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SCHATTENCHRONIK – GEGEN TOD UND TEUFEL
Band 7


In dieser Reihe bisher erschienen:

2901 Curd Cornelius Die andere Ebene

2902 Curd Cornelius Die Riesenwespe vom Edersee

2903 Curd Cornelius & D. J. Franzen Die Ruine im Wald

2904 Curd Cornelius & Astrid Pfister Das Geistermädchen

2905 Curd Cornelius & G. G. Grandt Killerkäfer im Westerwald

2906 Andreas Zwengel Die Stadt am Meer

2907 Michael Mühlehner Gamma-Phantome



Michael Mühlehner


GAMMA-
PHANTOME




Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!
Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung
ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.
Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de

© 2020 BLITZ-Verlag
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati
Umschlaggestaltung: Mario Heyer
Logo: Mark Freier
Innenillustration: Ralph Kretschmann
Satz: Harald Gehlen
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-95719-567-8

Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!



Mojave-Wüste, Atomtestgelände 1959


Zum wiederholten Male flog innerhalb der letzten zwanzig Minuten General McKenzies Blick zu dem eckigen Counter an der Wand unter der Betondecke. Wieder kippte eines der modernen Ziffernblätter. Terminus zehn!

In zehn Minuten würde sich das Weltbild Amerikas ändern, nein, das Weltbild der gesamten Menschheit! Unwillkürlich strafften sich Schultern und Rücken des Generals, als würde er Befehle des Obersten Kommandos entgegennehmen.

Während McKenzie in dem mit Technik vollgestellten Raum des Kommando-Bunkers langsam seinen Gang von einer Arbeitsstation zur anderen fortsetzte, arbeiteten seine Männer konzentriert an den Befehlsständen. Das graue Licht der Fernsehmonitore warf flackernde Schatten auf die Gesichter der Soldaten.

„Übertragungswagen zwölf hat seine Position erreicht, Sir.“

McKenzie nickte. Ein TV-Bildschirm erhellte sich, als die mobile Kamera auf dem Dach des gepanzerten Wagens ihre Arbeit aufnahm. In Schwarzweiß wurde ein karges, ödes Wüstengelände präsentiert. Elf weitere Monitore zeigten ähnliche Bilder aus unterschiedlichen Perspektiven und Entfernungen. Übertragungswagen zwölf war am weitesten vom Zentrum entfernt positioniert.

Zehn Meilen, dachte McKenzie. Die Kamera dort würde alles genauestens festhalten.

„Sind die Hubschrauber vom Stützpunkt gestartet?“, fragte McKenzie einen anderen Offizier an einer Arbeitsstation.

„Die Hubschrauberstaffel ist einsatzbereit und hält Position. Exakt um T minus fünf werden sie die Foto- und Filmdokumentation starten.“

Sie hatten hochauflösende Filmkameras und Strahlendetektoren an den Außenseiten montiert. Die Piloten waren genau instruiert. McKenzie gestattete sich ein Lächeln. Alles lief exakt nach Plan. Die Tür zum Kontrollraum öffnete sich und ein schlanker Mann in einem weißen Mantel trat ein. Doktor David Bayford, führender Nuklearwissenschaftler und technischer Leiter des Projekts. Er nickte dem General wortlos zu, konzentrierte sich auf die Daten auf den Monitoren und glich sie mit den Arbeitsblättern auf seinem Klemmbrett ab. Schon nach wenigen Sekunden runzelte er die Stirn und die Augen hinter der großen Brille zogen sich zusammen. McKenzie genoss kurz die Verwirrung des Wissenschaftlers, ehe er zu ihm trat.

„Hier, Doktor, sind Ihre Prüfbögen. In die alten hat sich ein Fehler eingeschlichen.“

Er reichte Bayford ein Klemmbrett mit den vorbereiteten Papieren.

„Was soll das heißen, General?“, fragte David Bayford misstrauisch. „Welcher Fehler?“ Er überflog hastig das erste Blatt, Grunddaten des Projekts. Parameter der Versuchsreihe. „Aber – aber, mein Gott. General, die Bombe …“

„Ich habe die kritische Masse erhöhen lassen“, sagte General McKenzie mit ruhiger Stimme. Sein Blick ruhte auf dem konsternierten Wissenschaftler. Er hatte Bayford noch nie gemocht. Einer dieser selbstherrlichen, eingebildeten Eierköpfe, die glaubten, mit ihren Formeln alles erklären und lösen zu können. Es war McKenzie ein leichtes gewesen, ihn zu manipulieren.

Bayford glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als er die Zahlen auf dem Papier las. „Zweihundert Tonnen TNT. Das ist unmöglich. Soviel Uran stand uns nicht zur Verfügung.“

„Zumindest kein behandeltes U 235. Das ist richtig. Wir haben die kritische Masse mit etwas Ähnlichem ersetzt.“

Bayford schüttelte den Kopf, als hätte er nicht richtig gehört. Hinter der hohen Stirn überschlugen sich die Gedanken. Sein Blick irrte durch den Kommandoraum des Bunkers, ohne wirklich die Abläufe wahrzunehmen. Die Männer saßen an ihren Terminals und führten die Befehle des Generals aus. Das Gespräch zwischen den beiden kümmerte sie nicht. An der Tür standen zwei bewaffnete Posten der Militärpolizei. Auch sie ignorierten den Wortwechsel. Hatten gelernt, Befehle niemals zu hinterfragen. Gehorsam war oberste Pflicht in der Army.

Der Counter zeigte sechs Minuten an.

„Sie – Sie haben was getan?“ Das Klemmbrett in Bayfords Händen zitterte.

„Kein Grund zur Beunruhigung, Doktor Bayford. Meine Männer haben alles genau durchgerechnet. ­Vielleicht erinnern Sie sich, dass vor sechs Monaten in der Nähe ein Meteorit abstürzte. Sein Kern war aus einem stark strahlenden, uranähnlichen Metall. Ja, bis auf ein paar winzige Abweichungen handelte es sich um Uran, außerirdisches Uran. Die harte Gammastrahlung war räumlich eng begrenzt, was uns ermöglichte, gut damit zu arbeiten. Es war den Wissenschaftlern der Army ein leichtes, das Meteoritenuran dem unsrigen beizufügen.“

McKenzies Augen brannten in einem fiebrigen Flackern. Etwas Beunruhigendes strahlte aus ihnen. Die Besessenheit eines Mannes, der zutiefst von seinem Tun überzeugt ist.

„Das – das kann ich nicht glauben, General! Wieso wurde ich nicht darüber informiert?“

Der Doktor wankte einen Schritt zurück, sein Gesicht hatte alle Farbe verloren, Schweiß perlte auf seinem haarlosen Kopf. „Sie können doch nicht einfach …“

„Für Detailfragen stehe ich Ihnen nachher zur Verfügung, Doktor. Jetzt wird ein neues Kapitel in der Geschichte der Atomforschung geschrieben.“

Terminus vier Minuten. Bayford lief es kalt über den Rücken, die Stimme des Generals klang beherrscht und bar jeglicher Emotionen.

„Amerika muss seinen Vorsprung in der atomaren Technologie weiter ausbauen. Die Russen drohen uns den Rang abzulaufen, und auch die Franzosen sind mit ihren Feldforschungen längst in die entscheidende Phase getreten. In ein paar Jahren werden wir es mit den Chinesen zu tun bekommen und weitere werden folgen. Wir müssen verhindern, dass wir nur noch gleiche unter vielen sind! Nagasaki und Hiroshima haben uns den Weg gewiesen, Doktor Bayford. Kriege werden nur noch durch Abschreckung oder durch terminale Vernichtung verhindert werden können. Dieses Projekt wird bahnbrechend sein!“

Ehe Bayford antworten konnte, rief ein Funker dazwischen. „General, Übertragungswagen vier meldet eine Gruppe Zivilisten in der Sicherheitszone!“

McKenzies Züge gefroren, alle Augen waren auf ihn gerichtet. Jetzt galt es, eine rasche Entscheidung zu treffen.

Drei Minuten bis zur Sprengung.

„Sie müssen den Countdown abbrechen, General“, flüsterte Doktor Bayford mit flacher Stimme. „Dort draußen sind Menschen!“

„Es ist eine militärische Sicherheitszone. Kein Zivilist hat dort etwas verloren. Fordern Sie eine Bestätigung von Ü-Wagen 4, Leutnant. Ich will die Anzahl der Personen wissen. Mit welchen Fahrzeugen sind sie unterwegs? Wie weit sind sie vom Beobachtungsposten entfernt?“ McKenzies Stimme klang kalt und berechnend. Seine Körperhaltung drückte aus, dass er Herr der Situation war.

Der Funkoffizier nahm Kontakt zum Übertragungswagen auf.

„Brechen Sie ab, General!“, forderte Bayford nachdrücklich. „Sie sind nicht Gott, der mit dem Leben anderer spielt.“

„Seien Sie still, oder ich lasse Sie unter Arrest stellen, Doktor Bayford!“

„Sir, Übertragungswagen 4 berichtet. Es handelt sich um eine Gruppe Navajos, fünfzehn Leute. Männer, Frauen und Kinder. Sie sind zu Fuß unterwegs. Etwa eine Meile von der Position des Ü-Wagens entfernt, im Kernbereich der Bombe.“

„Der Wagen soll seine Position halten. Eine Warnung wäre jetzt sinnlos. Wir dürfen das Projekt nicht abbrechen. Es geht um die Sicherheit Amerikas. Ein Abbruch wäre Hochverrat! Sie sind Offiziere der Army und haben Ihre Befehle. Ich rechne mit Ihnen!“

McKenzie hielt seine kurze Ansprache mit klarer Stimme. Er war fest entschlossen, und diese Einstellung sollten auch seine Männer spüren. In solchen Situationen bedurfte es einer Führungsgestalt.

Ein gurgelnder Laut drang über Bayfords Lippen. Er stürzte an General McKenzie vorbei, um den roten Schalter für den Abbruch zu betätigen. McKenzie fuhr herum und bekam ihn an der Schulter zu fassen, riss ihn zurück. Die zwei Militärpolizisten waren sofort zur Stelle und kümmerten sich um den tobenden Wissenschaftler.

McKenzie blickte zum Counter. Terminus Null.

Weit draußen, fünfzehn Meilen vom Kommandobunker entfernt, detonierte die Atombombe.


*


Den Bruchteil einer Sekunde leuchteten die zwölf Fernsehbildschirme auf. Ihr körniges Bild zerstob innerhalb eines Herzschlages. Übertragungswagen 12 sendete nur einen Moment länger, dann flimmerte grauer Griesel über die Bildschirme.

„Verbindung zu allen Übertragungsstellen abgebrochen, Sir“, meldete der Funker etwas verwirrt. Niemals zuvor war so etwas passiert. Übertragungswagen 12 mit einer Distanz von zehn Meilen zum Explosionsherd hätte die ganze Zeit senden müssen. Vielleicht lag es an der Strahlung und nicht an der Explosion, überlegte ­McKenzie gelassen. Er spürte ein leichtes Vibrieren in den Beinen. Der Boden rumpelte, bebte. Die Betonwände begannen zu zittern, die Apparate und Arbeitsstationen knisterten und knarrten, Metall knackte.

„Sie Narr!“, brüllte Bayford. „Was haben Sie getan!“

Mit lautem Krachen klaffte plötzlich ein Riss in der Wand, Steinsplitter flogen nach allen Seiten, ein paar Bildschirme implodierten. Ein weiterer Stoß ging durch den Boden, so heftig, dass McKenzie gegen den Kartentisch geschleudert wurde.

Mörtelstaub hing in der Luft, aus dem aufgerissenen Boden drang ein wildes Grollen und Rumoren. ­McKenzie taumelte, wankte zum Ausgang. Trümmerteile der schweren Betondecke lagen am Boden, ein Bein ragte daraus hervor. Eine dunkle Lache breitete sich aus. Panik war ausgebrochen, beim nächsten Erdstoß wurde es noch schlimmer.

Ein Erdbeben, dachte McKenzie. Aber das hat nichts mit der Atombombenexplosion zu tun. Reiner Zufall! Nur Zufall! Er versuchte Luft in die Lungen zu bekommen. Das Atmen wurde schwerer, hinter ihm krachte der Rest der Bunkerdecke nieder, begrub den Großteil seines Teams. Er taumelte auf den halb eingestürzten Gang hinaus, da riss ihn jemand zurück. McKenzie starrte in das blutige Gesicht von David Bayford.

„Was haben Sie getan?“

McKenzie vermochte nicht zu sagen, ob der Wissenschaftler schrie oder flüsterte. In der Luft war ein Pfeifen wie von tausend Orgeln. Hitze breitete sich aus, brachte die Luft zum Flimmern, den Sauerstoff zum Glühen. Glutpartikel tanzten wie Irrlichter, Bayfords Kopf war davon umgeben. Grünes, in den Augen schmerzendes Leuchten, grell und intensiv, beinahe bösartig. Er hörte Bayford schreien. Dessen Kopf loderte wie eine Korona, dann begann sein Gesicht zu zerlaufen. Grünes Strahlen durchdrang die Haut wie Lichtspeere, die Knochen zeichneten sich dahinter schwarz ab. Innerhalb von Sekunden war der Wissenschaftler verdampft, verglüht oder was auch immer.

General McKenzie rannte bereits, während heftige Erdstöße den Bunker aus allen Richtungen trafen. Die Betontreppe, die er hinauf hetzte, bockte wie ein störrisches Pferd. Das zischende Summen in der Luft hielt an, hinter McKenzie löste sich die Welt auf, zerfraß hochenergetische Strahlung den Bunker. Wände, Decke, die Einrichtung, alles wurde vom tiefgrünen Glosen verschlungen.

Schreiend erreichte McKenzie den Ausgang, zog die schwere, bleiverkleidete Stahltür auf. Die Mauern sahen wie ein wild zusammengesetztes Puzzle aus, überall Risse, Spalten und Brüche. Keine Menschenseele zu sehen. Die Strahlung kroch wie ein lebendiges Wesen die Treppe hoch, hinterließ kochende Materie.

McKenzie stürmte ins Freie, um dann mit einem gurgelnden Laut stehen zu bleiben.

Die Welt um ihn herum hatte aufgehört zu existieren. Überall knisternde, brodelnde smaragdgrüne Glut, die jetzt auch nach ihm griff.


*