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Kapitel 14


Die Explosion erschütterte das gesamte Gebäude und blies Staub bis nach oben zur Kellertür hinaus. Lady Marbely und Claire erbleichten. Die alte Dame konnte ihr junges Mündel nur mit Mühe daran hindern, sofort nach unten zu eilen. Um sie herum erzitterten die Wände, Risse bildeten sich vom Boden bis zur Decke. Die Gemälde fielen von den Wänden und polterten die Treppe herab. Sergeant Murray schrie erbärmlich auf seinem Kronleuchter, als die Kette zwei Handbreit nachgab. Das Gebälk über ihm machte gequälte Laute, als würde es körperliche Schmerzen erleiden, was nicht sehr weit von der Wahrheit entfernt lag.

„Das Haus wird einstürzen!“, schrie Murray von seinem Kronleuchter aus. Er bewegte sich so heftig, dass er ihn in Schwingung brachte. Als die Decke von Rissen durchzogen wurde, wusste er, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Er schwang noch weiter, denn es nutzte nichts, darauf zu warten, bis er abstürzte. Wie auf einer großen Schaukel schwang er auf das Geländer der Galerie zu. Er musste springen.

Der Butler, Molly und Montgomery Carlyle kamen aus dem Keller und sahen furchtbar aus. Sie stützten sich, schienen sich gerade noch auf den Beinen halten zu können. Sein feuerfester Mantel hatte den Butler vor dem Schlimmsten bewahrt, und da er sich im letzten Moment schützend über Molly werfen konnte, waren sie beide nur leicht angesengt. Vor der Druckwelle konnte der Mantel sie allerdings nicht bewahren. Sie wurden durchgeknetet und gegen die Wand geworfen. Molly lief Blut aus einem Ohr, ihr Trommelfell war vermutlich in Mitleidenschaft ­gezogen worden. Am meisten hatte allerdings ­Montgomery abbekommen, der der Explosion am nächsten gestanden hatte. Seine Kleidung hing in Fetzen an ihm herab, er blutete aus unzähligen kleinen Wunden. Trotzdem schien er die Explosion noch am besten überstanden zu haben, denn er stützte die beiden anderen, als sie aus dem Keller stolperten.

Ray sah an ihnen vorbei und wartete auf seinen Sohn und seine Enkel. Der Durchgang blieb leer. Sein Gesicht versteinerte. Er machte einen Schritt auf den Durchgang zu, drehte sich dann zu dem Butler und Molly. Ihre Gesichter drückten Bedauern aus. Er verstand, was geschehen war. „Alle drei?“, fragte er mit erstickter Stimme.

„Es tut mir sehr leid, Mister Carmichael“, sagte der Butler.

Selbst Molly, die gewiss kein Fan des Alten war, schaute betroffen zu Boden. Ray Carmichael hatte gerade die schlimmste Nachricht seines Lebens erhalten und es schien nicht so, als würde er sich davon noch mal erholen. Alle Kraft war aus ihm gewichen, seine Haut wurde grau. Der Butler stand bereit, um ihn aufzufangen, falls es nötig sein sollte.

Oben krachte Murray gegen das Geländer und klammerte sich schnaufend fest. Er kletterte über die Querstange und eilte die Treppe nach unten, die unter seinen Schritten zusammenfiel.

„Wie kommen wir raus, die Barriere existiert noch!“, rief Claire von der Tür aus. „Wir müssen wohl warten, bis das Haus gestorben ist.“

„Bis dahin ist es längst zusammengestürzt und hat uns unter sich begraben“, stieß Murray hervor und warf sich in die Türöffnung. Auch wenn er dies vielleicht nicht erwartet hatte, drang sein Arm bis zum Ellenbogen ins Freie.

„Die Stärke der Barriere hat nachgelassen!“, rief der Butler. „Claire!“

Niemand musste der jungen Frau erklären, was sie zu tun hatte. Sie warf sich vorwärts in die Luft und flog mit ausgestreckten Armen durch den Raum. Sie traf Murray in den Rücken und stieß ihn nach draußen. Ihr eigner Schwung reichte aus, um sie mit hinaus zu befördern.

Im Eingangssaal landete der Kronleuchter krachend und klirrend auf dem Boden. Der Butler schob die beiden Frauen und Ray Carmichael zur Tür, während das Dach Löcher bekam und immer größere Teile nach unten stürzten. Der Ohrensessel und die letzten verbliebenen Möbelstücke wurden zertrümmert, die ersten Teile der Hauswand kippten nach innen.

Der Butler stellte Ray und Lady Marbely direkt vor den Durchgang. „Ich bin untröstlich, Madam“, sagte er und verpasste beiden einen kräftigen Stoß in den Rücken.

Lady Marbely fing sich jenseits der Barriere wieder und führte Ray die Treppen des Hauses nach unten. Der Türsturz hatte bisher dafür gesorgt, dass die Wand nicht komplett zusammenbrechen konnte, doch er knackte bedenklich. Der alte Mann ließ sich willig führen. Es schien ihm inzwischen völlig egal zu sein, was mit ihm geschah. Wenn sie ihn im Haus zurückgelassen hätte, wäre ihm das wohl gleichgültig gewesen.

„Jetzt bleiben nur noch wir drei“, sagte Molly zu Montgomery und dem Butler.

„Ladies first.“ James deutete eine Verbeugung an.

„Gentleman bis zuletzt“, meinte Molly Harris, und obwohl um sie herum das Haus zusammenstürzte, konnte sie sich ein Lächeln abringen. Sie stellte sich in die Tür und die beiden Männer schoben sie sanft durch die Barriere hindurch.

„Montgomery!“

Der ehemalige Geisterjäger erstarrte und drehte sich langsam um. Er hatte die Stimme sofort erkannt. Victoria stand oben auf der Galerie. Das Haus hatte sie freigegeben.

Der Butler packte ihn am Arm. „Das könnte eine Falle sein. Das Haus spielt Ihnen Victoria vor, damit Sie zu ihr kommen. Es will Sie mit sich in den Tod nehmen.“

Montgomery schüttelte seine Hand ab, machte aber keine Anstalten, zu seiner Frau zu laufen. „Nein, das ist keine Falle. Es ist meine Frau.“

Victoria wandte sich an den Butler. „Sie haben es geschwächt, aber es ist noch nicht besiegt.“

Der Butler zuckte mit den Achseln. „Ich bin bereit für eine weitere Runde.“

„Es möchte nicht kämpfen, das wollte es nie. Es wehrte sich nur, wenn es angegriffen wurde.“

„Ich kenne einige Menschen, die das anders sehen würden.“

Victoria nickte. „Das stimmt, aber nun möchte es verhandeln.“

„Was hat es wohl anzubieten?“, blaffte Montgomery wütend. „Was kann es denn, außer unschuldige Menschen festhalten?“

Victoria drehte den Kopf zur Seite, als lausche sie einer fernen Stimme. „Es kann schuldige Menschen festhalten. Wesen, die in einem gewöhnlichen Gefängnis nicht zu halten sind.“

Montgomery schnaubte. „Das ist doch lächerlich.“

„Ganz so lächerlich finde ich das nicht“, sagte der Butler und man konnte ihm deutlich ansehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Er ging rasend schnell die Möglichkeiten durch, die ein solches Angebot ihnen bieten konnte. Schließlich lächelte er. „Wir nehmen an.“

„Das kann doch nicht Ihr Ernst sein“, entfuhr es Montgomery.

„Unter einer Bedingung“, ergänzte der Butler.

Victoria lächelte. „Es kennt deine Bedingung, sie ist gewährt.“

Montgomery fiel es schwer, sich zu beherrschen. Er suchte nach Worten, um seinem Unmut Luft zu machen, doch dann fiel sein Blick wieder auf seine Frau. „Schauen Sie doch!“, rief er.

Der Butler kniff die Augen zusammen und erkannte die verschwommenen Ränder von Victorias Gestalt. Sie wurde langsam durchsichtig und winkte ihrem Ehemann lächelnd zu. Bald war sie nur noch zu erahnen und dann nicht einmal mehr das.

„Sie ist erlöst“, wiederholte Montgomery und winkte seiner Frau zum Abschied zurück. Sie erwiderte den Gruß und verschwand. Montgomery wirkte zufrieden. Plötzlich schien ihn das Schicksal des Hauses nicht mehr zu interessieren. Er wandte sich ab und ging ungehindert durch die Tür. Dann streckte er seine Hand wieder herein. Der Butler ergriff sie und wurde von Montgomery nach draußen gezogen.



„Danke“, keuchte Ray, als sie das andere Ende des Vorplatzes erreichten.

Lady Marbely steuerte ihn zu einer steinernen Sitzbank. „Ich würde ja sagen, Sie hätten für mich bestimmt dasselbe getan, aber ich glaube irgendwie nicht daran.“

Ray sagte nichts. Lady Marbely konnte nicht einmal sicher sagen, ob er ihre Worte überhaupt gehört hatte. Der Mann tauchte völlig in seine Gedankenwelt ein, die nur noch aus Verlust und Trauer bestand. Sie wandte sich wieder zum Haus und sah ihren Butler zusammen mit Montgomery die Treppen hinunterlaufen.

„Jetzt ist es auch für mich Zeit zu gehen“, sagte Montgomery Carlyle und drehte sich rasch von ihnen weg. Claire und Lady Marbely hatten noch einen Blick auf sein Gesicht erhascht. Die Haut hing schlaff herab, als sei er innerhalb weniger Minuten um Jahre gealtert. Es machte sich sofort bemerkbar, dass der lebenserhaltende Einfluss des Hauses nicht mehr vorhanden war. Aber Montgomery schien dies nicht zu stören. Er drehte der Ruine den Rücken zu und marschierte davon.

„Sollten wir ihn nicht aufhalten?“, fragte Lady Marbely.

„Haben Sie eine Idee, wie wir das anstellen sollen?“

„Es gibt einige Dinge, für die er zur Verantwortung gezogen werden müsste. Vier Leben hat das Haus heute gefordert, dazu die Mitarbeiter der Entrümpelungsfirma und wer weiß wie viele Menschen in der Vergangenheit. Wir können das nicht einfach so auf sich beruhen lassen“, sagte Lady Marbely.

Der Butler zeigte auf Montgomery, der gerade zwischen den Bäumen verschwand. „Wenn ich bedenke, wie schnell der Alterungsprozess eingesetzt hat, schätze ich, dass er sterben wird, bevor er die Grundstücksgrenze erreicht. Aber selbst wenn es länger dauert, sollten wir ihm ein paar Stunden inneren Friedens gönnen.“

„Ich denke, Sie haben recht, James.“

„Mein Handy funktioniert wieder“, sagte Claire.

Der Butler konsultierte ebenfalls sein Handy. Anrufe von Robert Linder und Seyferd waren unter anderem auf seinem Display verzeichnet. Die Mitarbeiter der neu aufgebauten Schattenchronik waren die richtigen Ansprechpartner, um hier Ordnung zu schaffen. Mit Robert Linder besprach er den Stand der Dinge. In wenigen Stunden sollte ein Spezialisten-Team vor Ort sein.

Lady Marbely zeigte auf Sergeant Murray, Ray Carmichael und Molly Harris. „Sie kümmern sich darum, James, nicht wahr? Ich möchte, dass diese Leute jede Hilfe bekommen, um die schrecklichen Ereignisse verarbeiten zu können.“

„Selbst Sergeant Murray?“, fragte Claire verwundert.

Lady Marbely drehte sich zu ihr und fasste sie an den Händen. „Auch er. Wir haben durch das Haus gerade erlebt, was Rachegelüste anrichten können. Deshalb werden diese Gefühle unser Leben nicht beherrschen. Legen Sie ihm nahe, seine Pensionierung einzureichen.“

„Gute Entscheidung, Mylady“, lobte der Butler, verbeugte sich leicht und tippte an seine Melone.

Lady Marbely nahm Claire in den Arm. „Wenn Sie uns jetzt entschuldigen, James. Claire und ich werden uns nach Hamburg begeben, um sie an der Universität einzuschreiben. Es wird Zeit, dass sie ihr eigenes Leben beginnt.“

Claire zwinkerte dem Butler hinter dem Rücken von Mylady zu und lächelte zufrieden.

„Sehr schön“, sagte der Butler. „Da wäre allerdings noch eine Kleinigkeit, die ich Ihnen erzählen müsste. Bei genauerer Betrachtung ist es auch etwas mehr als eine Kleinigkeit.“

„Sie meinen das Haus?“, erahnte Mylady. „Wir werden die Stelle versiegeln lassen und die gesamte Umgebung in ein Naturschutzgebiet verwandeln, zu dem Menschen keinen Zutritt haben. Molly wird die Verwaltung des Gebietes übernehmen, dem wir den Namen Etheridge Park geben werden.“

„Ausgezeichnete Idee.“ Er bot ihr seinen Arm, damit sie sich bei ihm einhakte, was sie stirnrunzelnd tat. Unauffällig führte er sie von den anderen weg, damit sie ihn nicht hören konnten. Sie schritten bis zu den ersten Stufen von Haus Etheridge, dann raunte der Butler ihr ins Ohr: „Mylady, darf sich Sie mit dem neuesten Mitglied von Schattenchronik bekannt machen?“


DER BUTLER
Band 8


In dieser Reihe bisher erschienen:

2401 J. J. Preyer Die Erbin

2402 J. J. Preyer Das Rungholt-Rätsel

2403 Curd Cornelius Das Mädchen

2404 Curd Cornelius Die Puppe

2405 Andreas Zwengel Die Insel

2406 Andreas Zwengel Die Bedrohung

2407 Andreas Zwengel Teneriffa-Voodoo

2408 Andreas Zwengel Das Haus Etheridge

2409 Andreas Zwengel Die Jäger



Andreas Zwengel


DAS HAUS
ETHERIDGE





Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!
Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung
ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.
Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de

© 2019 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck
Nach einer Idee von Jörg Kaegelmann
Redaktion: Andreas Zwengel
Lektorat: Dr. Richard Werner
Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati
Umschlaggestaltung: Mario Heyer
Logo: Mark Freier
Illustrationen: Jörg Neidhardt
Satz: Harald Gehlen
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-95719-512-8

Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

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