Das letzte Ultimatum

Ostfrieslandkrimi

Andrea Klier


ISBN: 978-3-95573-335-3
1. Auflage 2015, Bremen (Germany)
Klarant Verlag. © 2015 Klarant GmbH, 28355 Bremen, www.klarant.de und www.ostfrieslandkrimi.de

Titelbild: Unter Verwendung des Bildes 42401392 (Fotolia).

Sämtliche Figuren, Firmen und Ereignisse dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt. Ebenso erfunden ist das Polizeikommissariat in Aumund mit all seinen Angestellten, den Kommissaren und Polizisten. Aumund ist ein fiktives Städtchen in Ostfriesland, das die Autorin zwischen Aurich und Großes Meer angesiedelt hat. Bis auf Aumund (zusammengesetzt aus Aurich und Wittmund) sind alle anderen im Roman beschriebenen Orte real, und genau dort, im echten und wirklichen Ostfriesland, spielt auch die Handlung.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Inhalt

Widmung

Gewidmet allen Menschen in Verzweiflung und Gefangenschaft und denen, die alles riskieren, um sie aus ihrer Not zu befreien.

Prolog

Imke Körner verließ die Autobahn und lenkte ihren Wagen auf die B 210 Richtung Wittmund. Das Tempo erschien ihr nach der flotten Fahrt quälend langsam, doch bereits nach kurzer Zeit ließ sie sich, den Tacho immer mal wieder im Auge behaltend, auf die Landschaft und das bizarre Lichterspiel am Horizont ein. Jedes Mal, wenn in der einbrechenden Dämmerung die schwarze Wolkendecke vom Wind auseinandergerissen wurde, tauchten die letzten Sonnenstrahlen die Umgebung in ein gelbliches Licht.

All das nahm sie wahr, nur den Toyota Carola, der ihr seit Oldenburg in sicherem Abstand folgte, registrierte sie nicht. Auch die stets wechselnden Autos und die Männer, die ihr seit Tagen wie Schatten überallhin gefolgt waren, hatte sie nie bemerkt.

Imke richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Bäume am Straßenrand, deren Äste sich jetzt, weiß gefärbt durch den Frost, von dem dunkelblauen Hintergrund der Umgebung abhoben. In ihrer Wohnung würde es kalt sein, und das lag nicht nur an der Jahreszeit und der klirrenden Kälte, sondern daran, dass er nicht mehr kommen würde.

Imke seufzte. Es war richtig gewesen, sich von ihm zu trennen. Einen Polizisten zu lieben, hatte eben seine Tücken. Unregelmäßige Arbeitszeiten, nächtliche Anrufe, die Stimmungen, mit denen er stets zurückgekommen war und die er im Laufe der Zeit immer schlechter in den Griff bekam, hatten nicht nur ihn, sondern auch sie mürbegemacht. Das Gefühl, nicht mehr an ihn heranzukommen, ließ sich längst nicht mehr vertreiben.

Sie hatte Absicherung, Stärke, Schutz und Geborgenheit bei ihm gesucht, aber nur Ungewissheit und ein emotionales Auf und Ab gefunden. Er war besessen davon, das Recht zu repräsentieren und jeden Täter seiner gerechten Strafe zuzuführen. Und Treue? Imke schüttelte kaum merklich den Kopf. Nein, treu war er nicht, sie hätte schwören können, dass er damals im Fall von …

Imke nahm die Geschwindigkeit zurück. All das durfte sie jetzt nicht mehr kümmern. Sie musste akzeptieren, dass ihre Beziehung gescheitert war. Sie musste neu beginnen, und vielleicht wartete schon irgendwo da draußen ein Mann auf sie, einer, an den sie sich anlehnen konnte, der wusste, was er wollte, und sich nicht von seinem Weg abbringen ließ. Stark musste er sein und, das war ihr wichtig, dominant.

Wieder musste sie an ihren Polizisten denken, von dem sie sich all das erhofft hatte. Sie sehnte sich nach ihm und musste tief durchatmen, um ihn aus ihren Gedanken zu verbannen.

Es ist aus, ermahnte sie sich und bog, in Wittmund angekommen, in ihre Straße ein.

Der Toyota Carola folgte ihr. Als sie vor ihrem Wohnhaus stoppte und ausstieg, parkte er in sicherer Entfernung im Schatten einer Straßenlampe.

Imke ahnte von alledem nichts, auch nicht, dass ihr Verfolger vor ihrem Haus seinen Posten beziehen und sie die ganze Nacht hindurch überwachen würde.

 

***

 

Janto lag bereits seit einer halben Stunde im Liegendanschlag auf dem nasskalten Boden und blickte durch das aufgesetzte Zielfernrohr seiner Accuracy. Das wechselnde Licht und der raue Wind in diesen frühen Morgenstunden erforderten höchste Konzentration, doch obwohl ihm die Kälte in jeden Knochen seines Körpers kroch, rührte er sich nicht und behielt sein Ziel fest im Auge.

Hätte ein Außenstehender ihn jetzt betrachtet, hätte er sicherlich geglaubt, der junge Mann habe alles um sich herum ausgeblendet, sogar die Bäume, die vom Reif überzogen glänzten, und die Sonne, deren Strahlen unregelmäßig immer wieder durch die beinahe schwarze Wolkendecke brach. Doch der Eindruck täuschte. Janto registrierte in seinem Blickfeld jede ungewöhnliche Bewegung und jedes Tier, das durch den Wald huschte. Vor allem aber registrierte er das, was vor ihm lag und worauf er seit einer halben Stunde mit seinem Gewehr zielte.

Bisher war alles gut gegangen, er musste jetzt nur noch auf den richtigen Moment warten und abdrücken. Beinahe lautlos hatte er sich am Boden kriechend bis hierher geschlichen, völlig unbemerkt von den anderen, die nicht einmal ahnten, wo er auf der Lauer lag, seit wann er in Deckung gegangen war und von woher er den Schuss abfeuern würde. Dass die Kugel ihr Ziel dann erreichte, dessen war er sich sicher.

Im nächsten Moment entdeckte er den Polizisten, der sich dem Zielort, einem größeren Betonbau, näherte. Janto lächelte, als er Hauke Holjansen erkannte. Groß, schlank und dunkelblond, der Kommissar mit den ruhigen Bewegungen, selbstsicher wie immer. Der richtige Moment war gekommen.

Janto konzentrierte sich ein letztes Mal auf das Ziel und drückte ab.

Kapitel 1

Wittmund

 

Imke Körner verließ wie gewöhnlich um halb neun ihre Wohnung. Als Immobilienmaklerin hatte sie sich inzwischen einen Namen gemacht und ihr Chef übertrug ihr immer wichtigere Aufträge. Sie freute sich über das Vertrauen, denn die Zeiten waren hart, und die Provisionen, die sie zusätzlich zu ihrem Gehalt bekam, konnte sie dringend brauchen.

Imke warf einen Blick in den schwarzgrauen Himmel, öffnete die Wagentür und stieg ein. In der Nacht hatte es geregnet, einzelne Tropfen bedeckten die Scheibe und behinderten die Sicht. Imke schaltete den Scheibenwischer ein. Als sie den Motor anließ und aus ihrer Parklücke fuhr, startete hinter ihr ein Kleinbus. Der Toyota Carola war noch vor dem Morgengrauen ausgetauscht worden, ebenso der Fahrer.

Imke, noch immer ahnungslos von all den Aktivitäten, die sich seit Tagen um ihre Person drehten, lenkte ihren Wagen durch die Straßen. Sie lebte und arbeitete gern in Wittmund, sicher würde sie für ihren Kunden schnell einen Käufer finden. Wittmund lag nicht weit von der Küste entfernt, auch das ostfriesische Hinterland war schnell zu erreichen. Die Stadt mit den Rotklinkerbauten besaß Charme und bot den Menschen statt Hektik eher ostfriesische Gelassenheit.

Imke lächelte, als sich die Sonne zwischen den Wolken zeigte. Genau das richtige Wetter für eine Besichtigung, dachte sie und bog in eine der Querstraßen ein. Schon von Weitem konnte sie die Kirchturmspitze der barocken St.-Nicolai-Kirche im Zentrum der Stadt sehen, auf der kein Hahn, sondern ein Schwan thronte.

Der Kleinbus folgte ihr unbemerkt. Dessen Fahrer gönnte weder der Kirche noch dem mit Kupferplatten belegten Zeltdach des Turmes mit der goldenen Kugel und dem Schwan seine Aufmerksamkeit. Er bemühte sich einzig darum, genügend Abstand zu halten. Daher ließ er meist zwei oder drei Wagen zwischen sich und der jungen Frau, was im dichten Verkehr seine ganze Konzentration erforderte.

Eine halbe Stunde später hatte Imke ihren Zielort erreicht. Sie parkte vor einem größeren Haus mit hübscher Fassade, stieg aus und sah sich um. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte sie, dass ein Kleinbus in einen Seitenweg bog und sich von hinten dem Grundstück näherte.

Ob das der Verkäufer dieses kleinen Schmuckkästchens war? Da sich die Haustür öffnete, achtete sie nicht mehr auf den Wagen, sondern stieg die Stufen zum Eingang hinauf. Die Haustür stand einen Spaltbreit offen, doch niemand war zu hören oder zu sehen.

„Hallo“, rief Imke. „Ich bin Frau Körner. Wir sind miteinander verabredet.“

„Kommen Sie rein, ich bin gleich bei Ihnen“, erwiderte eine männliche Stimme, und Imke betrat die geräumige Diele.

Das sieht ja schon mal hübsch aus, dachte sie noch und ließ ihren Blick schweifen. Im nächsten Moment hörte sie hinter sich ein Geräusch. Noch ehe sie sich umdrehen konnte, spürte sie eine Hand auf ihrem Mund und ein unangenehm süßlicher Geruch stieg ihr in die Nase. Imke wehrte sich, doch ihre Glieder fühlten sich plötzlich bleischwer an und ihre Kräfte ließen nach.

Das Letzte, das sie noch registrierte, war die Diele, die sich im Kreis um sie drehte, dann wurden die weißen Wände dunkel und sie verlor die Besinnung.

 

***

 

Ostfriesisches Hinterland

 

Hauke zuckte zusammen, als direkt neben ihm eine Kugel einschlug. Er sah sich um, doch er konnte niemanden sehen. Verdammt, wo steckte der Kerl? Auch die anderen blickten um sich, doch Janto war nirgends zu entdecken. Das kleine abgegrenzte Waldstück lag still und friedlich vor ihnen, nichts deutete darauf hin, dass sich irgendwer darin befand.

„Zeigen Sie sich“, befahl der Einsatzleiter durch sein Funkgerät, während Hauke die Umgebung vor sich fixierte. Jetzt endlich, an einer Stelle, an der er Janto niemals vermutet hätte, bewegte sich etwa sechshundert Meter von ihnen entfernt etwas im Gebüsch. Sekunden später stand Janto aufrecht da und winkte.

„Präziser Schuss“, begrüßte Hauke wenig später seinen jüngeren Kollegen und reichte ihm die Hand.

„War zu erwarten gewesen“, brummte der Einsatzleiter und deutete ins Haus. „Is unser bester Mann. Heißer Tee gefällig?“

„Ich auf jeden Fall“, nickte Janto ihm zu und wandte sich an Hauke. „Und was führt dich hierher? Gibt es in der Nähe etwas zu ermitteln?“

„Nee, ich bin nur ganz in der Nähe drei Tage zur Fortbildung hier. Heute Mittag geht’s los, und da dachte ich, ich schau mal bei dir im Training vorbei.“

„Das ist nett.“ Janto nickte ihm zu. „Wie geht es deiner hübschen Schwester?“

„Prima, das Studium gefällt ihr.“

„Sie studiert Medizin, nicht wahr? In Oldenburg. Kommt sie noch oft nach Norddeich zu deiner Tante?“

„Wenn sie Zeit findet.“ Hauke grinste. „Du kannst dich gern auch mal wieder bei uns blicken lassen. Lina freut sich sicher.“

„Mach ich“, versprach Janto. „Wenn du mir verrätst, wann Rosa dort anzutreffen ist.“ Er zog eine Grimasse. „Und du natürlich auch.“

Hauke lachte. „Hab schon kapiert, dass du nicht wegen mir oder Lina kommst. Keine Ahnung, wann Rosa wieder in Norddeich vorbeischneit, da musst du sie selbst fragen. Ich tippe mal auf eines der kommenden Adventwochenenden.“ Er deutete auf Jantos feuchte Sachen. „Du musst total durchgefroren sein. Feucht bist du auch. Sollen wir lieber reingehen?“

Janto winkte ab. „Spezialkleidung, halb so wild, außer du bist zimperlich. Willst du auch mal dein Glück versuchen?“

Hauke zeigte ihm einen Vogel. „Keine Chance. Bei dieser Kälte durchs Gebüsch kriechen und auf der Lauer liegen ist nicht mein Ding.“ Er blickte auf die Zielscheibe, die Janto punktgenau getroffen hatte.

„Das ist noch gar nichts“, folgte Janto seinem Blick. „Treffen, wenn sich was bewegt, oder das Ganze noch vom Hubschrauber aus, ist die eigentliche Herausforderung.“ Mit einem Lächeln, das seinem Gesicht mit den hellbraunen Haaren und den dunklen Augen ein jungenhaftes Aussehen verlieh, drückte er Hauke sein Gewehr in die Hand. „Los, versuch es. Du bist Hauptkommissar und solltest für jeden Fall gewappnet sein. Ich setze auf dich.“

„Tu’s nicht. Du kannst dabei nur verlieren.“

„Och“, wehrte Janto ab. „Fünf Cent riskiere ich.“

„Ich bin dabei“, stimmte der Einsatzleiter zu.

„Euer Vertrauen in meine Fähigkeiten ist echt motivierend“, bedankte Hauke sich. „Abgesehen davon ist es völlig idiotisch, wegen fünf Cent durch den Wald zu kriechen und sich eine Erkältung zu angeln.“

„Komplett idiotisch“, stimmte der Einsatzleiter ihm zu. „Und trotzdem wollen wir wissen, wie die Vertreter der anderen Abteilungen so drauf sind. Hat noch keinem geschadet, die eigenen Grenzen auszuloten und vor Augen geführt zu bekommen, wo es noch hapert.“ Er winkte dem Prüfungskomitee zu. „Bleibt in Position, wir wiederholen das Ganze gleich noch einmal mit einem von der Kripo. Mal sehen, was der Kollege drauf hat.“

Hauke starrte auf das Gewehr mit dem Zielfernrohr in seiner Hand. Die Herausforderung reizte ihn. „Also gut, wenn ihr euch auf meine Kosten amüsieren wollt, bitte. Wie sind die Bedingungen?“

Janto deutete in den Wald. „Du bekommst eine gewisse Zeit, um dich unbemerkt an der Prüfungskommission vorbeizuschleichen und im Wald zu positionieren.“ Er zwinkerte Hauke zu. „Damit du uns nicht erfrierst, sagen wir mal zwanzig Minuten. Hast du das geschafft, gibst du per Funk durch, dass du in Position bist. Danach wird dich einer der Männer, angeleitet von den anderen, suchen. Seine Aufgabe ist es zu überprüfen, ob du auch da auf der Lauer liegst, wo dich die Kommission vermutet.“ Janto deutete auf den Platz, an dem er sich versteckt hatte.

„Wirst du nicht gefunden, wird ein Großbuchstabe hochgehalten, den du benennen musst. Liest du den Buchstaben falsch ab, bist du gescheitert. Wenn du ihn richtig erkennst, darfst du einen Schuss abfeuern.“ Janto nickte Hauke zu. „Nach diesem Schuss sucht dich die Kommission erneut. Und wenn sie dich dann noch immer nicht entdecken, kannst du dich bei uns bewerben. Obwohl …“ Er musterte Hauke von oben bis unten.

„Obwohl was?“ Hauke hob kritisch die Braue.

„Nee, du bist mit deinen vierunddreißig schon viel zu alt, um bei uns einzusteigen.“

„Richtig, du bist zwar nur sechs Jahre jünger und mit deinen achtundzwanzig noch das reinste Baby, aber ich werde es verkraften. Ich weiß nämlich, dass diese Prüfung nur von den wenigsten bestanden wird.“

„So isses“, gab Janto zu. „Und jetzt wollen wir einfach mal sehen, wie weit du kommst. Du hast eigentlich nur drei Hürden zu überwinden. Das Zeitlimit, die Aufgabe, nicht entdeckt zu werden, und deinen Schuss so abzufeuern, dass niemand weiß, aus welcher Richtung er kommt. Dir verpasse ich jetzt noch passende Klamotten, und während du dich umziehst, kriegst du von mir noch ein paar Tipps gratis.“

Hauke ergab sich seinem Schicksal und folgte Janto ins Innere des Gebäudes.

 

***

 

Als sein Informant die Tür hinter sich schloss, ballte Elmar die Hand so fest zur Faust, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Es war geschehen. Dieser verdammte Hund hatte es also geschafft. Er war getürmt, und das ausgerechnet in dem Moment, als er, Elmar Ruland, den ersten Raub nach seiner Haft erfolgreich hinter sich gebracht hatte und endlich wieder im Geschäft war. Elmar lehnte die Stirn an das kalte Fensterglas und blickte hinaus in eine graue Atmosphäre bestehend aus Nieselregen und Matsch. Im Laden gegenüber war passend zur Adventszeit eine Lichterkette angebracht worden, doch von einer feierlichen Stimmung war nichts mehr in ihm zu spüren.

Er warf einen Blick zum Kühlschrank, der mit Champagner, Kaviar und anderen Feinkostdosen gefüllt war. Er hatte sich für die Nacht eine Frau bestellt, doch jetzt war ihm die Lust zum Feiern vergangen. Dieser verfluchte Kerl hatte ihm jede Freude daran genommen, und auch morgen würden die Zeitungen sicher weiter groß darüber berichten. Dieser Hurenbock hatte ihm die Show gestohlen, und dafür sollte er bluten.

Elmar strich sich über die Stirn. Er musste schnell handeln, er wusste schließlich, was der andere plante. Nicht umsonst hatte er drinnen und draußen Spitzel, die für ihn arbeiteten.

Elmar ging zum Kühlschrank und nahm eine der Champagnerflaschen heraus. Die Zeit der Abrechnung schien gekommen. Er musste nur dafür sorgen, dass sein spezieller Freund wieder dahin zurückkehrte, wo er hingehörte. Und zwar bevor er, Elmar Ruland, mit seinem Doppelgängerkomplizen für immer aus Deutschland verschwinden und woanders seinen Ruhestand genießen würde. Und bevor das geschah, musste er sich um seinen Ruf in der Branche kümmern. Im Klartext: einhalten, was er angekündigt hatte, und zwar eiskalte Rache.

Elmar öffnete die Flasche, schenkte sich ein und betrachtete die Perlen in seinem Glas, die über den Rand bis auf seine Wange spritzten. Er trank und fühlte sich gleich besser. Wozu sich aufregen? Die Puppe, die er am Abend erwartete, sollte ruhig antanzen, er würde sich den Tag und seinen eigenen Erfolg von niemandem verderben lassen. Sein Double, das ihm zurechtgemacht fast bis aufs Haar glich und dessen Stimme der seinen zum Verwechseln ähnelte, hatte ihm erneut ein unumstößliches Alibi verschafft.

Sie waren ein perfektes Team. Niemand würde ihnen je auf die Schliche kommen. Auch sein Versteck war genial, er konnte seine hübsche Beute getrost einige Zeit ohne Aufsicht lassen, um sich weitere Informationen zu beschaffen. Vielleicht gelang es ihm sogar, seinem Gegner etwas unterzuschieben, für das er dann ordentlich brummen musste. Es würde ihn wahnsinnig machen, diesmal wirklich unschuldig im Knast zu versauern, während er es sich in der Fremde mit einem Haufen Moneten gut gehen ließ.

Elmar gefiel der Gedanke. Die gefälschten Pässe für sich und seinen Komplizen lagen in einem Schließfach bereit, der Zeitplan konnte problemlos eingehalten werden. Er trank sein Glas in einem Zug, dann griff er nach seiner Jacke und verließ die Wohnung. Bei einem Spaziergang würde er rasch einen klaren Kopf bekommen und wissen, wie genau er im vorliegenden Fall vorgehen sollte.

 

***

 

Hauke lag inzwischen mitten im Gestrüpp. Verflucht, ist das kalt, dachte er und kroch einen Meter weiter.

„Halt deinen Hintern unten“, schallte Jantos Stimme aus der Sprechtüte.

Hauke verzog schmerzlich das Gesicht. Auf was nur hatte er sich da eingelassen? Er biss die Zähne zusammen und schob sich weiter vor.

„Viel zu laut“, rief Janto vergnügt. „Da hört dich ja jeder Oppa ankriechen, auch ohne Hörgerät.“Mistkerl, dachte Hauke und legte den Rückwärtsgang ein. Da Janto nicht reagierte und keinen Kommentar abgab, wagte er sich weiter zurück. Ihm würde es schon noch gelingen, sich in irgendeinem Gehölz oder in einem Loch zu verkriechen und von dort aus einen Schuss abzufeuern. Den Schuss so knapp an Jantos Kopf vorbei zu platzieren, wie dieser es bei ihm getan hatte, würde er natürlich aus dieser Entfernung und mit einer fremden Waffe nicht wagen, aber ein Treffer vor die Füße müsste doch eigentlich zu schaffen sein.

Hauke bemühte sich und setzte seinen Weg nach rückwärts fort. Dass es ihm endlich gelang, hinter einen größeren Busch zu kriechen, und das auch noch ganz ohne Kommentar aus Jantos Flüstertüte, machte ihn wagemutig. Er kroch um den Busch herum und legte sich an einer für ihn günstigen Stelle flach auf den Bauch. Als nichts passierte und Jantos Sprechtüte weiterhin schwieg, richtete er sich mit dem Oberkörper auf und lugte durch das Gestrüpp.

„Du steckst hinter dem Busch nahe der Esche“, hörte er im nächsten Moment Jantos Stimme durch den Wald schallen. „Liegst hübsch steif da. Wie willst du in dieser Stellung dein Gewehr aufstellen, ohne einen Krampf in den Arm zu kriegen? So kannst du nicht richtig schießen. Deine Haltung erinnert mich an eine Yoga-Stellung. Ich glaube, es war die Kobra.“

„Ratte“, fluchte Hauke und stellte das Gewehr auf. Es war tatsächlich nicht so einfach, das Ding in dieser Position ruhig zu halten, trotzdem blickte er durch das Zielfernrohr und peilte eine Stelle zehn Meter vor Janto an. Als er sich sicher war, drückte er ab.

Jantos fröhliches Lachen klang bis zu ihm vor. „Toller Schuss“, rief er dem Freund zu. „Nur knapp einen Kilometer daneben. Hey, ich habe fünf Cent auf dich gesetzt und verloren, heute Abend musst du mir einen ausgeben.“ Er winkte ihm zu. „Kannst aufstehen, wir hatten dich die ganze Zeit im Auge. Als Indianer bist du eine glatte Niete.“

Hauke rappelte sich auf und marschierte durch das Waldstück zu den anderen. Er war froh, nicht mehr am Boden kriechen zu müssen, denn ihm war kalt. „Undankbar auch noch“, sagte er zu Janto und reichte ihm das Gewehr. „Anstatt erleichtert zu sein, dass ich meinen Schuss nicht zu nah an dir platziert habe, machst du dich lustig.“

„Was heißt nicht zu nah?“, grinste Janto. „Mindestens zwanzig Meter daneben.“

„Quatsch, höchstens zehn“, widersprach Hauke. „Mensch, sei froh, dass ich rücksichtsvoll bin.“

„Doch, doch, das bin ich. Nur gebrauchen können wir dich bei uns nicht.“

„Weiß ich.“ Hauke klopfte sich die Blätter von den Klamotten. „Aber jeder auf seinem Platz und da, wo er hingehört.“

„So isses“, stimmte Janto ihm zu und schob ihn Richtung Gebäude. „Ich würde sagen, der Herr Hauptkommissar kriegt noch mal ’ne Tasse heißen Tee, nicht dass er sich noch erkältet.“

„Mistkerl“, lachte Hauke und folgte ihm ins Haus.

 

***

 

Ubbo-Emmius-Klinik in Norden

 

„Herr Unger wurde von uns auf das Gespräch vorbereitet, aber bitte überanstrengen Sie ihn nicht“, ermahnte die Nachtschwester den Kommissar. Er nickte ihr noch kurz zu, bevor sie das Zimmer verließ, und trat dann zu dem Bett des Kranken.

„Guten Abend Herr Unger, ich bin Kommissar Langer vom Polizeipräsidium in Wittmund und hätte ein paar Fragen.“

Siebo Unger schloss für einen Moment die Augen. Er hatte Schmerz- und Beruhigungsmittel bekommen und fühlte sich ausgelaugt und kaputt. Wie ein Wrack, handlungsunfähig und zu nichts mehr zu gebrauchen. Konnten sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen?

„Ihr Sohn ist heute Mittag geflohen. Hat er sich vielleicht bei Ihnen gemeldet?“

„Nein, hat er nicht.“ Siebo öffnete die Augen. „Obwohl das natürlich wäre, nicht wahr? Aber Sie und Ihresgleichen haben ihm das ja unmöglich gemacht. Sie haben unsere Familie doch schon vor zwei Jahren gewaltsam auseinandergerissen und ein schreckliches Unrecht begangen.“

„Unrecht?“ Der Kommissar hob die Braue. „Ihr Sohn hat eine junge Frau getötet.“

Siebo drehte den Kopf zur anderen Seite und sah von dem Kommissar weg.

„Wissen Sie, wo er sein könnte?“, hörte er ihn weiter fragen.

„Nein. Und wenn ich es wüsste, würde ich es gerade Ihnen nicht verraten. Mein Sohn ist unschuldig.“

„Das Gericht sieht das anders.“

Ja, dachte Siebo und schloss erneut die Augen, um ein wenig Zeit zu gewinnen. Sein Junge war der Willkür der Polizei in die Hände gefallen. Joris, sein ganzer Stolz und sein Ebenbild, sein Ältester, der für etwas sitzen musste, das er nicht verbrochen hatte. Die Welt war ungerecht und schlecht, ein Mörder lief frei herum, und wen jagten sie? Seinen Jungen. Und das nur, weil er zuweilen jähzornig war und Galle besaß. Er war eben ein richtiger Mann, einer von der Sorte, die es heute nur noch selten gab.

Siebo öffnete die Augen. „Sie haben sich bei der Verurteilung geirrt und müssen jetzt die Konsequenzen tragen. Wer vorhat, Unschuldige lebenslänglich hinter Gittern verrotten zu lassen, muss sich nicht wundern, wenn der zu Unrecht Verurteilte sein Recht auf Freiheit selbst in die Hand nimmt.“

„Wo befinden sich Ihre beiden anderen Söhne?“, fragte der Kommissar, ohne auf seinen Vorwurf einzugehen.

„Mein Jüngster, Mattes, ist mit seiner Freundin auf einer Spritztour“, antwortete er. „Vorher hat er seinen Bruder zum Hamburger Flughafen gebracht.“

„Ihr Sohn Hilko ist verreist?“

„Ja“, antwortete Siebo stolz, und seine Augen leuchteten. „Es geht zwei Jahre lang rund um die Welt. Er und Joris haben von ihrer Patentante eine Unmenge Geld geerbt und sind beide finanziell unabhängig.“

„Und wo befindet sich ihr jüngster Sohn?“

„Wahrscheinlich noch in Hamburg. Er kommt erst in ein paar Tagen zurück.“ Siebo richtete sich auf. „Und was Joris betrifft, so hoffe ich, dass er längst außer Landes ist. Und jetzt gehen Sie bitte.“ Er fasste nach dem Klingelknopf und hielt sich gerade noch so lange aufrecht, bis die Nachtschwester kam und das Verhör beendete.

Als der Kommissar fort war, ließ Siebo sich erleichtert in die Kissen fallen. Nur als er an die Vergangenheit zurückdachte, wanderten seine Hände ziellos an der Bettdecke entlang. Dieses elende Weibsbild hatte nur Unruhe über sie gebracht. Er hatte richtig daran getan, ihr deutlich klarzumachen, dass sie in dieser Familie nicht willkommen war. Es war vielleicht zu klar und zu massiv gewesen, aber manche Frauen verstanden eben nur deutliche Worte.

Siebo Unger presste die Lippen aufeinander. Natürlich war sie von seinem Jungen fasziniert gewesen. Welche Frau war das nicht, wenn ihr ein richtiger Mann begegnete? Doch sich ganz seinem Willen beugen hatte sie nie gekonnt. Sie wollte sich nicht unterordnen und sein Junge, verdammt, er war in sie vernarrt wie in noch keine zuvor. Ihr Widerstand hatte ihn gereizt und sein Jagdfieber geweckt. Er hatte gekämpft und die Frau schließlich erobert.

Siebo schluckte. Eine Zeit lang ging auch alles gut, aber dann … Siebo griff sich an den Hals. Er durfte nicht mehr daran denken. Venja de Vries war tot, und seinem Sohn hatten sie die Tat untergeschoben.

Siebo fühlte sich schlecht. Wenn nur alles gut ging. Wenn ihn die Bullen nur nicht kriegten, und wenn er doch endlich wüsste, dass Joris sich in Sicherheit befand.

„Es darf nichts schiefgehen“, murmelte er, während er spürte, wie seine Glieder schwer wurden und die Schmerz- und Beruhigungsmittel zu wirken begannen.

Hoffentlich gelingt ihm die Flucht. Es war das Letzte, das er dachte, bevor er in einen traumlosen Schlaf sank.

 

***

 

Der Morgen war grau, neblig und kalt. Schon beim Aufstehen hatte Anna das Gefühl gehabt, mehr als sonst zu frieren. Nun saß sie da und starrte entsetzt auf die Titelseite der Zeitung. Die Buchstaben des Leitartikels tanzten vor ihren Augen. Er war geflohen, in Freiheit und vielleicht ganz in ihrer Nähe.

Anna nahm ihre Tasse Tee in beide Hände, doch sie trank nicht. In ihrem Kopf ging alles drunter und drüber. Sie sah durch den aufsteigenden Dampf ihrer Tasse hindurch, ohne irgendetwas zu registrieren. Er war schon immer unberechenbar gewesen, gut möglich, dass er plötzlich vor der Tür stand. Und dann? Was sollte sie tun?

Mach dir nichts vor, ermahnte sie eine innere Stimme. Er kommt nicht, und wenn, dann nur, um Antworten auf seine Fragen zu finden.

Nein, sie machte sich nichts vor, doch Venja war tot und würde nie mehr zurückkehren, aber er befand sich auf der Flucht und in Freiheit. Sie konnte es noch gar nicht fassen. Die Karten waren neu gemischt. Was in den letzten beiden Jahren noch unmöglich schien, war urplötzlich Realität geworden.

Anna stellte die Tasse zurück auf den Tisch und griff nach ihrem Smartphone. Ihr Herz klopfte in heftigen Schlägen, als sie die Nummer eingab und schon nach wenigen Sekunden abgehoben wurde.

„Sägewerk Unger Greetsiel, Lampert am Apparat“, meldete sich eine männliche Stimme.

„Martin, ich bin es, Anna.“

„Und?“, kam es kurz angebunden zurück. „Brauchst du Holz?“

„Hast du heute Morgen keine Zeitung gelesen?“, überging sie seinen Ton.

„Doch, aber dein Anruf wäre nicht nötig gewesen, sofern du auf einen bestimmten Artikel anspielst, wie ich vermute.“

„Du vermutest verdammt richtig“, blaffte sie. „Und was heißt, wäre nicht nötig gewesen? Hast du es schon vorher gewusst?“

„Seit die Bullen vor zwei Tagen aufgetaucht sind und Fragen gestellt haben. Aber nein, er hat sich nicht bei uns blicken lassen, falls es das ist, was du wissen möchtest.“

„Wissen will ich, warum du mich nicht sofort informiert hast.“

„Wozu?“

„Wozu?“, äffte sie ihn nach. „Bist du noch ganz bei Trost? Er ist wieder draußen! Du weißt, was das für uns bedeutet.“

„Kann für dich ja kein Problem darstellen und für mich auch nicht mehr“, antwortete Martin hart. „Die Sache ist erledigt.“

„Du hast wohl vergessen, dass wir unter einer Decke stecken? Er ist nicht blöd, und er hatte im Gefängnis genügend Zeit, um nachzudenken.“

„Mag sein, doch die Geschichte ist Vergangenheit, abgesehen davon ging unser Plan schief. Wozu also die ganze Aufregung? Oder willst du den Kerl etwa noch immer haben?“ Als sie nicht antwortete, atmete er hörbar ein. „Für mich ist es vorbei. Und für dich genauso. Gib dich keiner falschen Hoffnung hin, sondern rechne lieber mit dem Schlimmsten. Paul ist nämlich auch noch da, und der hat noch immer eine Mordswut, das kannst du mir glauben.“

„Du meinst …?“, sie schluckte. „Aber was sollen wir tun?“

„Gar nichts“, antwortete Martin. „Je zurückhaltender wir uns verhalten, umso besser für uns. Und nun entschuldige mich, ich habe zu tun. Der Juniorchef ist wieder beim Alten im Krankenhaus, es bleibt zurzeit alles an mir hängen.“

Sie hörte Stimmen, dann, wie Martin mit jemandem sprach.

„Tut mir leid Anna, ich muss Schluss machen“, hörte sie ihn noch sagen, bevor er auflegte.

Eine Weile blieb sie noch mit dem Smartphone in der Hand sitzen und lauschte auf das rasche Schlagen ihres Herzens. Als es an der Tür klingelte, zuckte sie zusammen. Für den Bruchteil einer Sekunde sah sie seine wütenden Augen vor sich, dann riss sie das erneute Klingeln aus ihrer Starre. Es war nicht er, dessen Erscheinen sie gleichzeitig wünschte und fürchtete, sondern nur der Postbote, der ‚Frau Melcher, ein Päckchen für Sie, ich stelle es vor die Tür‘ rief. Anna schluckte. Ich darf mich jetzt nicht selbst verrückt machen, dachte sie und stand auf.