S. A. Urban

 

 

Erwarte mich in Paris 

 

 

 

 

 

 

 

Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,

Himmelstürmer is part of Production House GmbH 

 

www.himmelstuermer.de 

E-mail: info@himmelstuermer.de
Originalausgabe, März 2013 

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages 

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage. 

 

Coverfoto: istockphoto.dom 

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de 

 

ISBN print 978-3-86361-278-8
ISBN epub
978-3-86361-279-5  

ISBN pdf:  978-3-86361-280-1 

 

Die Handlung und alle Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen wären rein zufällig. 

Ein Job wie jeder andere

 

Die Sonne brannte an diesem ersten heißen Frühlingstag erbarmungslos auf die Großstadt herab, und schien sie innerhalb einer Nacht nach Italien versetzt zu haben. Die Menschen saßen plaudernd in den Straßencafés oder schlenderten durch die breite Fußgängerzone.  

Ich schwitzte mittlerweile unerträglich. Doch meine Jacke zog ich nicht aus. Sie war für meinen Job, den ich gleich antreten würde, unerlässlich. Heute war wirklich der ideale Tag, um wieder loszuziehen. Das letzte Mal war ich auf den Weihnachtsmärkten aktiv gewesen. Doch das war jetzt schon Monate her.  

„Mach’s gut, Nikolito. Gib auf dich Acht.“  

Meine Großmutter strich mit ihrer trockenen Hand über meine Wange. Ich musste mich zu ihr herunterbeugen, damit sie mir einen Kuss geben konnte. 

„Mach ich. Du weißt doch, ich bin der Beste.“ 

Sie nickte und ein Lächeln huschte über ihr faltiges Gesicht. Dann zog sie ihr buntes Kopftuch zurecht, drehte sich um und ging zielstrebig auf eine blonde Frau mittleren Alters zu. 

„Möc-chten Sie, dass ic-ch Ihre Zukunft lese aus der C-Hand?“, hörte ich meine Großmutter auf die Frau einreden. Sie betonte die Wörter dabei auf eine exotische, russische Art, bei der ich jedes Mal schmunzeln musste. Unauffällig beobachtete ich die Frau, die verblüfft stehen geblieben war und meine Großmutter skeptisch musterte. 

„Mac-chen nur fünf Euro“, sagte Großmutter und griff nach dem Arm der Frau. Sanft drehte sie deren Handfläche nach oben und riss theatralisch die Augen auf. „Ic-ch sehen Schwierigkeiten. Sehen Sie  ch-hier, Ihre Lebenslinie … Diese Unterbrec-chung …“ 

Interessiert sah die Frau auf ihre Handfläche hinab. „Was sehen Sie denn da? Geht es etwa um meine Ehe?“ 

Meine Großmutter strich ihr beruhigend über die Handinnen   seite. „Kommen Sie, kommen Sie, meine Liebe. Ic-ch werde ihnen erzählen …“ 

Lächelnd drehte ich mich weg und ließ meine Großmutter ihre Arbeit tun. Es wurde Zeit, dass auch ich endlich begann. Hoffentlich war ich noch genauso geschickt, wie vor der Pause. Die Wintermonate hatte ich nämlich mit Korbflechten verbracht, und ich bezweifelte, dass dies für die Fertigkeit meiner Hände die richtige Übung war. 

Langsam bummelte ich an den überladenen Geschäften entlang und tat so, als würde ich die ausgestellten Waren begutachten. Wer kaufte nur all dieses unnütze Zeug? Die Sonnenbrillen, T-Shirts, Tassen und Souvenirs interessierten mich nicht. Meine Aufmerksamkeit wurde von anderen Dingen gefesselt. Meine Augen tasteten die Menschen um mich herum ab. Ein blitzschneller Griff in eine halboffene Handtasche, und unbemerkt ließ ich die fremde Geldbörse in das Innere meiner Jacke gleiten. Ich tat dies ohne Schuldgefühl. In meinen Augen waren die Deutschen eh viel zu reich und ich fand es nur fair, dass sie uns daran teilhaben ließen … wenn, in meinem Fall, auch eher unfreiwillig. 

Gelassen schlenderte ich die Straße weiter und nahm noch zwei weitere Brieftaschen an mich, die mir achtlos aus Gesäßtaschen entgegenlugten. Ihre Eigentümer würden ihre Abwesenheit erst bemerken, wenn sie etwas bezahlen würden. Und bis dahin war ich über alle Berge. 

Rasch lief ich weiter. Es war nie gut, zu lange an dem Ort zu bleiben, an dem man schon Erfolge verbucht hatte. Ich ging auf die andere Straßenseite und griff mir wahllos eine Sonnenbrille aus dem Verkaufsständer. Ich setzte sie mir auf und tat, als würde ich mein Aussehen in einem kleinen Spiegel überprüfen. Mir war egal, ob mich die Brille kleidete. Mein Blick suchte schon nach dem nächsten Portemonnaie, das, von seinem Besitzer vernachlässigt, auf mich wartete. Ein helles Lachen ließ mich aufblicken. Ein Mädchen mit einem auffälligen Augenbrauenpircing stand mir gegenüber und beobachtete mich.  

„Ich an deiner Stelle würde sie nehmen.“ 

„Ähm, die Brille?“, fragte ich verwirrt. 

„Klar. Sieht cool aus“, zwinkerte sie mir zu. 

Verlegen nahm ich die Sonnenbrille ab und drehte sie in der Hand. Das Ding hatte verspiegelte Gläser und kostete fünfundvierzig Euro, wie mir ein Blick auf das Preisschild verriet. Fünfundvierzig Euro? Wer war denn wahnsinnig genug, so viel Geld für solch ein unnützes Ding auszugeben? 

„Du solltest sie kaufen.“ 

„Kaufen?“ Das Wort kam mir wie ein Fremdkörper über die Lippen. Auch das Mädchen schien dies zu merken. Sie grinste und strich sich mit den Fingern durch ihr blondes Haar.  

„Wie machst du es sonst, wenn du sie nicht kaufen willst, aber trotzdem unbedingt haben möchtest?“ Neugierig sah sie mich an und ich las so etwas wie eine stumme Herausforderung in ihrem Blick.  

Später verfluchte ich mich für das, was ich dann tat. Niemals ging ich ein Risiko bei meiner Arbeit ein. Doch hier, unter den Augen dieses Mädchens, das nur darauf zu warten schien, mich auszulachen oder zu bewundern, ließ ich mich auf das Dümmste ein, was ich nur tun konnte. Ich lächelte sie geheimnisvoll an und ließ die Sonnenbrille in meiner Jackentasche verschwinden.  

„Ah, das ist also deine Masche.“ Sie grinste mir verschmitzt zu. Plötzlich weiteten sich ihre Augen. Ihre Lippen, die sich gerade noch zu einem Lächeln verzogen hatten, öffneten sich, als wollte sie mir eine Warnung zurufen. Gerade als ich mich umdrehen wollte, um zu sehen, was sie so erschreckt hatte, krallten sich Finger, wie Stahlklammern, in meinen Oberarm. 

„Du willst doch nicht etwa verschwinden? Ich denke, du hast sicher nur vergessen zu bezahlen.“  

Ich sah mich einem kräftig gebauten Mann gegenüber, der mich wütend anfunkelte. 

„Komm mal mit nach hinten. Ich denke, wir haben was zu bereden.“ 

Er zerrte mich hinter sich her. Im ersten Moment leistete ich keinen Widerstand. Ich entspannte meine Muskeln und bot keinerlei Gegenwehr. Dies war für den Überraschungsmoment, den ich vorbereitete, unerlässlich. Wie eine übergroße Marionette bugsierte er mich zwischen den Ständern hindurch.  

„Moment ich … ich …“, begann ich zu stottern, dann spannte ich meinen Körper an, riss mich mit einem kraftvollen Ruck los und sprang zwischen den Auslagen des Ladens hindurch. Dabei stieß ich einen Ständer mit Keramiktassen um, der scheppernd zu Boden fiel und einen Regen von spitzen Splittern über das Pflaster fegte. Der Ladendetektiv rannte hinter mir her. Kurz spürte ich, wie er meine Jacke zu fassen bekam, doch dann verfing sich sein Fuß in dem umgestürzten Tassenständer. Unter lautem Fluchen fiel er auf Hände und Knie, in die sich erbarmungslos die scharfen Splitter der zertrümmerten Tassen bohrten. Mit dem Geräusch reißenden Stoffes in den Ohren, kam ich frei und rannte, ohne mich noch einmal umzusehen, davon. 

Ich nahm die nächste Seitenstraße und hastete weiter.  

Erst nach mehreren hundert Schritten blieb ich keuchend in einer Toreinfahrt stehen. Prüfend sah ich mich um. Die Gasse war, bis auf wenige Spaziergänger, leer.  

Zügig lief ich in den Hinterhof. Vorsichtig sah ich mich noch einige Male um, bevor ich mich auf eine schmutzige Treppe setzte. Ich holte die drei Brieftaschen aus meiner Jacke hervor. Routiniert zog ich die Geldscheine raus und verstaute sie in meiner Hosentasche. Zählen konnte ich das Geld später. Doch auf den ersten Blick sah es so aus, als hätte sich mein erster Beutezug schon gelohnt. Das war auch mehr als notwendig, wie ich mit einem Blick auf meine zerrissene Jacke feststellte. Paco würde nicht einverstanden sein, wenn ich ihm mitteilte, dass ich das Geld für neue Bekleidung ausgeben wollte. Wahrscheinlich würde ich nachher noch in einem Kaufhaus vorbeischauen müssen. Es fiel selten auf, wenn man mit einer alten Jacke hineinging und mit einer Neuen wieder herauskam. Und wie man die Sicherheitsetiketten geschickt entfernte, ohne dass das Kleidungsstück Schaden nahm, hatte ich mittlerweile auch schon gelernt.  

Während ich den Hinterhof verließ, warf ich die Brieftaschen in den nächsten Müllcontainer. Das Schlimmste wäre gewesen, wenn sie mich vorhin mit drei geklauten Brieftaschen beim Ladendiebstahl erwischt hätten. Ich musste vorsichtiger werden. Solche Fehler waren mir früher nie passiert. Was war nur in mich gefahren, dass ich mich auf so ein dummes Spielchen mit einem fremden Mädchen einlassen musste? 

Voller Unmut riss ich die Sonnenbrille hervor. Doch kurz bevor sie den gleichen Weg wie die Brieftaschen, in einen Müllcontainer nehmen konnte, besann ich mich eines Besseren. Wenn ich für dieses unnütze Ding schon solch ein Risiko eingegangen war, würde ich sie auch behalten. 

 

Geheimnisse

 

Wie immer brannte am Abend ein Feuer in der Mitte unseres kleinen Dorfes und warf seine flackernden Schatten auf die bunten Wohnwagen. Ich saß auf einem Baumstamm und starrte stumm in die Glut. Neben mir saß Sara. Ihre weiche Schulter berührte meinen Oberarm. Ich hatte den Eindruck, als dränge sie sich mit jeder Minute näher an mich heran. Ich tat so, als müsse ich meine Beine ausstrecken und rückte dabei etwas zur Seite. Ihre zaghaften Berührungen sollten mir eigentlich nichts ausmachen, immerhin würden wir dieses Jahr noch heiraten … Bei diesem Gedanken sträubten sich mir die Haare. Nicht dass mit Sara irgendwas nicht stimmte. Sie war niedlich …  

Mein Vater, der mir gegenüber im Kreis der erwachsenen Männer saß, nickte mir auffordernd zu. Er hatte mich erst vor wenigen Tagen gefragt, ob ich irgendwelche Bedenken wegen Sara hätte. Die Sippe fand es seltsam, dass ich keine Anstalten machte, sie zu umwerben oder mich ihr wenigstens sachte zu nähern. „Ich bin noch nicht so weit“, hatte ich gesagt und unbehaglich die Schultern hochgezogen. „Red nicht, Sohn. Du bist im heiratsfähigen Alter. Es wird Zeit, dass du eine Familie gründest.“ Ich versuchte den Gedanken an dieses Gespräch wegzuschieben. 

Sara legte ihre Hand wie zufällig auf mein Knie. Sie schien von mir irgendwas zu erwarten, dass spürte ich genauso, wie ich ihre Hand spürte.  

Ein Hauch eisiger Kälte umwehte mein Herz. Schnell sah ich zur Seite, nur um ihrem Blick nicht begegnen zu müssen. Mein Blick schweifte über meine Familie, meine Verwandten und Freunde, die sich lachend unterhielten und blieb zuletzt an einer reglosen Gestalt hängen, die etwas abseits saß. Erleichtert, endlich eine Gelegenheit gefunden zu haben, stand ich auf und lief zu Piero hinüber. 

„Du bist früh zurück. Laufen die Geschäfte gut?“, fragte ich und ließ mich neben ihm auf dem staubigen Boden nieder. 

„Alles bestens“, antwortete er. Der Nachtwind wehte sein langes, hellbraunes Haar zur Seite.  

Piero war anders als der Rest meiner Familie, nicht nur äußerlich … Ich kannte Piero seit meiner Kindheit. Wir waren beste Freunde gewesen, eigentlich müssten wir’s noch immer sein, doch irgendetwas hatte sich schleichend zwischen uns verändert. Seit er begonnen hatte, regelmäßig Geld ranzuschaffen, war er immer schweigsamer und geheimnisvoller für mich geworden. Wir hatten kaum noch Gelegenheit, Zeit miteinander zu verbringen. Das lag vor allem daran, dass ich tagsüber loszog. Wenn ich von meinen Beutezügen nach Hause kam, brach Piero meistens auf oder war schon weg. Und wenn er von seiner Arbeit zurückkam, lag das Dorf wiederum im tiefen Schlaf. Niemand redete darüber, welchem Gewerbe Piero nachging, doch jeder schien es zu wissen oder tat wenigstens so.  

Anfangs hatte ich versucht, Piero auszufragen, doch er war meinen Fragen jedes Mal ausgewichen. Es schien ihm unangenehm zu sein, über seine Arbeit zu reden. Irgendwann hatte ich das Gefühl bekommen, dass er mir aus dem Weg ging. Seither sprach ich ihn nicht mehr darauf an und stellte ihm nur noch unverfängliche Fragen. 

„Du hast eine neue Jacke. Sie steht dir. Schwarzes Leder.“ Die letzten Worte betonte er so, dass mir unverzüglich ein Schauer über den Rücken zog. 

Verlegen sah ich an mir herab. „Danke. Ich brauchte unbedingt eine Neue.“ Kurz zögerte ich, dann zog ich hastig die verspiegelte Sonnenbrille hervor und hielt sie ihm hin. „Dir habe ich auch was mitgebracht.“ 

„Eine Sonnenbrille? Für die Nacht?“ Sein spöttisches Lächeln ließ mir das Blut ins Gesicht schießen. Ich war froh, dass der flackernde Feuerschein dies verbarg.  

„Ich dachte nur … ich habe …“, stotterte ich auf der Suche nach einer passenden Antwort. 

„Ich wollt dich nur necken. Ist ja nicht so, dass ich tagsüber nie rausgehe. Danke.“ Er zwinkerte mir zu und schob sich die Brille über die Stirn ins Haar.  

Eine Weile saßen wir stumm da. Mein Blick fiel auf Sara, die noch immer auf dem Platz saß, an dem ich sie verlassen hatte. Sie beobachte uns. Mit mürrischem Gesicht starrte sie herüber.  

„Findest du es in Ordnung, deine Zukünftige so links liegen zu lassen?“, fragte Piero unvermittelt 

„Dass du jetzt auch noch damit anfängst. Sie wird sich daran gewöhnen müssen“, antwortete ich verärgert. „Ich habe keine Lust, eine Familie zu gründen.“ 

Piero sah mich interessiert von der Seite an. „Du magst sie nicht?“ 

„Das ist es nicht. Sie ist mir einfach nur - egal“, beendete ich den Satz. 

Piero lachte leise. Seine feingliedrige Hand griff nach einem Stöckchen, mit dem er ein Herz in den Sand malte. 

„Lach’ nur“, fauchte ich. „Ich mag eben keine dicke, ungelenke Frau, die ein Leben lang wie eine Klette an mir hängt.“ 

„So schlimm ist heiraten doch auch wieder nicht. Du wirst danach deine Ruhe haben. Jedenfalls vor deinen Eltern und der Familie. Ob Sara dich in Ruhe lässt, wage ich jedoch zu bezweifeln“, kicherte er. 

„Du hast gut reden. Warum bist du eigentlich niemanden versprochen?“ 

Piero wendete sein Gesicht ab, sodass dunkle Schatten auf seine Züge fielen. „Das hat sicher was mit meiner Herkunft zu tun …“ 

Es tat mir sofort leid, dieses Thema angesprochen zu haben. Natürlich wusste ich darüber Bescheid, wer sein Vater gewesen war. Seine ganze Kindheit über hatte man ihn deswegen verspottet. „Bastard!“, hatten die Kinder ihm hinterher geschrien. Während ich sie mir schnappte und verprügelte, saß Piero abseits und versuchte seine Tränen zu unterdrücken. 

„Ich würde zu gern mit dir tauschen“, sagte ich. 

„Glaub mir, dass willst du nicht wirklich“, antwortete er leise. 

Ich fragte nicht weiter nach. Schweigend sahen wir ins Feuer. Leise Gitarrenklänge schwebten zu uns herüber und ich wünschte mir, Piero würde mich mehr an seinem Leben teilhaben lassen. Warum tat er immer so geheimnisvoll? Ich könnte ihm helfen, so wie früher, wenn ich nur wüsste, worum es ging. 

Grübelnd strich ich mir über das Kinn, an dem sich schon wieder ein kratziger Bartschatten gebildet hatte. Auch das unterschied uns voneinander. Er war der glattgesichtige Schönling, während ich sein absolutes Gegenteil war.  

Warum nur zog er sich so vor mir zurück? Wir konnten zusammen eine unbesiegbare Einheit bilden. Verärgert fuhr ich mit meinen Fingern durch meine widerspenstigen Locken und warf ihm einen resignierten Blick zu. Plötzlich begann Piero nervös neben mir hin und her zu rutschen.  

„Eh, was ist denn?“, mehr brauchte ich nicht fragen. Schon entdeckte ich Pacos Gestalt, die sich aus der Schar Männer löste und auf uns zu steuerte. Schnell standen wir auf und senkten ehrfürchtig unseren Blick. Breitbeinig baute Paco sich vor uns auf. Seine schwarzen Augen hefteten sich auf Piero, während sein Schnauzbart zu zucken begann.  

„Was treibst du dich schon wieder hier rum? Solltest du nicht unterwegs sein?“ 

Piero trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. „Ich war heute erfolgreich. Hab viel Geld verdient …“  

„Ja, und?“, bellte Paco. „Heißt das etwa, dass du faulenzen darfst? Der Abend ist noch jung. Was nützt du uns hier? Du solltest dort sein, wo man dich braucht.“ Mit diesen Worten funkelte Paco ihn noch einmal wütend an. Dann wandte er sich ab und ging großspurig auf seinen Platz zurück.  

Piero nahm die Sonnenbrille aus seinem Haar und setzte sie trotz der vorherrschenden Dunkelheit auf.  

„Wie, du gehst wirklich noch mal los?“, fragte ich entgeistert. 

„Du hast Paco doch gehört.“ Piero zuckte mit der Achsel. 

„Kann ich wenigstens mitkommen?“  

Piero sah mich einen Wimpernschlag lang an. „Bleib hier und kümmere dich endlich um deine kleine Sara. Da wo ich hingehe, hast du nichts verloren.“ Er drehte sich mit einer arrogant anmutenden Geste um und lief zwischen den Wohnwagen hindurch Richtung Straße. 

Ich fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen. Einen Moment blieb ich unschlüssig stehen, beobachtete die in mir tobenden Gefühle von Ausgeschlossen sein, Wut und quälender Neugier. Mit einem letzten Blick zum Lagerfeuer, wo mir keiner Aufmerksamkeit schenkte, stand ich auf und folgte ihm.  

Als ich zwischen den Büschen hervortrat, entdeckte ich Piero etwa hundert Meter vor mir. Er lief, wie ich schon vermutet hatte, in Richtung U-Bahn. Vorsichtig, den Schatten der Straßenlaternen ausnutzend, folgte ich. 

Ich stieg in einen der hinteren Wagons und setzte mich mit dem Rücken zu Piero. Jedes Mal, wenn die Bahn anhielt, lugte ich über meine Schulter, um sicher zu gehen, dass er nicht ausgestiegen war. So fuhren wir etwa eine halbe Stunde, bis Piero am Stachus die Bahn verließ. 

Im gebührenden Abstand folgte ich ihm die Rolltreppe hinauf und blieb abrupt stehen, als er in der unterirdischen Ladenstraße anhielt, sich umschaute und neben einem Schaufenster an die Wand lehnte. Ich verbarg mich hinter einer der breiten Säulen und ließ ihn nicht aus den Augen. Ratlos beobachtete ich, wie er lässig dastand, einen Fuß an die Mauer hinter sich gestellt, während er die vorbeieilenden Passanten musterte.  

Was machte er da? Auf wen wartete er? Hatte er sich hier etwa mit jemand verabredet? 

Nach einer weiteren geschätzten halben Stunde blieb endlich ein Mann vor Piero stehen. Enttäuscht atmete ich aus, als er nur die ausgestellte Ware im Schaufenster betrachtete. Doch dann bemerkte ich, wie er Piero verstohlen musterte. Piero schien dies zu bemerken, ja sogar zu mögen. Er strich sein Haar zurück und schenkte ihm ein kleines Lächeln. Der Mann erstarrte, dann wandte er sich schnell ab und verschwand auf der Herrentoilette, die nur wenige Schritte entfernt war. Piero stieß sich von der Wand ab und warf einen Blick in meine Richtung. Schnell zog ich mich hinter die Säule zurück. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Er hatte mich doch nicht etwa entdeckt?  

Behutsam lugte ich auf der anderen Seite der Säule hervor. Piero war weg. Ich sah gerade noch, wie die schwere Metalltür der Toilette wieder ins Schloss fiel.  

Gut, ich würde warten, vielleicht kam er ja wieder heraus. Wenn nicht, war meine Verfolgungsjagd eben vorbei. Ich war nun mal kein Privatdetektiv. Mein Können beschränkte sich auf andere Gebiete. 

Während ich wartete, schweiften meine Gedanken zu meiner bevorstehenden Heirat. Was sollte ich nur tun? Ich hatte wirklich absolut keine Lust, Kinder in die Welt zu setzen und rauchend mit den anderen Männern Abend für Abend am Feuer über politische Angelegenheiten zu diskutieren.  

Ob ich noch mal mit meinem Vater reden sollte? 

Nein, das kam nicht in Frage. Das letzte Mal, als ich ihm erzählte, wie ich mir meine Zukunft vorstellte, hatte er mir eine derartige Ohrfeige verpasst, dass mein Kopf gegen das Hängeschränkchen in unserem Wohnwagen geflogen war. Die Hand, mit der ich an meine Schläfe fasste, klebte augenblicklich von frischem Blut. Mir war schwarz vor Augen geworden und ich mühte mich ab, auf den Beinen zu bleiben. Meine Mutter hatte mich sofort auf die Bank gezogen und drückte mir ein feuchtes Tuch auf die Wunde, während meine Großmutter schimpfend auf meinen Vater losging. Niemand, außer Paco, traute sich sonst, so mit meinem Vater umzugehen.  

Ich hätte es wissen müssen. Zu oft schon hatte ich die Faust oder schlimmstenfalls den Stiefel meines Vaters zu spüren bekommen, wenn ich mich gegen seine Anweisungen auflehnte. Oft reichte schon eine kleine Andeutung, und sein ganzer Zorn entlud sich auf mich. 

„Weißt du“, sagte mir meine Großmutter einmal, „er kennt es nicht anders. Sein Vater, Gott habe ihn selig, hat es ihm so vorgelebt. Reize ihn nicht, dann ist alles gut.“ 

Diesen Ratschlag beherzigte ich, doch die bevorstehende Hochzeit hatte mich unbedacht werden lassen.  

„Hast du etwa eine Andere ins Auge gefasst?“, hatte mich meine Großmutter in einem stillen Moment gefragt.  

Kopfschüttelnd verneinte ich. „Ich weiß auch nicht. Ich will für die Familie da sein, aber das letzte, woran ich denke, ist heiraten.“ 

Meine Großmutter hatte mir die Hand auf die Schulter gelegt. „Für manche Menschen ist eine normale Beziehung eben nicht die Lösung.“ Schwerfällig war sie aufgestanden und hatte mich mit diesem rätselhaften Satz allein zurückgelassen. 

 

Dunkle Straßen

 

Die Tür der Herrentoilette öffnete sich und der Mann vom Schaufenster erschien. Nachdenklich blieb er stehen. Als sich die Tür ein zweites Mal öffnete, trat Piero heraus. Der Mann sah ihn mit unbewegtem Gesicht an, drehte sich um und ging raschen Schrittes Richtung Rolltreppen. Er machte den Eindruck, als würde er sich für etwas schämen. Piero sah ihm mit einem verkrampften Lächeln hinterher und setzte sich dann ebenfalls in Bewegung. 

Ich folgte ihm in einigem Abstand die Rolltreppe hinauf. Meine Fragezeichen im Kopf wurden immer größer. Was tat Piero hier? Welche Art von Geschäften ging er nach und warum gerade zu dieser späten Stunde? 

Warum hatte er so lange im Untergeschoss des Hauptbahnhofs herumgelungert? Und wo ging er jetzt hin? 

Neugierig, fast alle Vorsichtsmaßnahmen außer Acht lassend, lief ich hinter Piero her. Ich musste nicht vorsichtig sein. Er drehte sich kein einziges Mal um. Er eilte zielstrebig durch die dunkle Stadt, und schien genau zu wissen, wo er hin wollte. Zehn Minuten später hatte er sein Ziel erreicht. Über der Tür, hinter der er verschwand, prangte in blauer Neonschrift Cruising Gay Bar.  

Ich blieb auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen, unschlüssig, ob ich ihm folgen sollte. Was war, wenn die Bar nur einen kleinen Gastraum hatte, und ich Piero direkt in die Arme lief? Er wäre sauer, dass war mir jetzt schon klar. Ich wollte keinesfalls riskieren, dass er nie wieder ein Wort mit mir sprach. Trotzdem brannte die Neugier wie ein heißes Feuer in meinem Magen. Unschlüssig trat ich von einem Bein aufs andere. Lange musste ich jedoch nicht warten. Die Entscheidung, ob ich folgen oder warten sollte, wurde mir glücklicherweise abgenommen. 

Als sich die Tür öffnete und Pieros schlanke Gestalt vor dem dunklen Innenraum abzeichnete, zuckte ich ertappt zusammen. Doch Piero hatte mich nicht bemerkt. Er wandte sich zu einem älteren Mann um, der ihm auf die Straße folgte. Ich hörte ihre leisen Stimmen, wie sie ein paar Worte miteinander wechselten, dann gingen sie gemeinsam ein paar Schritte und verschwanden in der nächsten, offenen Toreinfahrt. 

Nun, alle Vorsicht hinter mir lassend, lief ich über die Straße und trat in die dunklen Schatten der Einfahrt. Leise tastete ich mich an dem kalten Gemäuer entlang. Rau und rissig fühlte ich es unter meinen Fingerspitzen. Ich erstarrte. Hinter der nächsten Biegung vernahm ich ein leises Rascheln. Langsam, ohne ein Geräusch zu verursachen, schlich ich näher und spähte um die Ecke. 

Vor mir lag ein dunkler Hinterhof. Wenige Fenster, von denen nur noch eins beleuchtet war, sahen auf den kahlen, teilweise von Unkraut überwucherten Betonboden. In der Ecke zu meiner Linken hörte ich wieder das Rascheln. Ein leises Stöhnen folgte. 

„Ja, gut so, weiter“, flüsterte eine heisere Stimme.  

Ich lehnte mich an die Mauer und sah um die Ecke. Es war stockdunkel. Trotzdem sah ich alles noch viel zu deutlich: Eine Gestalt lehnte mit dem Rücken an der Mauer, die Zweite kniete vor ihr. Was sie da tat, konnte ich nur erahnen. Einer der beiden gab wieder ein leises Stöhnen von sich, das in der Stille des Hinterhofes widerhallte.  

„Los, komm, steh auf.“ Die kniende Gestalt kam der Aufforderung nach, und der andere, eindeutig Kräftigere, drängte sie jetzt an die Wand. 

Das alles beobachtete ich, ohne es auch nur einen Moment mit Piero in Verbindung zu bringen. Doch dann hörte ich seine Stimme. Sie klang fremd, und trotzdem würde ich sie jederzeit erkennen. Diese rauchig, erotische Färbung hatte ich jedoch noch nie bei ihm wahrgenommen. Sie zog mir, wie mit kalten Fingerspitzen, eine Gänsehaut über den Rücken. Auf eine sonderbare, noch nie gekannte Weise, machten sie mich an. 

„Langsam, warte. - Ja. – Jetzt! - Gib’s mir. - Los!“  

Ich hörte die Lust in Pieros Stimme, sein Keuchen, und spürte, wie ich eine Erektion bekam. Ungläubig sah ich an mir herab. Ich beobachtete hier meinen Freund beim Sex - mit einem Mann - und es machte mich scharf. Das konnte doch nicht wahr sein! 

Als das Stöhnen der beiden schneller wurde und mit einem jähen Aufschrei verstummte, drehte ich mich ruckartig um. Ich stolperte fast über meine Füße, als ich aus der Toreinfahrt flüchtete. 

Ich rannte lange, so als würde ich die Bilder und Laute hinter mir lassen können. Doch es gelang mir nicht. Immer wieder gaukelte mir mein Gehirn die Schatten der zwei Männer vor. Keuchend blieb ich in einer ruhigen Seitenstraße zwischen parkenden Autos stehen und atmete tief durch. Dann taumelte ich in einen offenen Hauseingang.  

Was war nur los? Wurde ich verrückt? Alles drehte sich um mich. Ich zitterte. Jeder Nerv meines Körpers schien zu vibrieren. Ohne nachzudenken, stolperte ich die Stufen zum Keller hinunter. Erschöpft lehnte ich mich an die Wand und kniff die Augenlider zusammen. Bunte Kreise tanzten vor meinen geschlossenen Augen. Vor meinem inneren Auge schmiegten sich zwei schwarze Silhouetten vor Lust aneinander. Ich stöhnte auf. Dieser Ton klang in der Stille des Hauses wie ein wunder, qualvoller Schrei. Ich fühlte einen Schmerz, der mir den Brustkorb zusammendrückte, und tief in meinen Eingeweiden wühlte. Doch ich fühlte noch etwas anderes …  

Unvermittelt griff ich in meinen Schritt. Noch immer war mein Schwanz hart wie Stein. Mit fahrigen Bewegungen öffnete ich meine Hose. Die Bilder, die sich hinter meinen geschlossenen Lidern abspielten, peinigten mich ebenso, wie sich mich anmachten. Die Erinnerung von dem dunklen Hof hatte sich, wie ein Foto, für immer in mein Hirn eingebrannt. 

In dieser Nacht fickte ich meinen Freund das erste Mal  und ich wusste schon jetzt, dass mich diese Fantasie nie wieder loslassen würde. In meiner Traumwelt presste ich ihn gegen die kalte Wand und grub meine Finger in sein langes Haar. Von hinten drang ich in ihn ein, erst sanft, dann hart und rücksichtslos, hörte seine Lustschreie, während ich in ihn stieß, ihn ausfüllte und Besitz von ihm ergriff. 

Mein Körper krümmte sich, als mich ein Orgasmus überrollte und Sperma auf den schmutzigen Zementboden klatschte.  

Verschämt sah ich die kleine Lache an. Dann richtete ich meine Kleidung und machte mich auf den Heimweg. 

 

„Du hast ja keine Ahnung!“

 

Die nächsten Tage hielt ich mich von Piero fern. Ab und zu sah ich ihm verstohlen nach, wenn er sich auf den Weg zu seiner fragwürdigen, nächtlichen Tätigkeit machte.  

An diesem Abend beim Essen, sprach mein Vater, das von mir verhasste Thema Heirat wieder an. Ich konnte es nun beim besten Willen nicht mehr ignorieren oder missverstehen.  

„Im Frühsommer“, begann er, während er sich ein Stück Brot in den Mund schob, „kommt die Sippe meines Vetters Juan, sie werden uns bei den Vorbereitungen für deinen großen Tag helfen. Saras Verwandtschaft trifft kurze Zeit später ein. Wenn ihr Glück habt, schenken sie euch einen eigenen Wagen … wenn nicht, müsst ihr erst einmal hier wohnen.“ 

Als ich den Mund zu einem Protest öffnen wollte, fiel mir meine Großmuter ins Wort. „Vielleicht kann das junge Paar erst einmal etwas abseits, in einem Zelt wohnen.“ Dabei tätschelte sie mir den Unterarm. „Da haben sie Ruhe und fühlen sich nicht so beobachtet.“ 

„Du brauchst dich nicht beobachtet fühlen, Sohn. Du und deine kleine Frau, ihr werdet nichts miteinander machen, was ich nicht schon kenne.“ Dabei lachte er und schlug mir kräftig auf die Schulter. 

Bei dem Gedanken daran, was er meinte, drehte sich mir der Magen um. Der Löffel, den ich gerade in der Hand hielt, fiel scheppernd auf meinen Teller. Großmutter sah mich mitfühlend an, und meine Mutter saß verschüchtert da, während mein Vater sich vor Lachen den Bauch hielt.    

„Zier dich doch nicht wie eine Jungfrau, Nikola.“ Er sah mir dabei grinsend ins Gesicht. „Bei deinem Benehmen glaubt man doch glatt, dass du noch eine bist …“  

Als sich mein Gesicht rot färbte, fiel er in erneutes Lachen ein. Meine Großmuter holte aus und gab ihm einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf. „Lässt du wohl den Jungen in Ruhe.“ 

Mein Vater richtete sich stolz auf, so als hätte er den Klaps gar nicht gespürt. „Mutter, du musst mir doch Recht geben, ein Mann sollte Erfahrung in die Ehe mitbringen. Nikola, du solltest dringend etwas an deinen Gewohnheiten ändern.“ 

Während meine Mutter stumm auf ihren Teller starrte und so tat, als wären sie ganz woanders, ergriff Großmutter wieder Partei für mich: „Er wird schon seine Erfahrungen sammeln. Dafür braucht dich Nikolito bestimmt nicht. Stimmt’s, Junge?“ 

Mit einem gemurmelten „Bin satt“, stand ich auf und flüchtete aus unserem Wagen. Das dröhnende Lachen meines Vaters und die schimpfende Stimme meiner Großmutter begleiteten mich, während ich davonlief. 

Ja, verdammt, mein Vater hatte recht! Ich hatte noch keine Erfahrungen. Aber was war denn schon dabei? Musste ich unbedingt einem Mädchen hinterher steigen? Ich hatte bisher eben noch kein Bedürfnis danach gehabt. Blöderweise würde sich das auch nicht ändern. Das spürte ich genau. Seit ich vierzehn war, hatte ich bemerkt, dass ich anders war als der Rest der Jungen in meinem Alter. Ich beobachtete die Mädchen nicht, wenn sie ihre Tänze übten. Ich stand abends auch nicht heimlich herum und schaute ihnen dabei zu, wie sie sich wuschen. Das gab mir nichts. Lieber saß ich bei Piero, wenn er auf seiner Gitarre übte. Sein feingliedrigen Finger, die die Abläufe immer und immer wieder trainierten, sein schönes, hochkonzentriertes Gesicht mit der steilen Falte zwischen den Augenbrauen, das von dem Schleier langer Haare fast verdeckt war … 

Ja, ich hatte es schon längst selbst gemerkt. Ich war anders.  

Doch was sollte ich dagegen tun?  

In düstere Gedanken versunken, lief ich durch das Dorf. Ohne es zu merken, hatte ich mich dem Feuer genähert. Erst als mir die Musik und das Klatschen der Hände lautstark in den Ohren klangen, sah ich auf. Einige meiner Freunde tanzten. Das Feuer warf flackernde Schatten auf ihre Körper, die sich zu rhythmischer Musik drehten. Im Mittelpunkt stand Lolita. Sie schwenkte ihren weiten roten Rock und tanzte herausfordernd um ihren Tanzpartner herum. Wie versteinert blieb ich stehen. 

Ich hatte Piero schon oft tanzen sehen. Doch heute erwischte mich sein Anblick wie ein Faustschlag in der Magengrube. In meinem Inneren entwickelte sich ein Kampf. Mit all meinem Sehnen wollte auch ich tanzen, mich dieser Leidenschaft hingeben und vor allem Piero nahe sein. Doch ein anderer Teil von mir wollte weglaufen. Langsam setzte ich mich in Bewegung. Ohne es zu merken, stellte ich einen Fuß vor den anderen. Als der Feuerschein heiß auf meiner Haut brannte, merkte ich erst, dass ich mich nicht für die Flucht entschieden hatte. Ich stand zwischen den Tanzenden und starrte Piero noch immer unverwandt an. Meine Freunde rempelten mich an, klatschten in ihre Hände, lachten mir ins Gesicht. Sara griff nach meinen Händen und versuchte mich zu sich zu ziehen und zum Tanzen zu bewegen. Doch ich blieb unbewegt stehen, unfähig auch nur einen Muskel zu rühren.  

„Was ist?“, fragte Piero mit einem Auflachen, als er an mir vorbeitanzte. „Bist du zu Stein erstarrt?“ 

„Ich muss mit dir reden!“ Meine Stimme klang rau und war fast nicht zu hören. 

Pieros Bewegungen erstarben. Als Lolita ihn am Arm fasste, schüttelte er den Kopf und entwand sich ihrem Griff. 

„Ist was passiert?“, fragte er noch einmal. 

Ich riss mich von seinen Augen los, die im Feuerschein wie Gold wirkten. Sie brachten mich um jeden klaren Gedanken. Schnell drehte ich mich um und verließ den Kreis des Feuers, zog mich zurück zwischen die gaukelnden Schatten und stützte mich zitternd an der Wand eines Wagens ab. 

Was war nur los? Ich hatte recht daran getan, mich von Piero fern zu halten. Ich konnte es nicht ertragen, ihn anzusehen, ihm so nah zu sein und ihn doch nicht berühren zu können. Jedes Mal, wenn sich unsere Blicke begegneten, zerschnitt es mir das Herz. So etwas hatte ich vorher noch nie gefühlt. Wurde ich etwa verrückt? 

„Geht es dir nicht gut?“ Piero war hinter mich getreten. Ich spürte seine warme Hand auf meiner Schulter. Diese Berührung durchzuckte meinen Arm wie ein elektrischer Schlag. Wie ferngesteuert drehte ich mich um. Sein Gesicht lag im Schatten und mit einem kurzen Gebet, dankte ich Gott dafür. Ich hätte es nicht ertragen, ihn so dich vor mir zu sehen. So nah - zum Berühren nah. 

„Sag schon, Nikola!“ Seine Stimme drängte mich zu einer Antwort. Sie klang jetzt so anders als damals, als ich ihn auf dem dunklen Hof gehört hatte. Keine Sinnlichkeit schwang darin, nur Sorge und Anteilnahme. 

„Ich … ich kann nicht mehr …“ Es brach aus mir heraus, ohne dass ich die Worte in meinem Kopf bewusst geformt hatte. „Ich … ich liebe dich!“ 

Ich hörte den Satz wie ein Echo nachhallen. War es echt oder bildete ich mir das Echo nur ein? Ich konnte es nicht sagen. Ich starrte in Pieros Gesicht, das von Schatten bedeckt war und wartete auf eine Reaktion. 

Er räusperte sich, scharrte mit seinem Fuß im Staub. „Was redest du da?“ 

Ich hörte ein unsicheres Lächeln in seiner Stimme und hatte plötzlich Angst, dass er sich umdrehen und gehen würde. 

„Ich … ich habe dich gesehen, damals in dem Hinterhof. Ich … ich weiß, was du jeden Abend tust.“ Meine Stimme bebte bei den nächsten Worten, „Piero, bitte! Tu das auch mit mir!“ 

Stumm stand er mir gegenüber. Sah mich nur an. 

„Ich … schlaf mit mir.“ Schnell sprudelte mir der letzte Satz über die Lippen. Ich konnte es selbst nicht fassen, dass ich das gesagt hatte, aber nun war es raus. Das, was mir die letzten Tage schwer auf die Seele gedrückt hatte, war nun endlich ausgesprochen. Und ich meinte es wirklich ernst, das war mir in diesem Moment bedingungslos bewusst. 

„Du weißt nicht, was du da sagst!“ Er klang dabei kalt und emotionslos. „Was fällt dir ein, mir so ein Angebot zu machen? Du hast doch keine Ahnung wovon du sprichst!“  

Er drehte sich weg und ging. Einfach so verschwand er in der Dunkelheit. Und ich blieb mit all meinem Sehnen und aufgerissenen, wunden Herzen zurück. 

Benommen begann mein Hirn wieder zu arbeiten. Er hatte wirklich recht, mit dem, was er gesagt hatte. Genauso wie es mein Vater auch gewusst hatte. Es schien mir auf der Stirn zu stehen, so dass es jeder, der mir ins Gesicht sah, lesen konnte: Ich hatte von Sex keine Ahnung. Ich war dumm, ungeschickt, unerfahren und peinlich. Genau das war ich und ich wünschte mir, der Erdboden würde unter mir aufreißen und mich verschlingen. Ich schämte mich so! Verschmäht und gedemütigt stand ich da. 

Fieberhaft begannen meine Gedanken zu arbeiten. Ich musste eine Lösung finden. Die Erde würde mich nicht gnädig verschlingen und all meine Probleme beseitigen. Ich musste selbst eine Möglichkeit finden, um diese Angelegenheit zu lösen. Ich konnte nicht einfach so aufgeben. Mir musste etwas einfallen.  

Also zermarterte ich mir mein Hirn und durchdachte noch einmal seine Reaktion. Alle Beschämung strich ich dabei zur Seite. Ich musste einfach nur klar und ohne Emotionen nachdenken. 

Was war der Grund für Pieros Abweisung?  

Er mochte mich doch, das wusste ich. Und er schlief mit Männern, das hatte ich selber gesehen.  

Lag es wirklich nur daran, dass ich noch keine Erfahrung gesammelt, keine Ahnung von Sex hatte?  

Das musste es sein!  

Aber wenn es das war, was Piero störte, konnte ich dem doch ganz einfach Abhilfe verschaffen. Genau! Ich würde die Fertigkeiten und das Geschick erlangen, das nötig war, damit er sich zu mir herabließ.  

Und dass er sich zu mir unwissendem, unbeholfenem Tölpel herablassen musste, schien mir in diesem Moment mehr als einleuchtend.  

Und so entschloss ich mich für ein Vorhaben, das mein weiteres Leben unwiderruflich verändern sollte.  

Ich war fest entschlossen, den gleichen Weg wie Piero einzuschlagen und ich würde werden wie er: begehrt, erfahren und cool. Und er würde mich akzeptieren. Er würde meinem Wunsch nachkommen, ohne dass ich ihn noch einmal laut aussprechen musste. 

 


Im Darkroom

 

Ich machte mich noch in dieser Nacht auf den Weg in die Bar, zu der ich Piero vor ein paar Tagen gefolgt war. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete. Doch das hielt mich nicht davon ab, mein ängstlich klopfendes Herz zu ignorieren.  

Der blau flackernde Schriftzug der Cruising Gay Bar empfing mich und zwinkerte mir herausfordernd zu. Schnell überwand ich die Treppenstufen, öffnete die Tür und trat ein. Kein einziger Gedanke sollte mich noch an meinem Vorhaben hindern. 

Es war dämmerig, und mein erster Eindruck war der einer normalen Bar, in der sich Kollegen nach der Arbeit zu einem Feierabendbier trafen. Eine lange Theke mit Hockern, ein paar blanke Holztische, rustikale Stühle, Emailleschilder mit Reklame an den Wänden, eine glitzernde Discokugel und ein paar vereinzelte Männer, die gelangweilt in ihre Gläser stierten. Kaum hatte ich die Tür geschlossen, hoben sich ihre Köpfe. Ich fühlte mich von mindestens fünf Augenpaaren gemustert. Auch der Barmann hatte sich zu mir umgedreht und sah mir entgegen. Etwas verunsichert trat ich an die Theke und setzte mich auf einen Stuhl.  

„Na, neu hier?“, fragte er und musterte mich abschätzend. „Was darf ich dir bringen?“ 

Ich kramte in meiner Hosentasche herum und förderte ein Zweieurostück zutage. „Was bekomme ich für …“, ein Griff in meine andere Hosentasche zeigte mir, dass mein gesamtes Bargeld schon auf dem Tresen lag. Gerade machte ich mich für die demütigende Frage bereit, was ich wohl für zwei Euro bekommen konnte, als sich jemand neben mich setzte.  

„Lass stecken, Junge. Peter“, der Mann wandte sich an den Barmann, „bring uns zwei Bier.“  

Peter, der Barmann, drehte sich mit einem vielsagenden Zucken der dichten Augenbrauen um und begann das Bier zu zapfen.  

„Ich habe dich noch nie hier gesehen, Junge“, sagte der Mann und leckte sich dabei mit einer obszön anmutenden Geste über die Lippen. 

Während ich krampfhaft überlegte, was ich dem Mann für eine möglichst glaubhafte Geschichte auftischen konnte, musterte ich ihn. Er war um die Vierzig, und schien ein typisch deutscher Normalbürger zu sein: dunkelblonder Kurzhaarschnitt, Brille, groß, schlank, mit Jeans und Hemd, schien er gerade erst aus dem Büro gekommen zu sein. Es würde mich nicht wundern, wenn seine Aktentasche neben ihm stehen würde. Ich ertappte mich dabei, wie ich einen Blick zum Boden warf, doch außer seinen sauber glänzenden Schuhen war dort nichts zu entdecken. 

„Ich bin das erste Mal hier“, entgegnete ich. „Ich wohne noch nicht lange in München.“ 

„Ah“, entgegnete er und musterte mich dabei eindringlich. „Du redest gut Deutsch. Wo kommst du her, Ostblock?“ 

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin überall zu Hause.“ 

Er lachte und schob mir ein Glas Bier hin. Seine Augen funkelten. „Schön, dass es dich hierher verschlagen hat. Ich freu mich immer über neue Gesichter.“ Er prostete mir zu und leerte sein Glas bis zur Hälfte.  

Während ich an meinem Bier nippte – das musste ich mir merken: deutsches Bier war viel zu bitter – überlegte ich, wie ich den Typ überreden konnte, mit mir raus zu gehen. Wie hatte Piero es wohl gemacht? Sollte ich ihn einfach fragen? He, willst du mit mir Sex? Ich hab zwar keine Ahnung davon, aber wir werden es schon irgendwie hinkriegen. Das konnte ich doch nicht machen. Ich würde vor Scham im Boden versinken. Aber wenn ich ihm keine Hinweise darauf gab, was ich wollte, würde ich sicher noch in zwei Stunden hier sitzen und bitteres Bier trinken. 

„Trink aus, ich will dir was zeigen“, sagte er nach einer Weile und wies auf eine Tür, hinter der ein spärlich beleuchteter Gang zu sehen war. Dann stand er auf und ging auf die Tür zu. 

Was sollte das denn? Was wollte er mir denn zeigen? Nach draußen, zum dunklen Hof, ging es in die andere Richtung. Unentschlossen sah ich ihn hinterher und nahm noch einen Schluck aus meinem Glas. Ich bereute es augenblicklich. Bier! Wie konnte man so etwas nur als Genussmittel bezeichnen? 

„Junge“, Peter lehnte sich über den Tresen. „Da drin laufen keine Geschäfte, verstanden?“ 

Verständnislos sah ich ihn an. Er beobachtete mein Gesicht und ein Lächeln huschte über seine Züge. 

„Okay. Ich seh’ schon. Du machst mir keinen Ärger. Hier, nimm!“ Er schob mir etwas über die Theke. Seine Hand zog er erst weg, als ich danach griff. Es war ein silbernes Päckchen. So groß wie eine Streichholzschachtel. Der Inhalt fühlte sich weich an.  

„Benutzt das. Sicher ist sicher, hm?“ Dabei zwinkerte er mir zu und wies mit einer Bewegung des Kopfes auf die Tür zum düsteren Flur. „Letzte Tür rechts. Viel Spaß.“