Anett Steiner

 

Zimmer Nr. 58

 

 

 

 

Twilight-Line Verlag GbR
Obertor 4
98634 Wasungen
Deutschland

www.twilightline.com
www.buch-wasungen.de

4. Auflage, 2021
eBook-Edition
ISBN 978-3-944315-20-1

© 2015 Twilight-Line Verlag GbR
Alle Rechte vorbehalten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Automatisch generierte Beschreibung

 

„Hasst du mich jetzt?“, fragte er mit einer Stimme, die so dünn war wie er selbst.

Mathilda hasste ihn nicht. Sie nahm ihre Tasche und hätte sich gern an ihm vorbei durch die Tür gedrückt, doch ihre Körperfülle ließ das nicht zu. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ihr Handrücken war voller Makeup. Die Farbe stand ihr nicht. Dennoch trug Mathilda sie immer wieder auf. Alle Fenster waren verschlossen, die Luft schwer und verbraucht. Die Vertrautheit zwischen ihr und ihrem Mann kauerte in einer schmutzigen Wohnungsecke und war eigentlich schon gar nicht mehr vorhanden. Mathilda sah sich um. Das grüne Samtsofa, der Fransenteppich, die Baumarktküche und Versandhausgardinen. Dass sie hier zusammen glücklich gewesen waren, lag lange zurück. Eigentlich mochte Mathilda weder Männer noch Sex. Unter diesen Voraussetzungen war ihre Ehe ohnehin zum Scheitern verurteilt gewesen.

„Du kannst jederzeit zu mir kommen, wenn du willst“, bot er an.

„Das will ich nicht“, antwortete sie.

Ihr Mann stand noch immer im Türrahmen und Mathilda konnte nicht vorbei. Er war klein und dünn. Sie hätte ihn einfach wegschieben können. Mit der Spitze ihres Bauches, mit einem Schwung ihres Busens. Was für ein lächerliches Bild wir abgegeben haben müssen, dachte sie. Ein dürrer, winziger Mann mit schütterem Haar und Fischaugen und ihre Mächtigkeit. Wieso hatte niemand jemals gesagt, dass diese Verbindung jeden zum Lachen brachte, weil der Anblick so traurig war?

Mathilda erinnerte sich nicht, wann sie ihren Mann zum letzten Mal nackt gesehen hatte. Das spielte auch keine Rolle mehr. Er hatte die Scheidung eingereicht. Sie sollte einer anderen Frau Platz machen. Wie passend. Platz machen. Mathilda hatte die Neue auch schon einmal gesehen. Dürr wie eine Bohnenstange, mit eingefallenen Wangen und kranker Hautfarbe. Und ebenfalls Fischaugen.

„Geh zur Seite“, sagte Mathilda.

„Ach so, ja“, stammelte er und hopste weg.

Mathilda quetschte sich durch den Rahmen. Ihre Hüften streiften das lackierte Holz zu beiden Seiten und hatten es im Laufe der Zeit abgeschmirgelt. Wenn sie weg war, konnte er ja renovieren. Es war seine Wohnung. Sie war bei ihm eingezogen, also war sie es auch, die wieder verschwinden musste. Mitgebracht hatte sie nicht viel. Ein paar Bücher, ein wenig Kosmetik, ihre Kleider. Und mehr nahm sie auch nicht wieder mit. Genau genommen ließ sie ein paar verlorene Jahre zurück, in denen sie älter geworden war, ohne Sinn. Und dicker.

„Tja dann“, er winkte unbeholfen und sah dabei aus wie eine Spinne mit seinen dürren Fingern.

„Ja, dann. Schönes Leben noch.“ Mathilde griff nach ihrer Jacke und trat ins Treppenhaus. Dort war es kühl und die Luft weniger schwer. Dennoch schwitzte sie. Sie drehte sich nicht um. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Die Fußmatte war voller Schmutz und über dem Klingelknopf befand sich ein leeres Schild. Ihr Mann hatte es also nicht erwarten können ihren Namen zu entfernen. Wie erbärmlich.

Mathilda nahm den Aufzug. Treppen mochte sie nicht, obwohl die enge Kabine keine angenehme Alternative war. Gelegentlich fragte sie sich schon, ob ihr Körpergewicht die Seile nicht zu sehr strapazierte. Aber sie mochte sich, wie sie war. Sie sah auf die Uhr, als sie das Haus verließ. Das schmale, rote Band schnitt in ihr Handgelenk. Es war zwanzig nach elf. Noch wusste sie nicht genau, wohin sie gehen sollte.

Ein Taxi mit kaputtem Auspuff hielt lärmend neben ihr an und spuckte eine dürre Frau mit Fischaugen und spitzen Wangen aus. Sie hatte zwei Koffer dabei. Es war die Neue. Ihr Mann handelte effizient und zielstrebig, das musste sie ihm lassen. Wahrscheinlich hatte er deshalb so schnell ihren Namen vom Klingelschild entfernt und war vielleicht gerade dabei, es neu zu beschriften.

Mathilda vergrub die Hände in den Manteltaschen und zögerte ins Taxi zu steigen. Sie hob ihren Blick zu den Fenstern im dritten Stock und sah, wie die Versandhausgardinen sich bewegten. Ihre Fingerspitzen ertasteten etwas Gezacktes. Es war der Wohnungsschlüssel.

„Warten Sie“, rief sie dem Taxifahrer zu und ging noch einmal zur Haustür zurück. Sie warf den Schlüssel in den Briefkasten und stellte fest, dass ihr Mann doch ein Idiot war. Hier hatte er ihren Namen noch nicht abgekratzt. Auch wenn sie noch nicht wusste, wohin sie fahren sollte, gab sie dem Taxifahrer das Signal zur Abfahrt. Sie wollte die Straße so schnell wie möglich hinter sich lassen.

„Wohin soll es gehen?“, fragte der Mann.

Mathilda drückte ihr Kinn auf die Brust, um das Gesicht des Fahrers im Rückspiegel zu sehen.

„Bringen Sie mich dorthin, wo die Bohnenstange mit den Fischaugen eingestiegen ist“, sagte sie. Vielleicht war es keine schlechte Idee, genau dahin zu gehen, wo die Neue ihres Mannes hergekommen war. Die machte es schließlich auch nicht anders.

Der Fahrer nickte. Im Taxi roch es nach Schweiß, billigem Deo und Kaffee. Die hinteren Fenster waren beschlagen, schließlich regnete es seit Tagen. Auf dem Sitz klebten Hundehaare. Das Radio murmelte Unverständliches. Mathilda lehnte sich zurück und schloss die Augen. Der Motor surrte leise, der Auspuff lärmte unter ihr. Die Sitzbank war nicht wirklich bequem, sie bot nicht genug Platz für sie und ihre Tasche. Mathilda spürte, wie der Schweiß ihr Haar im Nacken befeuchtete und dann ihren Rücken hinablief. Es fiel ihr schwer Enge zu ertragen, doch mit dem Taxi verhielt es sich wie mit der Kabine eines Aufzuges. Es war ein notwendiges Übel. Solange sie die Augen geschlossen hielt, bekam sie keine Platzangst.

Als das Taxi anhielt, blickte Mathilda wieder auf ihre Uhr mit dem roten Band. Zwanzig Minuten waren vergangen.

„Da wären wir.“ Der Fahrer drehte sich zu ihr um, deutete aufs Taxameter und streckte die Hand nach Bargeld aus. Sie orientierte sich, während sie Münzen in seine tellergroßen Hände fallen ließ.

„Stimmt so“, erklärte sie.

Der Fahrer zählte das Geld nach.

„Da fehlt noch was.“

„Stimmt so“, wiederholte Mathilda und kletterte aus dem Auto. Die Stoßdämpfer knarrten. „Hätte ich gewusst, dass sie mich zum Bahnhof fahren, hätte ich auch den Bus nehmen können.“

„Sie wollten da hin, wo die Dame vor Ihnen eingestiegen ist.“ Er steckte sich ein Streichholz zwischen die Lippen und begann darauf herumzukauen. Dann deutete er auf das Hotel gegenüber.

„Schon gut.“ Sie warf die Tür zu und schlug aufs Dach des Taxis, wie sie es in Filmen gesehen hatte.

Das Hotel befand sich in Sichtweite des Bahnhofes. Wie lange hatte die Neue ihres Mannes hier gewohnt? Es war ein gutes Hotel. Sauber und nicht billig. Wie oft mochte er hier mit der Bohnenstange abgestiegen sein, während Mathilda auf ihn gewartet hatte und das Essen kalt wurde? Langsam ging sie über die glatten, hoch gewölbten Pflastersteine. Mit den Absätzen blieb sie in den Fugen zwischen den Steinen stecken. Wie das Hotel hieß, hatte sie vergessen. Sie konnte es auch nicht lesen, weil Maler die Fassade erneuerten. Der Schriftzug war von einer gelben Plane verdeckt, die sie an Regenmäntel von Kindern erinnerte. Kinder. Ob ihr Mann mit der Neuen Kinder haben wollte? Mathilda hatte er nie danach gefragt. Vielleicht weil sie Sex nicht mochte.

Sie betrat das Hotel. Der Tresen war nicht besetzt, aber es gab eine Klingel, die fast gänzlich unter ihrer fleischigen Hand verschwand.

„Sie wünschen?“, fragte die Empfangsdame, die mit einer Dose Kekse um die Ecke kam. Mathilda mochte sie sofort, denn sie hatten annähernd die selbe Kleidergröße.

„Ein Zimmer, was sonst?“

Die Empfangsdame nickte und schlug das Belegungsbuch auf.

„Hatten Sie reserviert?“

Mathilda schüttelte den Kopf.

„Aber ich hätte gern das gleiche Zimmer wie die dürre Frau, die vor einer Stunde hier ausgecheckt hat.“

Die Empfangsdame schaute fragend. Auf ihrer Weste prangte ein Schild mit dem Namen „Emanuella“. Mathilda schmunzelte. Dieser blumige Name passte ebenso wenig zu der massigen Frau wie der kleine spitze Mund.

„Eine dürre Frau mit hohlen Wangen. Bestimmt erinnern Sie sich an sie“, fügte Mathilda hinzu. „Ein genauso dünner Mann hat sie manchmal hier besucht.“ Mathilda riet nur, aber etwas sagte ihr, dass sie damit rechtbehalten würde.

Emanuella nickte.

„Diese Dame hatte Zimmer 58.“

„Das nehme ich auch. Zimmer 58.“

Die Empfangsdame streckte sich und gelangte nur mit Mühe an den Schlüssel, der an einem Nagel vor einer mahagonifarbenen Holzwand hing.

„Wie lange wollen Sie bleiben?“

Mathilde nahm den Schlüssel. Er fühlte sich klebrig an, die Zacken bohrten sich spitz in ihre Hand. Wie lange sie bleiben würde? Sie wusste es selbst nicht. Eine Auszeit, nur für ein paar Tage. Für eine Weile konnte sie es sich leisten. Sie würde darüber nachdenken, wie ihr Leben weitergehen sollte.

„Wie lange ich bleiben werde, weiß ich noch nicht. Vielleicht eine Woche. Vielleicht zwei.“

Die Empfangsdame studierte Mathildas Ausweis und zog sich die Brille auf die Nasenspitze. Sie nahm zur Kenntnis, dass ihr neuer Gast nicht etwa eine Fremde war, sondern hier aus der Stadt kam. Doch selbst wenn es sie interessierte, warum Mathilda in ein Hotel zog, fragte sie nicht.

Das zweite Mal an diesem Tag stieg Mathilda in einen Fahrstuhl. Sie fuhr bis in die fünfte Etage. Zimmer Nummer 58 lag ganz am Ende des Ganges. Hier gab es keine Fenster, nur Neonlicht. Das verbliebene Gesichtsmakeup auf ihrem Handrücken leuchtete gespenstisch. Mathilda schloss die Tür auf und drückte die goldene Klinke nach unten. Seltsamerweise kribbelte es dabei ihn ihrem Bauch. Sie schob sich durch die Tür und stellte die Tasche ab. Ein kleiner Flur, in dem sich die Tür zur Toilette befand, führte ins eigentliche Zimmer. Es hatte große Fenster mit roten Übergardinen. Rote Gardinen, ein Doppelbett, einen Sessel mit rotem Überwurf. An der Wand ein Bild mit Blüten von rotem Mohn. Mathilda hatte nichts gegen Rot. Sie setzte sich aufs Bett. Es knarrte. Aber das wunderte sie nicht. Alle Betten knarrten, wenn sie sich daraufsetzte. Und wenn sie sich des Nachts drehte, quietschten sie noch dazu.

Sie drückte ihren Kopf ins Kissen. Es roch nicht nach ihrem Mann. Es roch nach nichts. Vielleicht sollte sie aufhören von dem Dürren mit den Spinnenfingern als ihrem Mann zu reden. Er hatte die Scheidung eingereicht. Er wollte nicht mehr ihr Mann sein. Nun, welcher Mann war schon auf Dauer damit zufrieden, nur die Wäsche gewaschen und das Essen gekocht zu bekommen? Männer wollten auch andere Dinge. Dinge, die Mathilda nicht mochte. Es war nicht so, dass sie keine Fantasien hatte. Ganz im Gegenteil. Aber die Realität hatte sie bisher immer enttäuscht. Mathilda drehte sich auf den Rücken und starrte die Zimmerdecke an. In der Lampenschale lagen zwei tote Fliegen. Ein kleiner Riss zog sich diagonal durch die weiße Farbe. Die Ecken waren gelblich von Heizungsluft und Zigarettenqualm. Außerdem deutete der Aschenbecher darauf hin, dass es ein Raucherzimmer war, dabei hatte Mathilda geglaubt, Rauchen sei in Hotelzimmern grundsätzlich verboten. Sie selbst rauchte nicht. Davon wurde sie blass. Zu der kranken Hautfarbe der Neuen passte das Raucherzimmer jedoch gut.

Vom Bett aus konnte Mathilda direkt auf den Kleiderschrank schauen. Die mittlere Tür war verspiegelt. Wie lange war das eigentlich schon aus der Mode? Sie räkelte sich hoch und lehnte sich mit dem Rücken an die halbhohe Stirnwand des Bettes. Sie betrachtete sich im Spiegel. Der Busen, der über ihre Bluse hinausquoll, war wirklich schön. Aber ihr Makeup war schrecklich verschmiert. Sie sah aus wie ein Clown mit einem lachenden und einem weinenden Auge.

Wer wohl alles schon in diesem Zimmer gewohnt, in diesem Bett geschlafen hatte? Ihr Mann und die Neue, hatten sie sich hier geliebt, wo sie jetzt lag? Wahrscheinlich. Mathilda stellte sich zwei dürre, blasse Körper vor und ihr wurde übel davon.

Das Hotel gab es schon viele Jahre. Mathilda erinnerte sich, dass es einmal in den Schlagzeilen gewesen war, weil sich hier ein Mord ereignet hatte. Oder ein Selbstmord. Sie wusste es nicht mehr genau. Wenn jeder Gast im Schnitt nur zwei Tage blieb, waren das hundertfünfzig Menschen pro Jahr in diesem Bett. Wenn man genauer darüber nachdachte, war das eklig. Vor allem dann, wenn man im Schlaf schwitzte, so wie Mathilda. Der Gedanke war erregend und abstoßend zugleich. Aber warum dachte sie ausgerechnet jetzt und hier an nackte, schwitzende Körper? Vielleicht weil es ein anonymer Ort war. Fremde Körper, unbekannte Gesichter, so wie in ihren Fantasien.

Im Moment hatte sie andere Probleme. Das Wichtigste war ein guter Job, damit sie für sich selbst sorgen konnte. Und den hatte sie. Seit Jahren arbeitete sie als Konditorin in einer Großbäckerei. Ihr Gehalt war nicht atemberaubend, aber ausreichend. Und in der Zeit, als sie mit dem Spinnenfingrigen zusammengelebt und sich die Kosten mit ihm geteilt hatte, hatte sie eine Kleinigkeit gespart. Aus diesem Blickwinkel betrachtet ging es ihr sehr gut und während sie darüber nachdachte, dass sie ein freier Mensch mit freien Gedanken war, riss vor den Fenstern die Wolkendecke auf. Der tagelange Regen hatte ein Ende gefunden und die ersten Sonnenstrahlen des Frühjahrs drangen durch das streifenfreie Fenster. Sie warfen Schatten auf Mathildas Dekolleté.

Mathilda betrat das Badezimmer, um ihr verschmiertes Makeup zu entfernen. Der Spiegel war nur klein und es gab keine Wanne, dafür eine Dusche ohne Trennwände. Natürlich fand sie nichts, was die Neue nach ihrem Aufenthalt hier zurückgelassen hatte. Die Zimmermädchen hätten es längst weggeräumt. Ob es auch Männer in diesem Job gab? Männer, die Betten aufschüttelten, Handtücher wechselten und das Ende von Toilettenpapierrollen zu einer Spitze falteten? Auf der Spiegelablage fand sie Seife, ein Glas und eine Einweg-Zahnbürste. Der Wasserhahn war sauber, nirgends ein Kalkfleck. Er quietschte etwas beim Aufdrehen, doch nur ganz am Anfang. Kühles Wasser lief ins Becken und Mathilda tupfte sich etwas davon in ihren Ausschnitt. Es prickelte angenehm erfrischend und sie kicherte. Wann hatte sie eigentlich das letzte Mal gelacht?

Sie mischte heißes Wasser dazu und schäumte Seife zwischen ihren Händen auf. Damit entfernte sie das maskenhafte Makeup, damit sie endlich wieder sie Selbst sein konnte. Niemand konnte sie hier sehen. Dieses Zimmer war ihre Burg für den Rest des Tages.

Sie breitete den Inhalt ihrer Tasche auf dem Bett aus. Außer ein paar Kleider und ihre Bücher hatte sie nichts mitgenommen. Nicht einmal an Handtücher hatte sie gedacht. Zum Glück gab es die hier vom Haus.