Wolfgang Kraushaar

Die blinden Flecken der
RAF

Klett-Cotta

Impressum

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Klett-Cotta

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Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung einer Grafik von Roma Nekrashevich/
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Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98140-7

E-Book: ISBN 978-3-608-10976-4

 

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung

1. Anfänge

1968  und die Anfänge des linken Terrorismus

Ideologien und Theorien

Akteure und Akteursgruppen

Aktionsformen

Terrorismus und Avantgarde

Faszinosum Militanz

2. Stationen

Sympathie und »Verrat«

Sartre in Stammheim

Der dritte Hungerstreik

Warum Sartre?

Warum Baader?

Das Tauziehen um den Besuch

Der Stammheim-Besuch

Die Reaktionen

Wie sahen die Haftbedingungen im Stammheimer Hochsicherheitstrakt tatsächlich aus?

Was ist aus wem geworden?

Ein deutsch-französisches Missverständnis?

3. Faktoren

Die RAF und die Frauen

Die RAF und ihre Anwälte

Der Strafverteidiger

Der »RAF-Anwalt«

Die Anti-Terrorismus-Gesetzgebung

Die Defizite in der Literatur – zum Forschungsstand

Ein Rechtsanwalt ist zentrales Gründungsmitglied der RAF

Anwälte organisieren die Kommunikationszentrale

Anwaltskanzleien werden zu Rekrutierungsfeldern

Die Justiz reagiert: Ausschlüsse und Verhaftungen

Aus RAF-Anwälten werden deren zeitweilige Anführer

RAF-Anwälte schmuggeln Waffen in die Zellen ihrer Mandanten

RAF-Anwälte verfügen über Kontakte zu Geheimdiensten oder haben mit ihnen paktiert

Klaus Croissant ist für das MfS als IM tätig

Einige RAF-Anwälte haben später eine politische Karriere gezeitigt

Einige RAF-Anwälte haben ihre juristische Karriere weiter fortgesetzt

Die Mission mit der Waffe

Wurzeln des Sakralen

Religiöse Desozialisation

Säkulares Erbe in der RAF

Am Ende ein quasi-religiöses Bekenntnis

4. Vergangenheit

Zivilisationsbruch und Gesellschaftskontinuität

Die antisemitische Selektion eines bundesdeutschen Terroristen

Franken als Hochburg des Antisemitismus

Die Bamberger Schulzeit

Das Semester an der Universität Freiburg

Der Wechsel in die 68er-Hochburg Frankfurt

Die Gründung des Verlags Roter Stern

Die Nordkorea-Connection

Ein RAF-Logistiker, genannt der »kleine Dicke«

Der Begründer der Revolutionären Zellen

Böse im Kontext der Carlos-Connection

Entebbe ante

Die Entführung des Air France-Airbus

Böses Kontroverse mit einem Auschwitz-Überlebenden

Die »Selektion«

Die israelische Befreiungsaktion

Die ersten Reaktionen

Die Folgen

War Wilfried Böse ein Antisemit, ein Antizionist oder ein deutscher Terrorist, der sich hatte instrumentalisieren lassen?

Horst Mahler und das Kontinuum der Schuldabwehr

5. Beendigung

Die RAF und ihre Opfer

Das Ende der RAF

Zur zeitgeschichtlichen Bedeutung der Justizvollzugsanstalt Stammheim (Bau 1)

I. Die Kriterien

II. Das Gebäude

III. Der Prozess

IV. Die Todesnacht

V. »Stammheim« als Mythos

VI. Die zeithistorische Bedeutung

VII. Das Votum

Anhang

Anmerkungen

Drucknachweise

Einleitung

Wer vierzig Jahre nach dem »Deutschen Herbst« des Jahres 1977 und damit nach der Geschichte der RAF fragt, nach ihrer Herausforderung wie ihrer Bewältigung, der muss sich auch umgekehrt die Frage gefallen lassen, welche Bedeutung der damalige und 1998 nach fast dreißig Jahren beendete linke Terrorismus für die Gegenwart überhaupt noch haben soll. Worum geht es, wenn nach so langer Zeit noch einmal Verbrechen unter die Lupe genommen werden, die in manchen Fällen zwar immer noch ihrer strafrechtlichen Aufklärung harren, politisch aber längst bedeutungslos geworden sind? Oder zugespitzter gefragt: Was macht eigentlich die vom Kapitel RAF noch immer anhaltende Irritationskraft aus? Und worin sollte die Aufgabe bestehen, dieses besser als bisher zu begreifen?

Spätestens seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ist der Terror ja zu einer furchterregenden Konstante des politischen Lebens geworden. Was an Schreckensmeldungen früher eher punktuell auftrat, das ist seither zu einem regelrechten Kontinuum geworden. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass uns Nachrichten von angsteinflößenden Terroranschlägen erreichen. Allein in der irakischen Hauptstadt Bagdad explodieren durchschnittlich vier Bomben am Tag. Das allein ist unseren Medien inzwischen schon längst keine Zeile mehr wert. Und selbst wenn es Anschläge mit mehr als zwanzig oder dreißig Todesopfern gibt, die zudem rein zivile Ziele wie Schulen, Krankenhäuser oder etwa Hochzeitsfeiern treffen, dann fällt die Berichterstattung hierzulande sehr begrenzt aus. Die einzige Frage, die in diesem bedrohlichen Zusammenhang bleibt, lautet, wie nah das Unheil inzwischen bereits gekommen ist.

Und gerade im letzten Jahr hat sich gezeigt, dass die Anschlagspraxis von Dschihadisten auch auf Deutschland übergegriffen hat. Was sich zuerst in Bayern abgezeichnet hatte, das wurde dann auf einem Weihnachtsmarkt in Berlin schreckliche Wirklichkeit. Und was im Sommer bereits in Nizza passiert war und 86 Unschuldigen das Leben gekostet hat, dass sich ein Terrorist eines Lkws bemächtigt hatte, um wahllos möglichst viele Menschen umbringen zu können, das geschah nun auch in der deutschen Hauptstadt und hat sich inzwischen mit weiteren Stationen in London und Stockholm fortgesetzt. Spätestens seitdem weiß auch jeder Bundesbürger – oder sollte es wissen –, dass es einen überall treffen kann.1 Denn das primäre Ziel der Gewalttäter besteht ganz offenbar darin, möglichst viele Menschen, egal ob Christen oder Muslime, ob Einheimische oder Touristen, in den Tod zu reißen.

Inzwischen ist die RAF zu einer Art Referenzsystem des gegenwärtigen Terrorismus geworden. Fast immer, wenn hierzulande vom verharmlosend als »Islamismus« bezeichneten islamischen Terrorismus die Rede ist,2 wird rasch die Frage aufgeworfen, wie es denn im Vergleich dazu mit dem RAF-Terrorismus, vor allem dem seiner ersten Generation in den siebziger Jahren, ausgesehen habe. Dabei zeichnet sich seit Längerem die Tendenz ab, die Unterschiede zwischen dem damaligen und dem heutigen Terrorismus einzuebnen. Nicht wenige Kommentatoren folgen in dieser Hinsicht den Anschauungen von Terrorismusexperten wie dem französischen Politikwissenschaftler Olivier Roy,3 für den festzustehen scheint, dass Dschihadisten von heute und die Mitglieder der »Baader-Meinhof-Bande« von damals »denselben Ansatz« verfolgen.4

Doch die Differenzen zwischen dem aktuellen, religiös begründeten und dem alten, politisch gerechtfertigten Terrorismus sind gewaltig.5 Obwohl die Unterschiede eigentlich auf der Hand liegen sollten, so wird dennoch vielfach behauptet, dass es nicht nur eine Nähe zwischen beiden mörderischen Gewaltphänomenen gebe, sondern sogar eine bis hin zu einer partiellen Identität reichenden Ähnlichkeit in ihren jeweiligen Strukturelementen. Angesichts dieser, von fragwürdigen Experten vollzogenen Einebnung der Differenzen ist es von Bedeutung, diese in ihrem Stellenwert nicht nur zu benennen, sondern auch näher zu beschreiben und entsprechend hervorzuheben:

Ein geradezu gigantisch anmutender Unterschied liegt in der Anzahl der Opfer. Bei einem einzigen Anschlag im Irak, Afghanistan oder Pakistan werden häufig mehr Menschen ermordet als von der RAF in ihrer beinahe drei Jahrzehnte andauernden Existenz insgesamt. Wenn bereits die Opferzahl der Anschläge vom 11. September 2001, bei denen rund 3000 Menschen ihr Leben verloren haben, mit einem einzigen Schlag die von mehreren Jahrzehnten Terrorismus in den Schatten zu stellen vermocht hat,6 dann wird diese erschreckende quantitative Dimension noch einmal überboten von der nach dem Irakkrieg im Frühjahr 2003 ausgelösten Serie unablässig fortwährender terroristischer Anschläge und Attentate. In Syrien, im Irak oder in Afghanistan ist es längst keine Seltenheit mehr, dass an einem einzigen Tag über hundert Menschen bei Anschlägen umkommen. Während des gesamten 20. Jahrhunderts soll es dagegen lediglich vierzehn Terroranschläge gegeben haben, bei denen mehr als hundert Menschen ihr Leben verloren.7 Angesichts dieser quantitativen Dimension erscheint es durchaus gerechtfertigt zu sein, von einer massenmörderischen Dimension des islamisch geprägten Terrorismus zu sprechen. Wie selbstverständlich der Umschlag dieser tödlichen Dimension in eine neue »Qualität« mittlerweile offenbar geworden ist, lässt sich auch an einem ganz anderen Indiz ablesen. Inzwischen ist es in der Terrorismusforschung mehr oder weniger üblich geworden von einem eigenen »terrorism lethality index«, also der durchschnittlichen Anzahl von Todesopfern bei terroristischen Anschlägen, zu sprechen.8 Es kann jedenfalls kein Zweifel daran existieren, dass seit 9/11 die »Letalitätsrate« im Terrorismus außerordentlich stark angestiegen ist und zum Datenbestand moderner Gesellschaften – beinahe wie etwa die Rate von Opfern im Straßenverkehr – einfach hinzugezählt wird.

Hinzu kommt eine weitgehende Beliebigkeit der Opfer. Im Grunde genommen kann es jeden treffen – egal ob im Nahen Osten, in Asien, Afrika, Nordamerika oder Europa und zuletzt auch in Deutschland. Obwohl sich die Attacken des Islamischen Staats, Al-Qaidas oder etwa Boko Harams so sehr gegen den Westen und seine »Ungläubigen« richten, stärker noch richten sie sich gegen Muslime und damit letztlich gegen Angehörige der eigenen Religion. Sunniten bekämpfen etwa Schiiten und umgekehrt. Dabei wird zumeist keinerlei Rücksicht darauf genommen, ob man es mit Kindern, Frauen und älteren Menschen zu tun hat. Für den politischen Terrorismus ist dagegen die spezifische Auswahl derer, gegen die sich die Attacken richteten, charakteristisch gewesen. Als integraler Bestandteil seiner Rechtfertigungsformen galt, dass keine »Unschuldigen« getroffen werden durften.9 Anschlagsziele waren US-amerikanische Militärs, Angehörige von Polizei und Justiz, hochrangige Repräsentanten des als feindlich definierten Systems aus den Bereichen Politik, Wirtschaft und Finanzen. Die Auswahl erfolgte also entlang einer ideologisch weitgehend vordefinierten Linie. Arbeiter, Angestellte, abhängig Beschäftigte oder die Bevölkerung als solche galten regelrecht als Tabu. Schließlich handelte es sich ja bei ihnen gerade um diejenigen, die es als vermeintlich Unterdrückte und Ausgebeutete für die eigenen Revolutions- und Umsturzpläne zu gewinnen galt. Eine Verletzung dieses Grundsatzes führte deshalb auch nur zu häufig zu einer Infragestellung der ideologischen Voraussetzungen terroristischer Praxis. So löste etwa die Tatsache, dass bei dem im Mai 1972 von der RAF verübten Bombenanschlag auf das Gebäude des Axel Springer Verlags vor allem Arbeiter und Angestellte verletzt wurden, erhebliche Unruhe in der Gruppe aus. So sah sich Andreas Baader als Führungsfigur der RAF unmittelbar nach Bekanntwerden des Anschlags dazu veranlasst, dessen Urheberin, Ulrike Meinhof, zur Ordnung zu rufen. Arbeiter als Objekte eines Anschlags und damit als Opfer auszuwählen, stand in einem unmittelbaren Widerspruch zur deklarierten Absicht, den »bewaffneten Kampf« doch gerade für die Arbeiterklasse durchführen zu wollen. Man befürchtete daher, dass mit Opfern unter den »zu interessierenden Dritten« (Rolf Schroers) die Rechtfertigungslogik terroristischer Aktionen öffentlich in Zweifel gezogen werden konnte. Zu den Charakteristika des islamischen Terrorismus zählt hingegen, dass die Opferziele immer wahlloser ausgefallen sind. Inzwischen geht es um eine völlige Entgrenzung in der Wahl der Adressaten.

Ebenfalls in Betracht zu ziehen ist die weitestgehende Unkalkulierbarkeit der von Dschihadisten verübten terroristischen Anschläge. Während die der RAF für die bundesdeutschen Sicherheitsbehörden zwar nicht in jeder Hinsicht vorhersehbar waren, so galten ihre Aktionen doch bis zu einem bestimmten Punkt als kalkulierbar. Man besaß damals eine ziemlich genaue Kenntnis von den am meisten gefährdeten Personen. Schließlich wusste man ja, dass insbesondere Exponenten politischer, wirtschaftlicher oder anderer Eliten ins Fadenkreuz genommen worden waren. Der damalige Präsident des Bundeskriminalamtes, Horst Herold, glaubte sich so sicher zu sein, dass er es fertigbrachte, dem damaligen Generalbundesanwalt Siegfried Buback bei ihrem letzten Zusammentreffen Fotos von gesuchten RAF-Mitgliedern mit den Worten vorzulegen, dass dies ihre »künftigen Mörder« seien.10 Angesichts der Tatsache, dass auch nach vierzig Jahren immer noch nicht geklärt ist, wer Buback erschossen hat, mag das etwas forsch gewesen sein. Herold aber dürfte den Kreis, aus dem sich die beiden Attentäter rekrutierten, in der Tat genau gekannt haben. Offen war für ihn eigentlich nur noch, wann und wo die Attentäter zuschlagen würden.

In der Figur des Selbstmordattentäters gibt es nun einen terroristischen Akteur, der die meisten dieser neuartigen Differenzpunkte in sich vereinigt und damit geradezu personifiziert. In der Regel geht ja fast jeder Terrorist ein nicht unerhebliches Risiko ein, wenn er eine Aktion verübt, jedoch begibt er sich dabei nicht ohne Weiteres auf ein Himmelfahrtskommando. Er kann seine Risiken vorab einschätzen und hat zumeist nicht unerhebliche Chancen, sein Unternehmen körperlich unversehrt zu überstehen und sich dem Zugriff von Polizei und Justiz zu entziehen. Ganz anders ist es, wenn der Terrorist seinen eigenen Körper als Mordinstrument einsetzt. In einem solchen Akt kommt es zu einer Verbindung zweier Rollen, genauer zur Fusion zwischen einem Attentäter und einem Selbstmörder. Der Selbstmord ist mit dem Attentat und das Attentat mit dem Selbstmord identisch, das eine kann nicht ohne das andere umgesetzt werden. Die Selbstauslöschung wird zur Bedingung der Möglichkeit, andere auslöschen zu können. Da die Selbstmordattentäter über nichts verfügen, womit sie ihren Feinden einen empfindlichen Schaden zufügen können, greifen sie auf sich selbst zurück. Sie setzen ihre Existenz nicht aufs Spiel, sie setzen sie zielgerichtet als Waffe ein. Die Selbstmordattentäter verwandeln sich in lebende Sprengkörper, in Bomben auf zwei Beinen, und nutzen ihren Körper in einer einzigen, finalen Tat. Indem sie aus ihrem Leib eine Waffe machen, kompensieren sie zugleich ihre Unterlegenheit und versuchen sich auf diese Weise zu einem ernst zu nehmenden Gegner zu potenzieren. Die staatliche Todesdrohung wird durch den bewussten Einsatz des eigenen Lebens hinfällig. Damit stoßen die Sanktionsmöglichkeiten des Staates zugleich ins Leere. Im politisch gerechtfertigten Terrorismus der siebziger Jahre gab es die Figur des Selbstmordattentäters überhaupt noch nicht. Erst mit dem Aufkommen des islamischen Terrorismus breitete sie sich immer mehr aus und wurde schließlich zum Inbegriff eines antizivilisatorischen und menschenverachtenden Terrors.

Noch etwas anderes kommt hinzu. Die Verwendung des Terrorismusbegriffs ist angesichts der Verwischung der Unterschiede sehr viel inflationärer geworden als das früher bereits der Fall war. Sie gehorcht kaum noch nachvollziehbaren und rechtsstaatlich überprüfbaren Kriterien. In Wirklichkeit wird er in autoritären Regimen zur Abstempelung vermeintlicher politischer Gegner verwendet. Für Staatspräsidenten wie Wladimir Putin oder Recep Tayyip Erdoğan ist es inzwischen gang und gäbe, nicht-akzeptierte Minderheiten, oppositionelle und missliebige Personen als »Terroristen« zu bezeichnen und sie damit zu diskriminieren. In der Türkei etwa ist diese Entwicklung mittlerweile soweit gediehen, dass sich beinahe jeder Wahlbürger, der es gewagt hat, beim verfassungsändernden Referendum gegen die angestrebte Ein-Mann-Herrschaft ihres Präsidenten zu votieren, gefallen lassen musste, als »Terrorist« verunglimpft zu werden.

Andererseits gilt es bei derartigen Überlegungen in Rechnung zu stellen, dass der Typus des hierzulande am stärksten mit der RAF in Verbindung gebrachten Linksterrorismus in mancher Hinsicht immer noch stark unterbelichtet ist. Ungeklärte Fragen gibt es zuhauf. Fast alles, was etwa mit der sogenannten dritten Generation der RAF zusammenhängt, gilt als weitgehend unaufgeklärt. Insbesondere über jener Phase, die sich zwischen 1985 und 1993 abgespielt hat, liegt auch nach so vielen Jahren noch immer eine große Nebelschwade, die bislang weder von den zuständigen Ermittlern, noch von Journalisten oder Historikern hat gelüftet werden können. Aber selbst wenn man sich die beiden anderen Generationen und damit die Zeitspanne zwischen 1970 und 1982 vornimmt, stößt man auf derartig viele Lücken und Scheinwahrheiten, dass man nach wie vor einräumen muss, dass in dem Kapitel RAF die ungeklärten gegenüber den wirklich als geklärt anzusehenden Fällen überwiegen.

Eine der größten Schwierigkeiten besteht ganz unzweifelhaft darin, dass die ehemaligen RAF-Mitglieder bislang keinen Anlass oder Grund gesehen haben, ihr Schweigen zu brechen.11 Und nicht wenige von ihnen würden ja auch durchaus etwas riskieren, wenn sie damit begännen, auszupacken. Denn sie müssten befürchten, wenn sie den einen oder anderen unter ihren Ehemaligen belasten, dass sie im Gegenzug selbst der Begehung von Verbrechen beschuldigt und in der Folge vor Gericht gestellt und verurteilt werden könnten. Um diesen Mechanismus zu durchbrechen, hat die Autorin Carolin Emcke vor ein paar Jahren den Vorschlag unterbreitet, nach südafrikanischem Vorbild eine »Wahrheitskommission« zu gründen.12 Doch in unserem Rechtssystem sind die dafür erforderlichen Voraussetzungen nicht gegeben.13

Das andere ist ein höchst problematischer Umgang des Staates und insbesondere der Bundesanwaltschaft und der Gerichtsjustiz mit dem Linksterrorismus. Mittlerweile hat sich herumgesprochen, dass eine nicht unerhebliche Zahl an Gerichtsurteilen wenig bis gar nichts über die konkreten Tathergänge und vor allem nichts über die dafür in Frage kommenden Täterinnen und Täter verrät. Dieses Defizit hat Michael Buback, der Sohn des im April 1977 in einer reinen Racheaktion erschossenen Generalbundesanwalts, deutlich gemacht.14 Er wollte als Angehöriger, wie er immer wieder aufs Neue betonte, nichts anderes wissen, als wer seinen Vater ermordet hatte. Und auf diese ebenso simple wie elementare Frage hat er auch nach einer jahrelangen öffentlichen Debatte, die schließlich immerhin dazu führte, dass es mit über dreißigjähriger Verspätung zu einem Gerichtsverfahren gegen die Tatverdächtige Verena Becker kam, keine Antwort erhalten. Keines der drei wegen des Buback-Attentats verurteilten RAF-Mitglieder, Brigitte Mohnhaupt, Knut Folkerts und Christian Klar, kommt für die unmittelbare Ausführung des Mordanschlags in Frage. Lediglich der Letztgenannte war weitergehender in das Geschehen verwickelt, weil er offenbar das Fluchtfahrzeug gefahren hat, in das der Motorradfahrer und die auf dem Sozius sitzende Todesschützin, mutmaßlich eine Frau, umgestiegen sind.

Warum es nicht nur in diesem, sondern auch in einer Reihe von anderen Fällen zu einer problematischen, wenn nicht gar defizitären und in mancher Hinsicht sogar irreführenden Rechtsprechung hat kommen können, liegt an einem einfachen Umstand: der Annahme einer Kollektivität derartiger terroristischer Straftaten. Nach Ansicht von Bundesanwaltschaft und Gerichten waren angeblich alle RAF-Mitglieder in die Planungen und Vorbereitungen ihrer Aktionen eingeweiht und hätten sie damit auch gebilligt. Zu dieser fragwürdigen Einschätzung hatte sich die bundesdeutsche Rechtsprechung verstiegen, weil sie in den RAF-Prozessen vor einem grundlegenden Problem stand: Die Gerichte waren meistens nicht dazu in der Lage, die geforderten konkreten Tatbeiträge der Angeklagten beizubringen und konnten sie deshalb auch nicht entsprechend aburteilen.

Aus dieser misslichen Lage suchte man einen Ausweg und glaubte ihn in der im August 1976 vorgenommenen Erweiterung des Paragraphen 129 STGB zu finden, der sich ja auf kriminelle Vereinigungen im Allgemeinen bezieht, zum Paragraphen 129a, durch den eine Spezifizierung im Hinblick auf terroristische Vereinigungen vorgenommen wurde. Wegen der damaligen Einführung des Begriffs »terroristische Vereinigung« in die deutsche Rechtsprechung wird der Paragraph, der im Übrigen nicht nur die Bildung einer und die Mitgliedschaft in einer solchen Vereinigung unter Strafe stellt, sondern auch deren Unterstützung und Werbung, von Kritikern als »Lex RAF« bezeichnet.

Der »Vorteil«, dass seitdem Angeklagte der RAF und anderer bewaffneter Gruppierungen wie der Bewegung 2. Juni und der Revolutionären Zellen fortan wegen ihrer bloßen Zugehörigkeit zu ihren Organisationen abgeurteilt werden konnten, hat die Rechtsprechung beschädigt und erheblich mit dazu beigetragen, die historische Aufklärung irrezuführen oder aber zumindest zu behindern. Einer der wichtigsten RAF-Historiker, der in der Forschungsabteilung der Stasi-Unterlagen-Behörde tätige Tobias Wunschik, hat deshalb festgestellt, dass das »größte analytische Defizit« in den RAF-Verfahren im »Postulat einer vermeintlichen Kollektivität« bestehe.15 Die diesbezügliche Rechtsprechung unterliege deshalb »einem folgenschweren Irrtum«.16 Diese beiden Faktoren – das Schweigekartell der RAF und die Kollektivitätsannahme der Strafverfolger – stellen jedenfalls die Hauptschwierigkeiten dar, im Prozess der Aufklärung weiter voranzukommen.

Eine andere nicht unwesentliche Ursache für die nur unzureichende Aufklärung des bundesdeutschen Linksterrorismus dürfte in der seinerzeitigen Praxis von Nachrichtendiensten und der Tendenz des Staates liegen, diese allen bekannt gewordenen Fragwürdigkeiten zum Trotz im Nachhinein zu schützen.

Geheimdienste haben ja zunächst einmal eine Gemeinsamkeit mit terroristischen Organisationen: Sie versuchen im oder aus dem Verborgenen heraus zu operieren. Und diese Einstellung gilt zumeist auch für die Zeit danach. Ebenso wie sich Geheimdienstagenten zumeist sträuben, später über ihr Handeln Auskunft zu geben, so weigern sich ehemalige Terroristen fast ausnahmslos, sich über ihre eigenen Taten oder die von Kampfgefährten zu äußern und damit irgendetwas preiszugeben. Was diese sie miteinander verbindende Dimension der Heimlichkeit und Intransparenz anbetrifft, gibt es jedoch auch einen bemerkenswerten Unterschied. Terroristische Organisationen sind im Gegensatz zu staatlichen Diensten zumindest für einen Moment darauf aus, ein Höchstmaß an Öffentlichkeit zu erzielen. Ihr aus dem Untergrund erfolgendes Handeln ist darauf angelegt, durch Gewaltaktionen Angst und Schrecken zu verbreiten. Um das zu erreichen, bedürfen sie möglichst spektakulärer Taten wie Überfällen, Entführungen, Mord- und Sprengstoffanschlägen.

Die Bundesrepublik verfügt bekanntlich über drei Nachrichten- beziehungsweise Geheimdienste: den Bundesnachrichtendienst, der für die Auslandsspionage zuständig ist, den Militärischen Abschirmdienst, der für die Sicherheit des Militärs verantwortlich ist, und den Verfassungsschutz, der die Republik vor verfassungsfeindlichen Bestrebungen im Inland, auch vor Terrorismus, schützen soll. Von dieser Logik her kommt eigentlich nur der Verfassungsschutz für die Überwachung terroristischer Belange in Frage. Dass es angesichts der Transnationalität vieler terroristischer Operationen hin und wieder zu Grenzüberschreitungen der Dienste kommt und etwa der Bundesnachrichtendienst deshalb auch im Inland aktiv ist, dürfte nicht weiter überraschen.

Will man sich jedoch auf den Verfassungsschutz konzentrieren, der bekanntlich über keine polizeilichen Handlungskompetenzen verfügt, dann ist es wichtig zu wissen, mit welchen Personen beziehungsweise Rollenmustern er im Zusammenhang mit dem Linksterrorismus operiert. Zunächst ist zwischen V-Leuten (»V« steht für Vertrauen oder Verbindung, gemeint sind also Vertrauens- oder Verbindungspersonen) und Undercoveragenten, sogenannten UCAs, zu unterscheiden. Erstere sind vom Verfassungsschutz angeworbene Informanten aus den entsprechenden Organisationen, Bewegungen und Milieus. Bei Letzteren handelt es sich dagegen um Bedienstete des Verfassungsschutzes selbst, die ausgebildet sind und als verdeckte Ermittler versuchen, die entsprechenden Gruppierungen und Strukturen zu infiltrieren, und trotz ihrer oftmals zwiespältigen Praxis legal handeln und damit dem Rechtsstaat verpflichtet bleiben sollen. Hinzu kommen aber noch zwei weitere Rollenspezifizierungen – die des V-Mann-Führers und die des Agent Provocateur. Der Erstere ist, wie die Bezeichnung bereits nahelegt, der zuständige Verfassungsschutzbeamte, der die entsprechenden V-Leute (V-Männer oder V-Frauen) anwirbt, beauftragt, mit ihnen verdeckt kommuniziert und sie nach Möglichkeit auch kontrolliert. Letztere sind UCAs oder V-Leute, die Gewalttäter direkt oder indirekt zu Straftaten anstiften. Der Einsatz solcher Lockspitzel stellt einen Grenzfall dar, der zwar gesetzlich reglementiert sein soll, aber nur allzu häufig gegen bestehende Gesetze verstößt.

Die Rolle des Verfassungsschutzes stellt zumindest hinsichtlich der Staatsbehörden so etwas wie die Achillesferse der RAF-Aufklärung dar. Das betrifft insbesondere die Person des 1971 von der Bildfläche verschwundenen und 2011 angeblich in Kalifornien verstorbenen Peter Urbach. Um kaum jemand anders haben sich so viele Gerüchte gerankt wie um den einstigen Undercoveragenten des Westberliner Landesamtes für Verfassungsschutz. Seit dem Beginn der Studentenrevolte im Frühjahr 1967 hatte er in der entscheidenden Zeit, in der militante Kleingruppen damit begannen, sich in erste terroristische Kommandogruppen zu transformieren, eine Doppelrolle gespielt, indem er, ein ausgebildeter Klempner, sich der Kommune I als Mädchen für alles andiente. Dabei reparierte er nicht nur zum Inventar gehörende Hausgeräte, um währenddessen Gespräche abhören zu können, sondern deponierte in diesen Räumen auch Sprengkörper, deren Entdeckung durch die Polizei einen willfährigen Anlass bot, einzelne Kommunarden nicht nur festzunehmen, sondern auch – wie im März 1969 geschehen – wochenlang in Untersuchungshaft zu behalten. Das waren also regelrechte Fallen zur gezielten Diskreditierung von Aktivisten. Noch weitergehender allerdings war die von zahlreichen Zeugen bestätigte gezielte Verführung von Aktivisten zum Gebrauch von Brandflaschen, Waffen und Sprengstoff. So hat sich Urbach etwa am Abend des Dutschke-Attentates am 11. April 1968 mit einem Weidenkorb ausgestattet, in dem sich eine ganze Reihe von Molotow-Cocktails befanden, unter die Demonstranten gemischt, die voller Wut zum Springer-Hochhaus an der Berliner Mauer gezogen waren. Einige der Protestierenden zögerten nicht lange und ließen sich von dem Agenten verführen, griffen zu und schleuderten die Brandsätze auf Lieferfahrzeuge des Verlags, die daraufhin ausbrannten. Das ging so weit, dass Urbach ihnen erst einmal demonstrieren musste, wie solche Pkws am besten Feuer fingen.

Der »APO-Anwalt« Horst Mahler, der beim Gründungsakt der RAF zu ihrer ersten Schlüsselfigur werden sollte, wurde in diesem Zusammenhang schließlich als Rädelsführer angeklagt und vor Gericht gestellt. Seine erste Schusswaffe will er seinen eigenen Worten nach aus Urbachs Händen erhalten haben. Und die Bombe, die bei der ersten Aktion von deutschen Stadtguerilleros am 9. November 1969 im Jüdischen Gemeindehaus in der Charlottenburger Fasanenstraße während einer Gedenkveranstaltung für die Opfer des Judenpogroms von 1938 deponiert wurde, stammte ebenfalls aus den Beständen des Verfassungsschutzes. Urbach hatte sie gezielt an Kommunarden in der Erwartung abgegeben, dass sie diese bei passender Gelegenheit auch einsetzen würden. Allerdings – und das gehört zu dieser Geschichte mit dazu – waren die Sprengkörper so mit Fehlern behaftet, dass sie eigentlich kaum explodieren konnten.17 Noch in einer anderen Hinsicht ist Urbach in eines der Anfangskapitel des »bewaffneten Kampfes« verstrickt. Er hatte dem späteren RAF-Anführer Andreas Baader eine Falle gestellt, die dessen Verhaftung zur Folge hatte. Durch seinen Hinweis hatte er Baader und andere dazu gebracht, am 4. April 1970 in einer nächtlichen Aktion auf einem Friedhof nach einem angeblichen Waffenversteck zu graben. Als der Trupp nach vergeblicher Suche wieder zurückfahren wollte, geriet er in eine von Urbach »bestellte« Verkehrskontrolle der Polizei. Da Baader sich mit gefälschten Papieren auswies, für die er keine vollständigen Auskünfte geben konnte, wurde er festgenommen und nach seiner Identifizierung dem Haftrichter vorgeführt. Seine Inhaftierung wiederum stellte den Grund für jene Befreiungsaktion am 14. Mai 1970 dar, die dann nachträglich zum Gründungsdatum der RAF erhoben wurde.

Urbachs Undercoverrolle ist niemals wirklich aufgeklärt worden. Allerdings trat – nachdem er gezwungen worden war, sich als Zeuge einer Anhörung vor Gericht zu stellen – im Mai 1971 der Ausschuss für Sicherheit und Ordnung des Berliner Abgeordnetenhauses zusammen, um in einer vertraulichen Sitzung zu klären, ob es in seinem Zusammenhang zu irgendeinem Fehlverhalten gekommen sei. Der Senator für Inneres, der Sozialdemokrat Kurt Neubauer, wies dabei alle gegen Urbach erhobenen Vorwürfe zurück. Mit einer einzigen Ausnahme wurden kurz darauf die gegen den VS-Agenten eingeleiteten Ermittlungsverfahren eingestellt. Bei der Ausnahme ging es darum, dass Urbach angeblich ohne Wissen des Verfassungsschutzes ein Jagdgewehr an eine nicht genannte Person weitergegeben hatte. Deshalb wurde er schließlich zu einer Geldstrafe verurteilt. Das sollte vermutlich den Anschein erwecken, dass rechtsstaatlich alles mit rechten Dingen zugegangen sei.

Doch die eigentliche Frage, die immer noch unbeantwortet geblieben ist, lautet: Was sollte mit der vom Verfassungsschutz geduldeten oder aber in Auftrag gegebenen Verteilung von Waffen und Sprengstoff bezweckt werden? War es nicht nur illegal, sondern in demokratischer ebenso wie in rechtsstaatlicher Hinsicht nicht auch völlig kontraproduktiv, besonders Militante aus der linken Szene, die zu jener Zeit gerade darauf aus waren, politische Probleme mit Gewalt zu lösen und zu diesem Zweck gefährlichere Waffen in ihre Hände zu bekommen, genau damit auszustatten? Und das obendrein noch im geteilten Berlin, jener brandgefährlichen Nahtstelle des Ost-West-Konflikts. Die plausibelste Annahme stellt wohl die Vermutung dar, dass entweder die politisch verantwortlichen Kräfte um Senator Neubauer oder die in Berlin seit 1945 stationierten Kontrollmächte, in diesem Fall die drei Westalliierten, das Ziel verfolgten, die radikalen Kräfte am Ausgang der 68er-Bewegung durch quasi-terroristische Aktionen dazu zu bringen, sich in aller Öffentlichkeit zu diskreditieren und damit ihre politischen Effekte zu neutralisieren. In diesem Zusammenhang könnte unter Umständen also auch der Viermächtestatus Berlins von Bedeutung gewesen sein. Der Verfassungsschutz war ja nicht nur dem Senator für Inneres unterstellt, sondern hing, wie das einmal ein linker Rechtsanwalt behauptet hat, »an der Leine der Alliierten«. Verbindungsoffiziere der drei Westalliierten sollen im Senat gesessen und die Praxis von Undercoverleuten durchgängig kontrolliert haben. Ohne Erlaubnis der US-Amerikaner, der Briten und der Franzosen habe keiner der Agenten damit beginnen können, eine der militanten Gruppe zu infiltrieren. Inwieweit das auch eine Rolle beim Untertauchen Urbachs in den USA gespielt haben könnte, würde ebenfalls einer genaueren Untersuchung bedürfen.

Über den Fall Urbach hinaus, für dessen Klärung bereits damals die Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses vermutlich die einzige angemessene Form gewesen wäre, sind aber noch eine Reihe anderer Namen mit der zumindest in Teilen dubiosen Rolle des Verfassungsschutzes zu nennen.

Es sind dies vor allem der des Westberliner Verfassungsschutzbeamten und V-Mann-Führers Michael Grünhagen, der unter diversen Decknamen erhebliche Teile der linksterroristischen Bewegung 2. Juni aufsuchte und sie für den Verfassungsschutz als Informanten zu gewinnen versuchte. Erfolgreich war dessen 1972 erfolgter Vorstoß im Falle Harald Sommerfelds, der eine entsprechende Verpflichtung einging. In einem Stasi-Dokument heißt es, dass seit demselben Jahr auch Verena Becker von bundesdeutschen Diensten »bearbeitet bzw. unter Kontrolle gehalten« würde.18 Dem ist später vom Bundesamt für Verfassungsschutz zwar widersprochen worden, es musste aber einräumen, dass die Terroristin nach einer Teilverbüßung ihrer Haftzeit zu Beginn der achtziger Jahre als Informantin zu Diensten gewesen sei.

Diese Aufzählung, die alles andere als vollständig ist, zeigt, in welchem Zwielicht Teile des Verfassungsschutzes – schon lange bevor im November 2011 die Mordserie des rechtsterroristischen Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) aufflog und in der Folge die Machenschaften des Verfassungsschutzes zu einem Staatsskandal ersten Ranges wurden – in der RAF-Zeit steckten und wie sehr seine Rolle von einer Wolke des Verdachts überschattet ist.

Ein ganz besonderer Winkelzug offenbarte sich, als im Frühjahr 2000 das Berliner Landesamt für Verfassungsschutz als eigenständige Behörde auf einmal aufgelöst und als Abteilung in die Innenverwaltung des Senats integriert wurde. Diese Entscheidung war von Eckart Werthebach getroffen worden, dem ehemaligen Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, der auf den Posten des Senators für Inneres gewechselt war. Ganz offenbar sollte das Berliner Landesamt in seiner alten Form, Struktur und Funktion nicht mehr aufrechterhalten werden. Angeblich sind im Zuge dieser institutionellen Umbettung alle Akten entsorgt worden. Für Historiker wie Journalisten ist es jedenfalls seitdem nicht mehr möglich, an Dokumente des Landesamts für Verfassungsschutz aus der Zeit zuvor, im Kern der Ära des Kalten Krieges, zu gelangen. Als sich das Hamburger Institut für Sozialforschung 2009/2010 mehrfach an die Behörde mit der Bitte wandte, ihm Auskunft über die Gründe dieses folgenreichen Schrittes zu informieren, wurde die Sache ein ums andere Mal hinausgezögert, um letzten Endes eine so elementare Information ganz schuldig zu bleiben.

Eine besondere und von Anfang an nicht unumstrittene Rolle spielte dabei die Figur des Kronzeugen. Bereits zu Beginn der siebziger Jahre wurde zwar mit damals verhafteten RAF-Mitgliedern wie Karl-Heinz Ruhland und Gerhard Müller in der Öffentlichkeit wiederholt von angeblichen »Kronzeugen« gesprochen, in einem strafrechtlich relevanten Sinne wurde diese Zeugenfigur zur Klärung von terroristischen Straftaten aber erst 1989 in der Ära von Bundeskanzler Helmut Kohl in die Strafprozessordnung eingeführt. Dass das überhaupt geschah, hatte vor allem damit zu tun, dass seit 1982 kein einziges Mitglied aus der Kommandoebene der RAF mehr hatte verhaftet werden können.

Die Lage von Polizei und Justiz gegenüber dem Linksterrorismus schien so hoffnungslos geworden zu sein, dass man nach der aus der britischen Rechtsprechung stammenden Kronzeugenregelung, die dem deutschen wie dem kontinentaleuropäischen Recht insgesamt immer bis zu einem gewissen Grad fremd geblieben war, wie nach einem letzten Strohhalm griff. Man erhoffte sich durch ihre Inanspruchnahme erkennbare Vorteile in der Terrorbekämpfung. Für Aussagen, die zur Ergreifung eines Täters führten, eine Straftat umfassend aufklärten oder aber künftige Straftaten hätten verhindern können, wurde entweder völlige Straffreiheit oder zumindest Strafmilderung in Aussicht gestellt, die beispielsweise in einem Mordfall für den Angeklagten das Strafmaß von lebenslänglich bis auf ein Minimum von drei Jahren reduzieren konnte. Weil die Kronzeugenregelung in RAF-Kreisen von Anfang an jedoch als »staatliche Verführung zum Verrat« stigmatisiert, aber auch in Kreisen der linksliberalen Öffentlichkeit nicht unumstritten war, schien die zunächst ohnehin nur für einen drei Jahre befristeten Zeitraum gültige Regelung kein wirksames Mittel zu sein, um Ehemalige aus dem Schweigekartell der RAF herauszubrechen.

Das änderte sich aber, zumindest vorübergehend, als im Juni 1990 zur allgemeinen Überraschung zehn ehemalige RAF-Mitglieder, nach denen ein Jahrzehnt lang von Interpol gefahndet worden war, auf dem Gebiet der noch existierenden DDR verhaftet werden konnten. Unter ihnen befand sich mit Werner Lotze ein ehemaliges RAF-Mitglied der zweiten Generation, für den als Ersten die Kronzeugenregelung wirksam wurde. Da ihm eine Strafminderung versprochen wurde, gab er zu, dass er 1978 einen Polizeibeamten erschossen hatte und beim missglückten Attentat auf die Wagenkolonne des NATO-Oberbefehlshabers Alexander Haig im Jahr darauf beteiligt gewesen war. Trotz einer vollendeten und einer versuchten Mordtat sowie einer Reihe anderer Straftaten wurde er als Kronzeuge zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt.

Als Kronzeuginnen und -zeugen folgten ihm mit entsprechender Minderung des Strafmaßes Susanne Albrecht, Henning Beer, Sigrid Sternebeck, Ralph Baptist Friedrich, Monika Helbing, Silke Maier-Witt und Inge Viett, die den Deal mit der Stasi und den DDR-Behörden eingefädelt hatte. Mit Hans-Joachim Klein kam später auch ein Mitglied der Revolutionären Zellen in den Genuss dieser Regelung. Da der 1975 am Überfall auf das OPEC-Treffen in Wien beteiligte Terrorist später ausgestiegen war und durch seine Hinweise entscheidend dazu beitrug, dass mehrere antisemitische Anschläge verhindert wurden, kam er 2001 trotz seiner Beteiligung an drei vollendeten Mordtaten, eines Mordversuchs und der Geiselnahme von 62 Personen, darunter elf Mitgliedern verschiedener OPEC-Staaten, mit einer Freiheitsstrafe von neun Jahren davon. Doch das war bereits eine Ausnahme.

Die Kronzeugenregelung, die nach heftigen Kontroversen zweimal verlängert worden war, lief – die RAF war anderthalb Jahre zuvor aufgelöst worden – in der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder mit dem Ende des Jahres 1999 wieder aus. Die Bedrohung durch die RAF war vorüber, nach den spektakulären Anschlägen vom 11. September 2001 erhob der Terrorismus jedoch erneut sein Haupt, diesmal nicht unter politischen, sondern unter religiösen Vorzeichen. Unter dem Eindruck erneuter terroristischer Gefährdungen wurde von der großen Koalition unter Angela Merkel erneut eine Kronzeugenregelung verabschiedet, die zum 1. September 2009 in Kraft trat. Das heißt, dass für ehemalige RAF-Mitglieder – wenn sie denn aussagewillig gewesen wären – die Kronzeugenregelung nur in bestimmten Zeitphasen hätte in Frage kommen können. Doch es war, von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen, nur eine bestimmte Gruppe, die der in der DDR untergetauchten Ex-RAF-Mitglieder, die unter bestimmten Bedingungen, die mit denen der anderen inhaftierten Mitglieder nur schwer vergleichbar waren, von dem Angebot Gebrauch machte.

Obwohl der DNA-Nachweis eines Tatverdächtigen nicht allein über dessen Schuld oder Unschuld entscheidet, so gilt der genetische Fingerabdruck wegen seiner unter einem Prozent liegenden Fehlerquote mittlerweile doch als die Krone der Beweismittel. Da das DNA-Verfahren erst 1984 entdeckt und vier Jahre später in der Bundesrepublik erstmals vor Gericht im Rahmen eines Strafverfahrens zugelassen wurde, kam es für die Mehrzahl der RAF-Verbrechen schlicht zu spät. Ironischerweise richtete das Bundeskriminalamt im April 1998 eine eigene DNA-Analysedatei fast auf den Tag genau ein, als die RAF ihre Auflösungserklärung bekannt gab. Viele Spurensammlungen waren in der Zwischenzeit schon längst – wie zum Beispiel die auf Anweisung des damaligen Generalbundesanwalts Kay Nehm 1994 entsorgte Spurenakte des Buback-Attentats – vernichtet worden.

Wenn auch nicht gleich bei jeder dieser vermutlich voreilig durchgeführten Aktionen Absicht unterstellt werden sollte, so muss es doch mehr als sonderbar erscheinen, dass etwa im Falle Verena Beckers exakt jene Haarprobe, die man in einem der beiden Täterhelme entdeckt und als von ihr stammend identifiziert hatte, aus unerfindlichen Gründen verschwunden ist. Und das von dem Täter-Duo verwendete Motorrad der Marke Suzuki 750 GS hatte man obendrein an einen privaten Interessenten verkauft, der es dann umspritzte und nach jahrelanger Benutzung schließlich 2013 dem Stuttgarter Haus der Geschichte für eine RAF-Ausstellung veräußerte.

Wie wertvoll sich auch noch nach Jahren DNA-Spuren hätten erweisen können, zeigte sich 2001, als ein an einem Frottee-Handtuch befindliches Haar auf die mögliche Mittäterschaft eines ehemaligen RAF-Mitglieds hinwies. Gentechnikern des beim Wiesbadener Bundeskriminalamt angesiedelten Kriminaltechnischen Instituts gelang es damit noch ein Jahrzehnt nach dem Rohwedder-Attentat, den 1993 in Bad Kleinen zu Tode gekommenen Wolfgang Grams zu identifizieren.19 Auch wenn dieses Indiz nicht ausreicht, um eine unmittelbare Tatbeteiligung zu beweisen, so deutete es doch darauf hin, dass der Hogefeld-Gefährte mit diesem Handtuch in Berührung und insofern mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in das Verbrechen verstrickt gewesen sein musste.

In der Geschichte der alten Bundesrepublik gibt es wohl keine andere Situation, die es an Dramatik und Brisanz mit dem sogenannten »Deutschen Herbst«, also der Zeit der Schleyer-Entführung, aufnehmen könnte. Die 44 Tage im September/Oktober 1977 waren, wie man im Nachhinein feststellen konnte, der Scheitelpunkt des RAF-Terrorismus und die krisenhafteste Zuspitzung staatlicher Sicherheitspolitik durch innere Gefährdungsprozesse. Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt hat diese Zeitspanne später einmal als »die schwerste Krise des Rechtsstaats seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland« bezeichnet.

Auf die Nachricht, dass der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer von einem RAFRAFCDU