Meike Dahlström |
Ist es schon in den gewöhnlichsten Dingen des Lebens so, daß nur der Charakter in sie die Bedeutung bringt, und daß nur der Charakter Andere zum Guten führt, so ist es in der Schriftstellerei um so mehr.2
In volkserzieherischer Absicht stellt Adalbert Stifter3 im April 1848 der Freude über die neu errungene Pressefreiheit die erforderlichen Eigenschaften des Schriftstellers und dessen Verantwortung gegenüber. Der Text stammt aus dem Aufsatz Über Stand und Würde des Schriftstellers, den Hubert Lengauer als Stifters „bedeutendste Äußerung im Revolutionsjahr“4 bezeichnet. Die gesellschaftliche Neustrukturierung nach der Revolution von 1848 gibt Stifter Anlass, seine Bildungsgedanken in Worte zu fassen und sich aktiv am Aufbau eines neuen Schulsystems zu beteiligen. Diese Aufgabe ist für ihn „die erste und heiligste Pflicht des Staates“5. Über den Einfluss der Revolution auf Stifters pädagogische Ansichten schreibt Klaus Neugebauer:
Man kann sich vorstellen, daß die zurückliegenden Ereignisse des Oktober 1848 auf Stifter einen starken erzieherischen Eindruck gemacht haben. Er hatte lernen müssen, daß die Idee der Freiheit an der Unzulänglichkeit, der mangelnden Reife der Menschen [...] scheitern konnte.6
Geprägt durch die Erfahrung des Sitten- und Ordnungsverfalls während der Revolution gilt sein ganzes Engagement dem Neuaufbau des Schulwesens. Bis heute wird die Arbeit Stifters als Schulorganisator, der vor allem durch seine schriftstellerische Leistung bekannt ist, wenig beachtet. Als Ursache hierfür kann das Fehlen einer durchformulierten Pädagogik gelten – einzelne, unzusammenhängende Aufsätze über Politik und Bildung sind vor allem unter dem Eindruck der Revolution von 1848 entstanden. Seine Gedanken zur Bildung des Menschen können nicht als „systematische Pädagogik“7 gelten. Der frühe Versuch, ein Schullesebuch zu veröffentlichen, scheitert. Entsprechend unterschiedlich wird seine pädagogische Leistung in der Forschung beurteilt: Theodor Rutt stellt in einer Betrachtung über Adalbert Stifters Gedanken zur Pädagogik fest, dass Stifter zwar eine geschlossene und begründete pädagogische Theorie auf der Basis einer selbstständigen Schul- und Erziehungswirklichkeit bietet, aber keine angewandte Erziehungswissenschaft.8 Gudrun Klarner kritisiert in ihrem Werk die häufige Überschätzung seines Bildungsansatzes: „A characteristic feature of the discussion of Stifter’s pedagogic ideas has been their over-estimation as fundamentally innovatory and ahead of their time.”9 Kurt Gerhard Fischer ist im Gegensatz dazu der Meinung, dass Stifter mit seinen Bildungsideen in gleichem Maße wie Rousseau oder Pestalozzi zu einer Reformierung der Pädagogik beigetragen hat. Er geht davon aus, dass „mit der erforderlichen Neubesinnung auf das literarische Werk Stifters eine nicht unbedeutende Korrektur der historischen Pädagogik Hand in Hand gehen [muß]“10.
Stifters Bildungsgedanken werden weiterhin unterschätzt, sodass sein pädagogisches Denken einer genauen Untersuchung wert ist. Diese Arbeit legt dar, warum Stifters Bildungsideen und –ideale seiner Zeit weit voraus sind. Anlässlich des Stifterjahres 2005 äußert sich der oberösterreichische Landeshauptmann Josef Pühringer über den Dichter: „[Adalbert Stifters] Literatur ist nicht nur Maßstab und Vorbild, sondern auch eine Vorgabe, die zu kritischer Auseinandersetzung reizt.“11 Als Schulrat und Schriftsteller versucht Stifter seinen Ideen eine Form zu geben. Diese verwertet er sowohl in den Schulakten als auch in den pädagogischen Schriften und in seiner Dichtung. Es liegt weniger an mangelndem pädagogischen Talent als an einer zu hoch angesetzten Erwartungshaltung, dass er seine bildungstheoretischen Ansätze nicht praktisch umsetzen kann. Deshalb soll in dieser Arbeit der allgemeine Begriff der „Pädagogik“ um den der „Bildungsgedanken“ erweitert werden. Diese Differenzierung setzt eine weniger erziehungswissenschaftlich geprägte Erwartungshaltung voraus und lässt Raum für Stifters eigene Interpretation und Umsetzung von „Bildung“.
Gegenwärtig gibt es, im Gegensatz zu anderen Stifter-Themen, kein fundiertes Werk über Stifter als Pädagogen. Die vorliegende Arbeit versucht, diese Lücke zu schließen und eine angemessene Würdigung der pädagogischen Leistung Stifters zu ermöglichen. Ziel der Arbeit ist es, neben den künstlerischen Aspekten durch die Charakterisierung der pädagogischen Leistung ein vollständiges Bild von Adalbert Stifter zu erhalten. Dies erfolgt durch die Darstellung der durch die Revolution beeinflussten Bildungsgedanken Stifters und deren Umsetzung. Es gilt, seine bildungstheoretische Zielsetzung als Schriftsteller und Schulorganisator herauszuarbeiten und zu zeigen, mit welchen Mitteln er versucht hat, diese zu realisieren.
Ein zentraler Punkt dieser Betrachtung ist das „Jahrfünft im Leben und Schaffen Stifters“12 von 1852-1857. In diesem Zeitraum arbeitet er an seinem Lesebuch zur Förderung humaner Bildung, schreibt den Roman Der Nachsommer und formuliert in der Vorrede zu der Novellensammlung Bunte Steine für sein Werk eine eigene Theorie, die er unter dem Begriff des „sanften Gesetzes“ zusammenfasst:
Es ist das Gesez [...] der Gerechtigkeit das Gesez der Sitte, das Gesez, das will, daß jeder geachtet geehrt ungefährdet neben dem Anderen bestehe [...]. So wirkt das Sittengesez still und seelenbelebend durch den unendlichen Verkehr der Menschen mit Menschen [...].13
Dieses in der Vorrede formulierte Sittengesetz wird zum Leitfaden seines pädagogischen Handelns. Es ist kein Zufall, so Helga Bleckwenn, dass Der Nachsommer parallel zu Stifters zunehmenden Sorgen in seinem Amt als Schulrat entsteht:
Es scheint nicht zufällig, dass sein Bildungsroman gleichzeitig zu enttäuschenden Erfahrungen im Amt und zur sich festigenden Restaurationsphase entstand. Danach werden keine pädagogischen Schriften mehr publiziert, und der Schriftsteller wendet sich historischen Themen zu.14
Im Rahmen der „Vorgeschichte“ wird die Revolution von 1848 und deren Eindruck auf Stifter genauer betrachtet. Diese Zeit ist maßgebend für sein weiteres Handeln. Ebenfalls wird untersucht, inwieweit er seine fortschrittlichen Ideen – proklamiert in Zeitungsartikeln und Aufsätzen – während seiner Zeit als Schulrat verwirklichen kann. Systematisch werden seine pädagogischen und administrativen Tätigkeiten dargestellt und ausgewertet. Erst durch intensive Auseinandersetzung mit seinem Werk gelingt es, die teilweise zufällig entstandenen und an verschiedenen Stellen geäußerten Gedanken einzuordnen. In dieser Arbeit werden die Verknüpfungspunkte zwischen seiner Intention als Schulreformer und Verfasser bildungstheoretischer Schriften einerseits und seiner Berufung als Dichter andererseits untersucht.
Stifter hat die Revolution von 1848/49 als traumatisches Ereignis erfahren. Seine Reaktion darauf setzt er in seinem Bildungsroman Der Nachsommer exemplarisch um. Kein anderes Werk realisiert Stifters literarisches Erziehungsmodell so anschaulich wie dieser Roman. Es wird gezeigt, wie er dieses Modell am Leser verwirklicht und welche pädagogische Zielsetzung er damit verfolgt. Anhand des Nachsommers, der im Zusammenhang mit Stifters Bildungsgedanken eine bedeutende Rolle spielt, werden pädagogische Zielsetzungen herausgearbeitet und deren Kongruenz zu seinem pädagogischen Wirken beleuchtet.
Der abschließende Themenkomplex über die letzten Jahre stellt Leben und Werk des Autors einander gegenüber, um die Zielsetzungen des Menschen und Pädagogen Stifter als Einheit zu erfassen. Die Erwähnung der letzten Lebensjahre ist von Bedeutung, um einen Überblick über Stifters Entwicklung als Schulrat und Schriftsteller zu bekommen. Stifters Unzufriedenheit, Quintessenz aus beruflichen und persönlichen Rückschlägen, ist Antriebsfeder für sein politisches und pädagogisches Engagement.
Diese Arbeit kann nur in exemplarischer Form sein Werk und sein Wirken darlegen. Eine ausführliche Darstellung des Bildungsdenkens des 19. Jahrhunderts in Österreich kann diese Arbeit weder im Hinblick auf die geistigen Grundlagen noch die Beschreibung seines Alltags als Schulinspektor leisten.
Über den Schriftsteller Adalbert Stifter gibt es eine Vielzahl von wissenschaftlichen Darstellungen zu zahlreichen Aspekten seines Werkes. Das überkommene Bild von Stifter als konservativem Dichter der „Käfer und Butterblumen“15 ist, wie neuere Arbeiten zeigen, kaum noch von Bedeutung. Stattdessen werden seine Persönlichkeit als Demokrat und Liberaler und seine Verdienste um das österreichische Schulwesen gewürdigt. Diese Forschungsarbeiten boten die Grundlage für eine differenzierte Betrachtung seiner Werke unter spezielleren Gesichtspunkten. Gerade die neueren Biographien können einen tieferen Einblick in das Leben des Schriftstellers geben. Hier sei das umfangreiche Werk von Peter A. Schoenborn16 genannt, der in ausführlicher Weise die verschiedenen Stationen in Stifters Leben beschreibt und sein Werk im Hinblick auf die historischen Umstände analysiert. Maßgebend sind des Weiteren die aktuellen Darstellungen von Peter Becher17, Karl Pörnbacher18 und die immer noch zeitgemäße Biographie von Urban Roedl19. Diese vermögen in anschaulicher Weise ein Bild von Adalbert Stifter, seinem Werk und der zeitgenössischen politischen Situation zu vermitteln, wobei die neueste Biographie von Peter Becher auch gewissenhaft den Werdegang Stifters vor seiner Ernennung zum Schulrat abhandelt. Dagegen findet noch wenig Beachtung, dass Adalbert Stifter 15 Jahre als Schulrat tätig war und pädagogische Schriften verfasste.20 Dieser Lebensabschnitt steht nach wie vor im Schatten seiner Dichtungen und seines bildnerischen Werks. Martin Tielke schreibt über die Problematik der Stifter-Forschung:
Stifter ist schwierig. Denn kaum eine deutsche Kunstprosa des 19. Jahrhunderts darf sowenig als das genommen werden, als was sie sich gibt, wie die Stifters. Und die Hintergründigkeit, die Thomas Mann ihm zuspricht, wird von der Sekundärliteratur eher verstärkt als erhellt, denn sie ist getrübt entweder durch eine zu große Nähe zu Stifter oder durch eine zu früh einsetzende Abwehr. Dabei ist gerade Stifter auf den Kommentar angewiesen.21
Dieser Kommentar fehlt bisher zu Stifters pädagogischen Leistungen. Bislang setzt sich keine neuere Darstellung explizit mit seiner Bildungsidee auseinander. Auch das „sanfte Gesetz“ Adalbert Stifters ist in neuester Zeit nicht in einer eigenen Darstellung behandelt worden. Die meisten der vorliegenden Darstellungen mit historischpädagogischen Inhalten beschränken sich auf die Beschreibung einzelner Komponenten aus dem „erziehungsgeschichtlichen Tableau“22, stellt Franz Hofmann 1992 in einem Aufsatz Zur Methodologie einer Geschichte der Erziehung fest. Seither hat sich nicht viel geändert. So sind Darstellungen einflussreicher Pädagogen reichlich vorhanden. Allerdings werden nur im Rahmen von Biographien und einzelnen Kapiteln der weiterführenden Stifter-Literatur seine Leistungen als Pädagoge bearbeitet. So beschäftigt sich die aktuelle Untersuchung von Mathias Mayer23 mit dem Titel Adalbert Stifter. Erzählen als Erkennen zwar nicht explizit mit der Bildungsidee Stifters, gibt aber implizit Anhaltspunkte zu deren Umsetzung im Nachsommer. Sepp Domandl hat mit seiner Ausführung über Stifters Schullesebuch einen bedeutenden Beitrag zu seiner Arbeit außerhalb des schriftstellerischen Werks geleistet.24 Darüber hinaus geht Markus Pahmeier in seiner Dissertation aus dem Jahr 2014 eingehend auf die Themen der Volksaufklärung in Stifters literarischen Werke ein.25 Die Darstellung von Theodor Rutt26 Adalbert Stifter, der Erzieher aus dem Jahre 1970 ist bisher durch keine Neuauflage oder durch ein mit neuen Forschungsmaterialien ergänztes Werk fortgeführt worden.
Fischers Abhandlung Die Pädagogik des Menschenmöglichen27 aus dem Jahre 1962 ist das derzeit umfassendste Werk zu diesem Thema. Darin ist kein fortlaufender Bezug zu Stifter zu finden, sondern eine kategorische Abhandlung der Vielzahl von Ansatzpunkten, welche das Thema „Stifter und seine Pädagogik“ bietet. Einen wegweisenden Leitfaden durch das umfangreiche Werk wird der Leser vergeblich suchen.
Die Quellenlage kann als gut gelten. Von Stifter sind mehr als 1000 Briefe überliefert. Noch immer tauchen bisher unbekannte Handschriften auf.28 Leider fehlt bis heute eine aktuelle Ausgabe mit den wichtigsten Briefen in ungekürzter Fassung. Eine Briefedition liegt in der noch nicht vollständig erschienenen historisch-kritischen Gesamtausgabe bisher nicht vor. In dieser sollen 37 bisher unveröffentlichte Stifter-Briefe mit aufgenommen werden. Maßgeblich ist deshalb die Ausgabe des Briefwechsels im Rahmen der Prag-Reichenberg-Ausgabe29 und die trotz zahlreicher Kürzungen umfangreiche Brief- und Dokumentensammlung von Kurt Gerhard Fischer30.
In dieser Arbeit werden nur diejenigen Dokumente ausgewertet, die Aufschluss über Stifters pädagogisches Denken und Handeln geben. Von Bedeutung sind die im Rahmen der neuen historisch-kritischen Gesamtausgabe erschienenen „Amtlichen Schriften zu Schule und Universität“.31 Diejenigen Dokumente, die nicht mehr auffindbar sind und daher nicht in die Gesamtausgabe mit aufgenommen wurden, sind teilweise in den von Kurt Vansca herausgegeben Schulakten Adalbert Stifters aufgeführt – betreffende Schriften werden aus dieser Ausgabe zitiert.32 Des Weiteren gibt die von Theodor Rutt besorgte Edition der Pädagogischen Schriften33 Stifters Einblick in zwischenzeitlich verlorengegangene Aufsätze.
Alle Zitate aus Werken Stifters und die Nachweise erfolgen, soweit der Stand dieser Edition das zulässt, aus dieser neuen historisch-kritischen Gesamtausgabe.34 Rechtschreibung und Zeichensetzung der Zitate entsprechen der jeweils verwendeten Edition.
Als innig beschreibt Fischer das Verhältnis von Adalbert Stifter zu Mutter und Großmutter, die nach dem Tod des Vaters die einzigen Bezugspersonen sind.35 Wenige Dichter, so Rutt, hätten wie er das ganze Leben hindurch ihrer Mutter ein so schönes Gedenken bewahrt.36 Liebevoll beschreibt Stifter 1849 in seinem Aufsatz Mittel gegen den sittlichen Verfall der Völker die geistige Förderung, die ihm von Seiten der Mutter zuteilwurde:
[...] die Liebe der Eltern hat noch einen höheren Boden und eine edlere Heimat, nämlich die Seele. Diese Liebe führt die Eltern dahin, daß sie außer der leiblichen Wohlfahrt der Kinder auch noch die geistige derselben befördern möchten [...]. Diese Liebe zu den Kindern ist eigentlich die menschliche. Aber wie selten ist sie vorhanden!37
Die Buchfassungen seiner Studien widmet er neben den Geschwistern seiner Mutter, die an erster Stelle steht. Ihren Verlust und den des Vaters wird er später in seinem Roman Der Nachsommer verarbeiten:
‘[...] Ich warf mich in eine Lehnbank, und wollte in Thränen vergehen. Es war der erste große Verlust, den ich erlitten hatte. Zur Zeit des Todes des Vaters war ich zu jung gewesen, um ihn recht empfinden zu können. [...]’ (4,3, 161)38
Die Landschaft um Oberplan39, in der Stifter aufwächst, könne in ihrer Bedeutung für Mensch und Werk nicht überschätzt werden, so Fischer.40 Ebenso spielen die kirchlichen Feste eine bedeutende Rolle im Leben des Jungen, der früh das „Religiöse in katholischer Färbung“41 erlebt. Diese Verbundenheit mit Natur und Sitten der Heimat habe ihn später vor einem völligen Aufgehen im städtischen Geist bewahrt, schließt Moriz Enzinger.42 In Stifters Erzählungen und in seinem Roman Der Nachsommer wird dieses Heimatgefühl als Motiv auftauchen.
Der Landschulmeister Josef Jenne aus Oberplan ist einer der Ersten, der das Talent des einfachen Bauernjungen erkennt und fördert. Roedl vermutet in seiner Stifter-Biographie, dass es dieses erste Vorbild gewesen sei, das unbewusst in dem späteren Dichter und Erzieher nachwirken sollte.43 Wie der Lehrer Jenne Stifters weiteren Lebensweg prägt, zeigt sich in einem an Leo Tepe gerichteten Lebenslauf von 1867: „Stifter besuchte die Schule in Oberplan, und hatte an Joseph Jenne einen vortrefflichen Lehrer, der seine Schüler besonders in Abfassen von Briefen und Aufsäzen übte. Dieser Lehrer gab den Rath, Stifter in das Gimnasium zu schiken.“44
Im Benediktinerstift Kremsmünster in Oberösterreich, wohin ihn sein Großvater begleitet, begegnet der Junge seinem zukünftigen Lehrer Placidus Hall45. Nach einem unorthodoxen mündlichen Examen wird er in das Gymnasium aufgenommen.46 In seinen „biographischen Andeutungen“ von 1846, die an Hermann Meynert gerichtet sind, schreibt Stifter:
Meine Studien gingen gut von Statten, indem ich in den Grammatikalklassen der erste Premiant war, in der Poesie aber der zweite. Den vorzüglichsten [...] Theil an meinem Fortgange verdankte ich meinem Profeßor in den Grammatikalklassen dem Benedictiner Placidus Hall, der sich meiner annahm, weil er einige Anlagen in mir zu entdeken meinte, [...] mich ermunterte, mich im Zügel hielt, wenn mich mein zu lebhaftes Wesen fortreißen wollte, und mich endlich so lieb gewann, daß er fast mehr als väterlich für mich sorgte. Die schönsten Gefühle der Wahrhaftigkeit, der Gerechtigkeit und Heiterkeit, die er ganz besonders liebte, verdanke ich ihm. Ich kann nur mit der größten Liebe und Ehrerbiethung an diesen Mann denken.47
In Kremsmünster findet der junge Stifter „sensible Förderer“48, die seine Anlagen erkennen und weiterentwickeln. Während seiner Schulzeit erteilt Stifter Privatunterricht. In dem einzigen erhaltenen Brief des Siebzehnjährigen an Placidus Hall deutet sich sein „keimendes pädagogisches Interesse“49 an:
Sie [Stifters Schüler, Anm.] sind beide hochbegabt, und ich war erstaunt darüber, welche Fortschritte sie innerhalb weniger Tage gemacht hatten. Ich unterrichte sie täglich zwei oder drei Stunden im Lateinischen, und wenn sie so fortfahren, wie sie begonnen haben, so erwarte ich einen sehr günstigen Erfolg.50
Ähnlich wie Fischer bewertet Roedl die pädagogischen Fähigkeiten Stifters:
Sie mögen in seiner Persönlichkeit keimartig vorgebildet gewesen und von den Vorbildern, seinen Lehrern in der Heimat und im Gymnasium, entwickelt worden sein: Anlage und Gesinnung machten ihn zu einem hervorragenden Erzieher.“51
Enzinger benennt den „josefinisch-aufgeklärten Katholizismus“52 als Grundlage der Jugenderziehung Stifters. Die Gymnasien an den Klöstern sind davon nicht ausgenommen, da sie sich ebenfalls an den staatlichen Lehrplan halten müssen. In Kremsmünster werden Stifter die Gedanken und Ideen vertraut, die seine späteren Zielsetzungen bestimmen: „Hier war wirklich Erziehung noch Umgang, wie das dem späteren Stifter als pädagogisches Ideal vorschwebt.“53 Die Grundlagen der Bildungsgedanken Stifters haben ihre Ursache in den klassischen Bildungsidealen des Benediktinerordens. Hier werden, so Johann Lachinger, „wesentliche Züge seines Weltverständnisses präformiert“54. Der Begriff der „Bildung“ hat ab Mitte des 18. Jahrhunderts Eingang in die pädagogische Fachsprache gefunden, so bei Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), Immanuel Kant (1724-1804), Johann Gottfried Herder (1744-1803) und Wilhelm von Humboldt (1767-1835). Frühe begriffsgeschichtliche Bedeutungen wie „Schöpfung“, „Gestaltung“, „Verfertigung“, „Verfeinerung“ und „Bildnis“ bleiben wesentliche Gehalte der „Bildung“. In den Jahrhunderten zuvor ist der Begriff von der Theologie als Auftrag an den Menschen, sich die Entfaltung seiner Gottesebenbildlichkeit zu erkämpfen, verstanden worden.55
Die Besonderheit der Kremsmünsterschen Praxis besteht in der Zuordnung der freien Disziplinen an die Präfekten des Konvikts. Es „[...] herrschte ein zwischen Theologie und Aufklärung bedächtig waltender Geist“56, beschreibt Roedl die Atmosphäre in dem Benediktinerstift. Stifter lernt, Religion und Aufklärung nicht als Gegensätze zu begreifen. Klarner deutet seine Hinwendung zur Erziehung als besten Beweis seiner Prägung durch die Benediktiner: „His dedicated commitment to education itself is the clearest evidence of the indebtedness to the Benedictines who regard education as their highest and foremost duty.“57 In ihren weiteren Ausführungen differenziert Klarner diese Aussage. Sie fügt hinzu, dass Stifter die Lehren der Benediktiner in seinem Sinne erweitert habe:
This is not to say that Stifter never deviated from the teachings of the Benedictines. In particular his constant, almost obsessive, depiction of passion as the conflicting opposite to true ‘Humanität’ and above all to love constitutes an exaggeration of the Benedictine belief in the necessity of the control of passion in order to attain to an objective disposition.“58
Mühlberger fasst Stifters geistig-religiöse Erziehung zusammen: „Der Religionsunterricht bewegt sich nicht in dogmatisch schmalen Bahnen, sein Geist war der eines katholischen Humanismus, jedem engstirnigen Klerikalismus fremd.“59
In Kremsmünster lernt Stifter Begriffe wie „Humanismus“ und „Kunst“ zu bewerten und einzuordnen. Kurt Adel sieht Zusammenhänge zwischen der Schulzeit Stifters und seinem späteren Handeln während der Revolution von 1848:
Was Kremsmünster als Möglichkeit gelehrt hatte, erwies sich 1848 als Aufgabe: Erziehung durch das Schöne! Dieser Erkenntnis verdankt Stifter den ihm damals so notwendigen Lebensinhalt, das tätige Bemühen um Teilhabe an der Erziehung der künftigen Bürger durch Schriften, Besprechungen, Einflußnahme auf die Gestaltung des Schulwesens: Nur durch Bildung wird der Mensch sittlich frei, das heißt zu vernünftigem Handeln reif [...].60
Nach dem Schulabschluss 1826 kann Stifter das Gymnasium mit besten Noten verlassen. In Wien nimmt er das Studium der Rechte auf. Er wird dort bis zur Revolution von 1848 leben. In der Rückerinnerung des Freiherrn von Risach im Nachsommer tauchen persönliche Erinnerungen des Autors an das Studium in Wien auf. Während der Studienzeit erteilt Stifter weiter Privatunterricht für Söhne des Wiener Adels. Es bleibe „die Art, wie der Unterricht [in Kremsmünster, Anm.] erteilt wurde, [...] für Adalbert Stifters pädagogische Ansichten als Hauslehrer [...] maßgebend [...]“ 61, so Mühlberger.
1831 beendet er das Studium ohne Abschluss. Er gilt als „verbummelter Student“62, weil er trotz eines erfolgreichen Studiums das Abschlussexamen nicht antritt. Es wird nicht das letzte Mal sein, dass Stifter zu einem Prüfungstermin nicht erscheint. Bei seiner Bewerbung um den Lehrstuhl für Physik an der Prager Universität habe er nach eigener Aussage den mündlichen Prüfungstermin schlichtweg „vergessen“. Er befindet sich in einer zwiespältigen Lage. Zwischen 1832 und 1837 bewirbt er sich fünfmal ohne Erfolg an verschiedenen Lehranstalten, wobei er zum Teil mit Absicht die notwendigen Prüfungen versäumt. Friedrich Sengle bezeichnet ihn als „ausgesprochen berufsscheu“63. Diese Einordnung muss korrigiert werden. Oberflächlich betrachtet mag Stifters Verhalten als „berufsscheu“ gedeutet werden. Wie aber ist diese negative Bewertung mit seinen überdurchschnittlichen Leistungen in Schule, im Studium sowie in seinem späteren schriftstellerischen Werk und mit seiner Tätigkeit als Schulrat zu vereinbaren? Die Aussage von Eda Sagarra, an dem Versäumen des Abschlussexamens sei seine Hauslehrertätigkeit Schuld, ist nicht korrekt.64 Mühlberger versucht, die Versagensängste Stifters in einer „peinlichen Gewissenhaftigkeit“65 zu ergründen, die das eigene Können und Wissen unterschätzt. Damit setzt Stifter den Fähigkeiten seiner Person Grenzen und signalisiert Unsicherheit. Auch ein fehlender „Spiritus Rector und Lebensführer“66, der ihm wie in Kremsmünster in Pater Placidus Hall oder in Oberplan im Schulmeister Jenne oder seinem Großvater zur Seite steht, könnte als Grund für das Zerbrechen an denn eingeforderten Leistungen gelten.
Seine Zögerlichkeit und die unbewusste Furcht, sich festzulegen, führen zum Bruch mit der Bürgertochter Fanny Greipl. Der Erinnerung an die erste Liebe wird er in späteren Jahren mit der Gestaltung makelloser Mädchengestalten ein Denkmal setzen; sie wird für ihn zur „Braut meiner Seele“67. Seine Beziehung zu der Hutmacherin Amalie Mohaupt, so gesteht er ihr in einem Brief, sei ohne Liebe:
Es giebt nur eine, eine einzige Liebe, und nach der keine mehr. Gekränkte Eitelkeit war es – zeigen wollt’ ich eurem Hause, daß ich doch ein schönes, wohlhabendes und edles Weib zu finden wusste - - - ach und hätte über dem Experimente bald mein Herz gebrochen! Je weiter zu Vermählung hin ich es mit Amalien kommen ließ, desto unruhiger und unglücklicher ward ich. Dein Bild stand so rein und mild im Hintergrund vergangner Zeiten, so schön war die Erinnerung, und so schmerzlich, daß ich, als ich Amalien das Wort künftiger Ehe gab, nach Hause ging, und auf dem Kissen meines Bettes unendlich weinte – um dich.68
In einem Aufsatz über die Stifter-Briefe zweifelt Alfred Doppler an der Echtheit dieser Liebesbeteuerungen, denn „offenbar liebt er die Gefühlssensationen der Liebe mehr als das Mädchen“69. Stolz und verletzte Eitelkeit – Fanny hat einen anderen geheiratet – sind der Grund für die Vermählung mit Amalie. Dieses Motiv findet sich in der Trotzreaktion Mathildes auf die Entsagung ihres Geliebten Gustav im Nachsommer wieder.70 Peter Becher widerspricht in seiner Arbeit der These, Stifter habe ein Leben lang um Fanny getrauert. Er sieht in den weiblichen Figuren Stifters die „Sehnsucht nach einer idealen Frau“71, welcher keine reale Person entsprechen kann.
Seinen Lebensunterhalt verdient sich Stifter nach Abbruch des Studiums mit Privatunterricht. Die Unvereinbarkeit von Beruf und Berufung ist ihm bewusst:
Leider sah ich auch bald, daß ich als Profeßor nicht nach der Art würde wirken können, wie ich es wünschte und gab auch diesen Gedanken auf. Wohl hing ich der Sache noch nach, indem ich Privatunterricht gab, und, zwar nicht überall, aber an vielen Orten mit der größten Liebe gab.72
Den ältesten Sohn des Staatskanzlers Metternich unterrichtet er von 1843 bis 1846 in Mathematik und Physik und erhält dafür 25 Gulden im Monat. Weitere 40 Gulden bringen ihm Vorlesestunden bei der Fürstin Maria Anna Schwarzenberg ein.73 Trotz finanzieller Einschränkung ist diese Zeit für Stifter persönlich bedeutend. Er gewinnt durch den Privatunterricht in der Oberschicht an Erfahrung und lernt in der Praxis, wie sich sein Bildungsziel an den Schülern umsetzen lässt:
Der Verkehr in den kultivierten Häusern, wo er seine Kenntnisse als Lehrer verwertete, hatte sein äußeres Wesen zurechtgeschliffen. Er war bewandert in den klassischen Literaturen und im deutschen Schrifttum [...], vertiefte sich in die Meisterwerke und die Kunstsammlungen.74
Nikolaus Britz kommt zu einem ähnlichen Schluss:
[...] der Beruf des Hauslehrers erzog Stifter zum Weltmann, der Einlaß in die besten Familien der Residenz fand, und bot ihm schließlich die Möglichkeit, sein pädagogisches Talent bis zur Vollendung zu entwickeln, auch im Dichterischen [...].75
Jahre später, während seiner Zeit als Schulrat, wird Stifter erneut versuchen, seine gewonnenen Erkenntnisse in die Praxis umzusetzen. Seine „eminenten pädagogischen Fähigkeiten“76 sind ihm Hilfe und Anregung zugleich zur Formulierung eigener Bildungsgedanken. Zunächst als Hauslehrer, später als Schriftsteller und schließlich als Schulrat versucht er, seine Bildungsgedanken pädagogisch umzusetzen. Das Dichten ist für Stifter mehr als kreative Verwirklichung seiner Ideen und Vorstellungen. Pörnbacher bezeichnet das Schreiben des jungen Stifter als eine Möglichkeit der Problembewältigung.77 Als Siebenundzwanzigjähriger schreibt er an seinen „Theuren Isidor“, den Freiherrn von Brenner: „Soll ich dir noch viel weiteres sagen? [...] ich bin still und ernst und froh und schmerzhaft und sehnlich --- warum bin ich denn nicht so glüklich, als du mich wähnst? Mir thut noth zu produciren, und ich werde es.“78
Aufgrund des überraschenden Erfolgs der ersten Erzählungen kann Stifter die finanzielle Misere überwinden. Zum ersten Mal in seinem Leben sieht er einer gesicherten Zukunft entgegen. In den 1840er Jahren publiziert er vierundzwanzig Erzählungen, die ihn nicht nur finanziell absichern, sondern auch in der Öffentlichkeit bekannt machen. Stifter avanciert zum Modeautor. Die allgemeine Anerkennung seines Werkes ermutigt ihn, die Erzählungen, die anfangs in Zeitschriften publiziert werden, als Sammelbände herauszugeben. Die ersten Journalfassungen arbeitet er in die vier Bände der Studien und in die Novellensammlung Bunte Steine – deren „didaktischer Impuls“79 offensichtlich ist – um.
In den frühen Novellen offenbart sich der Dichter als tief mit der österreichischen Tradition und Kultur verwurzelt. Mayer bezeichnet Stifter als eine „Art Brückenfigur zwischen Österreich, Tschechien und Deutschland“80. Im Programmheft zum Stifter-Jubiläum 2005 wird er als „mitteleuropäischer Autor“ beschrieben, dessen Biographie ihn mit Tschechien, Österreich und Deutschland gleichermaßen verbinde.81
Stifter ist im böhmischen Teil der Donaumonarchie aufgewachsen. Mayer verweist auf Stifters „zeitgeschichtliche Orientierung an Österreich“82. Diese „Orientierung“ spiegelt sich sowohl in seinem Amt als „k.u.k. Schulrat“ als auch in seiner Lebensart wider. Seine Anlehnung an deutsche Traditionen lassen sich auf die philosophischen Ursprünge seines Werkes zurückführen.83 Von politischem Engagement ist in diesen frühen Werken wenig zu spüren. Die Schlussfolgerung von Neugebauer lautet: „In den Jahren vor 1848 äußert sich Stifter selten politisch. [...] Stifter dachte zu dieser Zeit wohl weniger politisch als vielmehr in den Kategorien einer idealistischen Ästhetik.“84 Der pädagogische Ansatz ist wahrnehmbar, wenn er in den Jahren 1837 und 1838 in der in jugendlicher Überschwänglichkeit geschriebenen Erzählung Feldblumen85 über eine sinnvolle Erziehung von Mädchen schreibt. In diesen Jahren hat er neben seinen Schülern auch einige Schülerinnen zu betreuen, für die er ein anspruchsvolles Unterrichtskonzept erstellt, „das der Pädagogik seiner Zeit weit voraus[läuft]“86. Über dieses „Programm“ äußert er sich in einem Brief an Sigmund von Handel:
Programm über meine Schülerinen.
Sie sind bei weitem mehr, als ich ihnen bei meiner ersten Bekanntschaft zumuthete. [...] Ich fragte wenig darum, was ich sie lehren soll, sondern fing auf eigene Faust an, sie zu bilden. Mit S. fing ich Geographie, Naturgeschichte, Diktandoschreiben, Briefstellen und rechnen an [...]. Mit den beiden andern begann ich Seelenlehre [...]. Dann nahm ich die Grundzüge des Naturrechtes als Vorbereitung zu Rottecks Geschichte [...]. Diese und Physik, und Ästhetik (nach J. Pauls Vorschule, die sie entzükt) wechseln ab.87
Dieser intensive Unterrichtsplan findet sich in den Feldblumen wieder. Die Figur der umfassend gebildeten Angela kann als vollkommenes Abbild Stifterscher Bildungsvorstellungen gelten:
Erstens weiß sie Latein und Griechisch – das Französische und Englische wird ihr nicht übel genommen. Zweitens weiß sie so viel Mathematik, als zum Verständniß einer allgemeinen Naturlehre nöthig ist; ja, sie weiß noch mehr, weil sie die Sternkunde verstehen wollte und nun wirklich versteht. Drittens, daß sie Bücher über Seelenkunde und Naturrecht studirte, ward für lächerlich erklärt, sie aber meinte, sonst die Weltgeschichte nicht verstehen zu können.88
Klavier spielt Angela „so kräftig wie ein Mann“89. Von ihrem Lehrer heißt es: „Er predigte und lehrte nie, sondern sprach nur und erzählte uns, und gab uns Bücher.“90 Denselben Ansatz nimmt Stifter vier Jahre später in Brigitta91 wieder auf. Hier ist es ein „nahezu autistisches“92 Mädchen, dem es gelingt, die lieblose Kindheit zu überwinden und Nähe zuzulassen. „Die Abwendung von romantischer Lebens- und Kunstgesinnung ist evident“93, so das Urteil Roedls über Brigitta. Die Figuren können ihre Leidenschaft beherrschen und dem „sanften Gesetz der Schönheit“94 folgen. Innerhalb weniger Jahre löst sich Stifter von der Schlichtheit seiner ersten Schreibversuche. Sein Verleger Gustav Heckenast (1811-1878) ermuntert ihn zur Herausgabe seiner Erzählungen. 1844 erscheinen die ersten beiden Bände der Studien. Romantische Rührseligkeiten und extensive Beschreibungen sind durch einen einfachen Klang im Erzählen ersetzt. Weniger die Schilderung einer äußeren Farbenpracht als die inneren seelischen Belange stehen im Mittelpunkt.
Stifter selbst setzt hohe Maßstäbe, was sein dichterisches Schaffen angeht. Germaine Goetzinger spricht von einem „Unabhängigkeitsideal“95 Stifters, der im Dichten das geistige Ideal sehe. Inmitten des Trubels der 1848er Revolution entsteht der Aufsatz Über Stand und Würde des Schriftstellers, in dem Stifter die Aufgaben seines Berufes in Form von Grundsätzen festhält:
Die ganze Innerlichkeit eines Menschen ist es zuletzt, welche seinem Werke das Siegel und den Geist aufdrückt. [...] Es ist daher die letzte und tiefste Bedingung des Schriftstellers, daß er seinen Charakter zu der größtmöglichen […] Vollkommenheit heranbilde.96
Der Begriffe „Reinheit“ und „Sittlichkeit“ tauchen immer wieder im Wortschatz Stifters auf. „Sittlichkeit“ bedeutet die auf freier Entscheidung gegenüber dem Sittengesetz beruhende Haltung des Menschen. Sittlich gut ist das freie Tun des Menschen, das den objektiven ethischen Wert und das Sittengesetz bejaht.97
Die Revolution von 1848 bietet Stifter den geeigneten Anlass, seine Bildungsgedanken in klare Worte zu fassen. Er erkennt die Notwendigkeit, das Bildungssystem in Österreich neu zu strukturieren. Stifter wird zum „Schulorganisator“. Der durch die Gewalt und die Zügellosigkeit der Revolution traumatisierte Schriftsteller setzt sich für die Verbesserung des Unterrichts, der Erziehung und des Ansehens der Lehrer ein. In seinem Aufsatz über Bildung des Lehrkörpers formuliert er diese Zielsetzung: „Es ist unsere heiligste Pflicht, das Leben der Lehrer vor Mangel und Entbehrung sicher zu stellen, weil es unsere heiligste Pflicht ist, unsere Kinder gut zu erziehen und unterrichten zu lassen.“98 Erziehung ist bei Stifter nicht nur eine Quelle der Wissensvermittlung, sondern bedeutet ebenfalls die Ausbildung charakterlicher Reife; Bildung wird gleichgesetzt mit umfassender Entwicklung der Persönlichkeit. Auch wenn Stifters Dichtung weit entfernt ist „von jeder theoretischen Reflexion“99 und er keineswegs zu den bekannten Pädagogen des 19. Jahrhunderts zählen kann, bieten seine Grundsätze einen ernstzunehmenden Erziehungsansatz: Gemäß der Definition von allgemeiner Pädagogik als Pflege, Erziehung, Unterricht und Ausbildung der nachwachsenden Generation soll diese Anregungen zur Führung und Begleitung in das Erwachsenenleben bieten.100 Diese Voraussetzungen erfüllt der Stiftersche Denkansatz. Der Persönlichkeitsbildung gilt sowohl seine erzieherische als auch seine schriftstellerische Arbeit. Über die Vermittlung von Kunst als Sinnbild des Schönen möchte er menschenwürdiges Verhalten motivieren. Aufgrund des Wissens um den Wert der eigenen „Sittlichkeit“ kann sich der Charakter ausbilden. Es ist der Ausdruck des Glaubens an einen göttlichen Willen, der seine Absicht bestimmt:
Aber, sagt man, wir sind wieder empor gekommen, und die Menschheit wird einstens doch ihren höchsten, vollendetsten Gipfel erreichen. Ich glaube das selber, und ich müßte verzweifeln, wenn ich es nicht glaubte. Weil Gott das höchste Wesen ist, muß die Menschheit sich einst zur höchsten Höhe erschwingen.101
Mit der Revolution von 1848 ist für Stifter der Zeitpunkt gekommen, Bildung als Staatsauftrag zu formulieren und aktiv an der Verbesserung eines zweckmäßigen Schulwesens mitzuwirken.
Stifters Aussagen über Bildung und Erziehung können weder als eigenständige Pädagogik noch als gewissenhafte philosophische Abhandlung verstanden werden: „Die Philosophen fehlten unter Stifters Büchern, denn er war kein Freund spekulativer Systeme.“102 Obwohl „aller ‚Philosophie’ geradezu feind, zeigt sich doch in dieser Stifterschen Position eine philosophische Grundsatzhaltung [...]“103, so Fischer. Der von der Forschung anerkannte Einfluss von Johann Gottfried Herder, Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), Immanuel Kant und Wilhelm von Humboldt sind auf den weltzugewandten Unterricht in Kremsmünster zurückzuführen und haben ihn in späteren Jahren beeinflusst. Die Bildung von Heinrich Drendorf im Nachsommer ist als allgemeine Bildung im Sinne Humboldts zu verstehen.
Die „philosophischen Studien“ am Gymnasium sind Vorbedingung für die Zulassung zum Universitätsstudium. Stifter besucht zwei Jahre lang den philosophischen Unterricht in Kremsmünster, der acht Wochenstunden umfasst. Hier wird Stifters humanistisch-konservative Weltanschauung geprägt:
Die Mischung von Aufklärung, Christentum und Humanität mit stark konservativer Grundlage ist Ausdruck der Epoche nach 1815. Stifters Ansichten aber erscheinen wesentlich durch seine Zeit bestimmt, da er kein selbstständiger Denker ist.104
Als Lehrbuch der Philosophie dienen die Elementa philosophiae105 des Piaristen106 Joseph Calasanz Likawetz. Diese Kompilation fußt sowohl auf der Philosophie von Leibniz und Wolff als auch auf der von Kant. Diese Studien lassen darauf schließen, dass Stifter kein Außenseiter „im philosophischen Ringen und weltanschaulichen Kampf dieser Zeit“107 ist, so die Folgerung Domandls.
Die von der Philosophie getragene Aufklärung bewirkt in der Pädagogik theoretische und praktische Neuerungen. Vom Erziehungswesen wird die Vermittlung eines nicht durch Tradition, sondern durch Vernunft gesteuerten sittlichen Verhaltens sowie der Zugang zu Bildung für alle Volksschichten gefordert. Die vermehrte Beschäftigung mit Pädagogik und die daraus resultierenden Reformen sind die Folge der neuen Auffassung vom Menschen als einem natürlichen und vernunftbegabten Individuum. Eine Untersuchung des „sanften Gesetzes“ als Grundlage der Bildungsidee lässt Stifters philosophische Grundlagen erkennen. 1879 schreibt Friedrich Nietzsche, der „früheste Bewunderer des Nachsommer“108, in seiner Abhandlung Menschliches, Allzumenschliches:
Wenn man von Goethe’s Schriften absieht [...]: was bleibt eigentlich von der deutschen Prosa-Litteratur übrig, das es verdiente, wieder und wieder gelesen zu werden? Lichtenberg’s Aphorismen, das erste Buch von Jung-Stilling’s Lebensgeschichte, Adalbert Stifter’s Nachsommer und Gottfried Keller’s Leute von Seldwyla, - und damit wird es einstweilen am Ende sein.109
Auch Joseph von Eichendorff (1788-1857) und Franz Grillparzer (1791-1872) zählen zu Stifters Anhängern. Doch nicht alle Kritiken fallen positiv aus. Der deutsche Dramatiker Friedrich Hebbel (1813-1863) bezeichnet Stifter mit seinem Epigramm Die alten Naturdichter und die neuen aus dem Jahre 1849 als einen „Autor der Käfer und Butterblumen“, dem der Blick auf Mensch und Herz nicht gelinge:
Wißt ihr, warum euch die Käfer, die Butterblume so glücken? Weil ihr die Menschen nicht kennt, weil ihr die Sterne nicht seht! Schauet ihr tief in die Herzen, wie könntet ihr schwärmen für Käfer? Säht ihr das Sonnensystem, sagt doch, was wär euch ein Strauß? Aber das mußte so sein; damit ihr das Kleine vortrefflich liefertet, hat die Natur euch das Große entrückt.110
Dass Hebbel mit diesem Epigramm keineswegs recht behält, beweist ein Abschnitt aus Stifters Nachsommer, in der die Gestaltung des Menschen in der Kunst im Mittelpunkt steht:
Steine mit andern Dingen als menschliche Gestalten hatte mein Vater gar nicht. Ich erinnerte mich, daß ich irgendwo – des Ortes konnte ich mich nicht mehr entsinnen – Käfer auf Steine geschnitten gesehen habe.
‘Ich habe die Steine mit menschlichen Gestalten vorgezogen’, sagte mein Vater [...] ‘weil sie mir doch dasjenige schienen, was zu dem Menschen in der nächsten Beziehung steht. [...]’ (4,2, 157)111
Da Stifter sich mit einer Antwort Zeit lässt, zieht sich die Auseinandersetzung zwischen ihm und Hebbel über zwei Jahre hin. Im Jahr 1851 schreibt er in der Vorrede zu seiner Novellensammlung Bunte Steine: „Wir wollen das sanfte Gesez zu erblicken suchen, wodurch das menschliche Geschlecht geleitet wird.“112 Diese Vorrede ist die verspätete Antwort auf Friedrich Hebbels Kritik. Zwei Jahre später wird dieses Epigramm in der Wiener Zeitung Der Wanderer abgedruckt. Hier erhält es als Untertitel die Namen der betroffenen Autoren: „Brockes und Geßner, Stifter, Kompert und so weiter.“ Als verkannter Autor wendet sich Stifter mit seiner Vorrede gegen diese Behauptungen.
Alfred Doppler stellt in seinem Aufsatz Das tragische und das sanfte Gesetz: Hebbel und Stifter – Gegensätze und Gemeinsamkeiten die unbemerkt gebliebenen Berührungspunkte innerhalb der Biographien und dichterischen Werke von Stifter und Hebbel dar. So werden beide von den in die Tagespolitik eingreifenden Schriftstellern des Jungen Deutschland bekämpft, genauso wie beide in ihren Dichtungen einen universellen Anspruch erheben und diesen unter ein allgemeines Gesetz stellen, welches Doppler bei Hebbel als „tragisches Gesetz“ bezeichnet.113 Beide Dichter sind nicht in der Lage, die Schriften des anderen in ihrer Problematik zu erfassen:
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