Fürstenkrone – 2 – Staffel

Fürstenkrone
– 2–

Staffel

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Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-951-1

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Fürstenkrone – 2 – Staffel

Aschenputtel im eigenen Schloss?

Komtess Amelie hat es nicht leicht!

Roman von Cora von Ilmenau

»Wohin soll’s denn gehen bei dem Sturm?«, fragte der Kutscher verwundert. Nicht gerne verließ er bei diesem Wetter die warme Kutscherstube des Gasthofs.

»Nach Schloss Hochwald muss ich! Ich kann auch bezahlen«, antwortete die Frau, die gesehen hatte, wie zweifelnd der Mann sie ansah. Sie war einfach, aber sauber gekleidet und schien noch jung zu sein. Im Arm trug sie ein Bündel, auf das sie sorgsam achtgab.

»Nach Hochwald hinauf? Alle Wetter. Ist wohl dort eine Stelle freigeworden?«

»Na, das wär’ wohl was«, erwiderte die Frau und seufzte. Sie wies auf das Bündel in ihrem Arm. »Ich bringe dem Grafen Hochwald sein Enkelkind.«

Man trat vor die Tür des Gasthauses.

Eine Windböe kam auf und riss das schützende Tuch weg. Nun konnte man sehen, dass in dem Bündel tatsächlich ein Säugling eingewickelt war.

»Sein Enkelkind!«, rief der Kutscher erstaunt aus. »Dann wollen wir mal schnell losfahren.«

Es war spät im Herbst. Die Nacht kam früh heute, noch früher als sonst, denn der Himmel war schon den ganzen Tag wolkenverhangen gewesen. Nun brach das Unwetter mit ganzer Macht los. Obwohl es erst gegen fünf Uhr abends sein mochte, war es bereits so dunkel wie in der tiefs­ten Nacht.

Zudem peitschte ein kalter böiger Wind die Bäume und Büsche, die die Straße säumten. Wer auch immer das Pech hatte, bei diesem Wetter unterwegs sein zu müssen, hatte ein schlechtes Los gezogen.

Und dennoch – das kleine armselige Gefährt mühte sich die Anhöhe, die in den Wald hineinführte, hinauf. Man mochte es schwerlich eine Kutsche nennen, so klein und klapprig war es, und es wurde von einem Pferd gezogen, das wie die kleine Kutsche schon bessere Tage gesehen hatte. Durch Unebenheiten im Boden wurde der kleine Wagen hin und her geworfen wie ein Schiff auf den Wellen im Sturm. Als die Anhöhe geschafft und der Wald erreicht war, wurde der Weg etwas besser. Schützend hatte der Wald seit jeher seine Hand über den Weg gehalten und ihn vor den Folgen von Wind und Wetter bewahrt.

Nun hielt die Kutsche an. Der Kutscher, der sich eben noch vor dem Sturm auf dem Kutscherbock zusammengekauert hatte, drehte sich um und klopfte an die Scheibe. Er muss­te seine Stimme anstrengen, denn man war nun zwar durch den Wald vor den schlimmsten Windböen geschützt, dennoch tobte der Sturm noch laut und mächtig.

»Es ist nun nicht mehr lang!«, rief er dem unglücklichen durchgeschüttelten Fahrgast zu.

»Wird auch Zeit«, war die mürrische Antwort. Die Reise hatte der jungen Frau ziemlich zugesetzt und ihre ohnehin schon schlechte Laune noch verschlimmert. Musste ausgerechnet sie dem alten Grafen sein Enkelkind bringen? Von dem er, wie man sich erzählte, gar nichts wusste? Was war, wenn sie das unselige Würmchen gar nicht los wurde?

Das Kind selbst hatte sich die ganze Zeit über zum Glück recht brav verhalten. Ein kleines Mädchen war es, kaum ein halbes Jahr alt. Im Moment schlief es ruhig, da es weder die Gefahren des Sturms kannte noch die Ablehnung durch den alten Grafen fürchtete.

Mit einem Ruck setzte sich das Gefährt jetzt wieder in Bewegung. Geduldig nahm das alte brave Pferd die letzten Steigungen des Weges auf sich. War es diesen Weg doch früher, in besseren Zeiten, oft gegangen.

Die Straße machte eine letzte Wendung und führte danach sanft einen leichten Abhang hinauf. Wäre es Tag gewesen, so hätte sich den Reisenden ein stolzer Anblick geboten: Dort lag, umgeben von einem prächtigen Garten, in dem im Sommer Rosen blühten, Schloss Hochwald. Es war ein mächtiges, großes Gebäude, das auf jeden großen Eindruck machte. Früher war es sogar eine Burg gewesen. Davon waren nun aber nur noch die Burggraben und die Zugbrücke darüber übrig geblieben.

Freilich lag die ganze Pracht im Moment im Dunkeln, und da auf Hochwald niemand mit Besuch rechnete, waren auch die Laternen, die den Eingang zum Schloss säumten, nicht angezündet.

Die Kutsche nahm den Weg über die Zugbrücke und rumpelte in den mit Steinen gepflasterten Innenhof. Dort kletterte der Kutscher vom Wagen. Ihm waren von der Fahrt bei dem kalten nassen Wetter die Knochen steif geworden.

»Da wären wir! Schloss Hochwald!«, rief er der jungen Frau im Wagen zu.

»Was das nun werden wird mit dem Kind? Zum Glück hab’ ich mit der Geschichte jetzt nichts mehr zu tun«, murmelte er vor sich hin, als er die Hand hob, um mit dem eisernen Ring, der an der schweren Tür hing, zu klopfen.

Mehrmals musste er den schweren Ring gegen die Tür fallen lassen, dann konnte man endlich Schritte hören. Mit einem Quietschen ging das große Holztor auf.

»Was gibt’s denn?« Das Gesicht einer alten Dienstmagd schob sich durch den Türspalt. Zum Schutz gegen Wind und Wetter hatte sie sich ein Tuch um den Kopf gebunden, das nun heftig im Wind flatterte.

»Dem Herrn Grafen hätt’ ich was zu bringen! Komm heraus, Mädchen, die Fahrt ist zu Ende!«, rief der Kutscher in Richtung des Wagens. Die junge Frau stieg aus, das Kind auf dem Arm. Es war in eine dicke Decke gewickelt worden, um es vor der Kälte zu schützen.

»Und was bringt man dem gnädigen Herrn bei diesem Wetter?«, fragte die alte Schlossangestellte verwundert. Die junge Frau schlug die Decke vom Kopf des Kindes zurück und sagte:

»Dem Herrn Grafen sein Enkelkind. Das von seiner einzigen Tochter. Sie ist nun tot, und das Kind soll hierbleiben.«

»Ach herrjeh!«, war die Antwort der alten Line.

»Ich kann’s nicht behalten. Ich muss auch morgen zurück!«, gab die junge Magd zurück.

»Nun kommt erst mal rein. Das arme Ding friert sich hier draußen noch zu Tode. Und dir wird eine heiße Suppe auch recht sein«, meinte Line. »Ach, was wird der gnädige Herr nur sagen. Hoffentlich nimmt er’s gut auf«, fügte sie noch hinzu. Sie brachte die junge Frau und das kleine Kind in die warme Küche. Der Kutscher hatte sich gleich auf den Rückweg gemacht.

In der Küche gab es heißen Kaffee und eine gute Suppe für die unwillige Reisende. Das Kind war aufgewacht und schaute mit großen blauen Augen um sich. So, als wollte es seine neue Heimat kennenlernen.

»Es sieht wirklich ganz aus wie die junge Komtess Sophie!« Da war man sich einig. Die Älteren der Dienerschaft erinnerten sich noch gut daran, wie die fröhliche schöne Grafentochter als kleines Kind ausgesehen hatte.

»Nun erzähl erst mal, was es mit dem Kind auf sich hat!«, rief Gertrud, die Köchin. Sie war immer für eine gute Geschichte zu haben. Es hatte sich auch schnell herumgesprochen, dass in der Küche etwas Besonderes im Gange war, und so waren viele von der Hochwalder Dienerschaft herbeigeeilt.

»Je nun«, seufzte die junge Frau, »da gibt’s nicht viel zu sagen über das Kind. Ein Mädchen ist es. Ist heute genau vor einem halben Jahr zur Welt gekommen. Auf den Namen Amelie Sophie ist es getauft. Die Mutter ist vor zwei Wochen gestorben. Sie hat wohl den Tod des Mannes nie überwunden. Ich war da als Köchin für die gnädige Frau. Anna Schmitt ist mein Name. Und eigentlich hab’ ich gar nichts mit dem Kind da zu tun.«

Hedi, das junge Stubenmädchen, hatte mit großen Augen und offenem Mund gelauscht. Sie hatte oft reden hören von der schönen jungen Komtess und ihrer heimlichen Hochzeit mit dem eleganten jungen Offizier von Eschenheim. Der so arm war und so tapfer. Nun war er im Krieg gefallen und die Komtess Sophie aus Kummer darüber gestorben.

Hedi wischte sich eine Träne aus den Augen. Sie konnte nicht verstehen, wie man so herzlos sein konnte und das arme kleine Ding loswerden wollte, so wie diese Köchin. Da war Gertrud, die Köchin auf Hochwald, viel netter.

»Aber wer bringt es dem Herrn Grafen bei?«, fragte der Hausdiener Johann nun. »Der war doch so gegen die ganze Geschichte und wollt’ nichts mehr wissen von der Komtess Sophie!«

In diesem Moment schrillte die Glocke.

»Der gnädige Herr!«, ertönte ein erschrockener Ruf durch die Küche.

»Es ist für dich, Magda. Spute dich!«, rief Gertrud. Magda war eines der Zimmermädchen.

»Warte.« Gertrud drehte sich zu Anna Schmitt um. »Ich komme mit und du auch. Schließlich hast du das Kind gebracht. Da kannst du dem gnädigen Herrn noch so manches erklären.«

So machte sich die kleine Prozession auf den Weg, der Rest der Dienerschaft blieb in der Küche und überlegte aufgeregt, wie Graf Hochwald sein Enkelkind wohl empfangen würde. Es war doch so ein herziges kleines Ding und so brav, da konnte man es doch schlecht wieder vor die Tür setzen?

*

Oben vor dem Salon blieben die drei Frauen stehen. Dann ging Magda hinein, um wie gewünscht für Graf Friedrich von Hochwald ein warmes Feuer im Kamin anzuzünden. Bald loderten die Flammen hell auf, und eine wohlige Wärme verbreitete sich.

»Das ist gut bei diesem Wetter«, seufzte der alte Herr. »So spüre ich die Gicht wenigstens nicht ganz so stark wie sonst.«

Er war ein feiner, aristokratisch aussehender Mann, immer noch groß und schlank, und er war in seinen bes­ten Jahren eine imposante Erscheinung gewesen. Seit dem Tod der Gräfin, seiner Frau, war er jedoch nicht mehr der alte. Auch hatte ihn die Flucht seiner innig geliebten einzigen Tochter schwer getroffen. Musste sie auch einem armen Schlucker ihr Herz schenken? Und dann noch zur Schande der Familie heimlich heiraten! Da war es ihm ganz egal gewesen, dass der junge Offizier von Eschenheim aus guter Familie stammte.

»Hungerleider sind das!«, hatte er immer erbost geschimpft und sich geweigert, Alexander von Eschenheim als Gatten seiner Tochter anzuerkennen. »Eine Komtess Hochwald kann nicht von den paar Groschen leben. Und dann ist er noch Offizier. Was ist, wenn er im Krieg fällt?«

Nachdem dann die Flucht der jungen Komtess bekannt geworden war, hatte Graf Hochwald getobt und gedroht: »Der soll sich unterstehen, und mir noch einmal unter die Augen kommen! Und Sophie will ich auch nicht mehr sehen! Die Suppe, die sie sich eingebrockt hat, wird sie auslöffeln müssen.«

Auch jetzt, als er dem Stubenmädchen beim Feuer machen zugesehen hatte, hatte Graf Hochwald an seine Tochter denken müssen. Eben so einen stürmischen kalten Tag hatte sie sich vor zwei Jahren aussuchen müssen, um ihr Elternhaus zu verlassen! Und jetzt, was war jetzt doch alles geschehen! Graf Hochwald seufzte und ließ den Brief sinken, in dem er gerade gelesen hatte. Er unterbrach seine Gedanken, denn er sah das Stubenmädchen vor sich stehen.

»Gibt es noch etwas, Magda?«, fragte er müde.

»Gnädiger Herr, da ist … warten Sie, ich hole sie herein.« Magda hatte sich nicht mit der Sprache heraus getraut. Nun eilte sie vor die Salontür und holte die Köchin Gertrud und Anna Schmitt mit dem Säugling herein.

»Herr Graf«, begann die Köchin Gertrud. Ihre Stimme zitterte etwas, denn wusste man, wie der alte Herr die Nachricht vom Tod seiner Tochter aufnahm? Und das Kind, das würde er vielleicht ablehnen und ins Waisenhaus stecken lassen.

»Was möchtest du mir sagen, Gertrud?« Die Stimme Graf Hochwalds klang müde, noch müder als sonst.

»Nun.« Gertrud hob das Kinn. Raus musste die Sache, und je eher, je besser. »Ihre Tochter, die Komtess Sophie ist vor zwei Wochen von uns gegangen. Sie hinterlässt dieses unschuldige kleine Wesen und bittet Euch, es gnädig aufzunehmen.«

»Komm näher!«, befahl der alte Herr. Anna Schmitt, die mit dem Kind auf dem Arm neben der Köchin stand. »Sophie!«, rief der Graf gleich darauf erschüttert. »Ja, so hat sie auch ausgesehen, als sie so alt war.« Die Stimme des Grafen zitterte leicht. »Auch so große blaue, staunende Augen. Und so goldblondes Haar.« Erinnerungen stürzten in das Gedächtnis des Grafen und drohten ihn zu überwältigen.

»Gib mir einmal das Kind her«, sagte er schließlich.

Das Kind wurde auf den Arm des alten Mannes gelegt, und wieder schaute es mit seinen großen Augen prüfend um sich. Brav war das kleine Mädchen, ganz so, als ob es wüsste, dass seine Zukunft davon abhinge.

»Sei willkommen auf Schloss Hochwald. Du kannst ja nichts für die ganze Geschichte.« Seufzend strich Graf Hochwald seiner Enkeltochter über das blonde Haar. »Sieh mal, ich wusste schon, dass du kommst.« Der alte Herr sprach leise, fast wie zu sich selbst. »Das steht alles in dem Brief hier, den ich gerade gelesen habe. – Nun«, fuhr er dann mit lauterer Stimme fort und wandte sich an Anna Schmitt. »Was hat meine Enkelin noch mitgebracht, außer sich selbst?«

»Hier sind ein paar Briefe, der Taufschein und ein Medaillon, Herr Graf!« Anna Schmitt trat näher und übergab dem Grafen die Sachen.

»Sorge dafür, dass das Kind gut verpflegt wird und dass diese Frau einen angemessenen Lohn für ihren Dienst erhält«, sagte Graf Hochwald schließlich zu Gertrud. Er gab ihr den Säugling zurück.

»Meine Enkelin soll ein ihrem Stand angemesssenes Leben führen. Und jetzt möchte ich mich bis zum Abendessen zurückziehen.«

*

Die drei Frauen schritten wieder die prächtige Treppe hinab, die in das Erdgeschoss führte. In der Küche wurden sie vom Rest der Dienerschaft schon sehr gespannt erwartet.

»Wie hat der gnädige Herr die ganze Sache aufgenommen?« – »War er sehr erzürnt?« – »Kann das Kind bleiben?« So tönten die Stimmen durcheinander.

Hedi, das kleine Stubenmädchen, war besonders aufgeregt. Sie hatte zu Hause vier kleine Geschwister, und das jüngste, das etwa so alt sein mochte wie die kleine Komtess, vermisste sie besonders, seit sie in die Dienste des Grafen getreten war. War es doch ihr liebster Schützling gewesen!

Stolz stellte sich Gertrud vor den anderen auf. »Die kleine Amelie Sophie darf bleiben! Aufwachsen soll sie, wie es ihrem Stand gebührt! Ist das nicht eine Nachricht!«, erzählte sie voller Freude. War es doch etwas ganz Besonderes, wieder ein so junges Leben im Haus zu haben. Denn nachdem die Frau Gräfin gestorben war und dann auch noch Komtess Sophie das Haus verlassen hatte, war es doch sehr ruhig auf Schloss Hochwald geworden.

»Darf ich mich um die Kleine kümmern?« Hedi war sonst sehr schüchtern, aber nun hielt sie es nicht mehr aus. Die Liebe zu dem kleinen mutterlosen Wesen hatte sie überwältigt.

Es wurde für Komtess Amelie ein großer Korb gefunden, in dem sie diese erste Nacht in ihrer neuen Heimat schlafen konnte. Am nächsten Tag wollte man dann gleich nach einer Wiege suchen und auch alles sonst herbeischaffen, was ein Kind in dem Alter braucht. Hedi war allerdings der Meinung, dass die kleine Amelie Sophie vor allem Liebe und Zuwendung brauchte, und damit hatte sie wohl auf jeden Fall recht!

*

Nun brach für die kleine Komtess Eschenheim eine wunderbare Zeit heran. Sie bekam ein eigenes kleines Zimmer, in dem auch die überglückliche Hedi schlafen durfte, die zum Kindermädchen aufgestiegen war.

»Kommt alle schnell her und schaut!« Stolz und aufgeregt eilte Hedi mit ihrem Schützling in die Küche. »Sie bekommt ihren ersten Zahn!«

»Na, sieh mal einer an! So ein Schatz!« Die Köchin Gertrud ließ das Blech mit frischem duftendem Kuchen stehen und trat näher.

»Brav ist sie und weint nicht. Obwohl es doch gar nicht so einfach ist mit dem Zähnekriegen.« Hedi wuss­te das von ihren kleinen Geschwis­tern und war sehr stolz auf die kleine Komtess.

»Magst du etwas Gutes haben, Amelie Sophie?« Gertrud zeigte dem Kind einen frisch gebackenen kleinen Kuchen. »Wer Zähne hat, braucht auch etwas zum Beißen!«

Amelie Sophie griff neugierig nach dem Kuchen. Erstaunt sah sie dieses fremde Gebilde an, hatte sie doch bisher nur Milch bekommen! Doch dann probierte sie den Kuchen und strahlte.

»Sie weiß eben, was gut ist!« Auch Magda war herangetreten und bewunderte Amelie Sophie. »Wie wäre es, Hedi, wenn wir sie zum gnädigen Herrn bringen? Sie muntert ihn immer auf, wenn sie bei ihm ist.«

»Ja, lauft nur zu ihm und nehmt noch einige von den kleinen Kuchen mit. Ich komme mit dem Kaffee nach.« Schnell legte Gertrud ein paar der Kuchen auf einen schönen großen Porzellanteller.

Graf Hochwald saß im Salon an seinem Schreibtisch und betrachtete den Park, dessen Bäume und Büsche jetzt im Frühling die ersten Blüten trugen. Es war ein Anblick, der ihn immer wieder erfreute. Da traten Magda und Hedi mit dem Säugling ein.

»Wir bitten um Verzeihung, Herr Graf, aber die junge Dame hat einen der Kuchen schon gegessen.« Hedi knickste lächelnd.

Verwundert drehte sich Graf Hochwald zu den drei Besucherinnen um.

»Kuchen! Darfst du das denn schon essen, Amelie Sophie?«

Hedi kam ein wenig näher. »Gestatten Sie, Graf Hochwald? Dieses ist der erste Zahn von Komtess Amelie Sophie!«

Wie zum Beweis für das alles lachte Amelie fröhlich auf, wobei man den Zahn aufs Beste erkennen konnte.

»Ja, alles wächst und gedeiht. Draußen in der Natur und hier drinnen auch. Gut gemacht, Amelie Sophie.« Graf Hochwald strich dem Kind über den Kopf. »Lass sie mir ruhig eine Weile hier, Hedi. Sie ist wirklich ein braves, verständiges Kind.«

Amelie nahm also auf dem Schoß ihres Großvaters Platz und lauschte dem, was er ihr erzählte.

»Nächsten Frühling gehen wir schon gemeinsam durch den Park. Und ein wenig später bekommst du einen kleinen Wagen mit einem Pony davor. Für dich zum Kutschieren!«

»Da!«, machte Amelie Sophie erfreut. Dann zeigte sie auf ein Bild an der Wand.

»Ja, liebes Kind, das war deine Mutter. Du erkennst sie wohl wieder? Wundern würde es mich nicht.«

So ging es viele Tage, und die innige Beziehung zwischen Großvater und Enkelin war für alle Seiten eine große Bereicherung. Selbst die Gicht plagte Graf Hochwald nicht mehr so stark, wenn Amelie Sophie bei ihm war.

Und das Schöne war: Obwohl von allen verwöhnt, blieb Amelie ein liebes, geradezu bescheidenes Kind.

*

»Unmöglich, wie dieses Kind verwöhnt wird. Immer nur heißt es: ›Schau, was die Kleine schon kann, und sieh nur, wie fröhlich und brav sie ist!‹« Empört drehte sich Gudula Gräfin Litzow zu ihrem Gatten um. Die Litzows standen in einem der eleganten Gästezimmer von Schloss Hochwald und sahen hinaus in den Park. Dort wurde die kleine Komtess gerade von Hedi in ihrem neuen Ponywagen herumgeführt.

»In der Tat könnte unseren Kindern auch etwas Aufmerksamkeit geschenkt werden. Das kleine Ding da hat nur das beste Spielzeug!«, stimmte Graf Egon seiner Frau zu. Die Litzows waren entfernte Verwandte von Graf Hochwald und kamen manchmal zu Besuch.

Seit langer Zeit schon lebten sie weit über ihre Verhältnisse. Graf Egon liebte es, Roulette zu spielen. Gräfin Gudula vergaß ihren Ärger über die Eskapaden ihres Mannes gerne bei ausgedehnten Einkaufstouren. Wie viel besser ging es einem doch, wenn man eine elegante neue Robe trug!

Auch die Kinder bekamen nur das teuerste Spielzeug, egal wie schnell sie es kaputt machten. Auf diese Weise waren die Schulden Graf Litzows größer und größer geworden. Auch die früheren Besuche der Familie auf Schloss Hochwald hatten nur einem Zweck gedient: »Gutes Wetter« bei dem alten Herrn machen, wie Graf Egon es gerne nannte.

»Und dann diese Vertrautheit mit den Dienstboten! Dauernd trägt einer von denen das Kind herum. Haben die nichts zu arbeiten?«, empörte sich Gräfin Gudula weiter.

»So kommt noch der ganze Besitz herunter«, fürchtete Graf Egon.

Gräfin Gudula schüttelte den Kopf. »Unmöglich, die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter. Da sollte Friedrich doch eigentlich wissen, worauf er sich einlässt!«

Friedrich von Hochwald musste tatsächlich beim Anblick Amelies oft voller Sehnsucht an die verlorene Tochter denken. Doch hatte er ihr schon lange vergeben.

*

Fast zwei Jahre waren vergangen.

Es war gerade wieder Herbst geworden. Da erlitt Graf Hochwald nach einem Ausritt einen Schwächeanfall. Der sofort gerufene Arzt riet zur Ruhe und empfahl für das nächs­te Frühjahr eine Kur zur Kräftigung.

Leider sollte diese Kur nicht den gewünschten Erfolg bringen. Graf Hochwald, der sein Ende nahen fühlte, rief aus der Stadt den besten Anwalt. Er wollte unbedingt noch einige Dinge regeln, die die kleine Komtess betrafen.

»Wo ist Opa? Ist Opa krank?«, fragte Amelie an einem düsteren Tag im Oktober. Hedi war in das Spielzimmer gekommen, um die kleine Komtess zu holen.

»Ich bringe dich zu ihm, mein Schatz.« Verstohlen wischte sich Hedi eine Träne aus den Augen.

»Hedi traurig?«, wollte Amelie nun wissen.

»Komm nur gleich mit, dein Großvater möchte dich sehen.« Hedi wuss­te nicht, was sie dem kleinen Mädchen antworten sollte.

Komtess Amelie wurde nun an Graf Friedrich Hochwalds Bett geführt und streichelte liebevoll die Hand des alten Herrn.

»Verzeih mir, mein geliebtes Kind, dass ich dich nicht länger auf deinem Lebensweg begleiten kann. Meiner ist zu Ende. Bleibe nur immer dir selber treu.« Der alte Herr rang nach Atem. »Es ist für dich gesorgt, Amelie Sophie. Lebe wohl.«

Eines Morgens, nicht lange danach starb Graf Hochwald. Als die verweinte Hedi Amelie sagte, dass der gnädige Herr nun im Himmel sei, brach sie in bittere Tränen aus.

So war dies der zweite große Verlust, den Amelie Sophie in ihrem jungen Leben erleiden sollte. Und wie sich zeigen sollte, war es nicht sicher, ob ihr Schicksal eine gute Wendung nehmen würde.

Zwei Tage vor der Beerdigung erschien Graf Litzow mit Gattin und Kindern. In tiefschwarze Kleidung gehüllt, bot die Familie ein Bild der aufrichtigen Trauer. Niemand ahnte, dass sie bereits am selben Nachmittag den Schreibtisch Graf Hochwalds einer genauen Untersuchung unterzogen.

Graf Egon Litzow suchte nach wichtigen Dokumenten. »Damit alles seine Richtigkeit hat!«, hatte Gräfin Gudula gemeint. »Nicht, dass er alles diesem kleinen Kuckucksei hinter­lässt!«

»Soviel ich weiß, waren Amelies Eltern doch richtig verheiratet, Gudula!«, wagte Graf Egon einzuwerfen.

»So viel ich weiß! Heimlich davonlaufen und sich dann in einer schäbigen Wohnung in der Stadt verstecken! Das tut keine anständige verheiratete Frau. Denke du lieber an das Wohl deiner Kinder! Denn wenn das Testament auf diese Amelie Sophie lautet, dann kannst du deine Roulette-Abende vergessen und Schloss Hochwald sowieso.«

Graf Egon hatte Glück. Er fand am Morgen der Beerdigung endlich das, was er gestern den ganzen Tag gesucht hatte: Das Testament des Grafen Hochwald. Es war erst vor zwei Monaten neu erstellt worden. Wie Graf Egon mit grimmigem Lächeln feststellte, sollte in der Tat das ganze Erbe an die kleine Komtess Amelie Sophie gehen.

»Na also, ich hatte recht! Eine Unmöglichkeit!«, schimpfte Gräfin Gudula, die schnell herbeigeeilt war. »Das Kind seiner in Schande lebenden Tochter bekommt alles! Wo wir doch so viel für den alten Herrn getan haben!«

Heftig atmend ließ sie sich in einen Sessel fallen.

»Ich glaube beinahe, dass Graf Friedrich auf seine alten Tage wunderlich wurde und vielleicht die Dinge nicht mehr so klar gesehen hat. Und außerdem, was soll ein kleines Kind mit so viel Geld?«, fügte sie scheinbar ruhiger hinzu, denn sie wollte nicht, dass jemand merkte, wie gierig sie auf das Erbe Graf Hochwalds war. Gräfin Gudula war eine Frau, die gerne den Schein von Anständigkeit und Aufrichtigkeit erweckte.

»Und so viel Geld für die Dienstboten! Die bekommen doch ihren Lohn. Du hast recht, meine Liebe«, antwortete Graf Egon. »Ich nehme die Papiere an mich, damit sie nicht in falsche Hände geraten. Jetzt müssen wir aber zur Beerdigung. Damit es kein Gerede gibt.«

Die kleine Komtess Amelie Sophie verstand an diesem Tag die Welt nicht mehr. Sie wurde herumgeschoben, von einem zum anderen. Die Dienstboten waren alle in Eile. Man hatte kaum Zeit, sich um das Kind zu kümmern, denn Graf Litzow und seine Familie beanspruchten die Aufmerksamkeit der Dienerschaft für sich.

Schließlich war die Beerdigung vorbei. Viele Trauergäste waren gekommen, denn obwohl er in den letzten Jahren zurückgezogen gelebt hatte, war der alte Herr sowohl bei den Nachbarn als auch bei seinen Angestellten beliebt gewesen.

So wie die Ruhestätten seiner Vorfahren lag Graf Friedrichs Grab an einem schönen abgeschiedenen Platz im großen Schlosspark. Linden und Tannen standen hier und unterstrichen den Eindruck von Ruhe und Besinnlichkeit.

Jetzt im Herbst allerdings war es recht kalt und heute auch stürmisch. Die kleine Amelie war bisher noch nicht hier gewesen, denn sie war noch zu klein, um den weiten Weg zu gehen. Ein kleines rundes Gebäude mit Säulen, das nach allen Seiten offen war, stand direkt neben den Grabmalen. Hier waren Stühle aufgestellt worden, und hier fand auch die Trauerfeier statt. So wollte es seit jeher die Familiensitte.

Stumm und blass saß Komtess Amelie beim Essen neben Tante Gudula, wie sie sie nennen sollte. Diese zerdrückte, immer wenn jemand es sehen konnte, ein paar große Tränen. Wirklich traurig war sie nicht, genau so wenig wie Graf Egon. Hin und wieder lächelten sich die Eheleute sogar zufrieden an, denn sie wussten, dass sie das große Erbe Graf Hochwalds fast sicher hatten. Ein Glück, dass das Kind noch so klein war. Es würde kaum Probleme machen, ihm seinen richtigen Platz zuzuweisen.

»Geh spielen, Kind. Was sitzt du hier stumm wie ein Fisch herum.« Ungeduldig wandte sich Gräfin Gudula zu Amelie Sophie um.

»Wo ist Opa? Ich habe so Angst vor dem Sturm!«, flehte das Kind.

»Dein Opa ist tot, Kind. Und nun geh spielen.«

Die kleine Komtess vermisste ihren Großvater schmerzlich. Sie hatte große Angst vor Stürmen, und wo war ihr Großvater, der sie dann so oft getröstet hatte? Die kleine Komtess stand folgsam auf und setzte sich im Gang in eine Ecke. Dort vergoss sie bittere Tränen. Schließlich fand Hedi das Kind und nahm es mit zurück in die Küche.

»Das arme kleine Ding saß ganz alleine da!«, schimpfte sie. Auch die anderen Dienstboten hatten jetzt wieder mehr Zeit, denn das Essen war vorüber. Und den Weg in die Küche schien Gräfin Gudula nicht zu finden. Nur hin und wieder schrillte eine der Glocken.

»Komm her, du kleiner verlassener Vogel du!«, rief Gertrud, die Köchin. Sie steckte dem Kind erst einmal ein leckeres Stück Kuchen in den Mund und kochte ihm dann eine Tasse Schokolade. »Nun ist’s besser, nicht wahr?«

Die kleine Komtess nickte. Sie legte ihr blondes Köpfchen auf Hedis Schulter und war kurz danach eingeschlafen. Vorsichtig trug Hedi ihren Schützling nach oben in sein Bett und deckte ihn sorgfältig zu.

*

Wie sich zeigte, war dies für Komtess Amelie Sophie die letzte Nacht in einem weichen Daunenbett gewesen. Denn am nächsten Vormittag wurde das Testament eröffnet. Es trug das Datum von vor etwas mehr als vier Jahren. Damals war die junge Grafentochter Sophie, Amelies Mutter, gerade zum Grafen von Eschenheim geflohen.

Graf Friedrich, der früher ein stürmisches Temperament gehabt hatte, hatte beim Schreiben dieses Testaments seinen ganzen Groll gezeigt. Er hatte darin bestimmt, dass nicht seine Tochter, sondern die nächsten Verwandten sein ganzes Erbe bekommen sollten! Und das waren die Litzows.

»Schloss Hochwald ist bestens verwaltet worden.« Der Notar, der das Testament vorgelesen hatte, sah Graf Egon Litzow an. »Das Erbe ist, wie Sie sehen, viele Millionen wert.«

»Viele Millionen!« Graf Egon konnte es kaum fassen. Mit so viel hatte er dann doch nicht gerechnet.

Gräfin Gudula musste sich hinter ihrem Taschentuch verstecken, so nahe war sie daran gewesen, laut herauszujubeln.

»Gnädige Frau, soll ich Ihnen ein Dienstmädchen zur Hilfe rufen? Geht es Ihnen nicht gut?«

»Nein, nein es geht schon wieder.« Gräfin Gudula spielte schnell die tapfer Trauernde.

»Nun, wenn es noch Fragen gibt, bin ich jederzeit für Sie da, Herr Graf.« Der Notar verabschiedete sich.

Zufrieden lächelnd klopfte sich Graf Egon auf die Brusttasche, in der das eigentlich gültige Testament steckte. »Meine Liebe, das war vorhin eine gute Leistung von dir. Oder hast du wirklich geweint?«

»Aber nicht doch, mein Bester. Woher denn auch. Und nun wird die neue Schlossherrin von Hochwald dafür sorgen, dass hier einiges anders wird!«

Gleich am selben Nachmittag begann Gräfin Gudula ihr Werk. »Meine Kinder, Komtess Ella und Graf Hugo, brauchen andere Zimmer als bisher. Diese hier sind zu klein und ihrem Stand und Alter nicht angemessen!«, befahl sie den Hausmädchen. Komtess Ella war sechs Jahre alt und Graf Hugo neun, aber die Mutter fand, dass jedes Kind mehrere eigene Räume brauchte. Nun gab es auf Hochwald eigentlich genügend Platz für alle Kinder, aber Gräfin Gudula sagte seufzend zu ihrem Mann:

»Ist es nicht entzückend, was für einen guten Geschmack unsere Ella hat? Das hübsche Zimmer mit dem kleinen Turm, das möchte sie gerne haben!«

»Dann soll sie es haben!«, meinte Graf Egon großspurig. Er war schon ganz der neue mächtige Schlossherr geworden.

Eigentlich wohnte in diesem Zimmer Komtess Amelie. Das wusste Gräfin Gudula genau. »Dann zieht der kleine Kuckuck ganz einfach ein Stockwerk höher«, lächelte sie voller Hohn.

Im obersten Stockwerk von Schloss Hochwald, im Dachgeschoss, war die Dienerschaft untergebracht. Und genau dort war nach Gräfin Gudulas Meinung auch Amelies Platz.

Nach kurzer Zeit begannen die Lit­zows auch, die alte Dienerschaft zu entlassen. Gertrud, die Köchin und Johann, der Hausdiener, mussten als erste gehen. »Die beiden sind ja auch schon sehr alt«, stellte Graf Egon fest.

»Ja, es dauert ewig, bis das Essen fertig ist, wenn man mal eine Kleinigkeit zwischendurch essen möchte. Und diese Magda hat neulich eine Spitze an meinem Lieblingskleid zerrissen. Die Leute hier sind entsetzlich unachtsam!«, stimmte Gräfin Gudula zu.

So wurden auch Hedi, Magda, Line und alle anderen gekündigt.

Hedi weinte bittere Tränen, als sie von Komtess Amelie Abschied nahm.

»Vergiss mich nicht, mein kleiner Engel!«, sagte sie.

Amelie schüttelte bestimmt den Kopf. Sie sprach sehr wenig in diesen Tagen. Aber Hedi und die anderen und ihren lieben Großvater, die wollte sie nie vergessen. Hedi zog zunächst wieder hinunter ins Dorf, aber in wenigen Wochen wollte sie heiraten. Hatte sie früher gehofft, ihre Stellung auf Schloss Hochwald behalten zu können, so hatte sie sich geirrt. Aber da sie fleißig und ehrlich war, würde sie sicher bald eine neue gute Stellung erhalten.

Nach und nach kamen dafür neue Dienstboten nach Schloss Hochwald.

Niemand erklärte ihnen, wer Amelie war. Manche sahen in ihr eine arme Verwandte der Litzows, andere hielten sie für ein Waisenkind, das »aus Gutmütigkeit« auf Schloss Hochwald großgezogen wurde. Und Komtess Amelie war selber noch viel zu jung, um genau zu wissen, wer sie war.

Ihr neues Zimmer unter dem Dach war eine winzige Kammer, aber Amelie war dort ganz zufrieden. War sie doch dort sicher vor Graf Hugo, dessen liebste Beschäftigung es war, sie zu ärgern. Er zog das Mädchen an den Haaren und schubste es, wenn er schlechte Laune hatte.

»Meine Mama sagt, du kannst froh sein, dass du noch auf Schloss Hochwald sein darfst. Das gehört jetzt nämlich uns!«, sagte Hugo hochmütig.

»Aber schau«, setzte Komtess Ella hinzu, wenn Amelie doch einmal weinte, »wir sind doch so nett zu dir. Ich schenke dir auch ein Kleid von mir. Es passt mir nicht mehr.«

Das Kleid hatte Flecken und einige Löcher, aber die Litzows sahen nicht ein, viel Geld für Komtess Amelie auszugeben.

»Alte Zimperliese! Die hält auch gar nichts aus!«, höhnte Graf Hugo und verstellte Amelie den Weg zu ihrem Zimmer hinauf. Da floh die Komtess in die Küche. Die Litzow’schen Geschwister lachten hinter dem kleinen Mädchen her. »Geh’ nur in die Küche! Da gehörst du auch hin!«

*

So war also alles anders geworden auf Schloss Hochwald.

Graf und Gräfin Litzow richteten sich behaglich ein. Graf Egon wurde mit der Zeit behäbig und sehnte sich nicht mehr so viel nach dem Rou­lettetisch wie früher. Gräfin Gudula herrschte über das Schloss. Komtess Ella und Graf Hugo taten, wozu sie Lust hatten, und lernten wenig. Und Komtess Amelie suchte und fand ihre Zuflucht in der Küche. Dort war sie sicher vor den bösen Scherzen der Kinder. Auch ließ sich Gräfin Gudula fast nie in diesem Raum blicken. Vor ihr hatte Amelie wirklich Angst.

Die neue Dienerschaft hatte das bescheidene kleine Mädchen gern. Nach und nach geriet in Vergessenheit, wer Amelie eigentlich war. Sogar ihr Name wurde verändert.

»Emmi«, so hatte Lena, die neue Köchin, das Kind einmal liebevoll genannt.

»Emmi ist gut!«, erwiderte Amelie begeistert. Sie war froh, das jemand nett zu ihr war, und »Emmi« klang so freundlich. So blieb es bei dem Namen. –

Acht Jahre waren ins Land gegangen.

»Gib nur her, ich kann das machen!« Amelie griff nach der Schüssel mit den Kartoffeln. Das Küchenmädchen Stine hatte sich in die Hand geschnitten. Die Wunde hatte stark geblutet, und das arme Mädchen hatte starke Schmerzen.

»Ach Emmi, ich danke dir. Denn wir müssen rechtzeitig fertig werden!« Stine setzte sich seufzend auf einen Hocker.

Amelie begann ihre Arbeit. Sie hatte ein schlichtes Leinenkleid an und ein Kopftuch umgebunden. An den Füßen trug sie grobe Holzschuhe. Ihren Händen, fein und zartgliedrig, sah man dennoch an, dass sie an Arbeit gewöhnt waren. Elf Jahre zählte sie nun.

»Andere arbeiten schon lange in diesem Alter!«, hatte Gräfin Gudula schon vor einigen Monaten gefunden. Komtess Amelie Sophie, die Erbin des Millionenvermögens derer von Hochwald, war also eine Küchenmagd geworden!

»Ich bin schnell, nicht wahr?«, fragte Amelie stolz.

»Flink wie ein Wiesel!«, lachte Stine, der es schon etwas besser ging. Sie hatte Emmi von Herzen gerne. So schmal und blass die Kleine war, glaubte man nicht, wie flink sie arbeiten konnte und wie fröhlich sie meistens war.

»Die gnädige Frau wünscht heute einen Gang mehr zum Abendessen, denn Graf Egon hat Geburtstag, nicht wahr?«, fragte Amelie nun.

»So ist es.« Stine stand auf. »Wenn du dich mit den Kartoffeln plagst, so werde ich wenigstens die Reste wegräumen.« Sie stand auf und warf die Schalen in einen Korb. Später würden sie den Schweinen als Futter dienen. »Wenn das nicht aufhört zu bluten, kann ich später nicht servieren!«, meinte Stine besorgt.

»Ich soll ja nicht servieren, sonst würde ich dir helfen. Warte, ich verbinde dir die Hand neu.« Geschickt griff Amelie zu einem Tuch und verband Stines Hand. »Siehst du? Schon viel besser.«

»Du bist ein Schatz, Emmi! Warum darfst du denn nicht servieren? Da kriegt man so oft feine Herrschaften zu sehen! Und die Kleider! Sie sind so elegant!«, schwärmte Stine.

»Ich habe wohl mal etwas Kostbares zerbrochen, als ich im Salon war. Genau weiß ich es aber auch nicht. Es macht nichts, denn ich bin sowieso lieber in den Zimmern tätig.«

»Magst du noch immer das Schulzimmer am liebsten?«

»O ja, da gibt es viele schöne und spannende Bücher.«

»Komtess Ella scheint das Schulzimmer weniger zu lieben als du, Emmi!« Stine musste lachen.

Gräfin Gudula wusste genau, warum sie Amelie nicht in den Salon ließ, wenn Besuch da war: Am Ende erkannte noch jemand die Enkelin Graf Hochwalds! Denn die Ähnlichkeit mit der unglücklichen verstorbenen Komtess Sophie war sehr stark. Das wäre für die Litzows zu peinlich gewesen.

Graf Hugo war nun siebzehn Jahre und dem Schulzimmer längst entwachsen. Komtess Ella war vierzehn Jahre alt. Amelie musste ihr, wenn sie im Schulzimmer die Gouvernante oder den Hauslehrer plagte, oft die Stifte spitzen oder andere Hilfsdiens­te verrichten.

Bei dieser Gelegenheit aber hatte die kluge kleine Komtess schon von Anfang an immer wieder Blicke in Hefte oder Bücher tun können. Auch las sie, wenn sie nach dem Unterricht die Tafel wischen musste, immer sorgfältig, was darauf geschrieben war. So hatte sie lesen, schreiben und rechnen gelernt, sogar besser als Komtess Ella.

Auch jetzt lief Amelie hinauf ins Schulzimmer. Die Kartoffeln waren fertig, Stines Hand verbunden, da konnte sie sich anderen Aufgaben widmen. In wenigen Wochen würde Komtess Ella in ein Pensionat gehen, bis dahin erhielt sie aber noch Unterricht zu Hause.

»Pfui! Du bist ja ganz rot im Gesicht!«, höhnte Ella, die eben den Unterricht für heute beendet hatte. Sie fühlte sich schon ganz als große Dame. Es war unter ihrer Würde, im Schulzimmer zu sitzen! Deshalb ließ sie ihre Laune an Amelie aus.

»Gräfin Gudula möchte die Komtess sehen«, antwortete Amelie nur.

»Ach, sicher ist mein Kleid für heute Abend gekommen. Ja, von so etwas Schönem kannst du nur träumen!« Komtess Ellas Laune verbesserte sich sofort. Mit einem Ruck erhob sie sich von ihrem Stuhl. Dabei fielen Stifte und Bücher vom Tisch, aber Ella beachtete das nicht. Die dumme Emmi würde die Sachen schon aufheben. Ohne Gruß an die Gouvernante stürmte Ella davon.

Frau Schneider, die Gouvernante, setzte sich auf einen Stuhl. Sie seufzte. »Schöne Kleider, Schmuck, Süßigkeiten. Das ist alles, was Komtess Ella interessiert.« Noch einmal seufzte sie. »Wir sind anscheinend fertig für heute. Wenn es ein neues Kleid gibt, fällt der Unterricht immer für den Rest des Tages aus.« Frau Schneider legte sich ihren Schal über die Schultern. Sie war froh, dass ihr Dienst auf Schloss Hochwald bald zu Ende sein würde.

»Ich räume dann mal die Sachen weg«, bot Amelie an.

»Das ist lieb von dir.« Frau Schneider zog sich zurück. Amelie begann aufzuräumen. Sie hob die Stifte und Hefte vom Boden auf und legte sie ordentlich in ein Regal. Dann wischte sie die Tafel, nachdem sie sorgfältig gelesen hatte, was darauf stand. Als sie den Tafelschwamm weglegen wollte, fiel ihr Blick auf ein schmales Buch, das achtlos auf den Boden gefallen war. Amelie hob es auf, strich langsam über den Einband und schlug es auf. Es war ein Schulbuch. Ein paar Seiten waren wohl von einem kleinen Kind bemalt worden. Aber dann fand sie einen Eintrag:

»15. Oktober. Heute kam eine traurige Nachricht. Meine geliebte Tochter Sophie ist von uns gegangen und hat mir ihr kleines…« Weiter kam Amelie nicht mit dem Lesen. Auf der Treppe waren laute Schritte zu hören. Schnell legte Amelie das kleine Buch zu den anderen Sachen auf das Regal. Wenn man sie hier beim Lesen ertappte, würde es wieder eine Schimpfkanonade geben. Die lauten Schritte verklangen jedoch. Amelie entschied sich dennoch dagegen, zuviel gab es noch zu tun für sie.

Es sollte allerdings das letzte Mal sein, dass sie einen Blick hineintun konnte. Als sie am nächsten Tag wieder ins Schulzimmer huschte, war das Buch fortgeräumt, und Amelie traute sich nicht, danach zu fragen.

Später am Abend fuhren die Gäste vor. Elegante Autos mit offenem Verdeck glitten über die Zugbrücke in den Innenhof von Schloss Hochwald. Dieser war feierlich mit Fackeln erleuchtet. Elegant gekleidete Damen und Herren entstiegen den Wagen. Die Dienerschaft, die die Gäste bediente, trug Livree. Fröhliche und laute Stimmen hallten durch das Haus.

Auch Graf Hugo, der Sohn des Hauses, war heimgekommen. Amelie hatte das sehr wohl bemerkt und versteckte sich gut. Aber sie hätte sich keine Sorgen machen müssen, denn der junge Graf hatte »dieses Kind«, wie Gräfin Gudula immer zu sagen pflegte, längst vergessen. Ein Mann hatte anderes zu tun! Graf Hugo spielte nicht Roulette, wie sein Vater früher, nein, er zog Pferderennen vor.

Zu später Stunde kam noch ein Wagen an. Die Dame, die ausstieg, war vornehm, aber nicht für ein Fest gekleidet. Sie mochte etwa Mitte Vierzig sein.

»Warte hier, Joseph!«, rief sie ihrem Chauffeur zu. Dann ging sie auf den Eingang des Schlosses zu. Langsam, wie zögernd, stieg sie die Stufen empor. Drinnen wurde sie von einem livrierten Diener empfangen.

»Es ist wohl heute ein Fest hier?«, fragte die unbekannte Dame.

»Ja, Graf Litzow feiert Geburtstag«, antwortete der Diener höflich.

»Würden Sie bitte trotzdem die Freundlichkeit haben, ihm zu sagen, dass ich ihn dringend sprechen muss? Mein Name ist von Eschenheim.«

Der Diener verschwand, um den Auftrag auszurichten. Die Dame, die in den besten Jahren zu sein schien, sah sich aufmerksam um. Ganz so, als suchte sie jemanden.

»Würden Sie bitte hier entlang kommen?« Der Diener stieg die Treppe hinauf und bog dann nach links ab. »Bitte sehr. Graf Litzow wird gleich bei Ihnen sein. Wünschen Sie in der Zwischenzeit eine kleine Erfrischung?«

»Danke, gern.«

Kurze Zeit später erschien der Diener mit der Erfrischung. Dann trat auch Graf Egon Litzow ein. In den letzten Jahren hatte er kräftig zugenommen, das gute Leben auf Schloss Hochwald zeigte seine Wirkung. Sein Haar fing an dünn zu werden, und sein Gesicht zeigte eine rote Farbe.

»Nun, was gibt es denn?«, fragte er jovial. Dabei war Graf Egon eigentlich sehr aufgeregt. Der Name

Eschenheim war gefährlich … Mühsam verbarg Graf Egon seine Furchen hinter einer betont fröhlichen Miene.