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Transformationsprozesse von Bräuchen am Fuß der Karpaten im Postsozialismus

Zum Einfluss des Mediums Fernsehen auf die rumänischen Traditionen

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© 2017 Dorina Descaş

Verlag und Druck: tredition GmbH, Grindelallee 188, 20144 Hamburg

ISBN

Paperback:978-3-7439-3979-0
Hardcover:978-3-7439-3980-6
e-Book:978-3-7439-3981-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Danksagung

Meinen Eltern, meinem Mann Radu, Elsa, Hiltrud und Sigrid, vielen Dank für Eure vielfältige Unterstützung beim Schreiben dieses Buchs.

Für die wertvolle Betreuung danke ich

Prof. Dr. Werner Mezger und Prof. Dr. Stefan Pfänder.

„Tradiţiile sunt cel mai sensibil barometru la schimbările sociale.“

[Die Bräuche sind das empfindlichste Barometer sozialer Veränderungen.]

(Alina Ciobănel, Interview 17, S. 8)

„Tradiţia este azi ceea ce te defineşte ca persoană apartenentă la o aşezare şi la o zonă, ceea ce consideri că nu poate fi ȋnlăturat şi uitat.“

[Die Tradition ist heute das, was dich als Person, deine Zugehörigkeit zu einem Ort und einer Gegend definiert; sie ist das, was deiner Meinung nach nicht verschwinden und vergessen werden darf.]

(Narcisa Ştiucă, Interview 24, S. 8)

„Televiziunile au programe ȋnainte de Paşti, de Crăciun, de marile sărbători, ȋn care doresc să ofere oamenilor ceva frumos. […] Adică să mai lăsăm deoparte politica şi scandalurile şi să punem ceva frumos şi atuncea li se spune (reporterilor): “Mergeţi şi căutaţi obiceiuri cât mai inedite!”

[Die Fernsehsender bieten vor Ostern, und Weihnachten oder anlässlich der großen Feiertage Programme, mit denen sie den Menschen eine Freude machen möchten. Offenbar wollen sie Politik und Skandale beiseitelassen und etwas Schönes zeigen; dann wird den Reportern gesagt: „Geht und sucht möglichst einzigartige Bräuche!“]

(Alexandru Gruian, Interview 1, S. 1 - 2)

Inhaltverzeichnis

I. TRADITIONEN IM ZEITALTER DES FERNSEHENS

1 EINLEITUNG

1.1 DARSTELLUNG DER PROBLEMATIK

1.2 GEGENSTAND UND FRAGESTELLUNG

1.3 AUFBAU UND STRUKTUR

1.4 ZUR DEUTUNG DER BEGRIFFE

1.4.1 Brauch und Tradition
1.4.2 Folklore und Folklorismus
1.4.3 Terminologische Präzisierung

2 RUMÄNIEN - DAS LAND AM FUß DER KARPATEN

2.1 ZUR ROMANIA

2.2 LAND, SPRACHE UND KULTUR

2.2.1 Geografischer Raum
2.2.2 Historische Aspekte
2.2.3 Sprachkontakte des Rumänischen im Laufe der Geschichte
2.2.4 Zur Religion und Tradition der Bevölkerung
2.2.5 Theatralität und Volksschauspiel

2.3 DAS KOMMUNISTISCHE REGIME

2.3.1 Der kommunistische Apparat
2.3.2 Die ersten Unruhen
2.3.3 Licht am Ende des Tunnels

2.4 DAS FERNSEHEN ALS KATALYSATOR DER DEMOKRATIE

2.4.1 Die Route der Freiheit
2.4.2 Modernisierung der Technik
2.4.3 Rückblick und gesellschaftliche Transformationsprozesse

3 DIE KULTUR IM WANDEL

3.1 ZUR BEZIEHUNG GESELLSCHAFT ̶ KULTUR

3.2 MODERNISIERUNG UND GLOBALISIERUNG DER KULTUR

3.3 KULTUR IN ZEITEN DER MEDIENGESELLSCHAFT

4 DIE WELT DER MEDIEN

4.1 HISTORISCHE ENTWICKLUNG DER MEDIEN

4.1.1 Gegenstandsbereich und Medientypen
4.1.2 Zur Geschichte des Radios und Fernsehens

4.2 THEORETISCHE ASPEKTE DER FERNSEHERFORSCHUNG

4.2.1 Das Medium Fernsehen in den Theorien McLuhans
4.2.2 Herangehensweise an das Medium Fernsehen
4.2.3 Die Determinante des Fernseh-Profils (Paleo- und Neotelevision)
4.2.4 Musik- und Nachrichtensendungen als wichtige Komponenten der Unterhaltungs- beziehungweise Informationsprogramme
4.2.5 Eingrenzung der Problematik

4.3 ZUR MEDIALEN KONSTELLATION IN RUMÄNIEN

4.3.1 Ein unverhofftes Plus an Sendezeit
4.3.2 Die postsozialistische Entwicklungsperiode des Telejournalismus
4.3.3 Verwertung von Bräuchen im rumänischen Fernsehen

II. EMPIRISCHER TEIL

1 PRÄMISSEN DER FELDFORSCHUNG

1.1 SOZIALE FAKTEN UND DIE ROLLE DER QUALITATIVEN FORSCHUNG

1.2 REICHWEITE UND FORSCHUNGSSTANDPUNKT

1.3 TÄTIGKEIT UND RELEVANZ DES FORSCHERS

1.4 PLANUNG UND ABLAUF DER FELDFORSCHUNG

1.5 VORSTELLUNG DER INTERVIEWBETEILIGTEN

1.6 ERHEBUNGSVERFAHREN: BEOBACHTUNG, BEFRAGUNG UND GESPRÄCHSANALYSE

1.7 FELDFORSCHUNGSKATEGORIEN

1.8 ANALYSE UND AUSWERTUNG DER DATEN

2 ERGEBNISSE DER FELDFORSCHUNG

2.1 TRANSFORMATIONSPROZESSE DER BRÄUCHE IM SOZIALISMUS

2.1.1 Elemente der Kontinuität
2.1.2 Zum kommunistischen Regime in Rumänien
2.1.3 Die erste Umkontextualisierung der Bräuche
1.4 Zur Unterdrückung und Kollektivierung
2.1.5 Die Religion im Kommunismus
2.1.6 Das Festival „Cântarea României“
2.1.7 „Tezaur Folcloric“ – Kontinuität einer Fernsehsendung

2.2 ZUM WANDEL DER BRÄUCHE IM POSTSOZIALISMUS

2.2.1 Veränderungsprozesse in der postrevolutionären Gesellschaft
2.2.2 Gründe für die Transformation und den Verlust von Traditionen
2.2.3 Bewahrungsfaktoren für die Traditionen
2.2.4 Veränderung der Bräuche im Orăştie-Gebirge
2.2.5 Die aktuelle Situation der rumänischen Traditionen und ihre Rolle in der Gesellschaft

2.3 MEDIALISIERUNG DER TRADITIONEN IM POSTSOZIALISMUS

2.3.1 Bräuche als Kontrastprogramm zum turbulenten Alltag und zur Politik
2.3.2 Die Inszenierung der Bräuche und Traditionen im Fernsehen
2.3.3 Zur Bedeutung und Qualifikation des Fernsehteams
2.3.4 Akademische und lokale Erhaltungsformen der Traditionen versus kommerzielle Folklore
2.3.5 Die Bildungsfunktion des Fernsehens
2.3.6 Die Sensation als Dominante der Fernsehlandschaft
2.3.7 Die Rolle der Interaktivität und des Fernsehmoderators
2.3.8 Das Fernsehverhalten des Publikums und die Rolle der Wettbewerbe
2.3.9 Die Fernsehwelt und die Traditionen
2.3.10 Die Präsenz des Wissenschaftlers im Fernsehen

III. ZUSAMMENFASSUNG UND KONKLUSIONEN

IV. BIBLIOGRAPHIE

V. ANHANG: ÜBERSICHT DER DURCHGEFÜHRTEN INTERVIEWS

I. Traditionen im Zeitalter des Fernsehens

1 Einleitung

1.1 Darstellung der Problematik

Das Thema Bräuche und Traditionen sowie die Vielfalt der damit verbundenen Phänomene wie Globalisierung und Medialisierung war in den letzten Jahrzehnten, insbesondere in Westeuropa und in den USA, Gegenstand zahlreicher Untersuchungen und Studien. Daraus konnten einerseits diverse empirische Ergebnisse gewonnen und Theorien1 entwickelt werden, andererseits analysierten die Wissenschaftler verschiedene Evolutions- und Entwicklungsprozesse, die in diesen Weltregionen aus der Interaktion von Bräuchen und Traditionen mit anderen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen festzustellen waren. Zudem gab es vielfältige Bemühungen, diese Problematik interdisziplinär, aus der Perspektive der jeweils involvierten Disziplinen zu betrachten, so dass man heute auf vielfältige Beiträge aus der Ethnologie, Soziologie, Philologie, Musikwissenschaft, Kulturanthropologie und den Rechtswissenschaften zurückgreifen kann, um nur einige zu erwähnen.2

Im Unterschied zur Entwicklung von Bräuchen und Traditionen in den westlichen Demokratien und aufgrund seines besonderen politischen Weges weist der östliche Teil Europas in Bezug auf das Zusammenspiel und den gegenseitigen Einfluss von Traditionen sowie auf die neuen gesellschaftlichen Phänomene der technisch geprägten Welt einen gesonderten Werdegang auf – diese Partikularitäten haben ganz eigene Wandlungs- und Neuerungsvorgänge generiert. In diesem Kontext und aus der gegenwärtigen historischen Perspektive heraus ergibt sich daher die Notwendigkeit einer aktuellen Untersuchung, um den Interaktions- und Transformationsprozessen sowie deren Einfluss auf die Bräuche und Traditionen der jeweiligen Länder auf den Grund zu gehen.

Für eine solche Analyse spielen die analogen und die Druckmedien im Hinblick auf die Entwicklung jeder Gesellschaft eine sehr wichtige Rolle, deren Bedeutsamkeit bisher jedoch vorwiegend in spezifischen Disziplinen wie Medienkulturgeschichte, Medienpolitik, Medienethik, Medienproduktion oder Medienwirtschaft, erforscht und analysiert wurde. Dem Einfluss auf Lebensweise und Alltag der Menschen wurde dabei kaum Rechnung getragen – eine Forschungslücke, die diese Arbeit zu schließen versucht.

Diese Themenstellung ist gerade deshalb besonders relevant, weil das Ende des Jahres 1989 einen Wandel in der politischen Szene Südosteuropas mit sich brachte, darunter auch den lang ersehnten Machtwechsel in Rumänien. Bereits in der sozialistischen Ära hatte die kommunistische Partei die Bedeutung der Medien, speziell des Fernsehens, als politisches Machtinstrument entdeckt und genutzt. Und auch während der Revolution zeichnete sich die signifikante Rolle der Medien, insbesondere des Fernsehens, für den Erfolg des Freiheitskampfes früh ab. Denn schon wenige Tage nach Beginn der Revolution wurde das Rumänische Fernsehen in Bukarest als eine der ersten staatlichen Institutionen erstürmt und befreit. Die Revolutionäre bedienten sich der Plattform des Fernsehens, um ihre Botschaft nach außen zu tragen und die Bevölkerung über den Ablauf des Aufstands zu informieren. Infolgedessen stieg die Glaubwürdigkeit der bis dahin parteitreuen, also stark zensierten und daher meist skeptisch betrachteten rumänischen Medien rasant. Als Träger der neu gewonnenen Meinungsfreiheit bildeten sie nun das Fundament für die neue demokratische Gesellschaftsordnung und erreichten auf diese Weise eine bislang nicht gekannte Dimension. Dabei vermutete in der anfänglichen Euphorie, die mit Sicherheit gerechtfertigt war, kaum jemand das Ausmaß der damit verbundenen Veränderungen und deren Auswirkungen auf alle Bereiche und Ebenen der Gesellschaft. Erst mit der Zeit stellte sich heraus, wie schwierig die gesellschaftliche Wende von einem sozialistischen System zur Demokratie zu gestalten ist.

In den folgenden zwei Jahrzehnten durchlief das Land mehrere Modernisierungsetappen, die politische, ökonomische und soziale Konsequenzen nach sich zogen. Die rumänische Bevölkerung, die bis zu diesem Zeitpunkt mehr reagieren als agieren durfte, wurde innerhalb kürzester Zeit mit dieser neu gestalteten Konstellation und all ihren Neuerungen konfrontiert. Bewusst oder unbewusst mussten sich die Menschen an die demokratischen Verhältnisse anpassen und sich mit der repressionsfreien Realität auseinandersetzen, um deren funktionellen Parameter zu verstehen und Lösungen für die neu entstandenen Situationen zu finden. Dieser Prozess des Umdenkens und Umstrukturierens bildete eine der schwierigsten Herausforderungen für die rumänische Gesellschaft und ist bis heute noch nicht völlig abgeschlossen. Zudem hat die gesellschaftliche Relevanz des Fernsehens in den letzten fünfundzwanzig Jahren als bedeutende Informations- und Unterhaltungsquelle im Zuge der Modernisierung bzw. Globalisierung und als wichtige Plattform für die Inszenierung der Bräuche und Traditionen eine enorme Steigerung erlebt.

1.2 Gegenstand und Fragestellung

Da sowohl der politisch-institutionell gelenkte Umgang mit den Bräuchen im sozialistischen Rumänien als auch die durch Modernisierung und Globalisierung bedingten Wandlungsprozesse im Postsozialismus überwiegend vom Fernsehen transportiert werden, erweist es sich für die vorliegende Arbeit als zwingend notwendig, die Erforschung dieser gesellschaftlichen Erscheinungen anhand des Mediums Fernsehen vorzunehmen.

In meiner empirisch angelegten Studie untersuche ich daher die Wandlungsphänomene im postsozialistischen Rumänien sowie den Einfluss des Mediums Fernsehen auf Bräuche und andere performative Traditionen, die einen identitätsstiftenden Bereich der Populärkultur des Landes darstellen. Dabei ist es notwendig, erstens der Frage nach der Funktion der Bräuche in der sozialistischen Ära nachzugehen sowie der Rolle der politisch initiierten und geförderten medialen Inszenierung der Traditionen für die Bildung des sozialistischen Identitäts- und Nationalitätsgefühls. Im Fokus der zweiten wesentlichen Fragestellung stehen die durch den medialen Einfluss bedingten Transformationsprozesse, denen die Bräuche und Traditionen im postsozialitischen Rumänien unterworfen sind. In einem dritten Schritt wird die Wirkung der nach der Revolution von 1989 so gut wie bruchlos fortgeführten Präsentation von Bräuchen im Fernsehen, insbesondere von musikalischer Folklore, untersucht und nach dem aktuellen Stellenwert der dortigen Sozialisierungsfunktion von Bräuchen gefragt, nicht zuletzt ange-sichts der zunehmenden Konkurrenz auf dem rumänischen Medienmarkt.

Zwar wäre es sicherlich höchst interessant, eine Inventarisierung der Wandlungsphänomene und des derzeitigen Status' der Bräuche und Traditionen in Gesamtrumänien zu diesem Zeitpunkt vorzunehmen, allerdings wäre dies das Unterfangen eines gewaltigen Forschungsteams und vieler Jahre harter Arbeit. Und auf jeden Fall würde es die Kapazitäten und den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Aus diesem Grunde wird sich meine Untersuchung auf ein kleineres klar definiertes Feldforschungsgebiet beschränken, nämlich die Gegend Orăştie im Kreis Hunedoara. Eine solche Eingrenzung des Forschungsgebiets ist gerade im Falle Rumäniens zulässig, da die kommunistische Regierung hier – wie auch in den anderen nach dem zweiten Weltkrieg aus dem Boden gestampften sozialistischen Staaten – nach stalinistischen Muster und mithilfe einer zentralistischen Organisationsstruktur bewusst einen bemerkenswerten Nivellierungsprozess der Gesellschaft erreicht haben. So kann der Kreis Hunedoara sowohl hinsichtlich der kommunistischen Zwangsindustrialisierungspolitik als auch in Bezug auf die Reliefformen, die für den Kollektivierungsprozess im Lande relevant sind, als Prototyp dienen. Aber auch in Hinblick auf die historische Bedeutung der Region, die insbesondere in der nationalistischen Phase des Kommunismus eine wichtige Rolle spielte, und nicht zuletzt aus sprachlicher Perspektive, nämlich als Erscheinungsort einer der ersten rumänischen Schriften, der „Palia de la Orăştie“, bietet sich dieser Teil Rumäniens in seiner Beispielhaftigkeit als Feldforschungsgebiet an. Denn aus den oben dargestellten Gründen lassen sich einige wesentliche Aspekte meiner Untersuchung auf den Rest des Landes extrapolieren

Da das Medium Fernsehen, wie schon oben beschrieben, sowohl in der sozialistischen Ära als auch während des Regimewechsels 1989 als politisches Machtinstrument genutzt wurde, liegt die Bedeutung dieses Mediums für die vorliegende Studie auf der Hand. Meine Arbeit wird sich daher mit den Auswirkungen der Medien, vor allem des Mediums Fernsehen, auf die Traditionen und ihre Rolle in diesem Transformationsvorgang beschäftigen und die Maßnahmen zur Förderung und Konservierung der einheimischen Sitten eruieren.

Die empirischen Daten der Studie werden im Rahmen der durchgeführten Feldforschung erhoben. Die transkribierten Interviews dienen als Basis für die anschließende Diskursanalyse, die in Korrelation mit den bisherigen theoretischen Erkenntnissen dargestellt wird.

1.3 Aufbau und Struktur

Die Arbeit gliedert sich in zwei Hauptteile, die einerseits die theoretischen Aspekte, andererseits die empirische Blickrichtung der Untersuchung behandeln. Der erste Teil, der den theoretischen und wissenschaftlichen Hintergrund beleuchtet, bildet dabei das Fundament für den empirischen Teil und die darauf folgende Analyse.

Das erste Kapitel widmet sich der Einführung in die Thematik und der terminologischen Klärung, was zu einem besseren Gesamtverständnis des untersuchten Gegenstands beitragen soll. Im zweiten Kapitel wird zunächst Rumänien als Untersuchungsgebiet schrittweise von der Makroebene zur Mikroebene aus verschiedenen Perspektiven vorgestellt. Darauf aufbauend thematisiere ich im zweiten Teil des Kapitels die politische Lage und die Konjunktur des Landes. Dabei wird nach der Darstellung des diktatorischen Systems und dessen Intentionen auf die politische Wende vom Dezember 1989 sowie die Rolle der Medien und die Technikentwicklung eingegangen. Anschließend werden unterschiedliche Aspekte der landesspezifischen Brauchkonstellation vorgestellt. Die Kulturproblematik und der Einfluss einiger Modernisierungsphänomene wie die Globalisierung oder die Medien bilden die Themen, die im dritten Kapitel behandelt werden. Mit der Medienentwicklung und der Analyse des Mediums Fernsehen beschäftigt sich schließlich das vierte und letzte Kapitel des theoretischen Teils. Basis der Überlegungen sind die Ansätze der Forschungstheorie von T. S. Eliot, George Steiner, Guy Debord, Giles Lipovesky und Marshall McLuhan, die der Untersuchung den nötigen theoretischen Hintergrud verleihen.

Der zweite Teil konstituiert die empirische Komponente der Arbeit, in der die Forschungsresultate der qualitativen Untersuchung in Bezug auf die Transformationsprozesse der rumänischen Bräuche geschildert werden. Nach der Vorstellung meines Forschungsprozedere, des Feldforschungsablaufs und der Interviewpartner stelle ich die konkreten Ergebnisse der Feldforschung vor, die sich in drei Teile gruppieren lassen. Einleitend wird der Einfluss der sozialistischen Periode auf die Traditionen analysiert, gefolgt von der Wandlung der Bräuche im Postsozialismus. Mit dem Einfluss der Medien und ihrer Rolle bei der Inszenierung der Traditionen beschäftigt sich das letzte Unterkapitel. Die Ergebnisse der empirischen Recherche werden durch eine erneute Inkursion in die theoretischen Ansätze abgerundet, deren Ziel es ist, die Richtigkeit der Arbeitsthesen und der Fragestellung zu überprüfen.

Der letzte Abschnitt befasst sich mit Reflexionen über die gesamten Transformationsprozesse der rumänischen Bräuche, und mit neuen Forschungsimpulsen.

1.4 Zur Deutung der Begriffe

Vor einer detaillierten Schilderung des Rahmens meiner Arbeit und der allgemeinen Situation vor Ort sollen zunächst zum besseren Verständnis einige generelle Fragen zum Thema Bräuche und Traditionen geklärt werden.

1.4.1 Brauch und Tradition

Eine umfangreiche Definition des Begriffs Brauch ist wegen der Komplexität des damit assoziierten Sachgebietes in der Volkskunde sehr schwer festzulegen. Aus diesem Grund provozierte dieser Terminus in wissenschaftlichen Kreisen eine intensive Debatte.

Der Duden definiert Brauch als eine „[aus früherer Zeit] überkommene, innerhalb einer Gemeinschaft fest gewordene und in bestimmten Formen ausgebildete Gewohnheit“.3 Die Gewohnheiten eines Individuums werden im Deutschen nicht Brauch genannt. Dagegen hat der rumänische Begriff obicei [Brauch] laut dem rumänischen DEX4 sowohl die Bedeutung „wiederholtes persönliches Verhalten“ als auch „fest gewordene gemeinsame Gewohnheit […] eines Volkes oder einer Gemeinschaft von Menschen; Sitte, Tradition, Usance, Usus“.5 Der rumänische Soziologe Ernest Bernea definiert den Begriff wie folgt: „Brauch bedeutet zuerst Gewohnheit, kollektive Gewohnheit, wiederholtes Handeln, mit dem Zweck, das soziale Leben zu erhalten und zu organisieren.“6

Eine komplexe und für die vorliegende Arbeit geeignete Beschreibung des Brauchbegriffs liefert Andreas Bimmer, der ihn als eine soziale Kategorie betrachtet, die eine präzise gesellschaftliche Aktion beschreibt.7

Ein rigoroser Turnus und eine deutliche Permanenz charakterisieren die Bräuche und ebenso die Relevanz, die der Brauch für die praktizierende Gemeinschaft hat. Weitere Merkmale des Phänomens Brauch kristallisieren sich durch festgelegte Elemente der Handlung wie: Beginn, detaillierter Ablauf und Abschluss heraus. Die ausübende Gruppe kennt die Zeichensprache und die Bedeutung jedes Ritualschrittes sehr gut und nimmt in dieser Weise am gesellschaftlichen Leben teil. Darüber hinaus können die Bräuche als eine Projektion der sozialen Lebensäußerungen der Gemeinde betrachtet werden. 8

Ein klassisches Untersuchungsfeld der Volkskunde bildet in diesem Sinne die Festforschung. Die wissenschaftliche Debatte der letzten Jahrzehnte auf diesem Forschungsgebiet zeigt eine offene Haltung der Volkskunde gegenüber anderen Beiträgen aus benachbarten sozialwissenschaftlichen Disziplinen, die sich verstärkt mit Themen wie Alltagsleben, Freizeit und direkte Kommunikation auseinandersetzen. Die detaillierte Dokumentation, die sorgfältige Analyse und Interpretation der Feste spielen weiterhin eine wichtige Rolle. Dabei sollten sich die Forscher keinesfalls auf die Beschreibung des Brauchablaufs beschränken, sondern alle anderen wichtigen Faktoren berücksichtigen, wie z. B. die implizierten sozioökonomischen, historischen und religiösen Aspekte. Auf der kulturellen Ebene ist die Erforschung der Werte- und Normensysteme neben Motivation und Intention der Individuen von großer Bedeutung.9

Die Gemeinde charakterisiert sich mit Hilfe der Bräuche und Traditionen, die eine bestimmte kulturelle und regionale Identität schaffen, als Entität. Die Assoziierung der Bräuche mit einem gewissen Typus von Volksschauspiel ist nicht willkürlich, sondern basiert auf genauen Zusammenhängen, was die Maskierung und die Übernahme einer Rolle angeht.10

Beim Volksschauspiel trifft man auf interessante, im Theater nicht existierende Merkmale, zum Beispiel auf eine fehlende Trennung von Publikum und Schauspielern oder auf die Einbindung von Menschen aller Schichten, Bildungsgrade und Altersstufen. Dabei muss die Bedeutung der Terminbindung an den Festkalender unbedingt berücksichtigt werden, da diese ein wichtiges Einteilungskriterium bildet. 11

Zusammenfassend kann man sagen, dass die Komplexität des Brauchbegriffs und die damit verbundenen erschwerten Definitionsmöglichkeiten in der modernen Forschung eine Strömung generiert haben, die das Brauchphänomen in der Europäischen Ethnologie nicht mehr als zentrales Untersuchungsthema des Faches betrachtet. Trotz unzähliger Debatten bleiben die Bräuche jedoch weiterhin eine Realität, eine wichtige Komponente des sozialen Lebens, und qualifizieren sich somit für die Volkskunde als wesentlichen Forschungsgegenstand.12

Die Volksschauspielforschung und andere benachbarte ethnologische Forschungsthemen vervollständigen in diesem Kontext die Relevanz dieser wissenschaftlichen Gebiete im Rahmen der Volkskunde. Die Grenzen bleiben jedoch offen und interferieren manchmal mit den Forschungsgebieten der Literaturwissenschaft, der Soziologie und der Geschichte, was zu einem besseren Gesamtverständnis des Begriffes beiträgt.

Da Bräuche Ausdruck der Tradition sind, sollte der Begriff Tradition aus einem ähnlichen Blickwinkel analysiert werden. Die einzelnen Facetten des Phänomens bilden auch hier ein Ensemble von Perspektiven, die zu einer komplexeren Sichtweise führen.

So musste beispielsweise die veraltete Meinung, Tradition sei ein Zeichen für Stagnation, revidiert werden. Entsprechend kann man auch nicht von zeitloser Tradition sprechen, weil sie selbst ein geschichtlicher Vorgang ist. In diesem Zusammenhang stellt sich ebenso die Frage, wie lange etwas praktiziert oder festgehalten werden muss, um als Tradition zu gelten. Die Identifizierung und das Verstehen der Bestandteile von Tradition wie traditionelle Handlungsregeln, soziale Kontrolle oder standardisierte Formen des Zusammenlebens und deren Bedeutung sind wichtig, um die Begriffskonstante der Tradition in der Volkskunde erfassen zu können.13

Wie sich diese Faktoren geographisch, historisch, sprachlich und religiös in der rumänischen Brauchtumskonstellation reflektieren, werde ich in den folgenden Kapiteln genauer untersuchen.

1.4.2 Folklore und Folklorismus

Da in verschiedenen Kultur- und Sprachräumen sehr unterschiedliche Semantiken des Begriffs Folklore anzutreffen sind, sollen an dieser Stelle zur besseren Verständigung zunächst die notwendigen sprachlichen und kulturellen Nuancierungen des Begriffs vorgestellt werden.

Man kann zunächst festhalten, dass die Folklore die erste kreative Phase auf spiritueller Ebene in der Kulturgeschichte der Menschheit oder eines Volkes bildet, weshalb sie eine spezielle Facette der Kunst auszumachen scheint. Dabei ist sie eng mit den wichtigsten Momenten im Leben von Gemeinschaften und Einzelpersonen wie Arbeit, Feste, Geburt, Heirat oder Tod verknüpft.14

Die Forschungspioniere auf dem Gebiet der Folklore berücksichtigten nur den Glauben, Aberglauben, Bräuche und Volksliteratur als Reliquien und Symbole der Vergangenheit, alles Elemente, die die Tradition bilden. Diese Erscheinungen nannten sie Volksantiquitäten, Volkstraditionen oder Volksliteratur.15

1846 schlug der englische Altertumsforscher William John Thoms eine Zusammenfassung all dieser Begriffe unter den Terminus „folklore“ [engl. „folk“, Volk; und engl. „lore“, Weisheit, Beschreibung, Wissenschaft]. Demnach sei „the lore of the people“ die Wissenschaft über das Volk. Diese generalisierende Ausdrucksweise beinhaltete einerseits die Volkskreation, andererseits die Wissenschaft, die dieses Phänomen behandelt.16

Das rumänische DEX definiert Folklore als Summe aller künstlerischen Kreationen, Bräuche und Volkstraditionen, eine Darstellung, die verbreitete Anerkennung fand, auch wenn sie in der Folge von den Spezialisten weiter verfeinert und vervollständigt wurde.17

Trotz scheinbarer Vereinfachung der Terminologie sollte unbedingt eine Differenzierung gemacht werden: Die Folklore beschreibt in Anlehnung an den englischen Begriff die künstlerische Kreation des Volkes, während die Folkloristik in Rumänien diejenige Wissenschaft ist, die sich mit der Untersuchung dieser Schöpfungen beschäftigt. Außerdem ersetzte in Rumänien der Begriff Folklore schrittweise Bezeichnungen wie Volkstraditionen, Volksliteratur, Volkslied oder Volkstanz. Im Hinblick auf die Bedeutung des Begriffs Folklore existieren unterschiedliche Konzeptionen, die entweder eine Erweiterung oder eine Reduzierung des Begriffsumfangs anstreben. Ein erstes Konzept sieht in der Folklore alle Bereiche der künstlerischen Kreationen des Volkes18 wie Literatur, Musik, Tanz, Trachten und Keramikkunst umfasst. Eine andere verbreitete Auffassung betrachtet ausschießlich die spirituelle Volkskultur – damit sind Musik, Literatur, Tanz und Volksschauspiel gemeint –, als Folklore, während anderen Kreationen wie Trachten, Holzschnitzerei oder Keramikkunst der Ethnographie zugeschrieben werden.19 Diese letzte Betrachtungsweise bestätigt die Anmerkung Hermann Bausingers bezüglich der charakteristischen Disziplintrennung im osteuropäischen Raum, nämlich der Ethnographie für die Erforschung der materiellen Kultur einerseits und der Folkloristik für die Erforschung der Volksdichtung andererseits.20

In diesem Zusammenhang müssen drei wichtige rumänische Beiträge zur Abgrenzung und Definition der Disziplinen erwähnt werden, und zwar die Ideen und Prinzipien, die Ovid Densusianu21 in 1909 bei der Eröffnung der Folklore-Vorlesung an der Universität Bukarest präsentiert hat, diejenigen von Romulus Vuia aus dem Jahr 1926 bei der Eröffnung des Ethnographie-Kurses in Cluj und jene, die Mihai Pop und Pavel Ruxǎndoiu im Kapitel "Volkskultur und Folklore. Abgrenzungen" des Kurses "Rumänische Literarische Folklore"22 formulieren.23

Da im deutschen Sprachraum der Begriff Folklore nicht einheitlich benutzt wurde, haben die Wissenschaftler hierzulande deutsche Termini wie Volksüberlieferungen für das Wissen und die Erfahrung der einfachen Leute und Volkskunde24 für die Wissenschaft über das Volk bevorzugt, weil sie die landesspezifische Ausrichtung deutlicher und adäquater reflektieren. Bezüglich der Bezeichnung Folkloristik weist Hermann Bausinger darauf hin, dass dieser Begriff trotz mangelnder Konsequenz im Gebrauch für die Bezeichnung des Faches bevorzugt worden sei. Prinzipiell lasse sich erkennen, dass bei der Begriffsnutzung generell nicht der Sinngehalt „Wissen über folk“ im Hintergrund gestanden, sondern dass es sich eher um eine Abkürzung für „folclore studies“ gehandelt habe.25

Der Gedanke, die europäischen Völker als ein Ensemble zu betrachten, ist nicht neu und basiert teilweise auf Ähnlichkeiten des Alltagslebens auf dem Kontinent und auf den gemeinsamen historischen Entwicklungsphasen der existierenden Populationen. Zur Unterstützung dieser These kommen auch zahlreiche Analogien der folkloristischen Merkmale zum Einsatz, was generalisierend zu dem Konzept einer europäischen Folkloregemeinschaft führt.

Als Bestandteil dieser folkloristischen Gemeinde wird auch die Folklore des Donau-Karpatenraums angesehen, die sich durch ihre Lebendigkeit und Teilnahme der Bevölkerung an das Brauchphänomen auszeichnet. Allerdings lassen sich auch hier regional geprägte Unterschiede bezüglich der Intensitätsgrade der Bewahrung des Brauchtums und der zeitlichen Veränderungsprozesse feststellen.

Im literarischen Bereich bildeten diverse Formen der Volkskultur eine unendliche Inspirationsquelle für die rumänischen Schriftsteller, Dichter und Künstler, eine Tatsache, die zur Herausbildung einer erstklassigen Literatur führte.26

Das Konzept der Volkskultur selbst war auch in Rumänien, wie fast überall, im Laufe der Zeit ein Grund für viele polemische Diskussionen, die sich an der ursprünglichen Ungenauigkeit des Terminus„, dem breiten Spektrum der phänomenologischen Valenzen und den zahlreichen Assoziationen entzündeten. Zu einer erschwerten Definition des Begriffs trug ebenso die Relativität des Etymons Volk in der Ethnologie bei.

Darüber hinaus kristallisierten sich einige Tendenzen mancher Autoren heraus, die die Bezeichnung Volkskultur differenzierter einsetzen wollten, um sie gezielt illustrieren zu können. Daraus resultierten Ausdrücke wie cultură tradiţională orală [traditionelle mündliche Kultur], bei den Repräsentanten der aus Temeswar stammenden Folkloreschule oder cultură cărturărească27 [Gelehrtenkultur], eine von Mihai Pop und Pavel Ruxăndoiu eingeführte Formulierung mit dem Ziel, die Schöpfungen der Persönlichkeiten darzustellen.

In verschiedenen wissenschaftlichen Studien, die die Problematik der Volkskultur behandelten, ist eine weitere Unterteilung anzutreffen, die zwecks höherer Genauigkeit eine konventionelle und methodologische Unterteilung auf zwei Niveaus befürwortet: die Ebene der spirituellen und die der materiellen Kultur.28

Nicht zuletzt sollte die zentrale Rolle des Synkretismus in der rumänischen29 Folklore, die in fast allen folkloristischen Kreationen vorkommt, betont werden. Der Synkretismus ist eine Symbiose zwischen Wort, Musik und Tanz, die als kompakte Einheit dem Inhalt mehr Ausdruckskraft verleiht.30

Die Umgebung von Hunedoara kann neben vielen anderen brauchreichen Regionen Rumäniens als „Denkmal“ althergebrachten Lebens des Donau-Karpaten-Gebietes betrachtet werden.31 Trotz häufiger von wichtigen historischen Momenten geprägter Schwankungen, zeigt die Landesbevölkerung immer wieder Interesse an den vom Volk geschaffenen Werten, die als Symbole der Spiritualität gelten können.

Selbst dann, wenn die Aussagen der Dorfbewohner mit den schriftlichen Informationsquellen kombiniert werden, sollte ein kritischer Blick nicht fehlen, da viele Heimatschriftsteller und schreibfreudige Heimatfreunde in ländlichen Bezirken literarischen Folklorismus pflegen. Selbst wenn letztere die Menschen und das Leben vor Ort kennen, ist die Versuchung groß, in ihre literarischen Produktionen viele sentimentale, imaginäre und urzeitlich-mythische Aspekte einfließen zu lassen. Umso schlimmer ist es, wenn diese Bücher von Fachleuten als Quellenmaterial benutzt werden und somit Eingang in die Fachliteratur finden.32 Angesichts dieser Sachlage erachte ich an dieser Stelle einen kurzen Überblick zum Thema Folklorismus als relevant.

Der Begriff Folklorismus wurde 1962 von Hans Moser in die Volkskunde eingeführt. Mit seinen beiden Aufsätzen „Vom Folklorismus in unserer Zeit“ (1962) und „Folklorismus als Forschungsproblem der Volkskunde“ (1964) hat der Autor eine langjährige Fachdiskussion angestoßen. Der Begriff bezieht sich laut dem Volkskundler auf zwei Aspekte:

Auf das mit der zunehmenden zivilisatorischen Nivellierung zugleich wachsende allgemeine Interesse an „Volkstümlichem“ schlechthin und an alle seinen Reservaten, in denen das Leben noch Eigenart und Ursprunglichkeit, Kraft und Farbe hat oder jedenfalls zu haben scheint. Zum zweiten und im besonderen auf die Praxis, dieses Interesse zu befriedigen, zu stärken, gegebenfalls erst zu wecken, indem man „Volkstum“, zumeist in einem Extrakt des folkloristisch Attraktiven, vermittelt. Es gibt viele Möglichkeiten, noch vorhandene echte Traditionsformen in bestimmter Richtung zu kultivieren, aber auch aus ihrer Lebenssphäre herauszulösen und zu verselbstständigen, künstlich oder künstlerisch umzuformen, zu verniedlichen oder zu vergröbern, dann dort, wo es an wirkliche Substanz fehlt, Volkstümliches nachzubilden, ja frei zu erfinden, um schließlich einem heute sehr breiten, aufnahmenbereiten Publikum ein eindrucksvolles Gemisch von Echtem und Gefälschtem zu bieten.33

Kein Wunder, dass Moser unter Folklorimus schließlich „die Vermittlung und Vorführung von Volkskultur aus zweiter Hand“ versteht.34

Diese Auffassung kommentiert Hermann Bausiger folgendermaßen: „[…] im Zentrum seiner [Mosers] Beobachtungen stehen aber Veränderungen von Bräuchen, die im Zeichen des Fremdenverkehrs oder auch aufgrund der Nachfrage von Medien von oft sehr schlichten Formen der Ausführung in demonstrative und farbige Formen der Aufführung übergehen.“35 Zudem ist Bausinger der Meinung, der weniger präzise als prägnante Begriff Folklorismus sei von Moser nicht genau definiert, sondern eher umrandet worden.36 Aus diesem Grund unterlag der Begriff auch häufig der Kritik.

So beanstandet Konrand Köstlin in Mosers Überlegungen zum Beispiel das Vorhandensein einer „Urfunktion“ des Folklorismus, was diesen in Opposition zu dem Echten und Unverfälschten setze. Dementsprechend fühlten sich diejenigen, die bestimmte wiederbelebende Brauchtumsphänomene wie Sprache, Tracht oder Fest bewahren wollten, irgendwie verpflichtet, den Folklorismusverdacht abzuwehren.37

Die Frage, ob Foklorismus und Volkskultur eine therapeutische Funktion für die unter Entfremdung leidenden Menschen in unserer Industriegesellschaft übernehmen können, thematisiert Köstlin unter verschiedenen Aspekten in seinem Aufsatz „Folklorismus als Therapie? Volkskultur als Therapie?“ aus dem Jahr 1982.38 Der Autor kritisiert hier die reduzierende Wahrnehmung der Volkskultur, die jahrelang auch in der Volkskunde herrschte und entsprechend nur einen Teil der kulturellen Formen erfasst hat. Seine Beschreibung ist sehr anschaulich:

Volkskultur war der eher demonstrative, extrovertierte Teil der Kultur, war damit auch nur segmentäre Kultur. Es handelt sich um die Kultur, die auf Zuschauer ausgerichtet war, die in einer bestimmten Umgebung verankert war, auf diese wirken sollte, eine Kultur, die ihr Publikum benötigte. Es ist jene extrovertierte Kultur, die mit Tanz, Musik, mit festlichem Brauch den Anteil der Kultur darstellt, der der folkloristischen Verwertung, dem Folklorimus besonders zugänglich ist.39

In Anlehnung an Joseph Roth betont Köstlin, dass „Folkloristisches“ eher typisch für die Besucher als die Darsteller von Volkskulturveranstaltungen sei. Die Stärkung des Selbstverständnisses, des Selbstbewusstseins und des Sicherheitsgefühls könne als eine Art Therapie verstanden werden und somit eine mögliche Strategie des Folklorimus darstellen.40

Ein weiterer Aspekt des Folklorismus sei der ästhetische Umgang mit Elementen der Volkskultur, deren Verbindung mit der Tradition hervorgehoben werde und zur Festigung lokaler Identität dienen solle, selbst wenn diese Bestandteile aus dem Kontext gerissen und in völlig neue Zusammenhänge gesetzt würden. Auf diese Weise würden gewisse Teile der Folklore selektiv erneuert, konserviert und „in die Nähe des Musealen“ gerückt.41 Diesbezüglich gelingt Hermann Bausinger eine pointierte Gegenüberstellung von Folklore und Folklorismus:

Folklore ist oder war mehr oder weniger selbstverständlich, weithin ritualisiert – hier wird sie als Wert reflektiert und bewußt inszeniert. […] Folklore ist oder war verbunden mit vorgegebenen, quasi gewachsenen sozialen Strukturen – jetzt bedarf sie der Organisation. In Folklore sind oder waren Glaubensmomente und Ideologeme integriert – jetzt werden sie herausgeholt und als Ziele verkündet.42

Der Begriff Folklorismus mache deutlich, dass ein Verschiebungsphänomen stattgefunden habe, und äußere die Tatsache, dass bestimmte Elemente der früher unauffälligen Folklore heutzutage eine individuelle Betonung erfahren und ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gesetzt würden. Nichtsdestotrotz dürfe dieser Begriff sowie seine theoretischen Implikationen, so Bausinger, nicht verschlossen werden, weil er einen Hebelarm darstelle, mit deren Hilfe viele Elemente der vergangenen und gegenwärtigen Kultur besser nachvollziehbar seien. Die Folklorismusdebatte habe sich als sehr nützlich erwiesen und neue Perspektiven eröffnet, die für das Verständnis der heutigen Tendenzen sehr hilfreich seien und ältere Resultate neu interpretierbar machten.43 Trotz häufiger Kritik empfiehlt Martin Scharfe, den Begriff Folklorismus als eine Art "Kompromissbildung" zu verstehen, die allgemeiner und wertfreier sei.44

Eine ähnliche kritische Folklorismus-Debatte wie die soeben für den deutschsprachigen Raum beschriebene konnte sich im Donau-Karpaten-Raum in Anbetracht der langjährigen angespannten politischen Lage in Rumänien nicht entwickeln, wo immer noch eine unbefangenere Art im Umgang mit dem Begriff Folklore herrscht. Eine landesspezifische Kritikform hinsichtlich der unterschiedlichen Aspekte des Folklorismus scheint sich jedoch in den letzten Jahren allmählich herauszubilden, insbesondere hinsichtlich der Darstellung von Traditionen im Fernsehen.

1.4.3 Terminologische Präzisierung

Der untersuchte Gegenstand in der vorliegenden Arbeit ist fachübergreifend verortet. Demnach werden verschiedene Begriffe und Zusammensetzungen von Begriffen verwendet, was im Folgenden eine kurze Erläuterung der Termini erforderlich macht.

Bei der Auswahl der Begriffe orientiere ich mich einerseits am Rumänischen als Referenzsprache und berücksichtige andererseits bezüglich der Feldforschungsinterviews selbst die Übertragung des Sinngehalts ins Deutsche. Dieses Vorgehen soll der Verständlichkeit der Arbeit dienen.

Trotz seines verallgemeinernden Charakters bediene ich mich bewusst des Terminus„ Folklore, um fachübergreifende Begriffskomposita zu benennen, z.B. Folklore-Fernsehsender [rum. televiziune de folclor], wenn die Rede von kommerziellen Fernsehsendern wie Etno TV oder Hora TV ist, die vorwiegend Volksmusik ausstrahlen. Zudem wurde der Begriff Folklore von meinen Interviewpartnern häufig benutzt, weil er im Rumänischen eine wertneutrale Bedeutung hat. In wissenschaftlichen Kreisen wird inzwischen präziser und differenzierter über das Thema Folklore diskutiert und diese allgemeine Bezeichnung wird je nach Anwendungsbereich durch gezielte Syntagmen wie cultură populară tradiţională/actuală45 [traditionelle/aktuelle Volkskultur] oder patrimoniul material şi imaterial46 [materielles und immaterielles Erbe] ersetzt. Nichtsdestotrotz erhielt ich von der Ethnologin Otilia Hedeşan, trotz der Komplexität des Begriffs, folgende Erläuterung für den Terminus Folklore: „Die Folklore besteht aus einer Schichtenfolge im Community-Gedächtnis, wobei dem Community-Gedächtnis eine Schicht der Praktiken hinzugefügt wird, die das auf einen neuen Stand bringt, was uns bereits als wertvoll nahegebracht wurde; hinzu kommt eine Schicht der Gemeinschaftspraktiken, die um uns herum stattfinden.“47 Aus diesem Grund hat die Folklore für meine Interviewpartnerin eine lebendige und erneuernde Eigenschaft. Trotz differenzierten Einsatzes des Begriffs in Sozial- und Kulturbereichen wird das Wort Folklore in Rumänien dennoch von Fachfremden häufig benutzt.

Als Nächstes wähle ich für die rumänische Bezeichnung muzică populară das deutsche Äquivalent Volksmusik. Der Grund für diese Entscheidung beruht einerseits auf der Tatsache, dass der Begriff Volk im Rumänischen ideologisch nicht vorbelastet ist, andererseits ist die naheliegende wörtliche Übersetzung populäre Musik als Bezeichnung eines musikalischen Genres nicht deutlich genug und ebenso unpassend, was den transportierten Inhalt betrifft.

Die Bedeutung des Adjektivs popular im Rumänischen beschreibt in erster Linie etwas, was dem Volk gehört, was aus dem Volk kommt, was vom Volk kreiert wurde, was spezifisch für ein Volk oder charakteristisch für seine Kultur ist.48 Ein weiteres Beispiel dafür ist die Bezeichnung für die Volkstracht, auf Rumänisch costum popular bzw. costum tradiţional die ebenso mit der Tradition verknüpft ist.49

Die oben erwähnten Argumente stehen in Zusammenhang mit der Sinnübertragung des Begriffs Volksmusik, der primär als eine generelle Bezeichnung für diese Musikkategorie zu verstehen ist. Die allgemeine Prägung dieses Ausdrucks werde ich in der vorliegenden Arbeit durch die Adjektive traditionell und kommerziell auflösen. Die so erreichte genauere Spezifizierung bewirkt eine Verdeutlichung der Affinität dieser Musikrichtung zur Tradition. Ich spreche also von traditioneller Volksmusik bzw. kommerzieller Volksmusik. Darüber hinaus berücksichtige ich auch die Überlegungen zur fachübergreifenden Wortzusammensetzung aus Kulturbereich und Medienbranche, denen zufolge eine Volksmusiksendung eine Fernsehsendung ist, die sich mit Volksmusik beschäftigt. Im Rahmen meiner Arbeit habe ich mich daher entschieden, die Begriffe traditionelle bzw. kommerzielle Volksmusik zu gebrauchen.

Was die Bezeichnung der in Rumänien ab Ende des zweiten Weltkriegs bis zur Revolution von 1989 herrschenden Ideologie angeht, so benutze ich absichtlich den Begriff Kommunismus, um die totalitäre Form des Sozialismus zu betonen. Für die Periode nach 1989, in der die Entwicklung in Gesamt-Osteuropa in Richtung Demokratie einheitlicher verlaufen ist, spreche ich wie allgemein üblich von Postsozialismus.

2 Rumänien - Das Land am Fuß der Karpaten

2.1 Zur Romania

Romania und România50, zwei Begriffe, die fast identisch klingen und geschrieben werden, illustrieren und benennen jedoch zwei unterschiedliche Entitäten, die wiederum in einem komplementären Verhältnis zu einander stehen.

Ihre Affinitäten unterliegen nicht dem Zufall, sondern beschreiben einerseits historische und geographische, andererseits sprachliche und kulturelle Verbindungen. Die Art und Weise, in der die zwei Termini verknüpft sind, lässt diese auf zwei verschiedenen Ebenen spielen, dabei gehört Romania der Makroebene an, während România der Mikroebene zugeordnet werden kann. Um nun die Begriffe und ihre Beziehung zu verdeutlichen, werde ich im Folgenden die wissenschaftliche Diskussion um Romania versus România graduell von der Makroebene zur Mikroebene summarisch wiedergeben.

Der Begriff Romania bezeichnet die Gesamtheit der Gebiete, in denen Latein bzw. eine aus dem Latein hervorgegangene Sprache gesprochen wurde oder wird.51 Die Alte Romania markiert die Territorien des damaligen Römischen Reiches und somit den älteren, mittlerweile kleiner gewordenen Teil der Romania, während die Neue Romania die aktuellen Verbreitungsgebiete der romanischen Sprachen umfasst. Zu dieser exponentiellen sprachlichen und geografischen Ausdehnung trug der Kolonialismus wesentlich bei, so dass man heutzutage etwas mehr als 600 Millionen Sprecher romanischer Sprache verzeichnen kann. Des Weiteren sollten auch die Sprecher von Kreolsprachen berücksichtigt werden, die in den Regionen des Indischen Ozeans, der Karibik, Afrikas und Nord- und Südamerikas leben. 52

Die Abstammung der romanischen Sprachen, die dem romanischen Zweig der indogermanischen Sprachen zugerechnet wird, lässt sich bis zum Vulgärlatein zurückverfolgen.53

Der italienische Sprachwissenschaftler Carlo Tagliavini gruppiert die romanischen Sprachen der Alten Romania in vier Kategorien: 1. die balkanromanischen oder dakoromanischen Sprachen: Rumänisch, Aromunisch und bis zum 19. Jahrhundert auch Dalmatisch; 2. die italoromanischen Sprachen: Italienisch, Sardisch und Rätoromanisch; 3. die galloromanischen Sprachen: Französisch, Frankoprovenzalisch, Okzitanisch und 4. die iberoromanischen Sprachen: Katalanisch, Spanisch, Galicisch und Portugiesisch.

Der Vertreter der Areallinguistik Matteo Bartoli geht entsprechend der geografischen Gebiete der Alten Romania – Iberia, Gallia, Italia und Dacia – ebenfalls von einer vierfachen Gliederung aus und unterteilt die romanischen Sprachen konform den Seitenarealnormen in Randromania und Zentralromania. Dieser Unterteilung zufolge gehören Iberia und Dacia zur Randromania, während Gallia und Italia zur Zentralromania gezählt werden. Diese Charakterisierung stützt sich auf die These, dass die Randareale aus sprachlicher Sicht viel konservativer sind als die Zentralzonen, wo die gemeinromanischen Wortschatzneuerungen rascher aufgenommen wurden.

Der Romanist Walther von Wartburg gruppiert die romanischen Sprachen in Ostromania (Mittel- und Süditalien, Rumänien) und Westromania (Spanien, Frankreich, Portugal und Norditalien)54, wobei die Demarkationslinie der beiden Gebiete von La Spezia nach Rimini verläuft. Als wichtige Gliederungskriterien dienen ihm die lautlichen Merkmale sowie das Vorhandensein keltischer Sprachen vor der Romanisierung.

Für Amando Alonso hingegen ist der Spracheinfluss nach dem Romanisierungsprozess für die Analyse der romanischen Sprachen von besonderem Interesse und genau aus dieser Perspektive unterteilt er die Alte Romania in Romania continua und Romania discontinua. So sind aufgrund des starken Sprachkontaktes und der vielen Partikularitäten das Rumänische und das Französische Teil der Romania discontinua.55