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INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort Warum gibt es dieses Buch?
Kapitel 1 Wie bekommen Sie mehr Likes? Wenn soziale Medien den Druck erhöhen
Kapitel 2 Grüßen Sie Ihren Schönheitschirurgen auf der Straße? Warum plastische Chirurgie immer noch ein Tabuthema ist
Kapitel 3 Gehen Sie noch zum Friseur oder schon zum Chirurgen? Warum wir unseren Körper verändern wollen
Kapitel 4 Finden Sie das auch so schön? Norm und Ästhetik verstehen
Kapitel 5 Woher kommen diese Wünsche? Aus dem Praxisalltag eines Schönheits(wahn)chirurgen
Kapitel 6 Am liebsten sofort alles ändern? Warum Sie sich nach der Scheidung nicht direkt auf den OP-Tisch legen sollten
Kapitel 7 Wie kann man Leidensdruck begegnen? Mein Weg in die Schönheitschirurgie
Kapitel 8 Was haben iranische Nasen und Blackfishing mit Identität zu tun? Kulturelle Unterschiede und Diskriminierung durch Schönheitsideale
Kapitel 9 Und wie verheimlichen Sie Ihr Alter? Warum unsere Haut nichts verraten soll
Kapitel 10 Sind Sie es sich wert? Die Risiken der Beauty-OPs
Kapitel 11 Wie weit würden Sie als Promi gehen? Der Schönheitskult im Showgeschäft
Kapitel 12 Was ist ganz praktisch wirklich wichtig? Hinweise zur Orientierung vor einer Operation
Kapitel 13 Grenzen setzen – ein ethischer Kodex zum Umgang mit dem Schönheitswahn
Nachwort Wie kann es weitergehen?
Anhang Quellen

VORWORT

Warum gibt es dieses Buch?

»Glaubst du mir das? Die Brust sollte exakt die Größe einer Honigmelone haben, die hatte sie sogar dabei!«, sagte Christian, mein Kollege, auf unserem Berliner Balkon mit Blick auf den Gendarmenmarkt. Er rückte seine Brille auf der Nase gerade und war sich mal wieder sicher, die außergewöhnlichste Patientengeschichte des Tages geliefert zu haben. Wann immer wir uns auf dem Balkon unserer Praxis in Berlin treffen, geht es darum, welchen skurrilen Anfragen wir uns heute schon gegenübersahen und wie mehr oder weniger geschickt wir mit ihnen umgegangen sind.

»Stell dir vor«, sagte ich, »eine Patientin wollte, dass ich ihre Brustwarzen komplett entferne.« Ich beobachtete Christians Reaktion, wie er scharf den Atem in die kühle Luft ausstieß, sodass es fast aussah, als würde er rauchen – wie die meisten, die sich auf diesem Balkon treffen. Nur wir beide kommen dorthin, um tatsächlich frische Luft zu schnappen, die wir oft so dringend brauchen.

»Es ist schon wahnsinnig«, erwiderte er, und für einen Moment beobachteten wir still, Seite an Seite, wie eine Mutter ihren kleinen Sohn über den Markt zog und sich eine Traube von Touristen geschlossen Richtung Konzerthaus bewegte. In der Adventszeit kann man von hier aus das Treiben des Weihnachtsmarktes beobachten und im Sommer Konzerten lauschen – ein Fenster zur Realität im Wahnsinn unserer Praxisalltagsblase. Zwar nutzen wir diese gemeinsamen Momente hier, um etwas Abstand zu gewinnen, aber vor allem, um kollegiale Unterstützung zu finden. Nichtsdestoweniger können wir das Dilemma nicht vermeiden, jeden Tag aufs Neue entscheiden zu müssen, was noch »normal« ist.

»Entfernung der Brustwarzen? Warum denn das?«, fragte Christian.

Ich lehnte mich an das hohe Geländer. »Sie findet Brustwarzen einfach nicht schön. Schon das Wort ›Brustwarze‹ ruft Ekel in ihr hervor«, sagte ich.

Wieder wurden wir beide still, denn wir wissen: Hinter jeder der bizarren Geschichten steckt ernst zu nehmender Leidensdruck. Je mehr eine Geschichte zunächst zum Lachen anmutet, umso trauriger ist meist der Hintergrund, vor dem sie entstanden ist.

Gemeinsam mit meinem Kollegen Christian Roessing leite ich unter dem Namen »Metropolitan Aesthetics« zwei Praxen für plastische und ästhetische Chirurgie in Köln und in Berlin. Wenn mich jemand fragt, was ich beruflich mache, und ich antworte, dass ich plastischer Chirurg bin, polarisiert diese Aussage enorm: Entweder wird die plastische Chirurgie als Teufelswerk verschrien oder als etwas Wunderbares anerkannt, das nicht mehr wegzudenken ist. Allein das Wort »Schönheitschirurgie« scheint quasi dazu aufzurufen, das Urteil, das jeder für sich im stillen Kämmerlein und vermutlich recht schnell über diese Disziplin der Medizin gefällt hat, auszusprechen. In meiner Karriere als plastischer Chirurg habe ich gelernt, dass das frühe Urteilen und das damit oft einhergehende Verurteilen nicht förderlich ist oder sogar Schaden anrichten kann. Es ist wichtig, Patienten zuzuhören und die Geschichte hinter ihrem Leidensdruck verstehen zu können oder zumindest verstehen zu wollen. Denn rein aus Spaß kommt sicherlich niemand zu mir in die Praxis, dafür sind die meisten Eingriffe mit zu vielen Unannehmlichkeiten und Aufwand verbunden, von der finanziellen Belastung ganz abgesehen. Dass der Leidensdruck unterschiedlich groß und die Motivation hinter einem Wunsch mal mehr, mal weniger nachvollziehbar ist, macht es für mich als Arzt und auch als Dienstleister, der ich als plastischer Chirurg bin, schwieriger als für andere Ärzte, angemessene Entscheidungen zu treffen.

Unser Praxisbalkon in Berlin-Mitte ist mittlerweile der ganz zentrale Ort unseres Austausches geworden, mit Rezeptionistinnen, Schwestern, Ärzten, manchmal auch nur mit sich selbst. Alle, die hier arbeiten, erleben im Praxisalltag die wildesten, verrücktesten und manchmal auch traurigsten Geschichten. Der Balkon hat sich von allein und ungeplant zu diesem Anker im betriebsamen Tagesgeschäft entwickelt. Die Treffen dort sind nicht verabredet, sondern immer spontan. Der Austausch hilft bei der Bewertung und Einordnung des jeweiligen Problems. Zudem beruhigt es zu wissen, dass ich nicht der Einzige bin, der solche Erfahrungen macht, denn ich frage mich nicht selten: Bin ich verrückt oder sind es die anderen? Manchmal stellen Christian und ich uns vor, wie einfach das Leben wäre, wenn wir nicht jeden Tag mehrere Male entscheiden müssten, ob ein Wunsch zu absurd ist, um ihn in die Realität umzusetzen.

Wenn ich ehrlich bin, wäre unser Job deutlich unkomplizierter, wenn es klare Regeln gäbe, wie zum Beispiel, dass eine Brust nicht größer als eine Honigmelone operiert werden darf. Aber für die plastische Chirurgie gibt es keinen Katalog, in dem man mal eben nachschlagen kann, wie viele Milliliter Filler in den Lippen jetzt in Ordnung sind oder ob man Rippen herausbrechen darf, wenn die Patientin den Wunsch hegt, eine superschlanke Wespentaille zu haben. Warum aber möchte sich jemand derart wehtun und dabei seine Gesundheit riskieren, nur für eine schmale Taille? Unsere Rippen sind keine Dekoration, sie sind essenziell, weil sie unsere Organe schützen. Trotzdem sehe ich mich als plastischer Chirurg in der Verantwortung, jeden Patienten absolut ernst zu nehmen und jeden einzelnen Patientenfall individuell zu bewerten: Kann und möchte ich diesen konkreten Wunsch umsetzen oder ziehe ich hier eine Grenze und nehme den Eingriff nicht vor? Genau das ist mein Dilemma: Wo ist diese Grenze? Welchen Wunsch kann ich persönlich nachvollziehen, auch wenn er medizinisch, wie die Wespentaille, ein gefährliches Unterfangen ist? Oder, was definitiv noch schwieriger zu entscheiden ist: Was ist medizinisch machbar, aber moralisch nicht mehr vertretbar, wie möglicherweise die Brust ohne Brustwarzen? Im Prinzip kommen wir als Handwerker – ausgestattet mit Skalpell, Schere und Faden – den aktuellen Veränderungen, besonders jenen in der virtuellen Welt, häufig gar nicht mehr hinterher.

Im letzten Sommer hatte ich eine Patientin, die sich für eine Oberschenkelstraffung interessierte. Als ich ihre Schenkel sah, wusste ich zwar, warum sie den Eingriff wünschte, aber mir fehlten danach kurz die Worte. Ihre Beine waren tätowiert, von den Knöcheln bis hoch zum Schambein. Auf dem einen Oberschenkel stand ein Männername, auf dem anderen waren die Worte »Not for Jack« mit einem Pfeil tätowiert, der zur Vagina zeigte. »Ich hab ein paar Jahre in Indonesien gelebt und mein Freund ist, nun ja, etwas ärgerlich geworden, als ich eine Affäre hatte«, begann die Patientin zu erzählen. »Können Sie die Straffung so machen, dass man die Tattoos nicht mehr sieht?« Natürlich konnte ich das, getan habe ich es aber nicht, da die Patientin zum geplanten Termin nicht erschienen ist. Aus der Dienstleisterperspektive kann ich so einiges machen: von Penisverlängerungen bis zu aufgespritzten Lippen, die wie Schlauchboote aussehen. Als Arzt und als Mensch möchte ich aber nicht alles machen. Deshalb gibt es einige Operationen, die ich nicht durchführe.

Aber viel mehr bereiten mir die Patientenwünsche Bauchschmerzen, die nicht so einfach zu bejahen oder abzulehnen sind. Wann sind Lippen durch das Aufspritzen attraktiv voluminös, wann übertrieben und sogar unpraktisch, weil man nicht länger aus einem normalen Glas trinken kann?

Mir fällt auf, dass die Anfragen in letzter Zeit immer absurder werden. Es ist eine Zeit des Umbruchs, das merkt man in der plastischen Chirurgie ganz deutlich. Wenn ich mir die Wünsche und die Leiden meiner Patienten anhöre, habe ich immer öfter das Gefühl, dass wir die meiste – oder besser gesagt: die wichtigere – Zeit offensichtlich in der virtuellen Welt verbringen. Wir wollen einen so tollen Po wie Kim Kardashian haben, die über 150 Millionen Follower auf Instagram hat, oder Selina Gomez’ volle Lippen, die sie in ihren Musikvideos in die Kamera hält. Wir folgen diesen Stars in den sozialen Medien, als wären sie unsere Freunde, nur dass wir sie nie, wirklich niemals, natürlich und das heißt unperfekt sehen. Selbst #nomakeup-Selfies, die die ungeschminkte Wahrheit zeigen sollen, das authentische Ich, sind nicht hässlich, sondern nur eine weitere Variante von schön – vielleicht ungeschminkt, dafür ebenso professionell ausgeleuchtet in Szene gesetzt. Als Model reicht es heute nicht mehr, auf der Sedcard die perfekten Maße stehen zu haben. Es muss nun auch vermerkt sein, wie beliebt man ist, sprich: wie viele Follower man hat. Während es in unserer Gesellschaft statistisch mehr alte als junge Menschen gibt, sieht man in der Werbung und in Filmen fast nur junge, attraktive Frauen und Männer, als könnte man mit Menschen jenseits der 50 keinen Blumentopf mehr gewinnen. Mit sich zufrieden zu sein wird immer schwieriger. Im Dschungel der perfekten Menschen, die uns von unseren Smartphones und Laptops anlächeln, fühlt man sich schnell falsch. All die Fotos und Videos suggerieren: Nur wenn ich perfekt aussehe, bin ich erfolgreich. Schönheit ist zum Statussymbol geworden und das erzeugt massiven Druck. Der Vergleich lauert überall, und bis man das Selfie ausreichend bearbeitet hat, um es mit der Welt zu teilen, ist wieder ein Nachmittag vorbei.

Der Optimierungswahn scheint uns alle überfallen zu haben: Ein schlanker, trainierter Körper, weiße Zähne und glatte, ebenmäßige Haut sind das Ideal von heute. Während Tattoos, Bleaching und Strähnchen nicht mehr wirklich schockieren, scheint es noch immer Aufruhr zu geben, wenn über Botulinumtoxin, Hyaluronsäure und Fettabsaugen gesprochen wird. Dabei können all diese Methoden helfen, unseren Körper zu verschönern. Es ist einfach, Menschen mit einem Stempel zu versehen, wenn sie sich kosmetischen Eingriffen unterziehen. Sie werden vielfach verdächtigt, wenig intelligent zu sein oder sich nur zu leicht von Celebritys beeinflussen zu lassen. Dabei geht dem Entschluss, sich operieren zu lassen, doch meist ein lange bedachter Wunsch voraus und nicht selten auch jahrelanges Leiden. Hinzu kommt eben auch eine Beeinflussung, der wir alle mehr oder weniger ausgesetzt sind. Wir gehen vielleicht unterschiedlich damit um. Aber letztlich möchten die meisten von uns schön aussehen und dabei trotzdem nicht aus der Reihe tanzen. Einfach »normal« sein, hübsch, aber im besten Fall eben auch ohne die störende Hakennase oder ausladende Reiterhosen, denn diese sieht man auf Instagram selten.

Auch wenn vielleicht nicht alle von uns dauernd im Wartezimmer eines plastischen Chirurgen sitzen, so stehen wir doch lange genug vor dem Spiegel, um das perfekte Selfie für unseren Account zu schießen. Achtundzwanzig Versuche braucht man laut aktuellen Studien im Durchschnitt, um eines zu finden, das man mag. Wenn man es hochgeladen hat, geht es erst richtig los: Man wartet verzweifelt auf die aufploppenden Benachrichtigungen, die einem sagen, wie beliebt man ist, wie »schön« man ist. Ein Like mehr als beim letzten Foto ist ein Erfolg. Selbst Freunde von mir, die sich früher nie besonders um ihr Aussehen geschert haben, posten sich jetzt jeden Tag auf Instagram. Wir haben den Zenit der Selbstdarstellung erreicht. Oder kann es noch extremer werden?

Auf dem Balkon begann es zu regnen. Ich dachte darüber nach, warum Christian und ich uns immer nur die absurden Fakten erzählen, aber nie die Geschichten dahinter. Es wurde Zeit, zurück in den OP zu gehen.

»Wir müssen die Geschichten aufschreiben«, sagte ich. Christian nickte. Um die Hintergründe zu verstehen, das große Ganze, bedarf es doch weit mehr als zehn Minuten auf dem Balkon.

In diesem Buch möchte ich Ihnen nun diesen Backstageblick ermöglichen, Sie mit hinter die Kulissen meines Praxisalltags nehmen. Ob Mutter, Restaurantbesitzer oder Promi, sie alle sitzen bei mir im Arztzimmer und leiden unter schlaffen Brüsten, Falten oder anderen vermeintlichen körperlichen Makeln. Was sie bewegt, welche Motivation sie zu mir führt und was der aktuelle Beautyhype über jeden von uns verrät, dem möchte ich in diesem Buch auf den Grund gehen.

Dabei werden wir uns ansehen, wie vor allem die sozialen Medien den Druck auf uns erhöhen (Kapitel 1), warum meine Patienten gern die Straßenseite wechseln, anstatt mich nett zu grüßen (Kapitel 2), wie selbstverständlich Menschen heute dem Schönheitschirurgen einen Besuch abstatten (Kapitel 3), was es mit dem aktuellen Optimierungswahn auf sich hat und woher wir eigentlich wissen, was ästhetisch und was normal ist (Kapitel 4). Dafür erzähle ich Ihnen die verschiedensten Szenen aus unserem skurrilen Praxisalltag (Kapitel 5), argumentiere, warum man sich in bestimmten Lebenslagen nicht auf den OP-Tisch legen sollte (Kapitel 6) und wann ich definitiv dazu rate (Kapitel 7). Ich erkläre, inwiefern Ideale auch eine Form der Unterdrückung sein können und dass Patienten, je nach Kultur, ganz andere Vorstellungen von Attraktivität und Schönheit haben (Kapitel 8). Außerdem geht es um das Wundermittel Botulinumtoxin und warum das Älterwerden in unserer Gesellschaft manchmal kein leichtes Unterfangen ist (Kapitel 9). Warum ein »Brazilian Butt Lift« tödlich enden kann und es deshalb enorm wichtig ist zu wissen, wie man einen Facharzt findet, erläutere ich ebenfalls (Kapitel 10). Danach dreht sich alles um Prominente und wie der Körper nicht nur zum Statussymbol, sondern auch zur Geldmaschine gemacht wird (Kapitel 11). Schließlich gebe ich allen, die über eine Operation nachdenken, einen Leitfaden mit praktischen Hinweisen an die Hand, um eine fundierte Entscheidung treffen zu können (Kapitel 12). Zu guter Letzt möchte ich einen ethischen Kodex für meine Zunft vorschlagen (Kapitel 13). Nicht um klare Regeln wie die Brustgröße »Honigmelone« aufzustellen, sondern um eine Orientierung zu bieten, welche prinzipiellen und moralischen Fragen wir uns stellen sollten, bevor wir die verrücktesten Trends des Beautyhypes und die absurdesten Wünsche mancher Patienten bald in die Wirklichkeit umsetzen. In der Hoffnung, dass die Menschen auf der Straße zukünftig nicht mit zu kleinen Nasen herumlaufen, die zwar gut auf Instagram aussehen, aber ihre Funktion, das Atmen, nicht mehr erfüllen.

Um eine bessere Lesbarkeit zu gewährleisten, verwende ich im Text häufig auch dann, wenn alle Geschlechter angesprochen sind, nur die männliche Form. Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte meiner Patienten sind Namen und Berufe geändert, die Ausnahme bilden nur diejenigen Prominenten, die ich mit freundlicher Genehmigung mit vollem Namen nennen darf.

KAPITEL 4

Finden Sie das auch so schön? Norm und Ästhetik verstehen

Hatten Sie schon mal ein Blind Date? Erinnern Sie sich an den Moment, als sich die Person umdrehte und Sie sofort wussten: Das wird ein guter Abend! Um einzuschätzen, ob die Begegnung richtig aufregend wird oder höchst langweilig, braucht es nicht lange. Studien haben bestätigt: Unser Gehirn benötigt nur den Bruchteil einer Sekunde, um festzustellen, ob wir unser Gegenüber attraktiv finden oder nicht. Wir betrachten zunächst das Gesicht, bemerken vielleicht noch die Körperform und wissen gleich: Diese Person zieht mich an – oder eben nicht. Denken Sie mal an Ryan Gosling, Kevin Bacon und Sarah Jessica Parker.

Für manche ist Attraktivität ein Mythos und Schönheit etwas durch und durch Subjektives, für andere scheinen diese beiden Begriffe leicht und mit konkreten Attributen definierbar zu sein, als wären Attraktivität und Schönheit mathematische Gleichungen. Dabei wissen wir, dass Schönheit und Attraktivität nicht das Gleiche sind – wo doch meist jene Menschen, die wir attraktiv finden, auch schön für uns sind, aber lange nicht alles, was schön ist, wie zum Beispiel ein Kunstwerk, eine Landschaft oder ein Moment, auch sexuell anziehend erscheint. Attraktiv finden Menschen gewöhnlich nur andere Menschen. Es geht um die Anziehungskraft, das Sich-hingezogen-Fühlen zu bestimmten visuellen Reizen. Auch wenn diese Anziehungskraft nach dem besagten Bruchteil einer Sekunde ebenfalls durch zum Beispiel die Stimme, die einem zu kratzig klingt, oder die krumme Haltung des Gegenübers wieder flöten gehen kann. Wenn aber nur der erste Eindruck zählt, es nur um Sekunden geht, dann dreht sich alles um die Ästhetik und die spontane, visuelle Anziehungskraft. In diesem Kontext kann man Attraktivität und Schönheit als gleichgesetzt verstehen.

Forscher vertreten derzeit die Meinung, dass das, was wir ad hoc als attraktiv empfinden, sowohl natürlich angelegt ist als auch kulturell, also durch unser Umfeld und die Gesellschaft beeinflusst wird, in der wir leben. Wissenschaftler fanden sowohl »universelle« Schönheitsideale, die durch unsere Biologie bedingt, vielleicht sogar mathematisch berechenbar sind und weltweit zu gelten scheinen, als auch Schönheitsideale, die durch die Normen einer bestimmten Gesellschaft, also das kulturelle Umfeld bestimmt werden. Aber eins nach dem anderen.

Im Herbst 2019 erklärte ein plastischer Chirurg aus London, er habe die schönste Frau der Welt gefunden. Er hatte die Gesichtsproportionen vieler Models, Schauspielerinnen und anderer Damen des öffentlichen Lebens mithilfe einer Computersoftware vermessen. Das US-amerikanische Model Bella Hadid siegte, weil ihre Gesichtsproportionen zu fast 95 Prozent dem Goldenen Schnitt entsprechen. Dieses Verhältnis von Längen zueinander nutzte schon Leonardo da Vinci in der Antike für seine Zeichnung des »vitruvianischen Menschen«. Es ist das Verhältnis von Proportionen, die das menschliche Auge als besonders harmonisch und anziehend empfindet. Den Goldenen Schnitt findet man sehr häufig in der Natur. In Kunst, Architektur und Design wird er tausendfach verwendet. Er ist nicht nur im Verhältnis von menschlichen Kurven zu anderen Körperteilen zu erkennen sowie in gezeichneten Gesichtern, sondern auch im Logo der Firma Apple.

Studien konnten zudem zeigen: Wenn wir besonders symmetrische Gesichter betrachten, also zum Beispiel die Augen gleich groß sind und auf gleicher Höhe sitzen, dann springen die gleichen Belohnungssysteme in unserem Gehirn an wie wenn wir Schokolade essen, Sex haben oder Drogen konsumieren. Unser Gehirn liebt Symmetrie. Studien mit Säuglingen haben außerdem bestätigt: Wessen Gesicht symmetrische Merkmale aufweist, wird von Babys länger und aufmerksamer angesehen. Eben weil diese Präferenz schon bei Neugeborenen angelegt ist, versteht man sie als »natürlich«.

Die Gründe hierfür vermuten Forscher in der Evolution. Die visuellen Reize durch Symmetrie spielten bei der Partnerwahl eine wichtige Rolle. Evolutionsbiologisch betrachtet finden laut dem Biologen Prof. Dr. Haag-Wackernagel der Universität Basel Menschen genau diese Gesichtszüge attraktiv, weil sie unserem Unterbewusstsein sagen, dass der Mensch, der vor uns steht, sich als Embryo reibungslos und mutationsfrei entwickelt hat, die Gene also nicht aus der Reihe getanzt sind und er daher besonders resistent gegenüber Parasiten und Krankheiten ist. Einfacher ausgedrückt: Der potenzielle neue Partner wirkt auf uns besonders gesund, lebendig und fruchtbar. Beste Voraussetzungen für gesunden Nachwuchs also.

Die universellen Schönheitsideale sind interessanterweise außerdem traditionell an die biologischen Geschlechter gebunden und unterstreichen genau die Merkmale, die uns offenkundig voneinander unterscheiden. Bei dem Gesicht der Frau geht es um eine Kombination des altbekannten Kindchenschemas, vermischt mit einzelnen Merkmalen sexueller Reife: eine hohe Stirn, große Augen, aber nicht zu eng zusammenstehend, eine kleine Stupsnase und ein weiches, dezentes und rundes Kinn, kombiniert mit einem Schmollmund, da die weiblichen Lippen während der Pubertät durch hormonelle Veränderungen an Fülle gewinnen. Je voller die Lippen, desto reifer die Dame, sozusagen. Dieses Schema scheint, wenn auch nicht immer ganz bewusst, als universelles Wissen vertraut zu sein. Wer dem Schema nicht gerecht wird, versucht es vor dem Spiegel zu kreieren: Lidschatten, Concealer und Wimperntusche lassen die Augen größer wirken, Lippenstift betont einen Schmollmund, mit Rouge werden die Wangenknochen, deren klare Sichtbarkeit als attraktiv empfunden wird, in Szene gesetzt. Bei Männern ist es genau umgekehrt: Schmale Lippen werden als Zeichen eines weniger hohen Östrogenspiegels gewertet, der kantige Unterkiefer zeugt von einem erhöhten Testosteronspiegel. Hohe und gut sichtbare Wangenknochen werden bei Männern wie Frauen als attraktiv empfunden.

Das Thema Männer wurde in der plastischen Chirurgie lange vernachlässigt, umso mehr ist es heute in den Fokus auch meiner Arbeit gerückt: In meiner Praxis gibt es spezielle Sprechstunden für Männer. Dabei geht es immer häufiger um Maskulinisierungsmaßnahmen. Das heißt um Eingriffe, die dazu führen, dass man im klassischen Sinne männlicher aussieht. Besonders beliebt sind der Aufbau der sogenannten Kieferkonturlinie und des Kinns sowie Haartransplantationen. Nur wenige wissen, dass es genau wie für Frauen auch Brustimplantate für Männer gibt, die den Brustbereich muskulöser und definierter wirken lassen. Ebenso lassen sich die Waden formen und Sixpacks durch Implantate kreieren. Ein häufig genannter Wunsch ist außerdem das »High Definition Body Contouring«, bei dem mittels feinster Kanülen die Form eines Waschbrettbauchs in das Bauchfettgewebe gesaugt werden kann. Wer behauptet, nur Frauen litten unter dem Gefühl, an sich arbeiten zu müssen, um attraktiv zu sein, verkennt die Realität. Meiner Erfahrung nach sind Männer aber eher bereit, ihren Körper so zu akzeptieren, wie er ist. Zudem tun sich viele Männer schwerer damit, offen über ihre Sorgen und Wünsche zu sprechen.

Männer gelten also als attraktiv, wenn ihre Gesichter besonders viele männliche Merkmale aufweisen und gleichzeitig möglichst wenige mit Weiblichkeit verbundene Attribute ausstrahlen.

Das gilt ebenfalls für die Körperform. In den Augen der meisten Menschen sollten Frauen schlank und jugendlich sein, lange Haare haben, außerdem wird eine bestimmte Körperfettverteilung präferiert, in Form einer Sanduhr mit schlanker Taille und etwas breiteren Hüften. Hieraus haben sich die typischen Modelmaße 90-60-90 ergeben. Das insgesamt geringe Körperfett soll sich präferiert an Brüsten und Po sammeln. Ein Mann hingegen sollte groß und muskulös sein und dem Stereotyp eines Versorgers entsprechen. Doch diese Normen scheinen sich mehr und mehr aufzulösen. Der hagere, langhaarige Jared Leto wurde erst kürzlich von einer Zeitschrift zum »Sexiest Man Alive« gekrönt und weibliche Fitnessmodels der Bodybuildingindustrie sorgen für bombastische Followerzahlen in den sozialen Medien. Ich denke, dass sich hier eine neue Entwicklung abzeichnet.

Erst kürzlich besuchte ich ein neues, sehr angesagtes, veganes Restaurant an der Berliner Torstraße. Einen Tisch zu ergattern ist hier fast unmöglich, aber eine Freundin von mir und ich hatten Glück. In diesem Restaurant ist nicht nur das Essen lecker und der Aspekt der Nachhaltigkeit interessant (alle Essensreste werden in irgendeiner Form wiederverwendet), auch die Angestellten entsprechen einem neuen Zeitgeist: Bei kaum einem Menschen, der hier arbeitete, war auf den ersten Blick das Geschlecht zu erkennen. Unsere langhaarige, charmante Bedienung fiel lediglich durch ihre tiefe Stimme auf, fast alle trugen die langen Haare wild nach oben gebunden, auch die dezente, unifarbene Kleidung verriet nichts über das angeborene Geschlecht. War ich anfangs kurz irritiert, so fand ich es doch bald ziemlich entspannt, Abstand von den uns tagtäglich eingetrichterten Geschlechterrollen zu nehmen. »Gender Neutrality« ist eine spannende Bewegung, die auch zunehmend in der plastischen Chirurgie ankommt. Ein Junge darf aussehen wie ein Mädchen, eine Frau wie ein Mann, das biologische Geschlecht muss nicht unbedingt erkennbar sein. Die Bedienungen in dem Berliner Szenerestaurant sind Vorreiter dieser Entwicklung.

Noch aber macht es die geschlechterstereotypische, universelle Komponente unserer gemeinsamen Schönheitsideale fast ausschließlich dünnen, großen, vollbusigen Topmodels möglich, auf der ganzen Welt erfolgreich zu sein.

Dabei könnte man sich fragen: Ist es heutzutage überhaupt noch angemessen, unserem Gehirn zu erlauben, unser Schönheitsempfinden weiterhin von den Prämissen der Fortpflanzung dominieren zu lassen? Schließlich sind gemeinsame leibliche Kinder bei vielen Menschen gar kein Thema – sei es, weil Frauen verhüten, Männer sterilisiert sind oder Männer andere Männer lieben und Frauen andere Frauen. Zudem scheinen sich doch die Genderstereotype wie erwähnt nach und nach als Attraktivitätsfaktoren aufzulösen. Natürlich ist die Biologie nicht alles, auch unser Umfeld beeinflusst unser Schönheitsempfinden massiv.

Laut dem Schweizer Biologen Daniel Haag-Wackernagel konnten unabhängige Forscherteams in unterschiedlichen kulturellen Kontexten beweisen, dass wir Gesichter schön finden, die »normal« sind, das heißt: durchschnittlich. In sogenannten Wahlversuchen zeigte man einer Gruppe von Probanden eine große Anzahl von Porträts junger Frauen, die im Anschluss bewertet werden sollten. Dann erstellten die Wissenschaftler aus den präsentierten Porträts durch sogenanntes Morphing ein Gesicht, das die Merkmale aller Frauen im Durchschnitt zeigte. Auch dieses zusammengepuzzelte Gesicht sollte anschließend bewertet werden. Es folgte die Überraschung: Das »Durchschnittsgesicht«, das einen Querschnitt aller Merkmale zeigte, wurde deutlich positiver bewertet als die einzelnen Fotos der »echten« jungen Frauen zuvor. Die Ergebnisse ließen sich für die Bewertung von Hundegesichtern, Vögeln und sogar Uhren reproduzieren. Das goldene Mittelmaß stellte sich als besonders erstrebenswert heraus.

Zum gleichen Ergebnis kam die Soziologin Villa, die analysierte, dass wir uns in vielen Fällen nur deswegen verändern möchten, um eben »normal schön« und »schön normal« zu sein. Wir wollen gar nicht an die besondere Schönheit von Angelina Jolie heranreichen, aber eben auch nicht durch deutlich sichtbare Segelohren auffallen. Am angenehmsten kommt man durchs Leben, wenn man so »normal schön« ist, dass man weder sehr positiv auffällt noch für einen ausgeprägten Makel berühmt ist. Wieder zeigt sich: Soziale Zugehörigkeit und Anerkennung beeinflussen unser Bedürfnis nach Attraktivität und Schönheit. Die Soziologin argumentierte weiterhin, dass wir »Normales« als vertraut und Vertrautes wiederum als weniger gefährlich empfinden. »Normal« meint hier genau das, was besonders viele Teilnehmer einer Gesellschaft gemein haben und deshalb eben »normal« finden. Das gilt übrigens auch für soziale Gruppen, die über ganz eigene Schönheitsnormen verfügen, die von den Normen der umgebenden Gesamtgesellschaft abweichen können. Mitglieder passen sich oft ganz unbewusst an die internen Normen an, um ihre Zugehörigkeit zu demonstrieren.

Die Ansprüche an das Individuum verändern sich zudem, je nachdem in wessen Gesellschaft man sich befindet. Findet man sich von schönen Menschen umringt, hat man das Gefühl, man müsse sich anpassen; sind die Mitglieder der sozialen Gruppe weniger attraktiv, lehnt man sich eher entspannt zurück. Es macht einen ziemlich großen Unterschied, ob Sie sich im Berliner Berghain herumtreiben oder im idyllischen Sauerland. Besonders deswegen sind die sozialen Medien tückisch, denn sie bieten unzählige Möglichkeiten zum Vergleich mit unrealistischen Gesichtern und Körperbildern – und das nicht nur in der eigenen sozialen Gruppe, sondern auf der ganzen Welt. Auf diese Weise wächst der Druck, einem normierten Schönheitsbild zu entsprechen, ganz unabhängig davon, wo Sie leben oder mit wem Sie Ihre Zeit verbringen.

Menschen, die nach den für sie relevanten Normen nicht attraktiv sind, leiden aber nicht nur individuell je nach Selbstbewusstsein, sie sind tatsächlich benachteiligt. Denn in vielen Lebensbereichen ist Schönsein nicht nur das passende Maß, sondern bringt auch enorme Vorteile. Ein normiertes Aussehen – wie symmetrische Brüste und Gesichtszüge, eine unauffällige, gewöhnliche Nase, eine schlanke Linie und geschlechtsstereotypische Merkmale – scheint das Sozialleben real zu erleichtern, die Chancen bei der Partnersuche zu erhöhen und verspricht sogar im beruflichen Kontext Erfolge. Forscher haben bereits einen Zusammenhang zwischen Attraktivität und Erfolg im Beruf nachgewiesen. Attraktivere Menschen werden eher eingestellt und häufiger befördert. Schönere Menschen verdienen sogar mehr Geld. Der Grund des Phänomens liegt im sogenannten Halo-Effekt, einer systematischen kognitiven Verzerrung, die uns ganz schön in die Irre führen kann. Wenn wir Menschen treffen, bilden wir uns schnell eine Meinung und scheren die Eigenschaften, die wir ihnen zuschreiben, der Effizienz wegen schon mal über einen Kamm. Wir nehmen einfach an, dass die eine positive Eigenschaft, die uns ins Auge springt – zum Beispiel die Schönheit des Gegenübers – stellvertretend für alle anderen Eigenschaften der Person steht. Attraktive Menschen werden dadurch automatisch positiver bewertet, als sympathischer und als leistungsfähiger eingestuft. Die positive Eigenschaft einer Person überstrahlt all unsere weiteren Annahmen. Daher stammt auch der Name: Heiligenschein-Effekt.

Derzeit wird diskutiert, ob aus diesem Grund Bewerbungsfotos aus dem Lebenslauf verbannt werden sollen. In vielen Ländern ist es schon jetzt nicht mehr üblich, einer Bewerbung ein Foto von sich beizulegen. Ein weiterer Grund für diese neue Richtung ist eine zweite Verzerrung: der Primäreffekt. Er bedingt, dass wir uns an die erste Information, die wir verarbeiten, besser erinnern als an Informationen, die zu einem späteren Zeitpunkt auf das Gehirn einströmen. Man erinnert sich daher eher an das Gesicht eines Bewerbers als an seine im Lebenslauf beschriebenen Fähigkeiten. In Kombination mit dem Halo-Effekt ist das problematisch. Attraktive Bewerber werden öfter zum Bewerbungsgespräch eingeladen. Hübsche Kinder sahnen in der Schule bessere Noten ab. Und der Sozialpsychologe John E. Stewart fand sogar heraus, dass gegen schönere Menschen bei Gerichtsprozessen geringere Strafen verhängt werden. Tatsächlich ergibt sich daraus eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: Schlechtes Verhalten oder Fehler der Person werden ausgeblendet, weil sie nicht dem positiven Bild entsprechen, das wir uns in Sekundenschnelle zurechtgelegt haben. All diese Dinge geschehen nicht etwa, weil wir ein ethisch fragwürdiges Wertesystem entwickelt haben, sondern weil das menschliche Gehirn immer den einfachsten Weg sucht, also denjenigen, der am wenigsten Energie verbraucht.

Es ist also tatsächlich hilfreich, schön zu sein, und zwar nicht nur, wenn man als Schauspieler, Sängerin oder Model Karriere machen möchte – sondern auch als Politiker. Ein Forscherteam um den Soziologen Prof. Dr. Ulrich Rosar der Universität Düsseldorf konnte nachweisen, dass sich ein attraktives Äußeres sogar auf den Wahlerfolg auswirkt. Die über mehrere Jahre angelegte Studie beweist: Attraktivität und Wahlerfolg hängen zusammen, sowohl was die Erst- als auch was die Zweitstimme angeht. Die Forscher fanden heraus, dass Attraktivität der zweitwichtigste Faktor nach dem Bekanntheitsgrad der jeweiligen Politiker war. Als attraktivster männlicher Kandidat ging Christian Lindner von der FDP bei der letzten Bundestagswahl aus dem Rennen hervor. Auf einer Skala von 1 bis 6 erreichte er 3,43 Punkte. Bewertet worden war sein Porträt, wie die von den anderen Politikern, 12 Männern und 12 Frauen. Der Effekt zeigte sich gleichermaßen für Direktkandidaten und für Spitzenkandidaten. Ganze 6 Punkte zu erreichen ist übrigens nicht erforderlich. Es reicht völlig aus, so die Forscher, schöner als die anderen zu sein.

Die einzige Ausnahme von der Regel, dass Schönheit berufliche Vorteile bringt, beschreibt der sogenannte »Beauty is beastly«-Effekt. Da schönen Frauen auch geschlechterspezifisch positive Eigenschaften wie Einfühlsamkeit und Rücksicht zugeschrieben werden – ob sie diese Eigenschaften auch tatsächlich besitzen, ist völlig irrelevant –, haben sie in Führungspositionen noch immer die schlechteren Karten. Man unterstellt ihnen, den Anforderungen nicht gewachsen zu sein. In solchen Fällen bewirkt Schönheit das genaue Gegenteil: Ablehnung.

Während universelle Schönheitsideale überdauern, verändern sich die kulturellen unter dem Einfluss der Gesellschaft. Die Norm ist nicht statisch, weil sie immer ein Durchschnittsbild einer Gesellschaft spiegelt, das sich mit jedem Individuum verändert. Trends können entstehen und wieder gehen. Aber wonach streben wir konkret, wenn wir unglücklich in den Spiegel schauen? Geht es in der Hauptsache darum, schlank zu sein, die Maße 90-60-90, eine Waist-to-Hip-Ratio von 0,7 und einen BMI im unteren Drittel des Normalgewichts zu haben? Oder kommt es zum Beispiel ganz darauf an, in welchem Jahrzehnt wir uns im Spiegel betrachten? Schönheitsideale haben sich nämlich schon immer verändert. Allerdings machen Trends und neue Normen, bedingt durch die sozialen Medien, heute wesentlich schneller die Runde als früher und ändern sich genauso in rasendem Tempo.

2018 postete die Fitnessbloggerin Cassey Ho eine Reihe von Spiegelselfies, die sie selbst unterschiedlich bearbeitet hatte, um die westlichen weiblichen Schönheitsideale vom 15. Jahrhundert bis heute darzustellen. Die Selfies zeigen die junge Frau frontal wie von hinten in einem figurbetonten, schwarzen Badeanzug, im Hintergrund an der Wand spiegeln sich die Vorbilder ihrer Zeit: von Frauenfiguren der italienischen Renaissance über Marilyn Monroe bis hin zu den Laufstegmodels von Victoria’s Secret. Ihre eigene Figur hat sie mit Photoshop an die Schönheitsstandards der jeweiligen Epochen angepasst.

»1400–1700 – the perfect body = full, curvy«: Hauptsache füllig!

Obwohl es für die meisten nichts Neues ist, lohnt sich zur Inspiration ein Gang ins Museum, denn in der Renaissance lebten die Ideale alter Zeiten wieder auf. Was man in der Antike spannend fand, kam erneut zur Geltung. Rundliche, kurvige Körper zeugten von Wohlstand und waren dementsprechend besonders attraktiv: Das galt für Frauen wie Männer gleichermaßen, bei denen man kleine Bäuche, eine füllige Hüfte und pralle Brüste ebenso begrüßte wie ein dezentes Doppelkinn – frei nach dem Motto: Mehr ist mehr.

»1920s – the perfect body = boyish«: Bitte recht jungenhaft!

Nach einem ordentlichen Zeitsprung in die 1920er-Jahre hatte sich das Blatt vollends gewendet: Man bevorzugte androgyne Körperformen, die fast jungenhaft wirkten, mit wenig Brust, einer schlanken Linie und, im besten Fall, gar keinen Kurven. Um in Kleidern ohne Silhouette besonders schick auszusehen, banden die Frauen sich die Brüste ab. Krasser hätte das Gegenteil zu Renaissance und Barock kaum sein können.

»1950s – the perfect body = hourglass«: Willkommen zurück, Wespentaille!

Marilyn Monroe wurde zur Ikone und verzaubert auch noch heute. Wie ein Junge sah sie aber keineswegs aus. In den 1950ern wurde die Sanduhrfigur wieder zum Trend, wie es bereits um die Jahrhundertwende der Fall gewesen war. Eine schlanke Wespentaille, abgeschnürt durch ein Korsett, galt als besonders schön und weiblich. Ein etwas breiterer Brust- und Hüftumfang wurden zu dieser Zeit wieder gern gesehen. Junge Damen futterten extra viel, um dem Ideal zu entsprechen.

»1990s – the perfect body = extreme skinny«: Dünn, dünner …!

Alles änderte sich wieder in den 90er-Jahren, als das extrem Dünne plötzlich schön wurde, ob es gesund war oder nicht. Kate Moss steht mit ihrem sogenannten Heroinchic exemplarisch dafür. Wenn Wangenknochen und Schlüsselbein ausgemergelt hervorstachen, umso besser, so die Prämisse.

»Mid 90s–2000s – the perfect body = big boobs, long legs«: Barbie girl, Barbie world!