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Haupttitel

Die Autorin

Manuela Di Franco ist seit 1976 auf der Erde unterwegs, am liebsten in Zügen und auf Schiffen. Sie studierte Philosophie und Linguistik und veröffentlichte 2009 die sprachphilosophische Untersuchung Die Seele. Begriffe, Bilder und Mythen. Heute ist sie als Autorin, Lektorin und Texterin tätig, lebt in der Schweiz und Frankreich und unternimmt gern ausgedehnte Reisen an abgelegene Orte. Der Himmel ist grün ist ihr literarisches Debüt.

Inhalt

Prolog

Der Moment

Die verwundete Stadt

Ein fast vergessenes Land

Der Müdür von Amasra

Das lange Warten

Ein Fleck in der Wüste

Das Zimmer Nummer 8

Auf der anderen Seite

Ein Mysterium

In der heiligen Stadt

Tag dreizehn

Stromausfall im Paradies

Das Herz des Dschungels

Auf der Durchreise

Zurück im grünen Tal

Selig und trunken

Die letzte Etappe

Epilog

Über dieses Buch

Widmung

Glossar

Literatur

Gewiss doch, alle Wege sind offen,

und führen nirgends hin, nirgends hin.

Annemarie Schwarzenbach, »Alle Wege sind offen«

And everything was made for you and me

All of it was made for you and me

’cause it just belongs to you and me

So let’s take a ride and see what’s mine

Iggy Pop, »The Passenger«

I keep my eyes wide open all the time.

Johnny Cash, »I Walk the Line«

Prolog

Ich habe nicht gedacht, dass es geschehen würde. Und dann ging es so schnell, dass ich es nicht sofort bemerkte. Eine Nacht und ein Tag waren vergangen, seit es Chalil gab in meiner Welt. Chalil mit den Tigeraugen. Mundwinkelküsse, Augenschliessen – da muss es geschehen sein.

Eine Nacht im Mai, die Luft war leicht. Die Zeichen standen auf Anfang, und alles schien möglich.

»Ich möchte einmal nach Indien reisen«, sagte Chalil. »Auf dem Landweg. Über den Balkan. Dann Istanbul, das Tor zu Asien, und von dort aus immer weiter ostwärts.«

»Das wäre grossartig«, sagte ich. »Wir würden stets dem Morgen entgegenreisen, dem Sonnenaufgang, dem neuen Tag.«

Ich hörte dieses »Wir« und erschrak. Doch Chalil schien es nicht zu irritieren. Ich sah ihn von der Seite an und dachte: Morgen früh schon würde ich mit dir in den Zug einsteigen und losfahren. Da erst merkte ich, dass die Welt nicht mehr dieselbe war wie eine Nacht und einen Tag zuvor.

Neustart. Das Leben beginnt von vorn. Was war, ist nie geschehen. Was nicht hätte sein sollen, ist für immer vergessen. Es war einmal, und vorher war nichts. So fangen Märchen an. Doch dies ist eine wahre Geschichte. Und darum gibt es noch einen anderen Anfang. Einen Anfang vor diesem Anfang. Eine Geschichte, die begonnen hatte, aber noch nicht zu Ende war. Das wusste ich. Und dennoch.

Es wurde wieder Tag, und als es Abend wurde, verlor ich meinen Ring. Ich vergass ihn, nur einen Moment, doch einen Moment zu lange, und mein Talisman, mein Begleiter durch eine Zeit, die nun vorüber war, verschwand.

In der dritten Nacht der neuen Zeit träumte ich, dass ich den Ring wiederfinden würde. In Indien. Er lag in einer unscheinbaren Vitrine und wartete auf mich.

»Das ist nicht irgendein Ring«, sagte der Silberschmied. Er sprach Hindi, doch ich verstand ihn problemlos. »Dieser Ring gehört an eine schreibende Hand.«

»Ich schreibe«, sagte ich.

Er sah mich zweifelnd an.

»Ehrlich«, versicherte ich, »einen Roman.« Das war gelogen. Ich schrieb – aber was es war, wusste ich selbst nicht. Doch ich brauchte diesen Ring. In der Not ist es erlaubt zu lügen, hörte ich im Traum meine Mutter sagen, und so sah ich dem Silberschmied fest in die Augen.

»Na gut«, sagte er, »du kannst ihn ja mal anprobieren.«

Der Ring passte an den Mittelfinger meiner rechten Hand, als wäre er dafür gemacht worden. In diesem Moment erwachte ich. Neben mir schlug Chalil die Augen auf und sah mich an mit seinem Tigerblick.

Der Traum war das Zeichen, auf das ich seit langem gewartet hatte. Nun wusste ich, dass ich auf eine weite Reise gehen würde. Ich würde alles hinter mir lassen, unterwegs sein und schreiben. Ich musste mich nur noch auf den Weg machen. Mit Chalil.

Der Moment

Mit einem leichten Ruck setzte sich der Zug in Bewegung. Wir sahen uns an, während wir aus dem Bahnhof rollten. Die Lichter der kleinen Stadt glitten an uns vorüber, dumpfen Flecken gleich, die mit dem bleiernen Februarhimmel verschwammen. Der Wagen war fast leer. Niemand sprach. Auch wir schwiegen. In wortlosem Einverständnis reichten wir eine Flasche Wein hin und her, unser einziger Proviant für die lange Reise.

Auf Chalils schönen Lippen lag ein Lächeln. Verschwunden die Anspannung der letzten Wochen, als hätte es sie nie gegeben. Vergessen die Hektik, die Abschiedsszenen und der unweigerliche Blechschaden am Mietauto, als wir die vielen Dinge, die man unterwegs nicht braucht, endlich losgeworden waren. Sie warteten eingelagert in einer Garage – auf ein Leben danach, das jetzt noch nicht existierte. Jedenfalls für mich nicht.

Eine kurze Stunde verging, dann stiegen wir in den Nachtzug um. Gleichmässig wiegte uns die Bahn von Schwelle zu Schwelle, dem Meer entgegen. Flüsternd, im Halbdunkel liegend, leerten wir die Flasche. Irgendwann in der Nacht fiel sie um und rollte über den genoppten Gummiboden des Schlafabteils zwischen uns hin und her.

Ich schaute hinaus, ohne etwas zu sehen. Mit der Geschwindigkeit des fahrenden Zuges bewegte ich mich fort von dem Ort, der jahrelang mein Zuhause gewesen war. Ich hatte keinen Briefkasten mehr, und keine Telefonleitung verband mich mit dem Rest der Welt. Es gab keine Termine einzuhalten und keine Aufgaben zu erfüllen. Das Studium war abgeschlossen, die Wohnung abgegeben, der Job gekündigt. Nichts hielt mich zurück. Am liebsten wäre mir gewesen, es hätte auch diese Garage nicht gegeben, die wir vor Ablauf des Jahres würden räumen müssen. Doch daran wollte ich in diesem Moment so wenig denken wie an alles andere, was hinter mir oder in weiter Ferne lag.

Jetzt gab es nur noch Chalil und mich und unseren Weg. Keine festgelegte Route, nur ein ungefährer Verlauf, dessen Ende sich im Nichts verlor. Süden, Osten: Die Richtung stimmt, dachte ich. Wir sind unterwegs.

Die verwundete Stadt

Schauerlich kreischend kam der Zug zum Stehen. Mit der letzten Handvoll Passagiere verliessen auch Chalil und ich den warmen Wagen und traten hinaus in die frühe Nacht. Wir hatten kaum unsere Füsse in die Schneedecke gesenkt, die frisch ausgebreitet auf dem Bahnsteig glimmte, als sich ein hagerer Mann auf uns stürzte und uns begrüsste wie alte Bekannte.

»Welcam tu Sarajevo!«, rief er mit weit ausgebreiteten Armen und einem Strahlen, als habe er unser Erscheinen seit Tagen herbeigesehnt. Dann stellte er sich atemlos vor. »Maj neem Momo, aj turist specijalist. Aj hostel, hotel, prajvat rum, aj evritting! Aj ingliš. Dojtš. Fransee. Rusija. Aj profesional!« Er zog ein laminiertes Stück Papier aus der Innentasche seiner grauen Jacke und hielt es zuerst Chalil, dann mir unter die Nase.

»Akreditacija turistički agent«, buchstabierte ich. Unter der glänzenden Oberfläche klebte Momos Passfoto, darunter stand sein Name. Was sollte man dazu sagen?

Doch Momo schien keinen Kommentar zu erwarten. Während er uns zur Unterführung lotste, redete er weiter ohne Punkt und Komma auf uns ein. Wir hasteten durch einen düsteren Gang und erreichten schliesslich die Eingangshalle. Sie liess einen Moment lang die Erinnerung an den Bahnhof der kleinen Stadt aufflackern, wo wir zehn Tage zuvor losgefahren waren – dann standen wir schon draussen.

Schnee bedeckte den Platz, der sich vor uns in allen Richtungen verlor, und noch mehr Schnee schwebte aus der Dunkelheit zu Boden. Chalil und ich hielten Ausschau nach einem Bus, der uns ins Stadtzentrum bringen würde.

»Heute Abend fahren keine Busse«, sagte Momo ernst und deutete zum Himmel. »Snof.« Dann zeigte er auf ein paar Taxis, die vor dem Bahnhof auf Kundschaft warteten.

Dass wegen des Schnees keine Busse fahren sollten, kam mir komisch vor. Aber wussten wir es besser? Zudem mussten wir tatsächlich noch eine Unterkunft finden, Momo kam wie gerufen. Kurzerhand stiegen wir hinter ihm in ein Taxi ein. Der Fahrer startete schweigend den Motor und lenkte den Wagen auf die Strasse. Ein paar Sekunden lang herrschte Stille. Dann wandte sich Momo zu uns um.

»In Sarajevo gibt es wunderschöne Hotels«, verkündete er in beschwörendem Ton. »Hotel Astra Garni, Hotel Central … Sehr zentral und komfortabel. Onli fifti evro!«

Fünfzig Euro? Chalil und ich wechselten einen Blick. Keine Frage: Solche Preise konnten wir uns nicht leisten, wenn wir es bis nach Indien schaffen wollten. Wir seien eher an einem Zimmer in einem Hostel interessiert, sagte ich zu Momo. Oder an einem private room.

»Okay, okay«, erwiderte er ohne Zögern. »Ich zeige euch ein Zimmer in einer Privatunterkunft. Ein sehr gutes Zimmer, mit Fernseher, Satellitenempfang und allem. Ihr schaut es euch an und entscheidet dann, kein Problem.«

Chalil sah mich über die Rückbank hinweg an. »Wir haben kein Bargeld«, murmelte er.

»Ich weiss«, murmelte ich zurück und fragte mich im selben Moment, wieso wir murmelten. Erstens verstand uns weder Momo noch der Taxifahrer, zumindest nahm ich das an. Und zweitens mussten wir die Tatsache, dass wir Geld brauchten, ohnehin bald enthüllen.

Ich betrachtete Momo von der Seite, so gut ich dies vom Rücksitz aus konnte. Sein Gesicht war schmal und eingefallen. Er sah abgekämpft aus, seine Augen flackerten. Oder war es nur das Licht der entgegenkommenden Fahrzeuge, das sich in ihnen spiegelte? Ich schätzte ihn auf Mitte vierzig. Irgendwie tat er mir leid, und instinktiv vertraute ich ihm. Und doch … Alles ist so schnell gegangen, dachte ich. Wir fahren ins Ungewisse. Wo wird dieser Abend enden?

Chalil beugte sich nach vorn. »Momo«, begann er, »sorry, aber … könnten wir vielleicht bei einem Geldautomaten anhalten?«

Momo überlegte einen Moment und wechselte dann ein paar Worte mit dem Fahrer. Dieser verlangsamte, bog ab und hielt kurz darauf vor einem hohen, schmalen Gebäude an. »Kein Geld – kein Problem«, versicherte Momo. »Geht einfach ins Holiday Inn!«

»Das Holiday Inn«, rief Chalil leise aus. »Das ist doch das Hotel, in dem damals die Kriegsreporter lebten. Erinnerst du dich noch an die Bilder …«

Ein versehrtes Gebäude tauchte vor meinem inneren Auge auf, die Fassade zerschossen und versengt, die Fenster ohne Scheiben. Das Bild hatte nichts gemein mit dem funkelnden Bau, der nun vor uns stand. Wie wir in diesem Hotel unser Geldproblem lösen sollten, war mir allerdings schleierhaft.

»Ich gehe mal schauen«, sagte ich zu Chalil, stieg aus dem Wagen und schritt über den Parkplatz auf das Hotel zu.

Das Holiday Inn glänzte auch im Innern. Offenbar war es unlängst komplett renoviert worden. Jedenfalls erinnerte nichts mehr an den ruinösen Zustand, in dem es sich zehn Jahre zuvor befunden hatte. Zögerlich steuerte ich den adrett gekleideten jungen Mann am Empfang an. Mit gedämpfter Stimme und akzentfreiem Englisch erkundigte er sich nach meinem Wunsch. Als ich diesen geäussert hatte, zeigte er bloss zum anderen Ende der Lobby. Tatsächlich: Zwischen zwei Lifttüren und halb hinter einer staudenartigen Topfpflanze verborgen, befand sich ein Geldautomat.

Bei der Eingabe des Betrags geriet ich ins Schwanken. Ich hatte keine Ahnung vom Wechselkurs. Ich hätte den Rezeptionisten danach fragen können, doch der würdigte mich keines Blickes. So bezog ich aufs Geratewohl eine Summe bosnischer Konvertibler Mark, die mir vernünftig schien; nicht zu hoch, nicht zu tief.

Das Taxi stand noch an derselben Stelle, an der ich es verlassen hatte. Wir fuhren weiter. Momos Redefluss sprudelte so lebhaft wie zuvor, und der Taxifahrer setzte sein Schweigen fort. Ich blickte abwechselnd zu Momo und aus dem Fenster. Mir war zumute, als könnte gleich alles geschehen. Ein Gefühl, das so elektrisierend wie beunruhigend war. Auch Chalil blieb stumm. Plötzlich fragte ich mich, ob er wohl ebenso angespannt war wie ich. In diesem Moment drehte er den Kopf zu mir, griff nach meiner Hand und lächelte mich an. Uns kann nichts passieren, sagte sein Blick.

Erst jetzt merkte ich, dass es nicht mehr schneite, dass es schon zu schneien aufgehört hatte, als ich aus dem Holiday Inn getreten war. Der frisch gefallene Schnee zierte das Geländer des Flussufers, neben dem wir herfuhren, und häufte sich in den Ecken der Häuser, die unseren Weg auf der anderen Seite säumten. Alles versank in Weiss, sogar der Scheinwerferkegel des Taxis schien davon verschluckt zu werden.

Die Strasse machte einen Halbkreis, dann fuhren wir in dieselbe Richtung zurück, aus der wir gekommen waren. Momo zeigte nach draussen: »Baščaršija, die Altstadt von Sarajevo. Wunderschön.«

Buden und Türmchen, mit einer zarten Schneedecke verziert, zogen links an uns vorüber. Einen Moment lang blitzte der Vollmond zwischen den Wolken hindurch und warf sein mildes Licht auf die Altstadt. Im nächsten Augenblick bog das Taxi rechts ab, fuhr eine steile Seitengasse hinauf und hielt vor einem Wohnhaus an.

»Da sind wir schon«, verkündete Momo euphorisch. »Das Hostel Karavan ist eine grossartige Unterkunft, das werdet ihr gleich sehen.«

Wir stiegen aus dem Wagen. Chalil hievte unsere Taschen aus dem Kofferraum und stellte sie in den halbwegs schneefreien Hauseingang. Ich trat derweil zum Taxichauffeur und fragte, was die Fahrt koste. Ich ahnte, dass der Betrag, den er nach kurzem Überlegen nannte, zu hoch angesetzt war, und schaute hilfesuchend zu Momo. Doch der schaute weg. So bezahlte ich mit unseren neu erstandenen Konvertiblen Mark etwa das Doppelte des üblichen Fahrpreises. Den Anfängerpreis eben.

Wir trugen unser Gepäck hinter Momo in ein dunkles Treppenhaus. Er drückte auf den Lichtschalter, dann auf den Klingelknopf neben einer unscheinbaren Tür. Innen wurde ein Schlüssel umgedreht. Eine Frau um die sechzig mit kurzen, rötlich blonden Haaren öffnete und liess uns mit einem müden Lächeln eintreten.

»Das ist Miss Halima«, sagte Momo. »Ihr gehört das Hostel Karavan. Geht rein, schaut euch um!«

Wir betraten den Flur einer ganz normalen Wohnung – einer Wohnung, in der muslimische Sitten galten, wie Halima uns sogleich klarmachte, indem sie zuerst auf die Schuhe zeigte, die im Flur standen, dann auf unsere Füsse, dann wieder auf die Schuhe. Als sie von Momo erfuhr, wie mein schöner Weggefährte hiess, klatschte sie vor Freude in die Hände. »Chalil Omar!«, rief sie aus und winkte uns herein.

Wir zogen Jacken und Schuhe aus, liessen unser Gepäck im Flur stehen und folgten Halima in die kleine, aber gemütliche und vor allem schön warme Küche. Eine gehäkelte Decke zierte den niedrigen Tisch in der Mitte des Raumes, ein überquellender Aschenbecher stand darauf. Im Fernseher lief ein bosnisches Unterhaltungsprogramm, in dem leichtbekleidete Frauen sangen und tanzten. Und auf einem grauen Sofa sassen noch zwei Leute.

Überrascht stellten wir fest, dass wir sie kannten. Es war ein junges Paar aus Paris, das wir zwei Tage zuvor in Zagreb kennengelernt hatten. Sie hatten in derselben Jugendherberge gewohnt wie wir, einer Institution aus sozialistischen Zeiten, mit quietschenden Eisenkajütenbetten und mürrischen Putzfrauen.

Momo freute sich, als habe er persönlich unser Schicksal gelenkt, was ja gewissermassen auch zutraf. »Nun seid ihr wieder zusammen«, rief er strahlend aus. »Ich bin so glücklich!«

Halima sagte nicht viel. Sie verstand und sprach kaum Englisch. Doch sie lächelte freundlich, wenn auch etwas abwesend, kochte türkischen Kaffee und streckte uns immer wieder ihr Päckchen Drina-Zigaretten entgegen. Wir qualmten die Küche voll und diskutierten in verschiedenen Sprachen, während noch immer der Fernseher lief. Momo übertönte das Durcheinander problemlos. Ohne lange nachzudenken, beschlossen Chalil und ich, uns bei Halima einzuquartieren. Wir bezahlten für fünf Nächte im Voraus. Zwar würden wir die erste Nacht auf dem ausziehbaren Sofa in der Küche verbringen müssen, aber das kümmerte uns nicht.

»Ihr seid zufrieden, ich bin zufrieden«, sagte Momo mit einem Grinsen, als das Geschäft abgeschlossen war. Bevor er durch die Tür verschwand, kündigte er noch in einem lautstarken Abschiedswirbel an: »Ich komme euch morgen wieder besuchen. Gud najt, gud lak, gud evritting!«

Als Chalil und ich später nochmals hinausgingen, fanden wir die Stadt in winterlichem Schlummer vor. In einem der wenigen Burek1-Lokale der Baščaršija, die noch geöffnet hatten, assen wir die gefüllten Teigtaschen, die es wahlweise mit Fleisch, Spinat, Kartoffeln oder Käse gab. Satt stapften wir dann durch eine leere Strasse. Weder Autos noch andere Spaziergänger waren unterwegs. Riesige Schneeflocken glitzerten im Licht der Strassenlaternen und schwebten geräuschlos zu Boden.

Schliesslich landeten wir in einem Keller mit krachender Musik. Es war eine Bar, wie man sie überall in Europa hätte finden können – doch wir waren nicht irgendwo, wir waren im märchenhaft anmutenden Sarajevo. Während Chalil an der Bar zwei Drinks bestellte, dachte ich an die ersten Stationen unserer Reise: die schläfrigen Tage in Venedig, der kurze Zwischenhalt in Ljubljana, Zagreb mit seinen coolen Bars und Internetcafés, in denen wir uns sofort heimisch gefühlt hatten. Und nun Sarajevo. Allein der Name! Hier fing etwas Neues, Fremdes an. Hier, das spürte ich, begann unsere Reise erst richtig.

Chalil sagte etwas, als er mir den Gin Tonic überreichte, doch er hätte schreien müssen. Ich zeigte auf mein Ohr und schüttelte den Kopf. Er lachte und zuckte mit den Schultern. Stumm stiessen wir auf unsere geglückte Ankunft an.

Halima schien auf unsere Rückkehr gewartet zu haben. Die Bettcouch in der Küche war frisch bezogen und sah sehr einladend aus. Der Fernseher lief noch immer. »Tivi, ileven oklok, porno«, empfahl sie uns kichernd und wünschte uns dann eine gute Nacht.

Ich konnte es kaum erwarten, Sarajevo bei Tageslicht zu sehen. Nach einem Kaffee in Halimas Küche traten wir in die winterhelle Stadt hinaus. Wir überquerten eine Strasse namens Maršala Tita und standen wenige Schritte später mitten in der Baščaršija, wo das Leben geschäftig und unbekümmert zugleich dahinplätscherte, so jedenfalls wollte es mir vorkommen.

Die Baščaršija war, wie der Name besagt, der Ort des alten Basars. Das ganze Viertel bestand aus hübschen Holzbuden, in deren Schaufenstern kupferne Kaffeekännchen, vielfarbige geknüpfte Teppiche, Schmuckstücke aus Gold und allerhand orientalische Souvenirs ausgestellt waren. Viele kleine Cafés hatten geöffnet, aus den Buregdžinice roch es nach frisch gebackenen Teigrollen, daneben zischten Ćevapčići auf dem Grill. Blickte man dann in die Vitrinen der Confiserien, in denen die sahnigsten Tortenstücke lagen, die man sich vorstellen konnte, wähnte man sich in die Zeiten der Österreichisch-Ungarischen Monarchie zurückversetzt.

Bald stellte ich fest, dass wir nicht die einzigen Fremden in der Baščaršija waren. Wir hörten Italienisch und Französisch, Englisch und Deutsch. Es waren jedoch nicht Reisende, die zwischen den Einheimischen herumschlenderten, sondern uniformierte und bewaffnete EUFOR-Einheiten. Die patrouillierenden Soldaten passten nicht zur entspannt wirkenden Altstadtszenerie. Langsam erkannte ich, dass der Schein auch sonst trog. Statt den Müssiggang zu geniessen, brachten die Männer in den Cafés ihre arbeitsfreien Tage herum. Und die vermeintlich osmanischen Holzbuden der Baščaršija standen nur deshalb da, weil sie vor nicht langer Zeit neu aufgebaut worden waren.

Wenige Schritte daneben begann das »moderne« Zentrum. Während ich an den über hundert Jahre alten Stadthäusern emporsah, tauchten die Bilder der Zugfahrt von Zagreb nach Sarajevo wieder in mir auf. Kurz vor der kroatisch-bosnischen Grenze hatten wir in einem Ort namens Sunja angehalten. Das Bahnhofsgebäude war zur Hälfte von Einschusslöchern übersät, die andere Hälfte war in sich zusammengestürzt. Ich hielt Sunja für ein Geisterdorf, von allem Leben verlassen. Doch dann trat ein Mann in dunkelblauer Uniform mit einer Kelle in der Hand aus der Bahnhofsruine, und drei alte Menschen stiegen aus dem Zug, gingen gebeugt über die Gleise und langsam auf die zerfallenen Reste ihres Dorfes zu.

Während der folgenden neun Stunden hatte sich uns immer wieder dasselbe Bild geboten: Kriegsruinen, Häuser voller Einschusslöcher, halbfertige Neubauten aus unverputztem Backstein. Dazwischen Misthaufen und auf dem gefrorenen Boden herumpickende Hühner. Vor jedem Stück Wald oder Gebüsch rote Schilder, die mit einem weissen Totenkopf und der Aufschrift »PAZI – MINE« davor warnten, das vielleicht minenverseuchte Gelände zu betreten. Und über allem der schwere, trostlose Winterhimmel.

In Doboj hatte der Zug längere Zeit stillgestanden. Oder jedenfalls beinahe still. Hin und wieder hatte es geruckelt, und die Wagen hatten wie betrunken geschwankt. Kurz darauf ratterte eine Lokomotive an unserem Fenster vorüber. Die werde nun ausgewechselt, erklärte uns die Frau, die mit uns im Sechserabteil sass. Vorher, im serbischen Teil Bosniens, seien wir mit einer serbischen Lokomotive unterwegs gewesen. Im bosnischen Teil Bosniens aber, der nun beginne, werde unser Zug von einer bosnischen Lok gezogen. Serbisches Bosnien? Bosnisches Bosnien? Offensichtlich wechselte auch das Zugpersonal, wir mussten noch einmal unsere Fahrkarten zeigen und uns ausweisen.

»Bosna viele Probleme«, sagte die schwarzgekleidete Frau und tippte sich an den Kopf.

Inzwischen hatte es, zumindest im bosnischen Teil Bosniens, zu schneien begonnen. Die Wälder und Misthaufen, die sozialistischen Altbauten, die Ruinen und die Neubauten waren mehr und mehr in der Dämmerung versunken, die sich bald in Dunkelheit auflöste – bis wir schliesslich mit zwei Stunden Verspätung, begleitet vom schaurigen Klagelaut der über die Gleise schleifenden Eisenräder, in Sarajevo angekommen waren.

Da waren wir nun also und flanierten durch die elegante Innenstadt. Auch hier fanden sich die Zeichen der Zerstörung. Boutiquen reihten sich wie die Perlen einer Kette aneinander, doch sah man an den glänzenden Fassaden in die Höhe, erblickte man überall tiefe Einschusslöcher. Allmählich wurde mir klar, dass es in der ganzen Stadt keine intakte Hausfassade gab, es sei denn, es handelte sich um ein neues oder renoviertes Gebäude. Im Zentrum der Stadt, wo Synagoge, Kathedrale und Moschee friedlich beieinanderstanden, stiessen wir schliesslich auf das Hotel Evropa – oder vielmehr auf das, was davon übrig geblieben war: ein Skelett, das durch hohle Fenster wie mit Totenkopfaugen in den fahlen Himmel starrte.

Der Krieg hatte seine Spuren auch am Boden hinterlassen. Trübes Schneewasser sammelte sich in den Löchern, die Granaten allerorts hineingerissen hatten. Mal breiteten sie sich sternförmig von einem Mittelpunkt aus, mal erinnerten sie an Blumen oder Blätter, die meisten hatten jedoch undefinierbare Formen. Wenn ich die Vertiefungen später auf Chalils Fotos betrachtete, kam es mir vor, als habe jemand die ganze Stadt mit einem variierenden Muster schmücken wollen. Seltsam poetisch muteten diese Formen an, aber es war eine Poesie, deren Anblick schmerzte.

Doch Sarajevo war nicht nur todtraurig. Sarajevo war auch jung und hübsch und stark geschminkt, stakste in engen Jeans umher und trug gefärbte Haare und Beckham-Frisuren. »Happy Valentine!«, riefen drei Mädchen, als wir ein Café suchten, um uns aufzuwärmen. Kichernd streckten sie uns ein Kondom entgegen; ein Werbegag irgendeiner Modekette. Ihrem Alter nach waren die Mädchen während des Krieges geboren worden. Ich fragte mich, unter welchen Umständen ihr Leben wohl begonnen hatte.

Jetzt sah ich den Krieg überall, ob ich wollte oder nicht. Er lag über allem, er durchdrang alles. Jeder Mensch, dem wir begegneten, hatte damit zu tun, war ein Überlebender oder ein aus dem Exil Zurückgekehrter. Manche mochten Täter gewesen sein, aber alle waren Opfer geworden.

Das Café Imperijal an der Maršala Tita war ein Ort, der mir auf Anhieb gefiel. Es war ein zweistöckiges Kaffeehaus im Wiener Stil, erbaut 1913, während der österreichisch-ungarischen Besetzung der ehemals osmanischen Provinz. Ein paar Kriege später gehörte Bosnien sich selbst, und das Café Imperijal stand immer noch da. Die Sessel und Sofas waren mit rotem Samt überzogen, die Tische goldumrandet. Die Kellner trugen Livreen, und die Besucher des Cafés waren grösstenteils älteren Jahrgangs, gut gekleidet und sorgfältig frisiert.

Chalil schien genauso froh wie ich, auf dieser Insel gelandet zu sein, die nobel über die bewegten Zeiten schwieg. Er bestellte ein mehrstöckiges Tortenstück und einen Kaffee mit Šlag, einem Sahnehäubchen. Ich nahm einen bosanska kahva, den bosnischen, eigentlich türkischen Kaffee, den uns am Abend zuvor auch schon Halima gekocht hatte. Im Café Imperijal wurde er im kupfernen Kännchen und mit der Süssigkeit Lokum serviert.

»Entschuldigung, kommen Sie aus der Schweiz?«, sprach uns ein älterer Mann an, der am Nebentisch sass. Er war gross und schwer, sein rundes Gesicht wurde von Fältchen durchzogen.

»Ja, Švicarska«, antwortete ich, halbwegs stolz, das bosnische Wort für »Schweiz« zu kennen. »Wie kommt es, dass Sie Deutsch sprechen?«

»Ich habe viele Jahre in Deutschland gearbeitet«, sagte der Mann. »Übrigens … Ich heisse Selim.«

Wir stellten uns ebenfalls vor. Chalil erzielte mit seinem angeblich »bosnischen« Namen gleich einen Pluspunkt.

»Ich war Gastarbeiter in einem Restaurant in München«, erzählte Selim. »In einem Abendkurs habe ich Deutsch gelernt. Die Lehrerin wurde meine Freundin. Sie hiess Helen«, sagte er lächelnd. Er sprach den Namen wie »Chelen« aus, was ausgesprochen charmant klang. »Die Geschichte mit Helen hat leider nicht lange gedauert, aber die Liebe zur deutschen Sprache ist geblieben. Heute bin ich Taxifahrer, da habe ich immer wieder mal Gelegenheit, deutsch zu sprechen. Ihr seid als Touristen hier?«, fragte er dann. »Wie gefällt euch Sarajevo?«

»Ja, wir sind gestern angekommen«, antwortete ich. »Wir haben noch nicht viel gesehen. Die Stadt ist sehr …« Schön? Traurig? Wundervoll? Es klang alles abgedroschen und zugleich verzerrt.

»Die Stadt ist sehr verrückt!«, ergänzte Selim. »Seit der Belagerung hat Sarajevo einen Schaden. Aber was heisst einen …« Er schüttelte den Kopf, als könne er selbst nicht glauben, was er uns gleich erzählte. »Über tausend Tage lang war Sarajevo besetzt. Die Frontlinie verlief rund um die Stadt, die Berge entlang. Von dort oben schossen die bosnischen Serben auf uns. Zehntausend Menschen starben, drei Viertel davon allein im ersten Jahr. Wozu?« Wieder das Kopfschütteln. »Bosnier, Muslim, Serbe, Kroate – bevor dieser Wahnsinn ausbrach, fragte keiner danach, was du bist. Keinen interessierte es. Als Tito noch lebte, herrschte Frieden in Jugoslawien. Wir gehörten alle zu demselben Volk. Erinnert ihr euch noch, als hier die Olympischen Winterspiele stattfanden?«

»Aber sicher«, sagte Chalil. »Das war 1984. Die ganze Welt schaute damals nach Sarajevo. Ich war zehn und habe mir jedes Skirennen angesehen. Die Schweiz gewann im Ski alpin zwei Goldmedaillen.«

»Michela Figini!«, kam es von Selim ohne Zögern. »Oh ja, das waren gute Zeiten. Aber eben … ein paar Jahre nach Titos Tod begannen die Unruhen. Zuerst machte sich Slowenien unabhängig, dann Kroatien und Mazedonien. Schliesslich wollte auch Bosnien ein eigener Staat werden. Doch den Serben passte es ganz und gar nicht, dass ihr Reich auseinanderfiel wie ein … wie ein …« – Selim legte seine Stirn in tiefe Furchen, während er nach Worten suchte – »… wie ein ausgetrockneter Misthaufen!«

Ich musste fast lachen, als ich mich an die vielen Misthaufen erinnerte, die wir auf der Fahrt durch Bosnien gesehen hatten. Doch im selben Moment dachte ich an die zerlöcherten Hausmauern, und das Lachen verging mir.

»Plötzlich waren wir keine Südslawen mehr«, fuhr er fort. »Auf einmal warst du Bosnier oder Serbe. Muslim oder Christ. Katholik oder Orthodoxer. Die Leute wurden verrückt gemacht, gegeneinander aufgehetzt …«

»Über tausend Tage lang dauerte die Belagerung? Wovon haben die Menschen denn gelebt?«, fragte ich.

»Man half einander, so gut es ging«, sagte Selim. »Es herrschte grosse Solidarität. Und es gab den Tunnel.«

»Ein unterirdischer Gang? Wer hat ihn gebaut?«

»Wir haben ihn gebaut, die Bewohner von Sarajevo. Ein halbes Jahr lang haben wir geschaufelt, Tag und Nacht, von beiden Seiten. Der Tunnel verband die Stadt mit einem Vorort ausserhalb der besetzten Zone. So gelangten Waffen, Lebensmittel, Zigaretten und Medikamente hinein und zugleich Kranke und Schwerverletzte hinaus. Auch Kämpfer und Politiker gingen durch den Tunnel ein und aus. Ohne den Tunnel hätten wir es nicht geschafft.«

Es tanzten wieder dicke Flocken in der Luft, als wir das Café Imperijal verliessen. Sie legten sich wie ein Teppich auf den Schnee vom Vortag.

»Gehen wir heim?«, hatte Chalil mich gefragt, nachdem Selim sich abrupt von uns verabschiedet hatte. Die Arbeit rufe, hatte er gesagt, aber man sehe sich bestimmt wieder; Sarajevo sei so klein, man laufe einander ständig über den Weg.

»Ja«, hatte ich erwidert, »gehen wir heim.«

Schweigend steuerten wir Halimas Wohnung an. Jetzt kamen mir die Menschen in den Strassen erst recht wie Überlebende vor; alle Normalität schien aufgetragen wie dünne Schminke. Nun sind wir überall daheim, dachte ich. Überall, wo wir uns zurückziehen und eine Tür hinter uns schliessen können. Genau das war es, was ich jetzt wollte. Heim, in die behagliche kleine Küche, wo das Sofa stand, unser Bett.

Dass darauf schon drei Leute sitzen würden, damit hatte ich nicht gerechnet. Das französische Paar war abgereist, wir würden nun in ihrem Zimmer schlafen können. Dafür war Momo gekommen, um nach uns zu sehen, wie er es am Abend zuvor versprochen hatte.

»Das ist meine Frau Elmedina. Und das ist Vanesa, meine Tochter«, stellte er uns die Frau und das etwa zehnjährige Mädchen vor, die neben ihm auf dem Sofa sassen und uns neugierig entgegenblickten.

Ich war zunächst verblüfft, dass Momo samt Frau und Kind bei Halima aufgetaucht war. Doch rasch wurde mir klar, dass die beiden mehr als eine Geschäftsbeziehung verband, dass Halima fast zur Familie gehörte.

Keine halbe Stunde später fühlte ich mich selbst schon wie ein Teil der Familie. Vanesa sass auf meinem Schoss, flocht mir die Haare und brachte mir bei, auf Bosnisch bis zehn zu zählen. Als sie erfahren hatte, wie ich heisse, war ihre anfängliche Schüchternheit sofort verflogen.

»Mo?«, hatte sie ungläubig wiederholt.

»Ja, Mo«, hatte ich erwidert und versichert, dass dies mein richtiger und vollständiger Name sei, keine Abkürzung, keine Koseform, kein Übername. »Mo« plus »Mo« ergibt »Momo«, ist ja klar. Das hatte Vanesa wahnsinnig komisch gefunden, und kurz darauf waren wir alle in heitere Gespräche verwickelt gewesen. »Momo«, hatten wir bei dieser Gelegenheit erfahren, war nicht etwa die Verkleinerungsform von Mohammed, sondern kam von Momir. Momir Marić lautete sein voller Name.

Elmedina sprach kein Englisch. Keine gemeinsame Sprache zu haben kann ein grosses Problem sein, mit ihr war es nur ein kleines. Wir verständigten uns pantomimisch, mit Kritzeleien und mit Wortkombinationen aus allen möglichen Sprachen. Zudem gab Momo sich alle Mühe, aus dem Bosnischen in sein waghalsiges Englisch zu übersetzen und umgekehrt. Seine Frau war einige Jahre jünger als er, und die beiden waren auch sonst ein ungleiches Paar. Elmedina war sehr breit, er hager. Sie wirkte phlegmatisch, er machte einen gehetzten Eindruck. Trotz seiner Fahrigkeit rauchte Momo nicht, im Gegensatz zu seiner Frau, die wie Halima eine Zigarette an der nächsten anzündete.

Von reichlich Qualm und Kaffee begleitet, verflogen die Stunden. Elmedina kicherte viel. Auch Momo lachte oft; das Lachen von einem, der den Kopf nicht hängen lässt, egal wie trist die Lage scheint. Denn die Themen, über die wir sprachen, waren nicht zum Lachen. Der Krieg. Korruption. Drogen. Minen. Arbeitslosigkeit.

»In Bosnien gibt es für mein Kind keine Perspektive«, sagte Momo. »Keine Arbeit, gar nichts.« Er sah nur eine Hoffnung für die Zukunft seines Landes: »Bosnien muss in die EU. Evropa sistem veri gud!«

Die vielen Zigaretten, die wir rauchten, füllten zwar Halimas Küche mit Rauch, nicht aber unsere Mägen. Es war wieder spät, als Chalil und ich hungrig hinausgingen.

Die Nachtluft war kalt und wohltuend frisch. Arm in Arm schlenderten wir durch die schummrigen Gassen der Baščaršija, wo nicht mehr viel los war. Im hintersten Winkel des Basarviertels fanden wir schliesslich noch eine Tür, hinter der Licht brannte. Drei ältere Männer sassen in der Kneipe um einen kleinen Tisch. Sichtlich angetrunken, aber freundlich winkten sie uns herbei, als wir zögernd beim Eingang stehen blieben.

Rasch stellte sich heraus, dass ihre Fremdsprachenkenntnisse unseren Bosnischkenntnissen entsprachen: nula, ništa. Der älteste der drei – der Wirt, so nahm ich an – hatte sich leicht schwankend erhoben und uns geheissen, Platz zu nehmen. Ich hatte den Verdacht, dass hier seit Jahren kein Essen mehr serviert worden war, und konnte auch keine Küche entdecken. Doch vielleicht täuschte ich mich, denn er streckte Chalil eine abgegriffene Speisekarte entgegen und bestand darauf, uns zu servieren, was immer wir wünschten. Sein Lächeln, das zwei einzelne Zähne zum Vorschein brachte, wirkte ebenso charmant wie sein etwas zu breiter Anzug mit der schief sitzenden Krawatte. Er sah uns erwartungsvoll an.

»Vielleicht kann ich euch bei der Bestellung behilflich sein«, drang es auf Englisch an unsere Ohren. Neben dem Wirt stand plötzlich ein junger Mann. Erst jetzt sah ich, dass auf einem der anderen Tische ein halbvolles Weinglas stand.

Saša setzte sich zu uns. Er war wie wir um die dreissig, hatte dünne schwarze Haare, die in alle Richtungen abstanden, und ein sympathisches Lächeln, das nicht von seinen Lippen wich. Er stammte aus Belgrad und hielt sich beruflich für ein paar Tage in Sarajevo auf. Nun bat er den Kneipenwirt in ihrer gemeinsamen Sprache, die in Bosnien Bosnisch heisst, in Serbien Serbisch, in Kroatien Kroatisch und in Montenegro Montenegrinisch, uns erst einmal einen Krug Wein zu bringen.

»Ich würde einen Burek nehmen«, meinte Saša dann. »Da ist die Chance am grössten, um diese Zeit etwas Frisches und Leckeres zu erhalten.«

»Nema problema«, rief der alte Wirt aus und schickte den jüngeren seiner beiden Freunde mit unserer Bestellung in die Nacht hinaus.

Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis der Mann zurückkehrte, in jeder Hand eine prall gefüllte Plastiktüte. Der Wirt liess es sich nicht nehmen, uns das Essen auf Tellern zu servieren. Er brachte uns drei frische Salate und drei noch warme Bureks mit unterschiedlicher Füllung und überreichte uns auch Messer, Gabeln und je eine quietschgelbe Papierserviette. Schliesslich goss er mit nobler Geste, wenn auch leicht zittrig, Wein in unsere Gläser. Voilà, wir haben alles, was ihr wünscht!, besagte sein stolzer Gesichtsausdruck.

»Die Bosnier sind berühmt für ihre Gastfreundschaft«, sagte Saša. »Das war schon so, als es Jugoslawien noch gab. Und trotz allem, was geschehen ist, hat sich nichts daran geändert. Ich fragte mich, ob ich hier als Serbe angefeindet würde. Doch alle sind sehr freundlich. Oder sagen wir: fast alle.« Sein Lächeln wurde leicht schief.

»Fast alle? Wie meinst du das?«, fragte ich.

Saša nutzte sein spannungsvolles Schweigen, um einen riesigen Bissen zu nehmen. Im Hintergrund leierten türkische Schnulzen von einer Kassette durch die Kneipe, mitsamt den Sprüngen der Platte, von der sie aufgenommen worden waren. »Nun ja«, fuhr er fort, »gestern Abend war ich ziemlich spät noch draussen unterwegs. Was heisst spät, es war vielleicht elf Uhr, als ich mich auf den Weg zurück zum Hotel machte. Bis zum Horizont ist kein Mensch zu sehen, alles still und friedlich. Doch als ich um die Ecke biege und in eine Seitengasse trete, taucht aus dem Nichts plötzlich ein Typ vor mir auf. Lederjacke, Kapuzenpulli, dicker Schal – ein junger Typ halt. Nicht unsympathisch eigentlich. Doch er hat eine Knarre in der Hand. Und die hat er auf mich gerichtet. ›Hoho‹, sage ich, ›was soll das denn?‹ Und er: ›Soll ich schiessen, Bruder?‹« Saša schmunzelte und hob das Weinglas. »Wie ihr seht, hat er’s nicht getan. Živeli! Auf das Leben!«

»Auf die Bosnier und ihre Gastfreundschaft!«, erwiderte ich und grinste. Das Klirren unserer Weingläser passte gut zu den klirrenden Klängen der Hintergrundmusik. Auch der Wirt und seine Freunde erhoben die Gläser. Sie tranken etwas, das klar war wie Wasser und ebenso grosszügig aus einer Flasche ohne Etikett nachgeschenkt wurde. »Seid ihr Serben denn so anders?«, nahm ich das Thema wieder auf.

»Nun ja … eigentlich nicht«, meinte Saša. »Und doch. Unsere Geschichte ist eine andere. Wir gehörten ja nicht zum Osmanischen Reich. Aber eine Zeitlang lebten wir alle friedlich zusammen …«

»Jeder, dem wir begegnen, will früher oder später über den Krieg reden«, sagte Chalil. »Ist das in Serbien auch so?«

Saša nickte. »Auch bei uns wird über den Krieg gesprochen. Fragt sich bloss, was und wie. Waren die Serben in die Balkankriege verwickelt? Haben sie diese sogar initiiert? Oder waren sie von allen Seiten bedroht und haben sich bloss verteidigt? Es gibt verschiedene Deutungen. Und nicht von ungefähr laufen Mladić, Karadžić und wie die Kriegsverbrecher alle heissen noch immer frei herum. Wenn man wollte, hätte man sie längst geschnappt.«

Eine Weile hingen Sašas Worte zwischen uns in der Luft. Die Schnulze fand derweil scheppernd ein Ende, und Stille trat ein.

»Als die NATO Belgrad bombardierte, demonstrierten die Bewohner mit Zielscheibensymbolen dagegen«, brach Chalil schliesslich das Schweigen. »Diese Opferhaltung war für uns im Westen schwer verständlich, nach der jahrelangen Belagerung Sarajevos.«

»Und warum hat der Westen der Belagerung so lange zugeschaut? Das ist etwas, was ich mich frage«, erwiderte Saša. »Und was die Opferhaltung betrifft: Die Leute sind ja in gewisser Hinsicht tatsächlich Opfer geworden, Opfer der Propaganda. Wie sonst ist es zu erklären, dass Milošević nach dem Krieg noch einmal gewählt wurde?« Er trank die letzten Schlucke Wein. »Noch heute halten sich fünfzig Prozent der Serben für unschuldig. Doch genau sie sind schuldig. Jeder, der Milošević gewählt hat, ist schuldig.«

Es war Mitternacht, als wir uns von dem alten Wirt und seinen Freunden verabschiedeten und mit Saša auf die leeren Gassen der Baščaršija traten. Wir spazierten zusammen an den Holzbuden vorbei, er seinem Hotelzimmer, wir unserem Bett im Hostel Karavan entgegen.

»Ich reise morgen nach Belgrad zurück«, sagte er. Er habe Pläne geschmiedet mit Verlegern, die er hier getroffen habe. Für künftige literarische Kooperationen in der Sprache mit den vier Namen. »Ich glaube an die verbindende Kraft der Bücher«, sagte er. »Damit können wir die Grenzen in den Köpfen und Herzen vielleicht überwinden.« Dann kritzelte er seine E-Mail-Adresse auf einen Zettel. »Wenn ihr zufälligerweise mal in Belgrad vorbeikommt …«

»Vielleicht auf dem Rückweg«, sagte Chalil.

Auf dem Rückweg? Vielleicht wird es ja gar keinen Rückweg geben, dachte ich. Vielleicht werden wir uns für immer an einem Strand am Indischen Ozean niederlassen, eine kleine Bar eröffnen und jeden Morgen frischen Mangosaft trinken. Wer konnte das jetzt schon wissen?

Die Moschee in der Baščaršija leuchtete als einziges Gebäude weit und breit in die Nacht hinaus. Mehr als die Hälfte des Minaretts verlor sich im Schneegestöber. Dort oben im All war alles finster, und einmal mehr fragte ich mich, weshalb die Götter zulassen – oder gar veranlassen? –, was Menschen einander antun. Oder sind die Menschen ganz und gar selbst verantwortlich für ihr Elend? Natürlich kam von oben keine Antwort, nur Schnee fiel auf uns nieder.

»Was ich nicht verstehe«, sagte Chalil am nächsten Morgen, »ist diese Sache mit den verschiedenen Ethnien. Bosnische Bosnier, bosnische Serben, bosnische Kroaten. Dann gibt es die Bosniaken, es gibt aber auch serbische Bosnier, wie etwa Momo einer ist; also Serben, die in Bosnien leben. Oder sagt man das nicht, ›serbische Bosnier‹? Und warum einmal ›bosniakisch‹ und einmal ›bosnisch‹? Also ehrlich, ich blicke nicht durch.«

Wir lagen noch im Bett, waren eben erst wach geworden. Chalils schwarze Locken kringelten sich in alle Richtungen, und er blinzelte mich aus schmalen Augen an. Obwohl er offenbar bereits zu komplizierten Diskussionen aufgelegt war, sah er hinreissend verschlafen aus, so dass ich ihn erst einmal küssen musste.

»Ich verstehe es auch nicht«, sagte ich. »Es ist alles so kompliziert. Auch dieser zweigeteilte Staat mit seinen beiden ›Entitäten‹. Und ich glaube, du hast einiges vergessen. Es gibt gewiss auch muslimische Serben, kroatische Serben und serbische Kroaten, nicht zu vergessen die bosnischen Juden – oder sagt man jüdische Bosnier …?«

Wenige Schritte neben Halimas Wohnung fanden wir ein Internetcafé mit zwei freien Computern. An den anderen Stationen sassen junge Männer mit Kopfhörern. Kaffee gab es auch, und natürlich konnte man rauchen.

»Bosnien und Herzegowina gilt seit dem Friedensabkommen von Dayton (1995) als ungeteilter Staat«, las ich. Allerdings teilte sich dieser »ungeteilte Staat« auf – in die Republika Srpska und die nochmals zweigeteilte bosniakisch-kroatische Föderation Bosnien und Herzegowina. Und so waren zwar alle Bewohner Bosniens Bosnier, doch wollte man sie genauer unterscheiden, gab es bosnische Serben, bosnische Bosniaken und bosnische Kroaten (neben zahlreichen Minderheiten wie bosnischen Roma, bosnischen Juden und so weiter).

Alles logisch und doch absurd. Oder wie es bei Wikipedia lapidar hiess: »Die politische Gliederung des Staates ist komplex.« Ich las auch, dass die bosniakisch-kroatische Föderation aus zehn Kantonen bestand; wir befanden uns im Kanton Sarajevo. Das immerhin war einfach zu verstehen. Aber was bedeutete es, dass alle zehn jungen Männer, die an den anderen Computern des Internetcafés sassen, schon die ganze Zeit Kriegsspiele spielten? War das auch logisch, aber absurd?

Wir traten ins Freie und kamen nach wenigen Schritten zu einer riesigen Ruine.

»Das ist doch die Nationalbibliothek!«, rief Chalil aus. Auch ich erkannte den verkohlten Backsteinbau sofort, Halima hatte uns Postkarten davon gezeigt. Sie habe dort gearbeitet, hatte Momo erklärt, vor dem Krieg, als die Bibliothek allen gehört habe, der muslimischen, der orthodoxen, der katholischen und der jüdischen Bevölkerung. Lange her, hatte Halima gesagt, mit einer wegwerfenden Handbewegung. Für die weggeworfene Zeit und all die weggeworfenen Leben, hatte ich gedacht.

Man kann sich leicht vorstellen, dass nichts einfacher Feuer fängt, nichts besser brennt als ein Gebäude voller alter Papiere. »Blätter von verbranntem Papier, zerbrechliche Seiten aus grauer Asche glitten überall in der Stadt nieder wie schmutziger schwarzer Schnee«, so hatte der Bibliothekar Kemal Bakaršić die Tage und Nächte der Vernichtung beschrieben.

Laut Momo würden mit Unterstützung aus der EU bald Renovationsarbeiten beginnen. Eines Tages werde die Bibliothek wieder eröffnet, Evropa sei Dank.

Hinter dem einst prachtvollen Gebäude führte eine leicht ansteigende schmale Strasse in ein ruhiges Wohnquartier. Nach kurzer Zeit standen wir an einem der Hänge, die rings um Sarajevo liegen, und eine grandiose Aussicht bot sich uns: auf den Kranz der Berge, wo mehr als zwanzig Jahre zuvor die Olympischen Winterspiele stattgefunden hatten, auf die Hügelzüge, entlang denen die Frontlinie verlaufen war, und auf ganz Sarajevo mit seinen siebenhundert Minaretten und seiner Miljacka, dem »Roten Fluss«.

Von so hoch oben schien der Krieg fern. Doch wieder einmal trog der Schein. Wir standen auf einem riesigen Friedhof. Die Hänge waren weiss, aber nicht nur vom Schnee. Sie würden auch im Sommer weiss bleiben, von den Grabstelen, die sie bedeckten. Die Reihen mit Steinen, auf denen das Todesjahr 1992 eingraviert war, wollten nicht enden. Irgendwo lag auch Halimas Mann. Wir wussten nur, dass er im ersten Jahr des Krieges umgekommen war und Mustafa geheissen hatte.

Der Rote Fluss war ein silbernes Band, über das mehrere elegante Brücken führten. Sie sahen klein aus. Die ganze Stadt wirkte puppenhaft. Irgendwo dort unten sassen auch die Krieg spielenden Jungs. Wir standen lange da und blickten auf die Stadt hinunter. Es hätte viel zu sagen gegeben. Aber zugleich gab es nichts zu sagen. Die Worte steckten mir im Hals fest, und auch Chalil blieb stumm.

Als Zigarette begleitete die Drina unseren Kaffee und unseren Wein; sie füllte Halimas Küche mit Rauch und durchzog alle Stunden, die wir mit ihr und mit Momo, Elmedina und Vanesa verbrachten. Oft drehten sich unsere Gespräche um »Rat«.

»Rat?«

»Dum-dum-dum. Rat.«

Der Krieg. Rat-at-at. Er war noch immer da, in allen Gesprächen, im Schweigen, in den Träumen.

»Meine Frau Elmedina schläft schlecht«, sagte Momo. »Sie wacht jede Nacht schreiend auf. Weint und weint. Memorija«, fügte er erklärend hinzu und tippte sich mit Zeige- und Mittelfinger heftig an den Kopf.

Nach und nach erfuhren wir Elmedinas Geschichte. Sie stammte aus Mostar, das als eine der schönsten und kulturell durchmischtesten Städte des Landes gegolten hatte. Seine Bewohner hatten untereinander geheiratet und miteinander gestritten, gelitten und gefeiert – bis grenzenloser gegenseitiger Hass ausbrach. Alle Kriegsparteien errichteten Lager, in denen Kämpfer, aber auch Zivilisten zu Tausenden misshandelt und ermordet wurden. In eines dieser Lager war auch Elmedina verschleppt worden. Mehrere Wochen vegetierte sie mit anderen Frauen und Kindern in überfüllten Zellen vor sich hin. Sie hatten oft tagelang nichts zu essen und kaum etwas zu trinken. Viele Gefangene verdursteten, starben an Erschöpfung oder wurden zu Tode gequält. Schliesslich sorgten das Internationale Rote Kreuz und die UNO für die Auflösung der Lager. So war auch Elmedina freigekommen.

Als er sie kennengelernt habe, kurz nach Kriegsende, sei sie halb so breit gewesen, sagte Momo. Eine wunderschöne Frau. Wenn Elmedina kicherte, blitzte für einen Moment etwas von der unbeschwerten Achtzehnjährigen auf, die sie vor dem Krieg gewesen sein musste. Doch öfter, als sie lachte, seufzte sie. Sie klagte über die Armut, in der ihre kleine Familie lebte. Darüber, dass Momos Verdienst als Zimmervermittler und Stadtführer nur für das Allernötigste und die billigsten Zigaretten reichte. Und wiederholt beschwerte sie sich bei uns, wenn er das wenige Geld wieder einmal ins Kasino getragen und dort natürlich restlos verspielt hatte. Aber diese Verrücktheit war so typisch für Momos unbegründeten und doch irgendwie ansteckenden Optimismus, dass selbst Elmedina sie ihm nicht wirklich übelzunehmen schien.

Die Drina überbrückte alle sprachlichen Hürden. Bevor man sich eine neue Zigarette anzündete, reichte man die Schachtel im Kreis herum. Selten wurde das Angebot ausgeschlagen, alle waren mit ihrer Packung stets mehr oder weniger auf demselben Reservestand. Am Ende des Tages schmerzte meine Lunge. Wir qualmten, als gäbe es kein Morgen.

Als Fluss bildet die Drina im Osten des Landes eine Grenze zu Serbien. Diesseits des Wassers liegt Bosnien, das heisst die bosnische Serbische Republik, jenseits Serbien. Vom anderen Ufer aus ist es dasselbe, aber umgekehrt. Wie alles eine Frage der Perspektive.

Bevor die Drina zum Grenzfluss wird, durchfliesst sie das Städtchen Višegrad. Višegrad ist kein bedeutender Ort, aber auch kein namenloser mehr, seit er eine Brücke erhalten hat – die erste Brücke zwischen dem Westen und dem Osten. Seit ihrer Vollendung im fernen Jahr 1577 verband sie, was der Fluss teilte: Am linken Ufer der Drina lebten die Katholiken, am rechten Ufer die Orthodoxen und die Muslime, aber alle verbrachten »den grössten Teil ihrer Kindheit in der Nähe der Brücke«, wie Ivo Andrić schrieb.

Kurz nachdem wir aus der kleinen Stadt losgereist waren, hatte ich seinen Roman Die Brücke über die Drina zu lesen begonnen. Im winzigen Stadtpark von Sarajevo, wo die alten Männer Schach spielten, den Blick schweigend auf die vierundsechzig Felder gerichtet, war der Dichter mit einer Büste verewigt. Der einst bronzefarbene Kopf war mit grünlicher Patina überzogen und weissgefleckt vom Dreck der Vögel, die auf dem Haupt des grossen Poeten und Literaturnobelpreisträgers zwischengelandet waren. Auf Augenhöhe starrte Andrić unter einer Mütze aus Schnee in die unsichtbare Leere hinaus. Er drehte Višegrad den Rücken zu und blickte in Richtung Meer.

Die Stadt lag nur zwei oder drei Fahrstunden von Sarajevo entfernt. Ich wollte die Drinabrücke unbedingt sehen. Chalil, der bereits in Venedig begonnen hatte, jede Brücke zu fotografieren, war sofort einverstanden mit meinem Plan, am selben Tag mit dem Bus hin- und wieder zurückzufahren.

Višegrad? Halima lächelte seltsam, als sie von unserem Ausflugsziel erfuhr. Die Bevölkerung sei vor dem Krieg mehrheitlich muslimisch gewesen, erklärte Momo. Nun lebten fast nur noch Serben in Višegrad. »Sie mögen uns nicht«, habe Halima gesagt. »Wir gehen dort nicht mehr hin.«