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Tanja Betz, Stefanie Bischoff, Nicoletta Eunicke,
Laura B. Kayser, Katharina Zink

Partner auf Augenhöhe?

Forschungsbefunde zur Zusammenarbeit
von Familien, Kitas und Schulen
mit Blick auf Bildungschancen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2017 Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh

Verantwortlich: Antje Funcke, Mirjam Stierle

Lektorat: Helga Berger, Gütersloh

Herstellung: Sabine Reimann

Gestaltung und Satz: Visio Kommunikation GmbH, Bielefeld

Umschlaggestaltung: Elisabeth Menke

Umschlagabbildung: Veit Mette (Junge), Image Source (Tafel)

Illustrationen: Klaus Pitter, Wien

Druck: Hans Kock Buch- und Offsetdruck GmbH, Bielefeld

ISBN 978-3-86793-789-4 (Print)

ISBN 978-3-86793-815-0 (E-Book PDF)

ISBN 978-3-86793-816-7 (E-Book EPUB)

www.bertelsmann-stiftung.de/verlag

Inhalt

Vorwort

1Ausgangspunkt und Ziel des Buches

2Das Ausgangsproblem: Bildungsbezogene (Un-)Gleichheit und (Un-)Gerechtigkeit

2.1Versuch einer begrifflichen Klärung

2.2(Un-)Gleiche Bildungschancen und Bildungsungleichheit in Kindertageseinrichtungen und Grundschulen

2.3Theoretischer Rahmen: Soziale und generationale Ungleichheit

2.3.1Soziale Ungleichheit mit Bourdieu: Sozial positionierte Akteure und das Bildungssystem

2.3.2Generationale Ordnung, Agency, Kindheit und Ungleichheit

3Entstehung und Reproduktion von Bildungsungleichheit – Entschlüsselung multikausaler Zusammenhänge

4Die aktuelle Debatte zu Elternbeteiligung, Zusammenarbeit und Bildungs- und Erziehungspartnerschaft mit Familien in Deutschland

4.1Ergebnisse der Dokumentenanalyse zur rechtlichen Verankerung von Zusammenarbeit und Partnerschaft in den Gesetzen des Bundes und der Länder

4.2Zusammenarbeit in den Bildungs- und Erziehungsplänen der Länder: Empirische Befunde

4.3Befunde zum Konstrukt Bildungs- und Erziehungspartnerschaft in praxisbezogenen Fachzeitschriften

5Internationale und nationale Befunde aus wissenschaftlichen Studien zur Zusammenarbeit

5.1Die Recherche: Vorgehen und Darstellung der Befunde

5.1.1Vorgehen bei der Recherche

5.1.2Einführung: Das Konzept Elternbeteiligung/Parental Involvement (PI)

5.1.3Einführung: Das Konzept Partnerschaft/Partnership

5.1.4Darstellung der Befunde

5.2Eltern und Fachkräfte: Zusammenarbeit im Elementarbereich

5.2.1Perspektiven und Handeln von Eltern

5.2.2Perspektiven und Handeln pädagogischer Fachkräfte

5.2.3Verhältnisbestimmungen: Eltern und Fachkräfte

5.3Eltern und Lehrkräfte: Zusammenarbeit im Primarbereich

5.3.1Perspektiven und Handeln von Eltern

5.3.2Perspektiven und Handeln von Lehrkräften

5.3.3Verhältnisbestimmungen: Eltern und Lehrkräfte

5.4Das Konzept Parental Involvement (PI): Unklarheiten, Widersprüche und Forschungslücken

5.5Das Konzept Partnership: Unklarheiten, Widersprüche und Forschungslücken

6Perspektiven und Positionen von Kindern: Zusammenarbeit im Elementar- und Primarbereich

7Ertrag der Analyse und Forschungslücken

8Ausblick

Literaturverzeichnis

Anhang

Anhang 1: Beiträge aus praxisorientierten Fachzeitschriften

Anhang 2: Bildungs- und Erziehungspläne

Anhang 3: Übersicht über (inter-)nationale Studien zum Themenfeld Elternbeteiligung, Zusammenarbeit und Partnerschaft

Die Autorinnen

Abstract

Vorwort

In Deutschland sind die Chancen von Kindern und Jugendlichen auf Bildung und Teilhabe ungleich verteilt – nach wie vor hängt ihr Erfolg im Bildungssystem sehr stark von ihrer familiären Herkunft ab. Dieser Befund bestätigt sich seit Jahren in allen Bildungsberichten. Auch wenn sich inzwischen positive Entwicklungen aufgrund der Reformen im Bereich der Kindertageseinrichtungen und Schulen zeigen, kann von Chancengerechtigkeit im deutschen Bildungssystem noch nicht die Rede sein. Vielmehr erweist sich das Problem der Bildungsungleichheit als besonders vielschichtig, komplex und hartnäckig.

Offensichtlich gelingt es bisher nicht, die Mechanismen zu identifizieren und zu durchbrechen, durch die für manche Kinder und Jugendliche herkunftsbedingt Barrieren auf ihrem Bildungsweg entstehen. Gleichwohl spielt die Schnittstelle von Bildungsinstitution und Familie in der bildungs- und sozialpolitischen Diskussion der letzten Jahre nur eine nachrangige Rolle. Auch wissenschaftlich wird hierzu zumindest in Deutschland noch kaum geforscht, obwohl genau da, wo Eltern, Kinder und Fach- und Lehrkräfte aus Kindertageseinrichtungen und Schulen miteinander in Kontakt treten und beide Lebenswelten aufeinandertreffen, wechselseitig Erwartungen und Enttäuschungen entstehen, die auch zum Aufbau und zur Verfestigung von Barrieren für Kinder und Jugendliche führen können.

Seit einigen Jahren wird unter dem Label der »Bildungs- und Erziehungspartnerschaft« in Politik und in Fachkreisen eingefordert, dass sich Eltern einerseits sowie Fach- und Lehrkräfte in Kindertageseinrichtungen und Schulen andererseits partnerschaftlich und auf Augenhöhe begegnen sollen. Die dahinterstehende Idee ist, dass eine gute und intensive Zusammenarbeit mit Müttern und Vätern dazu beitragen kann, die Bildungschancen von Kindern zu verbessern. Viele Kindertageseinrichtungen und Schulen arbeiten heute schon intensiv daran.

Die Vorstellung von »Partnern auf Augenhöhe« ist allerdings ein Idealbild: Es wirft Fragen auf und kann Akteure auch unter Druck setzen. Können Eltern und Pädagogen, die jeweils sehr unterschiedliche Rollen, Positionen und auch Machtbefugnisse haben, sich wirklich als gleichberechtigte Partner begegnen? Ist eine konsens- und harmonieorientierte Kommunikation immer gut? Und welche Rolle spielen bei der Idee eigentlich die Kinder und Jugendlichen – sind sie auch Partner?

Diese wenigen Fragen machen bereits deutlich, dass die Schnittstelle zwischen Bildungsinstitution und Familie vor allem empirisch näher in den Blick genommen werden sollte. Das ist das Ziel dieses Buches. Die Kindheitsforscherin und Erziehungswissenschaftlerin Prof. Dr. Tanja Betz und ihre Kolleginnen von der Goethe-Universität Frankfurt am Main haben darin herausgearbeitet, wie das Thema Zusammenarbeit und Partnerschaft rechtlich, bildungs- und sozialpolitisch, aber auch in der Fachdiskussion gerahmt wird. Erstmalig liegt hiermit ein umfassender Überblick über den Stand der Forschung im In- und Ausland zu diesem Themenkomplex vor, der insbesondere die Mikroebene des konkreten Handelns von Fach- und Lehrkräften, Eltern und Kindern in den Fokus rückt. Darüber hinaus untersuchen die Autorinnen die bisher vorliegenden Befunde zu den Wirkungen von Bildungs- und Erziehungspartnerschaften und Elternbeteiligung auf die Bildungserfolge der Kinder. Sie kommen dabei zu dem Ergebnis, dass die häufig angeführte positive Wirkung von Elternbeteiligung auf den Bildungsweg der Kinder bisher nicht ausreichend empirisch belegt werden kann.

Die Forscherinnen aus Frankfurt arbeiten in ihren Analysen deutliche Forschungslücken im Themenfeld Zusammenarbeit zwischen Bildungsinstitution und Familie heraus und leiten zahlreiche Problem- und Handlungsfelder ab. Zudem gelingt es ihnen, Zusammenhänge zwischen der Entstehung von Bildungsungleichheit bzw. Barrieren für Kinder und der Gestaltung der Schnittstelle von Bildungsinstitution und Familie herzustellen.

An diesen Themen und blinden Flecken der Forschungslandschaft wird das Kooperationsprojekt »Kinder zwischen Chancen und Barrieren – Wie Eltern, Kinder, Kita & Schule interagieren« der Goethe-Universität Frankfurt am Main und der Bertelsmann Stiftung in den kommenden Jahren weiterarbeiten. Dazu werden in einem qualitativen Forschungsdesign die Vorstellungen und Perspektiven der Kinder, Mütter und Väter, der Grundschullehrkräfte sowie der frühpädagogischen Fachkräfte mit Blick auf Zusammenarbeit untersucht.

Ziel des Projektes und unserer Arbeit ist es, mehr über die Gestaltung der Interaktionen an der Schnittstelle von Bildungsinstitution und Familie zu erfahren. Wir wollen Einblicke gewinnen, warum sich an dieser Stelle für manche Kinder Barrieren aufbauen, während sich für andere Chancen eröffnen. Diese Erkenntnisse sollen dazu beitragen, wirksame Maßnahmen zum Abbau von Ungleichheit zu ergreifen. Dazu werden Handlungsempfehlungen für die Gestaltung der Zusammenarbeit von Eltern, Kindern, Fach- und Lehrkräften abgeleitet, insbesondere in Bezug auf die notwendigen Rahmenbedingungen für gute Interaktionen in Kindertageseinrichtungen und Grundschulen. Ergänzend kommen auch Reformvorschläge mit Blick auf die Aus- und Weiterbildung der Fach- und Lehrkräfte sowie die pädagogische Praxis hinzu. Damit können wir einen weiteren wichtigen Baustein beisteuern, der zu fairen Bildungs- und Teilhabechancen für alle Kinder beiträgt.

Dr. Jörg Dräger

Anette Stein

Mitglied des Vorstands

Director

der Bertelsmann Stiftung

Programm Wirksame Bildungsinvestitionen

 

der Bertelsmann Stiftung

1Ausgangspunkt und Ziel des Buches

Kinder wachsen in Deutschland in andauernden Ungleichheitsverhältnissen auf, die sich in vielen Teilbereichen der Gesellschaft zeigen. Die vorliegende Publikation konzentriert sich auf die Ungleichheiten innerhalb des deutschen Bildungssystems; sie werden in der fachlichen Diskussion insbesondere nach sozialer Herkunft/Schichtzugehörigkeit, Migrationshintergrund, Geschlecht und Region/ Bundesland differenziert und analysiert.

Seit mehreren Jahren wird durch institutionalisierte Berichtssysteme auf diese Ungleichheiten hingewiesen, die mit weiteren Ungleichheiten im Leben von Kindern verknüpft sind, zum einen beispielsweise mit Armutslagen (u. a. Laubstein, Holz und Seddig 2016) und zum anderen mit nachweisbaren Folgen für ihre zukünftigen Bildungs- und Arbeitsmarktchancen bzw. Lebenschancen in der Erwachsenengesellschaft. Zu diesen Berichtssystemen gehören unter anderem der Länderreport Frühkindliche Bildungssysteme (Bock-Famulla, Lange und Strunz 2015) oder der nationale Bildungsbericht (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016), der die Bereiche von der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung über die allgemeinbildende Schule und nonformale Lernwelten im Schulalter bis hin zur Weiterbildung und dem Lernen im Erwachsenenalter umfasst. Auch die Kinder- und Jugendberichte der Bundesregierung (zuletzt BMFSFJ 2013) zeigen in regelmäßigen Abständen und mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen Ungleichheiten im Kinderleben und in den Bedingungen des Aufwachsens auf, unter anderem im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe. Hinzu kommen groß angelegte quantitative und international vergleichend angelegte Studien wie IGLU oder PISA, die ebenfalls soziale, ethnische, geschlechtsspezifische und regionale Disparitäten in der Bildungsbeteiligung und den Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern dokumentieren. Im Vergleich der OECD-Staaten schließlich wird problematisiert, dass es in Deutschland nach wie vor einen überdurchschnittlich starken Zusammenhang von Herkunftsfaktoren und Chancen auf Erfolg im Bildungssystem gibt (exemplarisch OECD 2016).

Aufgrund der gut belegten und in der Öffentlichkeit breit wahrgenommenen Problematik wurden zahlreiche Bildungsreformen, Programme und Initiativen auf den Weg gebracht, die – zumeist neben anderen Zielen – dazu dienen sollen, die genannten Bildungsungleichheiten zu vermindern und abzubauen. Zu denken ist etwa an die Einführung der Ganztagsschulen in Deutschland oder an die Implementierung von Sprachstandsfeststellungsverfahren im vorschulischen Bereich, an Initiativen wie »Bildung durch Sprache und Schrift (BiSS)« oder das Programm »Elternchance II – Familien früh für Bildung gewinnen«. Auch zahlreiche Initiativen zur Steigerung der Qualität in den Kindertageseinrichtungen gehören dazu.

Die Reformen und Maßnahmen setzen dabei auf unterschiedlichen Ebenen an. Es geht um

die Veränderung der Strukturen (Stichworte: Strukturqualität; Organisationsentwicklung), der Rahmenbedingungen und des Finanzierungssystems,

die Ausweitung des Angebots, auch für jüngere Kinder (u. a. Krippenausbau), für Kinder und ihre Eltern (u. a. Familienzentren, Elternbildungsangebote) sowie für Kinder mit Deutsch als Zweitsprache (u. a. Sprachförderung),

die Vernetzung und Kooperation zwischen verschiedenen Institutionen (z. B. Übergangsgestaltung, Kooperationsvorhaben; Bildungs- und Erziehungspartnerschaft im weiteren Sinne siehe Stange 2012),

die Qualifizierung der pädagogischen Fach- und Lehrkräfte; dazu können Reformen in der Ausbildung (Akademisierung) sowie die Intensivierung der Fortbildung für die pädagogisch Tätigen gezählt werden (Stichwort: Professionalisierung; Orientierungs- und Prozessqualität).

Trotz zahlreicher Maßnahmen und zum Teil bereits seit Jahren praktizierter Programme ist die Diagnose deutlicher Bildungsungleichheiten in unterschiedlichen Bereichen des Bildungssystems auch im Jahr 2017 immer noch zutreffend. Es besteht somit nach wie vor Handlungsbedarf, wenn es darum geht, Disparitäten zu vermindern und Ungleichheiten abzubauen.

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Zusammenarbeit und Bildungs- und Erziehungspartnerschaft als Maßnahme zum Abbau von Ungleichheit

Im Zuge der vielfältigen und sehr unterschiedlich gelagerten Bemühungen, Bildungsungleichheiten zu vermindern und allen Kindern gleiche (Start-)Chancen zu ermöglichen, wird seit geraumer Zeit insbesondere auf (fach-)politischer, aber auch auf handlungsfeldbezogener und zum Teil wissenschaftlicher Ebene eine Bildungsund Erziehungspartnerschaft zwischen Familien und Kindertageseinrichtungen bzw. Grundschulen eingefordert. Bildungs- und Erziehungspartnerschaften – und damit die Zusammenarbeit zwischen Bildungsinstitution und Familie – gelten neben den bereits skizzierten Ansätzen als eine zentrale Antwort auf die Frage, wie bestehende (Bildungs-)Ungleichheiten vermindert werden können. Die Zusammenarbeit wird, auch als Bildungs- und Erziehungspartnerschaft, prominent in den Bildungs- und Erziehungsplänen der Bundesländer vorgeschrieben. Ebenso ist die Partnerschaft in Teilen in den Schulgesetzen der Länder und den Gesetzen zur Kindertagesbetreuung verankert; sie hat Eingang gefunden in zahlreiche Leitlinien und Leitbilder von Trägern, Kindertageseinrichtungen und Schulen sowie in die Aus- und Fortbildungsunterlagen für (angehende) pädagogische Fach- und Lehrkräfte. Praxisorientierte Fachzeitschriften, die sich an pädagogische Fach- und Lehrkräfte, Leitungen, Träger und Behörden sowie an Eltern und die interessierte (Fach-)Öffentlichkeit richten, befassen sich ebenfalls intensiv mit dem Thema Zusammenarbeit als Bildungs- und Erziehungspartnerschaft.

In der vorliegenden Publikation steht im Zusammenhang mit der Beobachtung gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse das Themenfeld1 Elternbeteiligung, Zusammenarbeit und Bildungs- und Erziehungspartnerschaft mit Familien im Fokus, wobei der Schwerpunkt auf Kindertageseinrichtungen und Grundschulen gelegt wird. Aus einer erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Perspektive wird somit die Schnittstelle von Bildungsinstitution und Familie genauer betrachtet: Wie soll sie gestaltet sein? Wie wird sie gestaltet? Welche Konsequenzen bzw. Effekte ergeben sich hieraus jeweils für die unmittelbar beteiligten Akteure, also die pädagogischen Fach- und Lehrkräfte, Eltern sowie Kinder?

Die Betrachtung dieser Schnittstelle ist unter zwei Gesichtspunkten besonders interessant:

Erstens ist – wie oben kurz skizziert – unstrittig, dass in Deutschland familiale Merkmale und Prozesse mit der Bildungsbeteiligung und Teilhabe im Feld der Kindertagesbetreuung sowie mit Erfolgen im Bildungssystem zusammenhängen. Ungeklärt ist aber, wie genau, d. h. durch welche Mechanismen, Bildungsungleichheit gerade an der Schnittstelle von Familie und Institution (Kindertageseinrichtung/ Grundschule) – und damit auch im Kontext von Elternbeteiligung, Zusammenarbeit und Partnerschaft – hergestellt wird. Dies stellt eine Forschungslücke dar. Zugleich ist unbekannt, durch welche politischen und pädagogischen Maßnahmen diese Ungleichheiten wirksam und nachhaltig vermindert werden könnten.

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Zweitens, und dies ist ein neuer Gesichtspunkt, lässt sich gar nicht über Elternbeteiligung, Zusammenarbeit und Bildungs- und Erziehungspartnerschaft mit Familien sprechen, ohne zugleich etwas über eine weitere Ausprägung von gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen auszusagen, die mit dem Alter der Gesellschaftsmitglieder korrespondiert: diejenige zwischen Kindern und Erwachsenen und damit die generationale Ungleichheit. Diese Perspektive eröffnet auch Einsichten in das Machtgefälle, da Erwachsene in der machtvolleren Position sind als Kinder – wie dies auch im Kontext der Kinderrechtsdebatte immer wieder vorgetragen wird (exemplarisch Liebel 2007). Allein auf der sprachlichen Ebene zeigen sich unmittelbar Problemstellungen und offene Fragen, ist doch in der Literatur und fachlichen Diskussion in erster Linie von der Eltern beteiligung die Rede – allein semantisch geht es damit also zunächst nicht auch um die Kinder beteiligung. Die Frage, die sich stellt, lautet: Mit wem sollte zusammengearbeitet und eine Partnerschaft aufgebaut werden, wenn von Familie die Rede ist: mit Eltern, mit Kindern oder mit beiden? Ebenso sollte thematisiert werden, wer in der Kindertageseinrichtung und Grundschule der Partner der Familien ist: die Fach- bzw. Lehrkraft oder auch die Kinder bzw. die Schülerinnen und Schüler?

Die auf das Bildungssystem bezogene soziale Ungleichheit und die generationale Ungleichheit wurden bereits in der Expertise von Betz (2015) genauer in den Blick genommen und problematisiert. Die Autorin arbeitete zwei Punkte kritisch heraus: Zum einen weist die fachliche Debatte über die Schnittstelle zwischen Bildungsinstitution und Familie zahlreiche Lücken und blinde Flecken auf. Zum anderen sind die Diskussionen und Forderungen in der deutschen Debatte vor allem programmatisch und damit auch weniger stark – oder gar nicht – empirisch fundiert.

Zielsetzung und Vorgehen

In dieser Publikation sollen daher die empirischen Grundlagen für eine sachliche Diskussion zum Themenfeld Elternbeteiligung, Zusammenarbeit und Partnerschaft mit Familien vorgestellt und aufbereitet werden. Zugleich geht es auch darum, einerseits die Rahmenbedingungen sowie andererseits die Wirkungen und Nebenwirkungen der verstärkten Bemühungen in diesem Bereich empirisch genauer zu betrachten. Hierfür wird der Blick auf die internationale wissenschaftliche Debatte zu Elternbeteiligung, Zusammenarbeit und Partnerschaft ausgeweitet, wie sie sich in empirischen Studien präsentiert.

Um diesen Vorhaben nachzugehen, bilden die folgenden beiden Säulen das Gerüst der Publikation:

1.Im ersten empirischen Schritt werden mögliche Determinanten von gesellschaftlichen, auf das Bildungssystem bezogenen Ungleichheiten genauer betrachtet: Eigene empirische Analysen von Dokumenten und Textsorten, die bislang als Forschungsgegenstand nahezu unbeachtet geblieben sind, ermöglichen Einsichten, wie die Schnittstelle von Bildungsinstitution und Familie in rechtlichen und politischen Kontexten sowie im handlungsfeldbezogenen Fachdiskurs gestaltet wird; dies ist insofern bedeutsam, als die Inhalte dieser Dokumente den politischen, den (fach-)öffentlichen und den handlungsfeldbezogenen Diskurs maßgeblich prägen. Für die Analysen werden, mit dem Fokus auf Zusammenarbeit und Partnerschaft, zunächst die rechtlichen Grundlagen der Arbeit in Kindertageseinrichtungen und Schulen auf Ebene der Bundesländer und des Bundes eingehender betrachtet. Anschließend werden mit den Bildungs- und Erziehungsplänen der Länder, die als Orientierungsgrundlage für das pädagogische Handeln dienen (sollen), weitere relevante Komponenten der institutionellen Rahmenbedingungen im Bildungswesen themenbezogen analysiert. Schließlich wird eine Untersuchung des fachlichen Diskurses um Zusammenarbeit und Partnerschaft vorgestellt, wie er sich in den einschlägigen praxisnahen Zeitschriften in Bezug auf Kindertageseinrichtungen und Grundschulen zeigt. Mit diesen drei empirischen Schlaglichtern können bisher in der Debatte wenig zur Kenntnis genommene Aspekte der Gesamtthematik in den Blick genommen werden, insbesondere im Hinblick auf generationale Ungleichheitsverhältnisse, die in den Analysen im Vordergrund stehen.

Empirische Forschung zu diesen Dokumenten (und ihren Rezeptionsweisen) ist auch vor dem Hintergrund der Frage bedeutsam, in welchem Zusammenhang sie mit der (Re-)Produktion von Ungleichheiten stehen. Die durchgeführten Analysen können so den Ausgangspunkt für zukünftige vertiefende Untersuchungen bilden, die daran interessiert sind, das Themenfeld Zusammenarbeit und Partnerschaft mit Familien in gesamtgesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen zu verorten.

2.In einem zweiten empirischen Schritt werden weitere (mögliche) Determinanten von gesellschaftlichen, auf das Bildungssystem bezogenen Ungleichheiten genauer betrachtet, indem erstmalig ein systematischer Überblick über die einschlägige empirische internationale Fachliteratur (Literaturreview zu empirischen Studien) zum Themenfeld Elternbeteiligung, Zusammenarbeit und Partnerschaft mit Familien gegeben wird. Hierbei geht es um die Fragen, was sich aus Sicht der nationalen und internationalen wissenschaftlichen Studien hinter den Phänomenen Elternbeteiligung, Zusammenarbeit und Bildungs- und Erziehungspartnerschaft verbirgt und welche Schlussfolgerungen aus der empirischen Forschung für die fachliche Debatte ableitbar sind. Der Fokus wird bei der Analyse und Aufarbeitung insbesondere auf die Akteursgruppen gerichtet, die (un-)mittelbar in die Zusammenarbeit und Partnerschaft involviert sind, d. h. die Eltern, die pädagogischen Fachkräfte, die Lehrkräfte und die Kinder bzw. Schülerinnen und Schüler. Damit wird die Mikroebene der unmittelbaren Reproduktion von Ungleichheiten in den Vordergrund gerückt.

Ziel dieses Vorgehens ist es, den Prozessen auf die Spur zu kommen, durch die soziale und generationale Ungleichheiten an der Schnittstelle von Bildungsinstitution und Familie wirksam werden. Damit können und sollen in diesem Buch Politik, Wissenschaft und (Fach-)Öffentlichkeit für die komplexen Mechanismen der (Re-)Produktion von bildungsbezogenen und generationalen Ungleichheiten im Feld der Kindestagesbetreuung und der Schule an ebendieser Schnittstelle sensibilisiert werden, um darauf aufbauend Anknüpfungspunkte für die politische und pädagogische Praxis erarbeiten zu können.

Um die genannten Ziele zu erreichen, werden die folgenden Leitfragen bearbeitet, die die Struktur der Publikation begründen:

Kapitel 2: Was genau ist gemeint, wenn von sozialer und generationaler Ungleichheit sowie Bildungsungleichheit die Rede ist, und welche Probleme werden damit beschrieben? Was wird unter Chancengleichheit und -gerechtigkeit verstanden, die als bildungs- und sozialpolitische Ziele formuliert werden und dem Abbau von Ungleichheit dienen sollen?

Kapitel 3: Was ist über Bildungsungleichheiten in Kindertageseinrichtungen und Grundschulen sowie ihre (Re-)Produktion bekannt? Worauf wird der Schwerpunkt in der Publikation gelegt?

Kapitel 4: Wie wird das Themenfeld Zusammenarbeit und Bildungs- und Erziehungspartnerschaft mit Familien gegenwärtig in den jeweiligen rechtlichen Grundlagen, im Kontext politischer Steuerung (Gesetze, Bildungs- und Erziehungspläne) und im fachlichen Diskurs verhandelt?

Kapitel 5: Durch welche Mechanismen wird Bildungsungleichheit an der Schnittstelle von Familie und Institution (Kindertageseinrichtung/Grundschule) hergestellt und reproduziert? Welches Wissen liegt aus (inter-)nationalen Studien zu den Sichtweisen, Handlungsorientierungen, Überzeugungen und dem Handeln der Eltern sowie der pädagogischen Fach- und Lehrkräfte hinsichtlich Elternbeteiligung, Zusammenarbeit und Partnerschaft vor? Welche Bedeutung kommt dabei gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen zu (Bildungsungleichheit, soziale Ungleichheit, generationale Ungleichheit)?

Kapitel 6: Was lässt sich aus (inter-)nationalen Studien zu den Sichtweisen, Handlungsorientierungen, Überzeugungen und dem Handeln der Kinder bzw. der Schülerinnen und Schüler mit Blick auf Elternbeteiligung, Zusammenarbeit und Partnerschaft rekonstruieren? Inwiefern kommen hier gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse zum Tragen?

Kapitel 7 und 8: Welche Anregungen und Schlussfolgerungen lassen sich aus den Überlegungen und Ergebnissen für die weitere Erforschung der (Re-)Produktion von Ungleichheiten an der Schnittstelle von Bildungsinstitution und Familie, für politische Maßnahmen zum Abbau von Ungleichheiten und für die fachliche Debatte ableiten?

In einem Anhang »Übersicht über (inter-)nationale Studien zum Themenfeld Elternbeteiligung, Zusammenarbeit und Partnerschaft« werden 50 empirische Publikationen in Kurzportraits vorgestellt, die exemplarisch für die recherchierten Studien stehen und Einblicke in bedeutsame Facetten der vielschichtigen internationalen Forschung zu diesem Themenfeld geben. Sie können als Anregung dienen, sich auch in Deutschland vertieft und spezifisch mit einzelnen Forschungsvorhaben, ihren jeweiligen nationalen Kontexten, ihrem Sampling und ihren zentralen Befunden genauer zu beschäftigen.

Diese Studie ist ein Baustein des Kooperationsprojektes »Kinder zwischen Chancen und Barrieren – Wie Eltern, Kinder, Kita & Schule interagieren«, das wir gemeinsam mit der Bertelsmann Stiftung 2015–2018 durchführen. Dort ist sie eingebettet in das Projekt »Familie und Bildung: Politik vom Kind aus denken«. Wir danken besonders den Projektmanagerinnen Antje Funcke und Mirjam Stierle aus der Bertelsmann Stiftung für ihre engagierte und konstruktive Mitarbeit an der Fertigstellung der Studie. Sie haben damit einen wichtigen Beitrag zum Gelingen des vorliegenden Werks geleistet.

1Es handelt sich um ein Themenfeld, da die Begriffe und Konzepte in der Literatur und der Fachdebatte sehr unterschiedlich, teilweise synonym verwandt werden. Die Klärung, wann und inwiefern es sich um Elternbeteiligung, Zusammenarbeit oder Partnerschaft handelt, ist daher nicht allgemein und übergreifend, sondern nur je spezifisch möglich.

2Das Ausgangsproblem: Bildungsbezogene (Un-)Gleichheit und (Un-)Gerechtigkeit

2.1Versuch einer begrifflichen Klärung

Bildungsungleichheiten im Bildungssystem

Es gibt im deutschen Bildungssystem sehr stabile Bildungsungleichheiten. Seit Jahrzehnten zeigen Studien auf, dass dabei soziale und ethnische Differenzlinien sehr bedeutsam sind und auch nicht nennenswert an Bedeutung verlieren (für den Kontext Schule Becker und Lauterbach 2016; Geißler 2006; für die Grundschule und den vorschulischen Bereich Bollig und Betz 2016; Klemm 2008). Kinder haben dementsprechend systematisch unterschiedliche Chancen, im Bildungssystem erfolgreich zu sein sowie bereits an entsprechenden Angeboten zu partizipieren und Zugänge eröffnet zu bekommen.

Während die Bildungsexpansion in den 1970er-Jahren zu einer tendenziellen Aufhebung der Bildungsbenachteiligung von Mädchen im allgemeinbildenden Schulsystem führte (Ditton 2016: 285), gilt dies nicht für die Ungleichheitsfaktoren soziale Herkunft und Migrationshintergrund. Die Bildungsbeteiligung, die besuchte Schulform, die Übergänge im Bildungssystem2, die Leistungsbeurteilungen von Schülerinnen und Schülern oder auch die Kompetenzeinschätzungen durch Lehrkräfte sind nicht unabhängig von leistungsfremden Kriterien, wie sie die soziale und ethnische Herkunft der Schülerinnen und Schüler darstellt.3 Geißler (2006; 2014) spricht in diesem Zusammenhang von expandierenden Bildungschancen bei wenig(er) Chancengleichheit, denn trotz einer Zunahme höherer Bildungsabschlüsse insgesamt haben sich bei der Bildungsteilhabe die Abstände zwischen privilegierten und weniger privilegierten Bevölkerungsgruppen vergrößert. Dies gilt sowohl für die verschiedenen Ebenen des Bildungssystems als auch für die berufliche Weiterbildung, die Hochschulbildung und das selbstgesteuerte Lernen (Becker und Lauterbach 2016: 3 f.; zu den zentralen Determinanten der Reproduktion von Bildungsungleichheit vgl. Kap. 3).

Es gibt markante Bildungsungleichheiten, die sich auf die Zugänge zu wie auch Prozesse und Verfahren innerhalb von Bildungsinstitutionen sowie auf Bildungsergebnisse beziehen lassen; somit weisen sie auf Ungleichheiten zu Beginn, im Verlauf und am Ende der Bildungslaufbahn hin. In diesem Zusammenhang gibt es unterschiedliche Perspektiven darauf, inwiefern dies und was genau dabei als ungerecht oder problematisch anzusehen ist – entsprechend unterscheiden sich auch die Absichten und die konkreten Vorschläge für Veränderungen. In jedem Falle ist aber ein differenzierter, wissenschaftlicher Blick notwendig, um die komplexen Mechanismen besser zu verstehen, innerhalb derer soziale Ungleichheiten im Zusammenspiel von Bildungsinstitutionen, Akteuren und gesellschaftlichen Strukturen produziert und reproduziert werden. Hierzu bedarf es theoretischer Konzepte, mit denen diese Prozesse und Zusammenhänge überhaupt sichtbar gemacht und konzeptualisiert werden können, sind doch Bildungs- und gesellschaftliche Teilhabechancen nur im Kontext gesamtgesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse zu verstehen.

Der systematische, an die Strukturkategorie »soziale Herkunft« gekoppelte Zugang zu institutionalisierter Bildung als einer wichtigen gesellschaftlichen Ressource wird unter dem Begriff der sozialen Bildungsungleichheit diskutiert (Becker und Lauterbach 2016).4 Die Befunde zur Abhängigkeit der Bildungschancen von der sozialen Herkunft und zu den ungleichen Zugängen zu Institutionen und Angeboten sind besonders brisant, da mit diesen auch weitergehende gesellschaftliche Teilhabe- und Lebenschancen verknüpft sind (Becker und Hadjar 2011; Schneider 2015: 126) – die Ausstattung mit materiellen Ressourcen, die Position auf dem Arbeitsmarkt und die kulturelle Teilhabe wie auch weitere Aspekte der alltäglichen Lebensführung hängen maßgeblich von der Bildungsbeteiligung sowie von den erreichten Bildungszertifikaten und Kompetenzen ab (exemplarisch Becker und Lauterbach 2016). In Deutschland bestehen jedoch auch bei gleichen Leistungen und Bildungsabschlüssen in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft ungleiche Chancen, an gesellschaftlichen Ressourcen teilzuhaben (Becker und Hadjar 2011), sodass von gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen die Rede ist.

Der Wettbewerb nach Leistungskriterien im Bildungssystem

Vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse ist innerhalb des Bildungssystems die Vorstellung eines gerechten Wettbewerbs nach Leistungskriterien (formale Chancengleichheit vgl. Fend 2009) das grundlegende Prinzip. Heid (2016) spricht davon, dass das »Leistungsprinzip (…) als das Prinzip statusunabhängiger sozialer (Zuteilungs-)Gerechtigkeit auch im Bildungssystem allgemein anerkannt« wird (ebd.: 96). Und dies gilt, obwohl die ›reine‹ Leistungsorientierung im Widerspruch zu der empirisch beobachtbaren und vielfach nachgewiesenen Reproduktion von sozialer Ungleichheit im und durch das Bildungssystem steht (Bourdieu und Passeron 1971, zit. nach Becker und Hadjar 2011; de Moll 2016). Die Orientierung an der individuell zu erbringenden bzw. bereits erbrachten Leistung verschleiert einerseits die zahlreichen leistungsunabhängigen und sehr komplexen Einflüsse auf schulische Erfolge und andererseits die weiterhin bestehenden ungleichen Chancen, an gesellschaftlichen Ressourcen teilzuhaben und in gehobene soziale Positionen zu gelangen.

Erfolge und Misserfolge können im Bildungssystem vor dem Hintergrund des meritokratischen Ideals, des »Sie/er hat es verdient« oder aber des »Sie/er hat sich nicht genug angestrengt« interpretiert und erklärt werden. Als Folge werden in erster Linie die unmittelbar Beteiligten, die Schülerinnen und Schüler und teilweise auch ihre Eltern, in die Verantwortung genommen, während weder das Schulsystem noch grundlegendere gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse ausreichend reflektiert werden. Dabei führt der verbreitete Glaube an die Meritokratie zu dem Paradox, dass die Bildungsinstitutionen und ihre Funktionsweise selbst diejenigen Ungleichheiten mitreproduzieren, die sie abbauen möchten bzw. sollen (Becker und Hadjar 2011; Heid 2016): Es gibt keine grundlegenden Reformen, weil die grundsätzliche Logik des Systems unangetastet bleibt. Heid (2016) arbeitet heraus, dass – und inwiefern – der Glaube und die Anwendung des Leistungsprinzips gerade derjenigen statusabhängigen Ungleichheit Geltung verschaffen, die eigentlich außer Kraft gesetzt werden sollte (ebd.: 98), denn: »Unter den realen sozialstrukturellen Voraussetzungen seiner Geltung und Anwendung hat das Leistungsprinzip jene soziale Ungleichheit in sich aufgenommen, die es zu problematisieren und zu revidieren verspricht« (ebd.). So kommt etwa die Festlegung, was eigentlich als »Leistung« gilt, nicht unabhängig von gesellschaftlichen Machtverhältnissen zustande und wird auch nicht von allen gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen festgelegt.

Darüber hinaus ist es paradox, dass sowohl diejenigen, die von diesen Mechanismen profitieren, weil sie bereits eine gesellschaftlich privilegiertere Stellung einnehmen, als auch diejenigen, die hierdurch (weiterhin) benachteiligt werden, am meritokratischen Ideal festhalten. Damit stabilisieren sie die gegebenen Verhältnisse und die Logik des Systems (Betz 2010). Der meritokratische Glaube ist dabei nicht nur bei Erwachsenen anzutreffen; bei ihnen wurde dies mehrfach untersucht (Hadjar 2008). Vielmehr wird er auch bereits von Kindern vertreten, wie Betz und Kayser (2017) in Interviews mit Kindern im Grundschulalter und in einer standardisierten Befragung von Grundschulkindern nachweisen können. Allerdings gibt es zur Frage, inwiefern schon Kinder glauben, dass im Bildungssystem die Leistungen der Schülerinnen und Schüler ausschlaggebend sind und nicht soziale oder ethnische Merkmale, kaum Analysen (ebd.) (s. Stichwort generationale Ungleichheit, vgl. Abschn. 2.3.2).5

Festzuhalten ist dennoch: Das Leistungsprinzip wird zwar vielerorts problematisiert, als Grundlage des Bildungssystems aber zumeist nicht generell infrage gestellt. Zudem ist es eng mit den beiden zentralen bildungs- und sozialpolitischen Zielen angesichts der skizzierten fortwährenden Ungleichheiten verknüpft: (Chancen-)Gleichheit und (Chancen-)Gerechtigkeit. Was wird darunter jeweils verstanden?

(Chancen-)Gleichheit

Die mit dem Begriff der Chancengleichheit zwischen allen Kindern verbundene Idee ist es, ihre Teilhabe an spezifischen gesellschaftlich bedeutsamen Gütern zu realisieren – und das ungeachtet ihrer sozialen Herkunft, ihrer unterschiedlichen sozialen und kulturellen Hintergründe, ihres Geschlechts oder anderer Faktoren wie der Region, dem Wohnort oder der Wohngegend. Es geht darum, mögliche Barrieren abzubauen: Alle sollen z. B. die gleichen Chancen haben, gesellschaftlich relevante Ressourcen wie Bildungszertifikate (Abschlüsse) zu erlangen und (damit) begehrte Positionen im Erwachsenenalter einzunehmen, etwa indem anerkannte Berufe ausgeübt werden.

Differenziert wird dahingehend, ob es sich um eine individuelle Chancengleichheit oder aber um eine repräsentative Chancengleichheit handelt und damit um eine nicht auf das Individuum, sondern auf gesellschaftliche Gruppen bezogene Gleichheit (z. B. alle Mädchen, alle türkischstämmigen Kinder, alle Kinder mit alleinerziehenden Elternteilen). Unterschiedliche Auffassungen bestehen weiterhin darin, ob es um Chancengleichheit beim Beginn – also um gleiche Ausgangsbedingungen (Startchancengleichheit) und damit ›formale‹ Chancengleichheit (Fend 2009) – oder am Ende der Bildungslaufbahn gehen soll – also um gleiche Erfolgsquoten (Ergebnisgleichheit) bzw. substanzielle Chancengleichheit (ebd.). Dabei, so Ditton (2016), ist die Forderung nach »Ergebnisgleichheit« (ebd.: 281) weitaus umstrittener als die in der Bevölkerung stärker geteilte Vorstellung von Chancengleichheit, »die sich auf die Aussichten bezieht, in begehrte soziale Positionen gelangen und die mit ihnen verbundenen Güter und Privilegien erwerben zu können« (ebd.).

In jedem Falle aber bedarf es in demokratischen Gesellschaften einer Erklärung und Plausibilisierung, mitunter einer Rechtfertigung, wieso es beim Zugang, bei der Teilhabe und/oder in den Bildungsergebnissen Unterschiede, d. h. keine Gleichheit gibt. Sofern diese Unterschiede in den zuvor erbrachten Leistungen liegen, im Können, in den Fähigkeiten, in der Anstrengung des Einzelnen, kann, so wiederum Ditton (ebd.: 248), von »nachvollziehbaren und gesellschaftlich akzeptierten bzw. allgemein als gerecht empfundenen Kriterien« gesprochen werden. Wenn also niemand aufgrund bestimmter persönlicher oder sozialer Merkmale wie der familialen Herkunft benachteiligt oder bevorzugt wird, dann werden (Ergebnis-) Differenzen nicht per se als ungerecht oder ungerechtfertigt angesehen. Hier greift zum einen das bereits dargelegte Meritokratieideal sowie zum anderen das Konzept der Chance, d. h. sie gehabt und möglicherweise auf unterschiedliche Art und Weise realisiert zu haben. Dies zumindest ist eine breit vertretene Auffassung in der Fachliteratur.

Allerdings gibt es hierzu sehr kontroverse Diskussionen und das Prinzip einer so verstandenen Chancengleichheit wird vielerorts durchaus als sehr problematisch eingestuft (für einen problemorientierten Überblick über die Thematik im Kontext Schule: Dietrich, Heinrich und Thieme: 2013a; international im Kontext von Parenting: Vandenbroeck et al. 2017, i. E.). Heid (2016) beispielsweise hält fest: »Wer die Forderung nach Chancen gleichheit billigt, postuliert damit eine Aussicht auf eine günstige Gelegenheit, beispielsweise auf sozial anerkannten Lernerfolg – und akzeptiert zugleich, dass er damit aber keine Garantie auf die Realisierung dieser Chance hat. Eine Chance ist umso attraktiver, je kleiner die Zahl der Fälle ist, in denen sie realisiert werden kann. (…) Das Chancensubjekt muss also auch lernen, dass das Misserfolgsrisiko konstitutiver Bestandteil des Chancenkonzepts ist« (ebd.: 99, Hervorh. i. O.). Zudem merkt Heid kritisch an, dass im Kontext der Forderungen nach Chancengleichheit die Heranwachsenden als Subjekte stark in den Mittelpunkt gerückt werden.

Auch Giesinger (2007) hebt hervor, dass mit dem Chancenkonzept die freie Entscheidung von Personen hervorgehoben wird: Eine Chance kann man »ergreifen oder verwerfen« (ebd.: 364, Hervorh. i. O.). Indessen kann man mit Heid (2016) daraufverweisen, dass zu wenig die Frage gestellt wird, von wessen Wollen, von wessen Können und von wessen Handeln es – über das Subjekt hinaus – abhängig ist, ob die notwendigen Bedingungen zur Chancenverwirklichung realisiert werden können. Kritisch sieht Heid dabei, dass die Möglichkeiten, eine Chance zu verwirklichen, unter den gegebenen gesellschaftlichen, d. h. sozialstrukturellen Bedingungen nicht gleich sind bzw. sein können. Diese Einschätzung deckt sich mit dem ungleichheitstheoretischen Zugang, wie er in Abschnitt 2.3 noch genauer entfaltet wird.

(Chancen-)Gerechtigkeit

Neben der (Chancen-)Gleichheit wird in der öffentlichen, politischen und wissenschaftlichen Debatte ein zweites Begriffspaar verwendet: die (Chancen-)Gerechtigkeit. Auch hierunter verbergen sich unterschiedliche Bedeutungen und Nuancierungen; zudem liegt eine weitere Schwierigkeit darin, dass das Verhältnis der Begriffe Gleichheit und Gerechtigkeit nicht eindeutig bestimmt ist. Während sie gerade in der öffentlichen und politischen Debatte häufig austauschbar verwendet werden (vgl. auch in der Bildungsforschung Stojanov 2008: 210), gibt es im wissenschaftlichen Diskurs auch Stimmen, die z. B. Chancengleichheit als ein Prinzip zur Gewährleistung von Gerechtigkeit ansehen (z. B. Dietrich, Heinrich und Thieme 2013b mit Verweis auf Rawls; Heid 2016). In jedem Falle kann davon die Rede sein, dass es sich – auch in der Zusammensetzung Bildungs(un)gerechtigkeit – um ein unscharfes Konzept (Fuzzy Concept) handelt (Dietrich, Heinrich und Thieme 2013a), dessen Verwendung häufig Fragen aufwirft und oftmals pragmatischer Natur ist; dies gilt auch und gerade im Zusammenhang mit Bildung bzw. dem Bildungssystem (ebd.; Giesinger 2007). Diese Voraussetzungen erschweren eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Gerechtigkeitsbegriff in Bildungsfragen.

Wenn von Chancengerechtigkeit die Rede ist, wird häufig darauf fokussiert, dass »für alle Menschen die gleichen Lebensaussichten geschaffen werden sollen« (Knoll 2014: 14), und zwar nach bestimmten, als gerecht angesehenen Zuteilungsmechanismen. Um dies zu bestimmen, werden unterschiedliche Gerechtigkeitskonzepte herangezogen. Diese folgen zwangsläufig normativen, auf die jeweilige Gesellschaft bezogenen Vorstellungen, die bestimmen, was als gerecht gelten soll und welche Kriterien hierfür ausschlaggebend sein sollen. Hierzu herrscht eine große Vielfalt.6

Stojanov (2008) unterscheidet drei zentrale Gerechtigkeitsmodelle. Diese eignen sich gut, um zu verstehen, auf welch unterschiedliche Weise von Gerechtigkeit die Rede sein kann und welche Schwierigkeiten sich in der bildungspolitischen Debatte nach der ersten PISA-Studie ausmachen lassen. Er differenziert, unter anderem in Anlehnung an John Rawls, Martha Nussbaum und Axel Honneth, Verteilungs-, Teilhabe- und Anerkennungsgerechtigkeit (ebd.: 210) und arbeitet heraus, welche Gerechtigkeitsmodelle welchen Problemdiagnosen zugrunde liegen. Zugleich geht er darauf ein, dass und inwiefern je nach Diagnose unterschiedliche (bildungs-)politische Schlüsse abgeleitet werden.7

Orientiert man sich an diesen Modellen, kann von Verteilungsgerechtigkeit unter anderem dann die Rede sein, wenn Schulnoten, Bildungszertifikate oder Übergangsempfehlungen durch Lehrkräfte entsprechend den Leistungen von Schülerinnen und Schülern, nicht aber systematisch z. B. mit ihrer sozialen und regionalen Herkunft variieren. Dies fasst Stojanov mit der Unterkategorie 8 »Leistungsgerechtigkeit«. Zudem wäre es aus dieser Perspektive gerecht, gleiche Ausgangsbedingungen zu schaffen, indem z. B. kompensatorisch eingegriffen wird (etwa durch finanzielle Zuwendungen oder pädagogische Förderung) und so Benachteiligungen durch die Herkunft der Kinder früh abgebaut werden (ebd.: 213). Diesen Aspekt fasst er wiederum mit der Unterkategorie »Chancengleichheit«.

Teilhabegerechtigkeit bezieht sich dagegen auf die Möglichkeit, durch die soziale Partizipation aller als Ziel des Bildungssystems ein menschenwürdiges Leben zu führen. Es geht zum einen um die Kultivierung von Grundfähigkeiten (Capabilities) für alle, zum anderen um die Beseitigung von Ausschlussmechanismen weit über das Bildungssystem hinaus (Stojanov 2008).9

Wird das Modell der Anerkennungsgerechtigkeit herangezogen, dann geht es um die Wahrung von moralischem Respekt gegenüber allen Gesellschaftsmitgliedern statt »Diskriminierung« sowie um ihre soziale Wertschätzung anstelle von, wie Stojanov es bezeichnet, »diskursiver Stigmatisierung« (ebd.: 215).10

Durch seine qualitative Analyse der Verwendung der Kategorie Bildungsgerechtigkeit in aktuellen Zeitungsartikeln und parteipolitischen Dokumenten kann Stojanov aufzeigen, dass Fragen der Verteilungsgerechtigkeit die bildungspolitische Debatte mit Abstand dominieren, während Fragen der Teilhabe- und Anerkennungsgerechtigkeit nur marginal von Bedeutung sind. Dabei allerdings, so Stojanov weiter, überwiegt die Feststellung, dass es Ungleichheiten gibt. Seltener indessen wird thematisiert, warum Chancenungleichheit problematisch ist und wie sie reduziert werden könnte (ebd.: 216). Dieses Ergebnis lässt sich mit der Analyse von Hübner (2013) verbinden: Dieser geht auf die Schwierigkeit ein, dass gerade in Bezug auf das Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit eine »erhebliche Vielfalt von plausiblen Alternativen« vorherrsche sowie eine »große Uneindeutigkeit über das richtige Kriterium« (ebd.: 41, Hervorh. i. O.).

Angesichts der dargelegten fehlenden Eindeutigkeit und der Fülle an Ausprägungen und Deutungen ist es sehr schwer, mit dem Begriff der Bildungsgerechtigkeit oder der Chancengerechtigkeit empirisch zu arbeiten. Ein Großteil der im internationalen Review rezipierten Publikationen und Studien (vgl. Kap. 6 und Kap. 7) verwendet nicht eindeutig und theoretisch hergeleitet die Begriffe Gleichheit oder Gerechtigkeit oder definiert, was jeweils als Zielzustand erreicht werden sollte. Vielmehr fokussieren die Studien auf die Analyse der Probleme im Zuge fehlender Chancengleichheit und -gerechtigkeit. Die Debatte um die Begriffe (Chancen-)Gleichheit und Gerechtigkeit kann und soll daher hier nicht weiter vertieft werden. Dies wäre eine eigene Abhandlung wert, insbesondere angesichts ihrer häufig pragmatischen Verwendungsweise und der oftmals unterschiedlich zusammengesetzten, aber bisweilen synonym verwandten Begriffspaare (u. a. Chancenungleichheit, Bildungsungleichheit, Bildungsgerechtigkeit, Chancengerechtigkeit, Bildungschancen(un)gleichheit) in der bildungs-, sozial- und integrationspolitischen Diskussion, aber in nicht geringen Teilen ebenfalls in darauf bezogenen wissenschaftlichen Debatten. Diese Schwierigkeit zeigt sich auch noch einmal angesichts der Tatsache, dass sehr viele unterschiedliche, teilweise nicht näher explizierte Bildungsbegriffe zugleich das Verständnis dessen erschweren, worum genau es gerade geht.11

Zwischenfazit: Forschung zu Bildungsungleichheit – Chancen und Grenzen

Für das Verständnis der folgenden Kapitel ist erstens ein bedeutsamer Aspekt festzuhalten: Es kann nicht eindeutig geklärt werden, »auf welchen Endzustand die Maßnahmen zur Erhöhung von Chancengleichheit hinstreben sollten« (Giesinger 2007: 374), denn es gibt keinen gesellschaftlichen Konsens darüber, »welche Differenzen in den Bildungsresultaten von Kindern aus verschiedenen sozialen Schichten (…) moralisch akzeptabel« (ebd.) sind und welche nicht. Diese Uneindeutigkeit gilt ebenso für weitere Differenzierungslinien zwischen Kindern wie diejenige nach Geschlecht oder ethnischer Herkunft sowie in Bezug auf ihre Wohngegend. Hierzu bedarf es weiterer gesellschaftlicher Debatten unter Einbezug aller gesellschaftlichen Akteure – das bedeutet: auch der Kinder (vgl. Abschn. 2.3.2).12 Die vorliegende Studie kann ein Ausgangspunkt für eine solche Debatte sein, indem sie empirische Einblicke in die Problematik bietet.

Zweitens gilt es, eine weitere Debatte in Bezug auf das Bildungssystem offensiver zu führen: die Debatte darum, inwiefern sich personenbezogene, häufig als natürlich kategorisierte und soziale Differenzen überhaupt deutlich trennen lassen oder nicht stärker in ihrem Zusammenspiel betrachtet werden müssten. Denn häufig wird bei der Frage, was einen Einfluss auf Bildungs- und Schulerfolge hat, eine Trennung vorgenommen: Einerseits werden Konzepte in den Blick genommen, die dem Individuumsoziale Einflussfaktoren