Im Glashaus gefangen zwischen Welten

 

 

Devakumaran Manickavasagan

 

 

Im Glashaus gefangen zwischen Welten

 

Ein Leben zwischen zwei Kulturen

 

 

 

 

 

 

 

2017


Bibliografische Information durch

die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2.Auflage August 2017

 

Copyright (2017) Devakumaran Manickavasagan

 

 

Fotos © Hossein Asgari

 

 

Alle Rechte beim Autor

 

Hergestellt in Vachendorf, Germany (EU)
Nova MD GmbH

www.devamanick.com

 


Inhalt

 

Einleitung

Die Flucht aus der Heimat

Die Begegnung

Die Konkurrenz im eigenen Kreis

Die Kinder

Die deutsche Gesellschaft

Die tamilische Gesellschaft

Die tamilische Jugend

Die arrangierte Hochzeit

Der Einfluss der Filmindustrie

Das Kastenwesen

Der Hinduismus

Das Geschäft mit der Wahrsagerei

Die Isolation

Wer bin ich wirklich?

Die Sehnsucht nach der Liebe

Die traumatisierten Eltern

Wege aus Schicksalsschlägen

Die Psychotherapie

Die Partnerschaft

Der eigene Weg

Die Sprache

Das Internet

 

Die verbotene Liebe

Fremd in der eigenen Kultur

Die eigene Perspektive

Die Perspektive der Eltern

Konsum der eigenen Kultur

Das Verleugnen der eigenen Identität

Diskriminierung durch eigene Reihen

Reisen mit der Familie

Reisen im eigenen Freundeskreis

Die zerbrochene Ehe

Die Hoffnung in die Zukunft der Kinder

Eine Erziehung mit Luxus

Vom Hausmädchen zur Hausfrau

Vom Bub zum Knecht

Die Anerkennung der Eltern

Der Widerstand gegen das System

Das neue Ich

Eine neue Welt

Die Veränderung zulassen

Toleranz

Nachwort

Literatur

Philosophen

Das Buch

Der Autor


Einleitung

Gleich zu Beginn möchte ich Ihnen gratulieren. Dafür, dass Sie den ersten Schritt gemacht haben, um einen Blick hinter die Kulissen zu machen. Endlich zu erfahren, was genau hinter den verschlossenen Türen passiert. Fragen, wie eine Parallelgesellschaft sich in Deutschland entwickeln kann, wenn Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern zu uns kommen und sogar der Nachwuchs hier geboren und aufgewachsen ist. Es mag sein, dass ich Sie in einem oder mehreren Kapiteln persönlich erreiche. Vielleicht auch nur in einer Zeile. Manchmal kann das Erreichen oder die Wahrheit auch schmerzhaft sein. Aber bitte geben Sie nicht auf, die Reise durch das Glashaus weiterzumachen. Manchmal ist das Erkennen auch ein Spiegelbild der eigenen Seele. Dinge, die man eventuell über die Jahre unbewusst verdrängt hat. Vielleicht kann dieses Erkennen auch der erste Schritt sein zu der eigenen Veränderung. Es mag sein, dass ich in manchen Punkten die „deutsche Gesellschaft“ zu positiv darstelle. Dies habe ich bewusst gemacht, damit deutsche Leser die eigene Kultur von der anderen Perspektive aus betrachten und hinterfragen. Die Dinge, wie Sie es selbst merken werden, lassen sich auch auf (fast) alle Kulturen übertragen. Vielleicht sogar auch auf die deutsche Kultur?

An dieser Stelle möchte ich mich als Deutsch-Tamile vorstellen. Diesen Ausdruck verwende ich, um dem Leser zu verdeutlichen, dass der Verfasser dieses Buches den Wissensstand sowie die Erfahrungen aus zwei Kulturebenen mitbringt. Geboren und aufgewachsen bin ich in Ratingen, einer Kleinstadt im Kreis Mettmann. Ich be-schreibe eine Reihe von Beobachtungen und persönlichen Erfahrungen, um in der eigenen Kultur die Gründe für die Probleme der Integration in eine fremde Kultur zu erforschen. Mit diesem Buch möchte ich zudem die Aufmerksamkeit auf die inneren Wünsche der Migrationsjugend lenken.

Die Flucht aus der Heimat

 

Armut und Elend begleiten den Alltag und man sieht der Zukunft hoffnungslos entgegen. Man denkt an Flucht aus der Heimat in ein Land, wo alles „besser“ sein muss, als es bisher gewesen ist.

 

Ein Leben, begleitet vom Krieg und der ständigen Angst vor dem eigenen Leben, erschwerte die Lebenssituation für die Menschen in Sri Lanka. Als einzige Lösung, sich aus dem Chaos zu befreien, erschien die Resignation – die „Flucht“ in die Leere.

 

Da in einem Entwicklungsland Armut und Lebensmittelmangel herrschen und vor allem kaum Geld verdient werden kann, wandern viele Migranten, nicht nur aus Sri Lanka, sondern auch aus anderen Teilen der Welt in den Westen. Über einen konkreten Aufbauplan nach der Ankunft in Deutschland machen sie sich kaum Gedanken. So stoßen viele Migranten, angekommen im jeweiligen Exil, auf eine Hürde voller Aufgaben und Sprachbarrieren, über die sie sich im Voraus nicht im Klaren waren. Das alte Land wurde verlassen in der Hoffnung, im neuen Land die Lösung zu finden. Wie lassen sich die Erwartungen erfüllen? Wie lässt sich Geld verdienen? Wie findet man einen Arbeitsplatz – wenn zu all dem das nötige Handwerkszeug fehlt? Ich spreche vom Erlernen der jeweiligen Landessprache.

Bei all dem unterschätzen viele betroffene Flüchtlinge das Kriegstrauma, welches sie aus einem ehemaligen Bürgerkriegsland wie Sri Lanka jahrelang mit sich schleppen. Vielen von ihnen ist nicht bewusst, welche Auswirkungen die Erlebnisse auf ihre Psyche haben können. Darauf werde ich im Kapitel „Die traumatisierten Eltern“ näher eingehen.

 

Angekommen in einem Industrieland wie Deutschland, sind die eingewanderten Migranten zunächst einmal mit den zahlreichen Formalitäten beschäftigt.

In den meisten Fällen verlassen verheiratete Familienväter ihre Familien, um die Reise in die Ferne anzutreten. Frau und Kinder bleiben in der Heimat zurück und hoffen auf eine baldige Verbesserung ihrer Lage. Planlos in Deutschland begreifen manche Migranten, dass die Dinge nicht so einfach funktionieren, wie sie es sich vorgestellt haben. Davon möchte ich am Beispiel meines Vaters berichten:

 

Er wanderte im Jahre 1982 im Alter von dreißig Jahren in Deutschland ein. Damals – es war noch zu DDR-Zeiten – erfolgte eine Grenzöffnung mit einem dreitägigen Visum nach Deutschland. Mein Vater verließ Sri Lanka, bevor der Bürgerkrieg offiziell ausbrach. Eingereist in Deutschland musste er feststellen, dass er ohne Sprachkenntnisse keinen Arbeitsplatz finden konnte. Während meine Mutter und meine beiden Geschwister in Sri Lanka waren, hatte mein Vater die Wahl: Er konnte dorthin zurückgehen oder sich in einem neuen Land auf ungewisse Zeit etwas aufbauen. Zusammen mit mehreren Hunderten von Tamilen aus Sri Lanka wurde er von Stadt zu Stadt deportiert, bis er letztlich Ratingen erreichte. Dort verbrachte er zusammen mit sechs Fremden die ersten Jahre im Gemeinschaftszimmer eines Asylheims.

Diese Zeit verbrachte er in Ungewissheit, Hoffnungslosigkeit und großer Trauer, da er auf unbestimmte Zeit getrennt von seiner Familie in einem Land lebte, in dem er weder die Sprache beherrschte noch die Menschen kannte. Er musste sein komplettes Leben von heute auf morgen umstellen.

Das Leben im Exil sollte besser und schöner werden als das alte Leben in der Heimat. Doch angekommen im Exil stand er – wie viele Migranten – vor einer großen Baustelle, bei der ihm die Anweisung fehlte, wie und wo er zu bauen beginnen sollte. Mit sechs weiteren Tamilen, die er zuvor weder gesehen noch gekannt hatte, musste er unter einem Dach die nächsten fünf Jahre seines Lebens teilen.

Für mich unvorstellbar, doch für die Reisenden gab es keinen anderen Ausweg. Entweder sie akzeptierten die Lage, wie sie war, oder sie kehrten zurück in ihr altes Leben. Wie viele Migranten nahmen sie die Einschränkung der eigenen Privatsphäre in Kauf, immer auf eine baldige Veränderung hoffend. Als Asylant ohne Arbeitsplatz und Geld hatten sie im Exil nicht viele Optionen.

 

Den Kampfgeist sowie das Durchhaltevermögen meines Vaters bewundere ich bis heute. Es ist unglaublich, wie Menschen aus einer Lage Hoffnung schöpften, die keinen Boden unter den Füßen bot.

Die Vorstellung, dass nach Ankunft im neuen Land alles besser würde, erwies sich für meinen Vater als ein Trugschluss. Kurze Zeit, nachdem er in Deutschland angekommen war, brach in Sri Lanka offiziell der Bürgerkrieg aus und meine Mutter war mit meinen beiden Geschwistern auf sich gestellt. Eine starke Frau, die mit ihren Kindern während des Bürgerkrieges ums Überleben kämpfte. Während sie von Dorf zu Dorf wanderte, verbrachte mein Vater in Deutschland die Zeit damit, das schwer verdiente Geld nach Sri Lanka zu schicken, um weiterhin unseren Lebensunterhalt zu gewährleisten.

Aufgeben und zurückkehren, das wollte er nicht. Er war fest entschlossen, jegliche Herausforderung anzunehmen.

Gedanken an das Erlernen der Sprache wurden immer wieder verdrängt, die Migranten hatten zu viele andere Probleme im Kopf, die es zu lösen galt. Sprachinstitute waren für viele von ihnen ein Fremdwort.

Fünf Jahre in Deutschland und ein Leben getrennt von der eigenen Familie hatten für meinen Vater zur Folge, dass ein Teil der Beziehung zu seinen Kindern und der persönliche Bezug zu der eigenen Frau verloren gingen.

 

Nicht nur meinem Vater erging es so. Andere Familien machen auch heute noch ähnliche Erfahrungen. Die räumliche Trennung ist zugleich eine emotionale Trennung, die sich unbewusst einschleicht. Die Auswirkungen einer solchen Distanz spiegeln sich im späteren Miteinander wider und sind unter anderem Grund für mögliche Ehestreitigkeiten.

 

Eine Flucht vor irgendetwas ist stets gefolgt von Angst und Unsicherheit. Es gilt, vor dem wegzulaufen, was einem das Leben erschwert. Mit diesem Prinzip verlassen die meisten Migranten ihre Heimat. Die Reise endet in einem neuen Land und beginnt zugleich mit einer erneuten Flucht. Die Flucht vor dem Fremden und einer neuen Angst des Versagens. Aus Ratlosigkeit und Verzweiflung greifen manche zum Alkohol oder zu anderen Rauschmitteln, um sich so ein Stück weit von ihrem Gemütszustand abzulenken.

Unter den Umständen der ständigen Flucht ist es kaum möglich, dass die betroffenen Migranten auf die Idee kommen, die jeweilige Landessprache im Exil zu erlernen, was ihnen vieles erleichtern würde.

Um Gespräche mit einem Psychologen zu ermöglichen, fehlt das Grundwerkzeug: die Sprache. So sind Migranten, die aus einem Bürgerkriegsland flüchten, mit ihrem schweren Schicksal und ihren verletzten Gefühlen auf sich gestellt.

 

 

Die Begegnung

 

Nach Jahren der Trennung kommt die Begegnung mit der eigenen Familie.

 

Wie ist so ein Wiedersehen zu beschreiben? Hier gehen sicherlich die Meinungen auseinander, die Antwort überlasse ich dem Leser.

 

Aus der jahrelangen Trennung von der eigenen Familie resultiert eine emotionale Distanz. Mein ausgewanderter Vater musste zusehen, wie er die angereiste Familie im fremden Land versorgen würde. Zwar hatte er eine dauerhafte Arbeit im Einzelhandel gefunden, doch wie sah der Alltag für den Rest der Familie aus?

Meine beiden vom Krieg traumatisierten Geschwister wurden zum Erlernen der deutschen Sprache in ein entsprechendes Sprachinstitut geschickt, welches neben dem Besuch einer Schule gefördert wurde. Meine ebenfalls traumatisierte Mutter beschäftigte sich hauptsächlich mit dem Haushalt.

Der neu entstandene Alltag, der durch einen Schein aufrechterhalten blieb, lief bei vielen Migranten-Familien in den ersten Jahren nach ihrer Ankunft in Deutschland ähnlich ab. Auf den ersten Blick schien alles geregelt abzulaufen, doch in Wirklichkeit war es mehr als nur die Ordnung im Leben.

Ich würde es mit meinen eigenen Worten als ein emotionales Chaos bezeichnen, in dem sich jedes Familienmitglied befand. Angefangen beim Vater, der fünf Jahre in einer eingeengten Privatsphäre gelebt hatte, begleitet von der Trauer über die Trennung von Frau und Kindern. Dann die Mutter, die sich und ihre beiden Töchter während des Bürgerkrieges hatte beschützen müssen. Und schließlich die beiden Mädchen, die ihren Vater fünf Jahre vermisst und mit angesehen hatten, wie Menschen gestorben waren. In sich gekehrt verfolgten sie ihren Alltag in Deutschland.

 

Wenn der Mann von der Arbeit nach Hause kam, gab es wenig Raum für tiefgründige emotionale Gespräche mit der Ehefrau. Erschöpft wurde der stumme Alltag zu Hause wahrgenommen, jeder war mit sich und dem Leben im neuen Land beschäftigt. Kulturelle Feierlichkeiten und Zusammentreffen mit Gleichgesinnten brachten dem stummen Alltag der Familie Abwechslung und Freude. Für einen kurzen Moment konnten sie die Umwelt und die darin enthaltenen Probleme vergessen. Eine Reise in eine altvertraute Welt. Die Flucht in die Welt der eigenen Kultur.

 

Die Angst vor der neuen Kultur sowie die Orientierungslosigkeit im Exil bilden den Nährboden für den Rückzug in die eigenen Kreise, aus denen man selbst gar nicht heraustreten möchte. Der Nachteil einer solchen Flucht ist eine Isolation von der neuen Kultur. Man möchte sich nur noch in gewohnten Kreisen aufhalten und vergisst dabei den Fokus auf das wesentliche Ziel. Weitere Nachteile sind unter anderem die Vernachlässigung des eigenen Partners und der Kinder. Immer wieder werden bei diesen kulturellen Feierlichkeiten die verletzten Gefühle aus der Zeit der Trennung ignoriert. Die verlorene und weiterhin bestehende Sehnsucht des Partners nach Wärme und Zuneigung erfährt man nicht in diesen gesellschaftlichen Kreisen. Dort gilt es, den aktuellen Moment zu genießen und für einen Augenblick die „alte Heimat“ wahrzunehmen.

Während die Frauen von den verletzten Gefühlen der Männer nichts mitbekommen, wissen die Männer nichts von den ebenfalls verletzten Gefühlen ihrer Frauen und Kinder. So ergibt sich eine ständig wiederkehrende Trauer für alle Beteiligten, die manchmal in emotionaler Eskalation endet.

Oft sind es diese Lücken, die betroffene Ehepaare in scheinbar ausweglose Streitsituationen bringt. Und doch suchen sie die Gründe für ihr eigenes Fehlverhalten oder das ihres Partners an ganz anderer Stelle. Sie vermuten, dass die Ursachen im enormen Arbeitsstress, in der vielen Hausarbeit oder in den Erziehungsproblemen mit den Kindern liegen. Eine Unterdrückung der eigenen Bedürfnisse verursacht tiefe Enttäuschung und Trauer, die die meisten sich nicht eingestehen wollen. Auch hier entsteht eine emotionale Distanz zu den Gefühlen, die alles Fremde von sich abwehren. Dafür bieten kulturelle Orte und Gegebenheiten mögliche Rückzugsorte an. Wenn die eigenen Eltern selbst keine Gefühle zulassen, wie sollen dann ihre Kinder es tun?

An dieser Stelle fängt die emotionale Reise zwischen den beiden Kulturen an, auf der gerade heranwachsende Jugendliche mit Migrationshintergrund zu kämpfen haben. Ich werde dies in einem späteren Kapitel näher erläutern.

 

Zusammenfassend ist die erste Begegnung mit der neuen und fremden Kultur für Flüchtlinge im Exil distanziert zu betrachten. Viele flüchten in das Bekannte und möchten dort weiterhin bleiben. Für die Anfangszeit wäre das vielleicht nachvollziehbar, doch eine komplette Isolation in diesen Kreisen, welche gleichzeitig die Isolation von der westlichen Welt bedeutet, ist vielen Migranten nicht bewusst. Die Ignoranz der Sprache und die fehlende Integration stehen einer angemessenen Entwicklung im Weg.

Ohne die Bereitschaft, sich für das Fremde zu interessieren und es zu akzeptieren, kann ein Vertrauen in die deutsche Gesellschaft nicht zustande kommen.

Neben der psychischen Last, die manche Migranten mit sich tragen, bleibt wenig Platz für das Sammeln neuer Kenntnisse. Viele sind zu sehr beschäftigt mit Dingen, von denen sie überzeugt sind, dass es ihnen das verspricht, wovon sie lange Zeit geträumt haben. In Wirklichkeit haben materielle Dinge nur wenige Menschen auf Dauer glücklich gemacht.

Viele sind fleißig und eifrig, um sich in Deutschland etwas aufzubauen, was ihnen auch gelingt, doch wie viele von ihnen sind von ganzem Herzen mit ihrem Leben tatsächlich zufrieden und glücklich? Obwohl es manchen finanziell gut geht, machen dennoch einige von ihnen einen traurigen Eindruck. Umgekehrt stellte ich das Gleiche bei manchen Frauen und Kindern fest. Sind es die Bedürfnisse des Lebens, die ein Mensch erfüllt braucht, um glücklich zu sein, die aber aufgrund der Fülle von Problemen, die sie mit sich tragen, vernachlässigt werden? Die Bedürfnisse nach Wärme, Zuneigung und vor allem nach Liebe.

Diese Aspekte, die beispielsweise in deutschen Familien im Umgang selbstverständlich sind, sind bei manchen Migranten-Familien nicht vorhanden. Eine solche Distanz zu den eigenen inneren Gefühlen könnte seine Ursache in der Flucht aus der Heimat haben.

 

An dieser Stelle möchte ich nicht alle Exil-Migranten verurteilen, die nie zuvor gelernt haben, Liebe gegenüber anderen zu zeigen. Es fällt nun mal vielen tamilischen Eltern schwer, ihren eigenen Kindern gegenüber Gefühle in Form von Geborgenheit und Wärme zu vermitteln. Der Schwerpunkt wird auf das Endziel gelegt, nämlich dass das Kind auf beruflicher Ebene das erreicht, was die Eltern von ihm erwarten. Das Ziel – die Ernte aus der schweren Reise, die sie hinter sich haben – wird mit dem beruflichen Erfolg der Kinder verankert. Eine erneute Flucht in die Zukunft der eigenen Kinder.

Um dieses Ziel zu erreichen, sind die betroffenen Kinder einem enormen psychischen Druck seitens ihrer Eltern ausgesetzt. Der Vater sieht seine Aufgabe in der Erfüllung der finanziellen und materiellen Notwendigkeiten, während die Mutter sich um den Haushalt kümmert. Mit dieser gedanklichen Brücke bauen viele Eltern ihre eigene familiäre Welt auf. Wird diese Welt durch etwaige Probleme der Kinder gestört, versuchen sie mit allen Mitteln, diese aus der Welt zu schaffen. Dies geschieht unter anderem durch Wutausbrüche, die sich zunächst verbal äußern, die aber auch häufig in körperliche Gewalt ausarten, mit dem Hintergedanken, dass die eigene Scheinwelt wiederhergestellt wird. Im Vordergrund steht das Endziel, und dieses liegt im beruflichen Erfolg des Kindes.

 

In dieser Scheinwelt gibt es zwei Säulen, auf denen die Eltern ihre eigene Zukunft aufbauen:

 

1. Säule:       Arbeit und Haushalt (Sicherung der liquiden Mittel)

 

2. Säule:      die berufliche Ausrichtung der Kinder im Anstreben der drei Standardberufe: Arzt, Rechtsanwalt, Ingenieur      

 

Alles andere wäre eine Gefährdung dieser Säulen. Manche Eltern sind nicht bereit, von ihren Ansichten abzuweichen, denn sie haben ihren eigenen Standpunkt und müssen diesen vor allem ihrem Bekanntenkreis und dem eigenen Kulturkreis gegenüber vertreten. Ein unausgesprochener Wettbewerb findet statt.

 

Wie viele betroffene Kinder wollen einen solchen Konkurrenzkampf?

 

 

Die Konkurrenz im eigenen Kreis

 

Es entsteht ein Wettbewerb innerhalb der eigenen Kultur. Gefangen in einem ständigen Wettrennen, versucht die eine Familie die andere Familie zu überholen. Das oberste Gebot bei all dem ist, den Ruf der Familie zu schützen. Ist der Ruf erst einmal geschädigt, sind die Betroffenen automatisch aus dem Rennen.

Wie bereits erforscht, ist es das Neue, das Fremde, mit dem sich die Wettbewerbsmigranten nicht beschäftigen möchten. Würde der erste Schritt zu einer Annäherung an die deutsche Kultur gemacht werden, könnte ein erster Baustein gelegt werden für eine mögliche Integration in die deutsche Gesellschaft. Positive Eigenschaften könnten erlernt werden, wie zum Beispiel das Verständnis für die Werte eines Menschen, welche unter anderem auch eine der Grundlagen für ein gesundes Familienleben sind.

Viele Migranten erschweren sich durch ihre Verhaltensweisen den Integrationsprozess, wenn er überhaupt zustande kommt. Während in Deutschland Menschen ihr Lebensglück im Bund der Ehe und der Gründung einer glücklichen Familie definieren, hoffen manche Exil-Tamilen, ihr Glück in Reichtum und gesellschaftlichem Ruf zu finden.

Die Kinder sind die Auszuführenden des Ganzen und gleichzeitig diejenigen, die das Leid – von den Eltern ignoriert – auf emotionaler sowie auf rationaler Ebene tragen. Die Auswirkungen eines solchen psychischen Drucks äußeren sich beispielsweise in der Pubertät, wenn es zu Meinungsverschiedenheiten kommt oder die Kinder anfangen, rebellische Verhaltensweisen an den Tag zu legen, welche die Eltern durch die Präsenz ihrer Hierarchie niederschlagen. Die in dem Verhalten der Kinder enthaltene Botschaft erreicht die meisten Eltern nicht, und daraus resultieren meines Erachtens die Erziehungsprobleme in den jeweiligen Familien. Im Laufe der Zeit nimmt das Kind eine Entwicklung, die die Eltern nicht mitleben und somit nicht nachvollziehen können.

 

Geld und Ruhm führen zu Einseitigkeit, während Liebe einen Menschen in seiner Gesamtheit reich machen kann. Die Folgen der Nichterfüllung der eigenen Bedürfnisse haben traurigen Charakter. Verbale Auseinandersetzungen enden in körperlicher Gewalt, weil betroffene Gewalttäter es nicht anders gelernt haben, ihre Gefühle zu bändigen. Frauen suchen Verständnis bei Gleichgesinnten ihres Kulturkreises – bei anderen Frauen, denen Ähnliches widerfährt – und geben im Austausch ihre Erfahrungen mit der zu Hause anhaltenden Gewaltsituation wieder. Eine wirkliche Änderung ihrer Lage erreichen sie nicht, da es in der Heimat zu den Gebräuchen gehört, auf bestimmte Reize mit Gewalt zu reagieren. Basierend darauf ergibt sich die traurige Wirklichkeit, dass die betroffenen Frauen durch ihr Stillschweigen indirekt das Verhalten ihrer gewalttätigen Männer tolerieren. Die Männer hingegen, die ja auch mit verletzten und unterdrückten Gefühlen kämpfen, suchen Trost im Alkohol oder im Zusammensein mit gleichgesinnten Männern, die ebenfalls in ihrer Ehe unzufrieden sind. Auch hier ein in sich geschlossener emotionaler Kreislauf zwischen Frau und Mann.

Dieselbe Methode wird an die Kinder weitergegeben. Auch sie werden bei verbalen Auseinandersetzungen mit Schlägen und verletzenden Worten behandelt. Das bewirkt bei den Kindern eine erneute Flucht, und zwar eine Flucht vor den verletzten Gefühlen. Um ihre Trauer zu verarbeiten, gehen sie mit ihren Problemen zu Freunden und Bekannten aus ihrer vertrauten Umgebung, um so wenigstens einen kleinen Trost zu erhalten. Allerdings ist die Suche nach dem erwarteten Trost auch nur ein vorübergehendes Pflaster auf die Wunden, die durch die Schläge und Worte der Eltern entstanden sind. Es kommt vor, dass selbst einheimische deutsche Freunde erschüttert und sprachlos sind, da sie derartige Umgangsformen aus ihrer eigenen Erziehung nicht kennen. Neben den schulischen Anforderungen sind die heranwachsenden Kinder belastet mit der Gefühlskälte und den brutalen Erziehungsmethoden der eigenen Eltern.

 

 

Die Kinder

 

Gehen sie zur Schule, so betreten sie eine Welt, in der die Meinungsfreiheit eines Schülers respektiert und ihm ein liebevoller Umgang beigebracht wird. Betreten sie das eigene Heim, so sehen sie eine Welt mit einer hierarchischen Struktur, in der es weder Meinungsfreiheit gibt noch Rücksicht auf Gefühle genommen wird. Diese zwei Welten entstehen in einer konservativ aufgebauten Familienstruktur, wo die elterliche Hierarchie an oberster Stelle steht.

Die aufwachsenden Kinder machen ihre Erfahrungen, sobald sie die eine Welt verlassen und in die andere Welt gehen. Im Grunde genommen müssen die Kinder im frühen Alter lernen, zwei Persönlichkeiten zu entwickeln, wobei sich die eine Persönlichkeit in der deutschen – westlichen – Welt zurechtfindet und die andere in der tamilischen Welt. Dazwischen befindet sich das eigentliche Ich des Kindes.

Oft sind die kulturellen Ketten so fest, dass das eigentliche Ich des Kindes sich nicht entwickeln kann. Es gibt allerdings auch Familien, in denen die kulturelle Offenheit vorhanden ist und die Kinder in einer offenen Beziehung groß werden. Unter solchen Umständen ist die Entwicklung von zwei sich widersprechenden Persönlichkeiten ausgeschlossen, da die Kinder nicht im ständigen Wandel zwischen den Welten sind. Für einen solchen Prozess ist es Voraussetzung, dass die Eltern offen sind, neue Kulturen kennenzulernen. Solange dies nicht der Fall ist, trägt das Kind die Folgen einer hierarchischen Erziehung. Hinzu kommen Rassenkonflikte, die viele Migrationskinder in Schulen erleben, und andere Schwierigkeiten, mit denen sie in ihrem Alltag zu kämpfen haben.

 

Zu wem sollen die Kinder mit ihren Problemen und ihren Gefühlen gehen, wenn nicht zu den eigenen Eltern?

Selbst die geringste Andeutung eines möglichen Problems in der Schule würde manche Eltern dazu verleiten, ihr Kind zu verurteilen, anstatt sich mit dem eigentlichen Problem zu beschäftigen. Die Suche der Eltern nach den Gründen – sollten Schwierigkeiten in der Schule auftreten – hat zur Folge, dass das Kind sich zurückzieht. Es vereinsamt und tritt seine Flucht in eine von ihm aufgebaute Welt an, eine Welt mit uneingeschränktem Feiern, dem Konsum von Alkohol, Rauschgift oder der Ausübung von Gewalt.

 

Auch ich war einst in kulturellen Kreisen integriert und bin teils sogar gern dort hingegangen. Manchmal sah ich diese Feierlichkeiten als eine Flucht an, in die ich mich begab, um vor den Problemen des Alltags zu fliehen. Ab einem gewissen Alter, als ich gelernt hatte, die Dinge auf ihre Richtigkeit zu hinterfragen, merkte ich, dass die kulturelle Welt, in der ich mich befand, nicht zu der westlichen Welt passte. Hierzu möchte ich einen bekannten Philosophen zitieren, dessen Zeilen mich auch heute noch auf allen Wegen und Entscheidungen meines Lebens begleiten:

 

„Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen.“

(Immanuel Kant, Aufklärer und Philosoph)

 

Die Intention dieses Ausspruches hat mir meine damalige Geschichts- und Deutschlehrerin Frau L. verdeutlicht. „Sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, was genau heißt das?“, fragte sie uns.

Eine einfache Frage, die mich doch zum intensiven Nachdenken anregte, damit ich die passende Antwort fand. Auf Anhieb fiel mir im Unterricht nämlich keine Antwort ein und ich folgte interessiert dem Vortrag und den Erklärungen meiner Lehrerin.

Vertrauen in sich selbst zu haben, war die Botschaft dieses Spruches, die wir Schüler auf unseren weiteren Lebensweg mitbekamen.