1. Kapitel
Zur Zeit der Rosen

Inhaltsverzeichnis

Der Dorfbote Dietrich aus Wildbach, der früher ein ordentliches Heim besessen, war seit einigen Jahren sehr heruntergekommen und hatte dadurch auch Amt und Verdienst verloren. Seine einzige Beschäftigung bestand darin, hier und da aus seinem unbebauten Acker einige Büschel Gras auszureißen, die er der mageren Geiß als Mittagsmahl heimbrachte. Für ihn und sein Pflegekind gab's dann nur einige Kartoffeln und ein wenig Milch. Nach dem Essen verschwand Dietrich und erschien erst Gegend Abend wieder, um die Geiß zu melken.

Dann sah man ihn daheim nicht mehr. Jedermann wußte aber, daß er bis spät in die Nacht hinein im Wirtshaus saß, und ihm bald Haus und Acker und Geiß genommen wurde, um seine Schulden damit zu bezahlen. So lange seine Frau gelebt hatte, war alles noch besser gegangen. Sie hatten mehr Feld und eine Kuh gehabt, und früh und spät hatte die Frau fleißig gearbeitet. Eigene Kinder hatten sie nie gehabt, aber eine verwaiste Nichte von Dietrich lebte seit drei Jahren bei ihnen.

Vor einem Jahr hatte er seine Frau verloren, und seither war es so rasch abwärts mit ihm gegangen, daß sich nur jeder über das frische, blühende Aussehen des Kindes wundern mußte. Es war jetzt acht Jahre alt und hieß überall nur das Rosenresli, denn es wurde niemals gesehen, ohne daß es ein Röslein in der Hand oder im Mund hatte. Das Resli, das ursprünglich Therese hieß, hatte ein solches Wohlgefallen an den Rosen, daß es mit seinen fröhlichen blauen Augen so lange in jeden Rosengarten hineinguckte; bis die Leute darin freundlich riefen: »Willst du eine?« Und freudestrahlend steckte Rosenresli die kleine Hand durch das Gitter und nahm dankbar seinen Schatz in Empfang. So sah man das Kind immer von Rosen umgeben, wenn sie blühten, und jedermann kannte das liebe Rosenresli und hatte es gern.

Den Onkel sah es nicht oft. Am Morgen ging es zur Schule, mittags sagte er gewöhnlich: »Ich komme nicht heim am Abend, du findest noch etwas zu essen.« Aber der Schrank war immer leer, und es war gut, daß hier und da ein Kind in der Schule dem Rosenresli Äpfel oder Birnen oder ein Stück Brot geschenkt hatte. Und selbst wenn es oft hungern mußte, so lief es trotzdem zu den Gärten, wo die Rosen standen, durfte sich einige pflücken und über dieser Freude vergaß es alles andere.

Auch heute hatte das Kind kein Abendessen gehabt, dennoch sprang es glücklich über die Wiesen. Es war ein warmer Sommerabend. Die Schmetterlinge flatterten auf und nieder in der blauen Luft, und hoch oben flogen die Schwalben im Kreis herum. Sie zwitscherten so sommerlich, und ringsum in den Wiesen zirpten so fröhlich die Grillen, daß dem Rosenresli auch immer froher zumute wurde. Und es sprang immer höher, so als wollte es mit den Schmetterlingen in der Luft fliegen. So kam es in kurzer Zeit bei dem Garten an, der draußen am Waldhügel lag und immer die schönsten Rosen hatte. Der Garten war von einem hölzernen Zaun umgeben, und Rosenresli kletterte schnell auf die unteren Holzbalken und schaute sehnsüchtig in den Garten hinein.

»Komm nur herein«, rief eine Stimme hinter den Bäumen. »Ich weiß schon, wonach du suchst. Heute sollst du auch Rosen haben.«

Rosenresli ließ sich das nicht zweimal sagen. Schnell trat es ein, ging auf das duftende Rosenbeet zu und schaute bewundernd auf die Menge der roten und weißen, hellen und dunkeln Blumen, die leuchteten und dufteten. Jetzt trat die Frau Präsidentin, die Besitzerin des Gartens zu dem Kind. Sie war es, die dem Resli schon manche Rose gegeben und es eben jetzt hereingerufen hatte.

»Du kommst gerade recht heute, Resli«, sagte sie. »Du sollst einen ganzen Strauß haben. Aber manche Rose will schon abfallen, siehst du. Du mußt dann ein wenig vorsichtig sein und nicht so hoch springen. Sonst fallen den Rosen alle Blätter ab, bevor du daheim bist.«