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Udo Rauchfleisch

Der Tod der Medea

Ein musikalischer Mord

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Udo Rauchfleisch (Jahrgang 1942) ist emer. Professor für Klinische Psychologie an der Universität Basel und Psychoanalytiker. Er hat in verschiedenen psychiatrischen Kliniken gearbeitet und ist jetzt als Psychotherapeut in privater Praxis in Basel tätig. Publikationen u. a. zu Homosexualität und Transidentität.

 

www.udorauchfleisch.ch

 

 

 

Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,

Himmelstürmer is part of Production House GmbH

www.himmelstuermer.de

 

E–mail: info@himmelstuermer.de
Originalausgabe, März 2017

 

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

 

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage.

 

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Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik–Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

 

 

Alle hier beschriebenen Personen und alle Begebenheiten sind frei erfunden.

Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist nicht beabsichtigt.

 

 

ISBN print 978–3–86361–599–4
ISBN epub 978–3–86361–600–7
ISBN pdf: 978–3–86361–601–4

 

Jürgen Schneider,
schwuler Kriminalkommissar, leitet die Untersuchung

Mario Rossi,
Partner von Jürgen Schneider, Inhaber einer Herrenboutique

Walter Steiner,
Psychologe an einer Familienberatungsstelle, „Hobbykriminalist“

Edith Steiner,
Frau von Walter Steiner, Prokuristin in einer Privatbank

Maria Castanella,
junge Sopranistin am Theater Basel

Antonia Sianides,
exzentrische Opernsängerin am Theater Basel

Ralph Robbins,
Startenor am Basler Theater

Klaus Kuster,
Intendant des Basler Theaters

Hans Ritter,
Dirigent am Basler Theater

Sieglinde Moser,
Bibliothekarin

Claire Monsch, Margret Dunker und Jasmin Rauler,
Sängerinnen im Basler Theaterchor

Johanna Leiser,
Gardrobiere im Basler Theater

Anita Leupin, Sandra Frey,
Lesbenpaar, das mit Jürgen Schneider und Mario Rossi eine Regenbogenfamilie gründen will

Fatima,
Freundin von Anita Leupin und Sandra Frey, hat in Basel Asyl beantragt wegen Verfolgung als lesbische Frau im Irak

1.

Mit einem tiefen Seufzer ließ sich die junge Sängerin Maria Castanella in die Couch aus weißem Leder fallen. Als sie das erste Mal in dieses Zimmer ihres Freundes, des Tenors Ralph Robbins, gekommen war, hatte sie sich erschlagen gefühlt von der Protzigkeit dieses Raumes mit der großen Couchgarnitur aus weißem Leder, dem schweren Glastisch, dem neuesten Modell eines Fernsehsessels mit verstellbarem Kopf– und Fußende, dem kostbaren Perserteppich, den gestylten Möbeln und dem großen Fernsehapparat von Bang & Olufsen. Heute nahm sie jedoch nichts von all dem wahr, sondern war total erfüllt von ihren düsteren Gedanken.

Ralph hatte sich bereit erklärt, sie in der Notsituation, in der sie sich befand, für einige Tage bei sich aufzunehmen. Er setzte sich neben Maria, schloss sie in die Arme und redete ihr beruhigend zu: „Hier bist du in Sicherheit, mein Schatz. Niemand außer dem Dirigenten und dem Intendanten weiß, dass du bei mir bist. Nun ruh dich erst einmal aus. Dann wird die Welt schon wieder anders aussehen. Du musst auf jeden Fall heute Abend wieder fit sein für die zweite Aufführung der ‚Medea’“

Maria zitterte am ganzen Körper und schmiegte sich an den Freund. Ein Weinkrampf schüttelte sie, als sie an die Ereignisse des gestrigen Abends und des heutigen Tages dachte.

 

In der vergangenen Woche hatte der Intendant entschieden, dass sie, die erst 25jährige Sängerin, anstelle der erkrankten weltbekannten Sopranistin Antonia Sianides die Titelpartie in der Oper „Medea“ von Cherubini übernehmen solle. Dies war eine enorme Chance. Denn Maria hatte erst vor einem halben Jahr ihre Gesangsausbildung abgeschlossen und hatte das Glück gehabt, gleich ein Engagement am Basler Theater zu bekommen. Bisher hatte sie nur einige kleine Rollen gesungen. Und nun diese große Herausforderung!

Maria hatte sich mit enormem Eifer daran gemacht, die nicht nur gesanglich, sondern auch darstellungsmäßig schwierige Partie einzustudieren, die sie glücklicherweise in ihrem Studium schon kennengelernt hatte. Und gestern Abend war ihr das schier Unmögliche gelungen: Sie hatte eine unglaublich packende und in jeder Hinsicht überzeugende Medea gesungen, die heute in der Presse in den höchsten Tönen gepriesen worden war.

In der Neuen Zürcher Zeitung war sogar die Rede davon gewesen, dass diese Interpretation nicht einmal den Vergleich mit den berühmten Callas–Interpretationen zu scheuen brauche. Der jungen Sängerin wurde eine Weltkarriere prophezeit, und in der Basler Zeitung war der Kritiker so weit gegangen, zu schreiben: „Es ist zwar bedauerlich, dass die großartige Antonia Sianides erkrankt ist und deshalb die ersten Vorstellungen der Medea absagen musste. Im Grunde müssen wir aber für diese Erkrankung, so traurig sie für Frau Sianides selbst auch ist, eigentlich dankbar sein, hätten wir doch sonst vielleicht noch lange darauf warten müssen, Maria Castanella als unsere Primadonna assoluta feiern zu können.”

Nach diesem triumphalen Erfolg hatten der Intendant Klaus Kuster und der Dirigent Hans Ritter, Maria einen Vertrag vorgelegt, der sie auch für die nächsten Vorstellungen verpflichtete. So sehr sie sich einerseits darüber gefreut hatte, so beklommen war ihr beim Gedanken daran gewesen, wie ihre Konkurrentin Antonia Sianides darauf reagieren würde. Trotzdem hatte Maria den Vertrag unterschrieben.

Ein Schock war es dann aber für sie gewesen, als Klaus Kuster und Hans Ritter ihr einen anonymen Brief gezeigt hatten, den der Intendant erhalten hatte. Der Text bestand aus Druckbuchstaben, die aus Zeitungen ausgeschnitten und auf ein Blatt geklebt worden waren, und lautete:

 

„Ihr bejubelt als neue Primadonna assoluta ein Miststück, das diese Ehre nicht verdient. Sie ist eine ganz mittelmäßige Sängerin, ein Flittchen, das die Rolle nur durch das Bett dieses Frauenhelden Ralph Robbins ergattert hat. Sie soll sich vor mir in Acht nehmen. Ich warne sie nur einmal. Sie muss weg!”

 

Beim Gedanken an den Brief brach Maria erneut in Tränen aus und klammerte sich hilfesuchend an Ralph. „Nun beruhige dich doch, mein Kleines“, tröstete er sie. „Das ist ein Verrückter, der diesen Brief geschrieben hat. Wir alle haben schon solche Briefe bekommen. Den darfst du nicht ernst nehmen, sondern solltest über diesen Unsinn lachen.“

In Ralphs Armen beruhigte Maria sich langsam.

„Vielleicht hast du ja Recht. Es kann schon sein, dass ich diesen hässlichen Brief viel zu ernst nehme. Als bekannt wurde, dass ich bei der Premiere singen würde, gab es ja auch im Ensemble etliche Neiderinnen. Vielleicht ist die Schreiberin sogar eine von diesen Chorsängerinnen.”

„Oder er stammt aus der Feder deiner lieben Kollegin Antonia Sianides“, ergänzte Ralph. „Ihr würde ich so etwas durchaus zutrauen.”

„Das meinst du doch wohl nicht im Ernst. Sie ist sicher rasend vor Wut, dass sie die Partie bei der Premiere nicht singen konnte und ich solchen Erfolg damit hatte. Aber damit hatte ich ja im Grunde nichts zu tun. Ich bin ja nur für sie eingesprungen. Und als der anonyme Brief verfasst worden ist, wusste ja noch niemand, nicht einmal ich selbst, dass ich die Medea auch weiterhin singen werde. Antonia ist schon ein ekelhaftes Frauenzimmer. Etwas so Gemeines wie diesen Brief traue ich ihr nun aber doch nicht zu.”

„Du bist in den Intrigen des Theaterlebens noch reichlich unerfahren, mein Schatz“, meinte Ralph, die Diskussion abschließend. „Aber in einem kannst du sicher sein: Wer auch immer diesen Brief geschrieben hat, dir droht absolut keine Gefahr, erst recht nicht, wo du jetzt bei mir bist.”

„Nun schau dir deine Fanpost an“, meinte er und gab ihr einen Stoß von Briefen, die sie, als sie in Marias Wohnung ein paar Sachen für sie zusammengesucht hatten, dort vorgefunden und mitgenommen hatten. „Die werden dich auf andere Gedanken bringen. Und danach legst du dich hin und ruhst dich aus. Du brauchst deine Kräfte für die zweite Medea–Vorstellung heute Abend. Ich muss noch auf einen Sprung ins Theater und rufe dich später an. Wir treffen uns dann am besten in der Stadt und können vor der Vorstellung noch in ein Restaurant gehen und etwas essen.“

 

Als Ralph die Wohnung verlassen hatte, streckte Maria sich auf dem Bett aus. Hier fühlte sie sich sicher. Kein Mensch, außer Hans Ritter und Klaus Kuster, wusste, dass sie bei Ralph war. Und wahrscheinlich sah sie die ganze Angelegenheit wirklich zu dramatisch. Was bedeutete schon so ein lächerlicher Brief? Das waren doch nur leere Worte, übler Schmutz, mit dem jemand sie zu verletzen versuchte. Viel realistischer waren da doch die vielen Briefe, Karten und Blumen, die sie von Menschen erhalten hatte, die von ihrer Medea–Darstellung zutiefst berührt gewesen waren und ihr dafür dankten.

Und nun sogar noch eine so üppige Schachtel mit Pralinen, dachte sie und griff nach der Schachtel, die sie in ihrer Wohnung vorgefunden hatte. Am Etikett, das an der Schleife angeklebt war, erkannte Maria, dass die Pralinen aus einer der besten Confiserien Basels stammten. Neugierig öffnete sie den Brief, der an der Schleife hing. Er war in einer kleinen, zierlichen, aus irgendeinem Grund merkwürdig auf Maria wirkenden Schrift auf hauchdünnem Reispapier geschrieben und lautete:

 

„Teuerste, hochverehrte Maria Castanella,

ich war einer der Hörer, der sich so glücklich schätzen darf, Sie in der Premiere der Medea gehört zu haben. Welch ein Erlebnis! Ich habe diese Oper unzählige Male gehört, auf vielen Opernbühnen und als CDs mit den größten Interpretinnen unseres Jahrhunderts. Doch eine solche Interpretation wie die Ihre habe ich noch nie erlebt. Sie war eine wahre Offenbarung für mich. Mir fehlen die Worte, um meine Gefühle auszudrücken. Ich habe mit Ihnen, der von Schmerz und Verzweiflung erfüllten Medea, gelitten. Ich habe Ihren Rachedurst als den meinen erlebt und habe gespürt, dass die Wunde im zutiefst verletzten Herzen nur durch die Rache zu heilen ist.

Ich umarme Sie, geliebte Medea, und schicke Ihnen mit diesen Zeilen als kleines Zeichen meiner unendlichen Bewunderung und als Ausdruck meiner innigen Verbundenheit mit Ihnen die beiliegenden Pralinen. Genießen Sie jede einzelne von ihnen und denken Sie an mich wie auch Sie mir vor Augen stehen.”

 

Eine Unterschrift fehlte. Maria ließ den Brief sinken. Er berührte sie in einer merkwürdigen Weise und löste in ihr aus irgendeinem Grund geradezu ein Grauen aus. War es die überschwängliche Ausdrucksweise des Schreibers? Oder war es die vertrauliche Art des letzten Absatzes, von der Maria sich bedrängt fühlte? Sie konnte es nicht sagen. Nur eines wusste sie genau: Es lag etwas Schreckliches in diesem Brief, und es fröstelte sie, als sie sich dieser Tatsache bewusst wurde.

Wie um Trost in dieser Situation zu suchen, griff sie in die Pralinenschachtel und entnahm ihr eine der herrlich duftenden schwarzen Kugeln. Genussvoll ließ Maria sie auf der Zunge zergehen. Sie schmeckte so köstlich, dass sie nicht widerstehen konnte und eine zweite, mit weißem Puderzucker bestreute Kugel in den Mund steckte und langsam zerkaute. Plötzlich spürte sie einen bohrenden Schmerz in der Magengegend und rang verzweifelt um Atem. Sie versuchte sich aufzurichten, sank aber mit einem Röcheln wieder auf das Bett zurück und verlor das Bewusstsein.