Stancanelli, Elena Die nackte Frau

PIPER

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.berlinverlag.de

Aus dem Italienischen von Karin Diemerling

ISBN 978-3-8270-7946-6

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel La femmina nuda bei La Nave di Teseo, Mailand

© Elena Stancanelli 2016

Für die deutsche Ausgabe

© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: GettyImages/Robert Kohlhuber

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

»Der einzige Zauber, den es braucht, ist Sex.«

Philip Roth, Das sterbende Tier

»Von der geschlechtlichen Aktivität gehen sowohl therapeutische Wirkungen als auch pathologische Konsequenzen aus. Ihre Zweiwertigkeit führt dazu, daß sie in manchen Fällen heilsam wirkt, in anderen hingegen Krankheiten stiftet; doch läßt sich nicht immer leicht bestimmen, welchen der beiden Effekte sie haben mag: das ist Sache des individuellen Temperaments, aber auch der jeweiligen Umstände und des wechselnden Körperzustands.«

Michel Foucault, Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit III

Die Umstände, durch die ich den Beweis erhielt, dass Davide mit Cane vögelte, waren so unglaublich und lachhaft wie eine dieser urbanen Legenden. Du weißt schon, solche Geschichten wie die von der alten Frau, die dich im Auto mitnimmt, und am nächsten Morgen erfährst du, dass sie schon seit zwanzig Jahren tot ist, oder dem süßen afrikanischen Hundewelpen, der zu einem menschenfressenden Monstrum heranwächst.

Ich war zu Hause und wartete auf ein paar Leute, mit denen ich ein Arbeitstreffen hatte. Es muss so gegen drei, vier Uhr nachmittags gewesen sein. Davide hat mich angerufen und wir haben ein bisschen geredet, ich weiß nicht mehr genau, worüber, nichts Wichtiges. Das übliche kurze Zwischengeplänkel.

Wir lebten seit fünf Jahren zusammen und waren in die Phase eingetreten, in der es darauf ankommt, die Auseinandersetzungen einzuschränken. Er war aggressiv, ich nervig, es genügte ein falsches Wort, ein Satz, und schon flogen die Fetzen. Ich bekam wegen der kleinsten Kleinigkeiten maßlos schlechte Laune, worauf er mit Geschrei und dem Knallen von Türen, Schubladen und Weinflaschen auf den Tisch reagierte. Diese Anrufe waren Teil der Strategie, freundlich, aber wachsam sein, den Feind im Auge behalten. Die Pausen, den Tonfall interpretieren. Bevor er abends nach Hause kam, rief er immer an, und wenn er Gefahr witterte, sagte er, dass es leider spät würde und ich nicht auf ihn warten, sondern ruhig schon schlafen gehen solle. Dann legte er schnell auf, ehe ich eine Erklärung verlangen konnte.

Auch bei der Gelegenheit haben wir uns wahrscheinlich rasch verabschiedet, nur dass er nicht aufgelegt hat. Wahrscheinlich war er irgendwie abgelenkt. Es ist schwierig, bestimmte Handlungen einzuschätzen, besonders, wenn man sich gerade in einem prekären Gleichgewicht befindet. Als würde man jemandem den Ellbogen ins Gesicht rammen, während man versucht, sich festzuklammern.

Du sollst wissen, Valentina, dass ich es ohne dich nicht geschafft hätte. Das meine ich ernst. Falls dich irgendwann mal jemand danach fragt, vielleicht bei einem dieser Gesellschaftsspiele, für die jüdische Autoren eine Vorliebe haben, kannst du sagen, dass du jemandem das Leben gerettet hast. Nämlich mir. Indem du mir gegenübergesessen hast, Abend für Abend, ein ganzes Jahr lang. Mein Jahr im Reich des Wahnsinns. Mit mir gesprochen hast, obwohl du wusstest, dass ich dir nicht zuhöre. Bei mir geblieben bist, egal, in welcher Verfassung ich war. Ich weiß, wie schwer das gewesen sein muss. Meine Verzweiflung war, gemessen an dem, was mir widerfuhr, abnorm und unbegreiflich. Deshalb bin ich dir umso dankbarer dafür, dass du sie ertragen hast, ohne dir etwas anmerken zu lassen.

Du hast es getan, weil du mich gern hast. Und weil es offensichtlich war, was für Probleme ich hatte. Ich habe meine Niedergeschlagenheit, meine Handlungsunfähigkeit, die Angst, die immer wieder in mich schoss wie die Milch in die Brust einer Mutter, nicht verborgen. Doch das, was ich offen zeigte, was ich dir erzählte, war nur ein Teil der Wahrheit – und nicht einmal der schlimmste, so grotesk er auch schon sein mochte. Das wirklich Widerliche, all die schrecklichen und hirnrissigen Dinge, die ich getan habe, habe ich dir verheimlicht. Ich habe dir nichts davon gesagt, weil ich mich schämte. Irgendwie hoffte ich, dass du sie erahnst, was objektiv betrachtet natürlich unmöglich war. So, wie du mich kanntest, hättest du dir das nie und nimmer vorstellen können.

Also habe ich beschlossen, es dir nun zu erzählen. Ich will dir beschreiben, was wirklich in dem Jahr passiert ist, das mit dem Anruf begann, bei dem Davide aufzulegen vergaß. Nicht, weil ich glaube, dir damit einen Gefallen zu tun; man schenkt den Menschen, die man liebt, keinen Sack voll Müll. Auch nicht, weil ich davon besessen wäre, ehrlich zu dir sein zu wollen. Ich glaube, das wäre weder für dich noch für mich wichtig. Wir wissen beide, es kommt nicht auf die Wahrheit, sondern auf das Gute an.

Auch erzähle ich dir diese Geschichte nicht, um dir zu zeigen, was ich daraus gelernt habe, denn ich habe nichts gelernt. Habe keine Regel daraus abgeleitet, die mir in Zukunft nützlich sein könnte, habe mir keinen stärkeren Selbstschutz zugelegt und bin auch kein besserer Mensch geworden. Ich bin nicht mal sicher, ob das Ganze mir als Lektion gedient hat, so dass ich ausschließen kann, so etwas noch einmal durchzumachen. Eher im Gegenteil. Denn jetzt weiß ich, dass einen nichts wirklich vor der eigenen Idiotie schützt, schon gar nicht das, was man zu sein glaubt, all das Rüstzeug, das man sich erworben hat. Die Intelligenz, die Erfahrung, die Bücher. Nichts. Das zu wissen macht mich nicht stärker, sondern unsicherer und trauriger. Wie bei ganz alten Leuten, die stets vorsichtig gehen, weil sie wissen, dass schon ein falscher Schritt zu Knochenbrüchen führen kann.

Ich bin zu einem beschädigten Menschen geworden.

Wenn einem etwas Schlimmes zustößt, ein Unfall, eine schwere Krankheit oder etwas Dummes, aber unglaublich Schmerzhaftes wie in meinem Fall, wird man zu einem beschädigten Menschen. Für immer. Ich bin wie ein Gerät oder ein Werkzeug, das heruntergefallen ist. Man repariert es, und es funktioniert wieder, behält aber die Erschütterung dieses Sturzes in sich zurück. Wir wissen nicht wann, wir wissen nicht einmal ob, doch es kann wieder kaputtgehen, und das wäre dann eine Folge dieses alten Unglücks.

Also, wie gesagt, Davide hatte mich angerufen und dann nicht aufgelegt.

Aber warum habe ich nicht selbst aufgelegt?

In jedem anderen Moment meines Lebens hätte ich das getan. Du kennst mich, ich war immer die Sorte Mensch, die in solchen Fällen auflegt. Es hat mich nie interessiert, die verborgene Wahrheit hinter dem äußeren Schein herauszufinden. Ich glaube an den äußeren Schein. Mir hat immer genügt, was ich sehe, was man mir berichtet. Ich war immun gegen dieses Faible für Verschwörungstheorien, für doppelte Böden. Nicht so wie die Leute, die sagen, meiner Meinung nach ist er unschuldig, wenn sie von einem aufsehenerregenden Prozess lesen. Ich denke immer, dass der Betreffende schuldig ist, allein schon deshalb, weil er angeklagt wurde. Wenn alles unerkennbar ist, nützt es auch nichts, alles besser zu wissen, oder?

So glaubte ich zu sein, aber ich habe mich getäuscht. Denn statt aufzulegen, fing ich an zu lauschen, mucksmäuschenstill. Zu belauschen, was er sagte, wenn er nicht wusste, dass er belauscht wurde.

Ich stellte das Telefon auf Lautsprecher und legte es auf den Tisch. Hörte Straßengeräusche, unbekannte Stimmen. Hörte Davides Stimme, zuerst in der Kaffeebar, dann in der Werkstatt. Ich zitterte. Jede Minute dieser Folterqual, jede einzelne Sekunde wusste ich, dass ich etwas Falsches tat. Aber ich war zu aufgeregt. Aufgeregter, als wenn man einfach nur etwas Falsches tut. Ich war so aufgeregt wie nur in dem Moment, in dem man auf die Strafe wartet.

»Siehst du die da? Seit sie sich die Haare abgeschnitten hat, würde ich sie sofort bumsen.« Das sagte er zu einem Typ, dessen Stimme ich nicht erkannte. Gleich darauf: »Und überhaupt, wenn ich Bock auf Ficken hab, hab ich die und die und die …«

Ein ganzes Telefonbuch von Frauen. In dem ich selbst nicht vorkam, immerhin noch seine offizielle Partnerin. Ich kannte sie alle: eine Kokainsüchtige, älter als ich und unzurechnungsfähig, eine sehr kleine Tusse mit großem Kopf, die ständig um ihn herumscharwenzelte und mich nervös lachend fragte, wie ich es mit einem wie Davide aushielte, eine Kindergärtnerin, die Turnschuhe zum Rock trug und den Blick abwandte, sobald sie mich sah.

Und Cane.

Die er natürlich bei ihrem richtigen Namen nannte. Die Einzige, die ich noch nie gesehen hatte. Ich wusste von ihrer Existenz, weil Davide sie so oft erwähnte, dass selbst der argloseste Mensch der Welt Verdacht geschöpft hätte. Sie war Kundin in seiner Werkstatt.

Irgendwann hat er angefangen, von ihr zu erzählen, dieser Frau, die einen Hund hatte, der Hund hieß. Cane.

»Und was ist das für ein Hund?«

»Eine Promenadenmischung.«

Er hat mir das nicht erzählt, weil er es so witzig fand, sondern weil er das Bedürfnis hatte, über sie zu reden. Wie es uns allen geht, wenn uns jemand gefällt. Von da an hat er sie ständig und auch völlig zusammenhanglos erwähnt. Zum Beispiel sagte er, guck mal, so ein Auto hat sie auch, oder wusstest du, dass Salat schwerer zu verdauen ist als Steak, das hat sie mir gesagt. Ihr Vater hat auch eine Wohnung in London, meinte er, als ich nach London flog.

»Da, so einer ist das.«

»Wer?«

»Cane, ihr Hund. Das ist so ein Mischling wie der da.«

Hat er gesagt und auf einen kleinen Köter gezeigt, eine Mischung aus Jack Russell und Zwergpudel.

»Ziemlich hässlich.«

Habe ich gesagt. Aber Davide hat nicht gelächelt.

Nach dieser Aufzählung seiner Geliebten, auf die zum Glück keine Schilderung ihrer Leistungen im Bett und besonderen Vorzüge folgte, habe ich endlich aufgelegt. Ich habe zwei Minuten gewartet und ihn dann angerufen. Habe gesagt, du hast vergessen aufzulegen. Davide meinte, was? Ich sagte, ich habe alles mitgehört. Er schwieg. Hast du mir nichts zu sagen? Nein, sagte er und legte auf.

In dem Moment läutete es an der Tür, es waren die Leute, die ich erwartete, mein Arbeitstermin. Den ganzen Nachmittag tat ich nichts anderes, als mich zu entschuldigen und ins Bad zu laufen, um zu weinen, das Handy immer dabei für den Fall, dass er noch mal anrief. Ich wartete ein paar Minuten, wischte dann mein verschmiertes Make-up weg, schminkte mich neu und ging zu ihnen zurück. Bis ich schließlich darum bat, uns zu vertagen, weil ich mich nicht gut fühle. Sie wirkten erleichtert.

»Selig sind die Vergesslichen, denn sie werden auch mit ihren Dummheiten fertig.« Das ist ein Satz von Nietzsche, zitiert von Kirsten Dunst in Vergiss mein nicht! von Michel Gondry. Einer meiner Lieblingsfilme, wie du weißt. Ich habe ihn Dutzende Male gesehen. Auch vor ein paar Tagen wieder, bevor ich damit anfing, dir diese Geschichte zu erzählen. Ich finde, er hat viel mit dem zu tun, was mir passiert ist. Oder vielleicht einfach mit jeder Liebesgeschichte.

Clementine (Kate Winslet) und Joel (Jim Carrey) sind beide Mitte dreißig und haben schon die eine oder andere gescheiterte Beziehung hinter sich. Sie begegnen sich im Zug, an einem Tag, an dem er eigentlich woanders hinwollte und sich dann, scheinbar grundlos, umentschied. Erst in der Mitte des Films verstehen wir den Grund und was es mit seiner mysteriösen Vorahnung auf sich hat. Sie redet unheimlich viel, und er zeichnet in ein Notizbuch und wirkt genervt, ist aber nur schüchtern und ein bisschen melancholisch. Sie verlieben sich ineinander, lieben sich fröhlich, dann trennen sie sich. Sie sind verzweifelt, alle beide. Nach einiger Zeit betritt Joel eine Buchhandlung, und Clementine steht dort, an der Kasse. Er grüßt sie, aber sie erkennt ihn nicht wieder. Dann kommt ein junger Mann und küsst sie vor seinen Augen, was ihr überhaupt nicht peinlich zu sein scheint. Joel ist wie vor den Kopf geschlagen, er geht hinaus und versteht das alles nicht. Später vertraut er sich seinen Freunden an, die ihm widerstrebend etwas gestehen. Sie zeigen ihm eine vorgedruckte Postkarte, auf der steht: »Clementine Kruczynski hat ihre Erinnerung an Joel Barish löschen lassen. Bitte erwähnen Sie diese Beziehung ihr gegenüber nicht mehr. Danke. Lacuna Inc.«

Joel lässt sich daraufhin einen Termin in der Klinik dieser Firma Lacuna Inc. geben. Er bringt ein paar Gegenstände mit, die Clementine gehört haben, spricht mit dem Arzt und beschließt, dass seine Behandlung in der folgenden Nacht stattfinden soll. Er schläft mit Elektroden am Kopf ein, und zwei technische Assistenten nutzen seinen Schlafzustand, um jede Spur von Clementine aus seinem Gehirn zu tilgen. Doch die Assistenten sind ein bisschen schlampig, und Joel wacht irgendwann auf, erkennt, was da passiert, und besinnt sich eines Besseren. Er versucht mit allen Mitteln, Clementine in seiner Erinnerung zu behalten, ehe sie vollständig verschwindet. Dazu versteckt er sie in seinen Kindheitserinnerungen, in der Hoffnung, dass die Techniker sie dort nicht finden. Er schreit und tobt, damit Clementine ihm nicht zusammen mit dem Bild des Hauses am Meer, wo sie sich kennengelernt haben, abhandenkommt. Flüchtend finden sich die beiden in ihrem Bett wieder, aber am Strand, alles wirbelt um sie herum, der Wind, der Regen …

Lange vor diesen Ereignissen machen Joel und Clementine zusammen einen Ausflug. Es ist Nacht und eiskalt, aber sie strecken sich zusammen auf einer Eisscholle aus. Sie hat blaue Haare und ihr Gesicht ihm zugewandt, der eine Wollmütze trägt und in den Himmel sieht. Zu ihren Füßen ist ein großer, sternförmiger Riss im Eis. Sie haben sich gerade kennengelernt oder vielleicht wieder kennengelernt und beschlossen, irgendetwas Blödsinniges zusammen zu machen. Etwas von der Sorte, das man nie allein machen würde und auch kaum mit einem Freund oder einer Freundin. Nichts Heldenhaftes oder Verrücktes oder Aufregendes, nichts, wovon man anderen erzählen würde. Sondern etwas Bescheuertes, etwas, das man schon immer mal machen wollte, ohne die richtige Person zu kennen, der man es vorschlagen könnte. Besser als dieses Bild kann man nicht erklären, was Liebe ist.

Es war, wie gesagt, eine schwierige Zeit. Wir mochten uns nicht mehr. Menschen verändern sich, und zwar fast immer zum Schlechteren. Sie langweilen sich miteinander, und der Zauber verschwindet. Wenn wir nicht mehr verliebt sind, werden wir wie Feldspieler, die alle Time-outs, Strafminuten und Auswechselmöglichkeiten erschöpft haben. Wir stehen da, live und ohne Schlupfwinkel, in denen wir uns verstecken könnten. Wir sehen uns in die Augen und empfinden Unbehagen und ein wenig Überdruss. Manche kommen durch und überwinden diese Phase. Jenseits davon, nach dem Überdruss, muss es so eine Art Paradies der Paare geben. Leute, die Spaß miteinander haben, die sich die Wahrheit sagen, ohne sich verletzen zu lassen, die weggehen und wiederkommen, ohne Erklärungen abgeben zu müssen.

Davide und mir ist das nicht gelungen. Je mehr eine Beziehung sich auf ein magisches Voneinanderangezogensein gründet statt auf Einverständnis, Intelligenz, gemeinsame Werte und Interessen, desto schwieriger ist es, diese Schwelle zu überwinden. Und am Anfang waren wir so: unerklärlich verliebt ineinander.

Davide ist ein Mensch mit vielen Geheimnissen, dabei aber unfähig zu lügen. Außerdem hatte ich nie diese Besessenheit mit der Treue. Eifersucht war also nicht der Grund, aus dem ich ihn belauscht habe.

Davide provozierte mich zu dieser Zeit ständig. Er benahm sich immer unverschämter, um zu sehen, wie weit er gehen konnte. Als ich seine Taktik durchschaute, begann ich, damit er damit aufhörte, auf eine stümperhafte Art die Eifersüchtige zu spielen. Das hatte ich noch nie getan, bei keinem, daher fiel es mir schwer. Ich fragte ihn zum Beispiel, warum er mitten in der Nacht SMS bekam, warum er sich von mir entfernte, um einen Anruf anzunehmen, verlangte Erklärungen für die Verlegenheit, die entstand, wenn wir irgendwo einer seiner Freundinnen begegneten. Er erwiderte, dass ich spinne, dass ich mir das nur einbilden würde.

So machen wir es alle, ich kenne es von mir selbst. Niemand gibt je etwas zu, es sei denn, er wird auf frischer Tat ertappt. Doch Davide tat noch etwas anderes, Schlimmeres: Er griff mich an. Wenn er sich in die Enge getrieben fühlte, wurde er gewalttätig.

Ich sagte mir, dass er kapitulieren würde und wir diesen Teufelskreis aus Lügen und Aggression durchbrechen könnten, wenn ich ihn in flagranti erwischte.

Der dümmste Gedanke aller Zeiten, ich weiß, Vale. Sagen wir mal so: Ich bin mir nicht sicher, ob ich das ernsthaft gedacht habe oder ob es nur ein Vorwand war. Ich wollte ihn entlarven, mich aber auch irgendwie in seine Affären hineinschmuggeln. Hinterhältigkeit ist etwas Unwiderstehliches. Wir bemühen uns, anständig zu sein, aber kaum lassen wir uns gehen, werden wir wieder gemein und niederträchtig.

Mit dir darüber zu sprechen wäre das richtige Gegenmittel gewesen. Wenn ich dir alles erzählt hätte, wenn ich dir von Anfang an gestanden hätte, was da vor sich ging, hättest du mich davon abgehalten. Ich hätte mich selbst davon abgehalten, hätte ich nur bestimmte Dinge laut ausgesprochen. Hätte ich dir gesagt, ich spioniere ihm hinterher, hättest du mir das sicher ausgeredet.

Aber ich habe es nicht getan.

Moment, Vale, denk jetzt nicht, dass ich mich als Opfer fühle. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich im Recht bin.

Mein Leiden war schändlich. Und für diese Schande bin ich allein verantwortlich. Egal, wie es mit meinem Leben weitergeht, ich werde nie aufhören, die Person zu sein, die sich derart benommen hat. Eingedenk der Umstände, klar. Aber trotzdem, derart.

Das ist der Grund, weshalb ich dir diese Geschichte erzähle. Eine Geschichte, die meiner gewohnten Denkweise nach nicht erzählt werden sollte. Weil sie würdelos ist und Würde das Allerwichtigste ist. Andererseits, wo steckte in unserem Dasein, ich meine das, das uns in diesem Zeitalter und in diesem Teil der Welt möglich ist, die Würde? Ich will mich nicht rechtfertigen, aber ist das, was mir passiert ist, die Art, wie das Leben nach und nach von der Besessenheit verdrängt wurde, nicht vielleicht ein gemeinsamer Zug unserer heutigen Biografien?

Manchmal habe ich den Verdacht, dass an unserer Vorstellung vom Menschsein etwas falsch ist. Als wäre es ein schief stehender Tisch, auf dem sich aller Verstand auf der einen Seite angesammelt hat. Ich bin immer auf dieser Seite gewesen, der richtigen, rationalen, intelligenten. Dann hat sich die Neigung der Tischplatte plötzlich geändert, und ich bin auf die andere Seite gerutscht. Die dunkle, dumme, nutzlose. Wo du dich nicht zurechtfindest, wo du nichts bist als ein zitterndes, verlorenes Ding.

Wenn es diese Seite gibt und jeder von uns so leicht dorthin abgleiten kann, sollte man sie eigentlich nicht so harsch verurteilen. Aber vielleicht verachten wir sie gerade deshalb so sehr, weil so wenig dazugehört, um dort zu landen. Die Strafe für unsere Überheblichkeit wartet immer um die nächste Ecke, wie der Penner auf der Straße, der uns jeden Morgen vorbeikommen sieht.

Es gibt ein ungeheures Maß an Leid im Leben. Die Welt ist ungerecht und voller unannehmbarer Dinge. Wir kennen sie: Hunger, Krieg, Rassismus, Tod, Krankheiten. Dinge, die wir nicht in der Hand haben, die uns zu Opfern machen.

Doch der Mensch ist nicht nur elend, sondern auch erbärmlich. Dumm, feige, gemein. Beute einer unsinnigen Qual, die er selbst zu verantworten hat. Diese Qual gibt es. Sie ist sogar die meistverbreitete und die schwierigste, mit der man es zu tun bekommen kann, weil sie nichts als ein Gefühl von Schmutzigkeit hinterlässt.

Einige von uns, ich eingeschlossen, glauben an den Mythos von Heldenhaftigkeit, von Aufrichtigkeit, von Noblesse. Sie möchten ein Leben, auf das sie stolz sein können, und Prüfungen, die ihrem moralischen Anspruch entsprechen. Das gibt es wohl, wenn auch selten. Bei mir ist es anders gelaufen, mir ist ein irgendwie verkrüppeltes und ein bisschen lächerliches Schicksal zuteilgeworden. Aber es ist meines und vielleicht nicht meines allein.

Deshalb also erzähle ich dir das alles. Weil auch solche Geschichten passieren.

Nach dem besagten Anruf ist Davide ein paar Tage lang nicht nach Hause gekommen. Ich weiß nicht mehr, ob ich es von ihm verlangt habe oder ob wir gar nicht darüber gesprochen haben und es seine Entscheidung war. Ist auch egal. Mir ist nichts daran gelegen festzustellen, wer Schuld hat, wer am meisten Schuld hat, wer den Kollaps herbeigeführt hat.

Davide dagegen schon. Er wollte freigesprochen werden. Er hätte nicht aufgegeben, bis ich seine Unschuld anerkannt hätte. Wobei die Tatsache, dass er offenkundig schuldig war, nichts an seiner Verteidigungsstrategie änderte. Er suchte nicht nach mildernden Umständen, erklärte nicht, dass es zwischen uns schlecht stehe und er sich daher woanders umgesehen habe. Er warf mir nicht einmal vor, eine Nervensäge zu sein, sondern behauptete einfach steif und fest, nichts getan zu haben. Entgegen der offensichtlichen Tatsachen stritt er es vehement ab, jede Frau zu bumsen, die in seine Werkstatt kam.

Wie du weißt, ist mir die Enttarnung des Schuldigen so dermaßen gleichgültig, dass Krimis einschläfernd auf mich wirken. Meine Jagd auf Beweise habe ich aus einem anderen Grund begonnen: Ich hoffte, diesen Kreislauf aus Verstellung und Gewalt unterbrechen zu können, indem ich sie fand. Aber es war dann doch ein wenig komplizierter.

Ich suchte weder für ihn noch für uns danach – ich suchte die Beweise für mich. Ein sadomasochistisches Treiben, das nur mit mir zu tun hatte. Das zeigt schon die Tatsache, dass ich ab einem gewissen Zeitpunkt sogar aufgehört habe, sie ihm unter die Nase zu reiben. Ich behielt sie für mich, sie waren mein Zeitvertreib, meine Perversion.

Ich glaube nicht, dass Davide irgendetwas vermutete. Vor allem weil er, genau wie du, keine Ahnung hatte, was ich da wirklich trieb. Und selbst wenn er etwas gemerkt hätte, hätte er sich noch lange nicht vorstellen können, dass das nur die Spitze eines Eisbergs aus Erbärmlichkeit war. Niemand hätte das gekonnt, er am allerwenigsten.

Davide hat mich von jeher kaum verstanden und ich ihn genauso wenig, ein Umstand, der unsere gemeinsamen fünf Jahre stürmisch, aber unterhaltsam gemacht hat. Wie ich dir schon sagte, waren wir keins von diesen harmonischen Paaren, die miteinander reden und Lösungen finden. Nicht einmal zu den Zeiten, als es mit unserer Liebe noch zum Besten stand. Wir hatten keine gemeinsamen Themen. Uns verband so wenig, dass ich es nicht einmal aufzählen könnte. Wenn wir an einem dieser Quiz teilgenommen hätten, bei denen die Übereinstimmung von Paaren getestet werden soll, wären wir garantiert Letzte geworden.

Wir hatten eine Liebesbeziehung und basta. Ohne große Gespräche, ohne Pläne. Davide war der Mensch, mit dem ich Dummheiten machen konnte. Wenn er mich dazu aufgefordert hätte, hätte ich mich sofort neben ihn aufs Eis gelegt, um die Sterne zu betrachten, so wie Clementine. Und das nicht, weil ich ihm vertraute – dabei vertraute ich ihm absolut bis zu dem Moment, als die Hölle losbrach –, sondern weil ich gedacht hätte, dass es mit ihm zusammen Spaß machen würde. Oder sogar, dass er der einzige Mensch auf der Welt war, mit dem mir so etwas Spaß machen würde. Von all den Dingen, wegen denen ich in dieser Zeit durchgedreht bin, ist das vielleicht das einzig Nachvollziehbare: Es wird nie wieder jemanden geben, mit dem es mir Spaß machen würde, mich auf eine Eisscholle zu legen, um die Sterne zu betrachten.

Oft fragten mich die Leute, warum ich denn so sehr an Davide hinge. Vor allem in dem Jahr, das ich im Reich des Wahnsinns verbrachte und das mit jenem Anruf begann. Die Leute fragten – nicht du, du nie –, was denn so besonders an unserer Beziehung gewesen sei, das die Trennung derart unerträglich für mich mache.

Die Antwort ist, nichts. Es gab nichts Besonderes. Keine Beziehung ist besonders. Die Liebe ist nie etwas Besonderes.

Nach einiger Zeit ist Davide wieder nach Hause gekommen. Spontan oder weil ich ihn darum gebeten hatte – wie üblich bin ich mir nicht sicher. Das Einzige, woran ich mich erinnere, sind gewisse Koffer mit Kleidung, die kamen und gingen.

Man hätte nun erwarten können, dass er alles daransetzen würde, mich gnädig zu stimmen, mich das Geschehene vergessen zu lassen. Dass er aufhören würde, sich mit den am Telefon aufgezählten Frauen zu treffen, lieb zu mir wäre, versuchen würde, mich zurückzuerobern. Weit gefehlt. Davide war aus dem gegenteiligen Grund zurückgekommen, nämlich um zu gewinnen.

Er fing an, mein Handy und meinen Computer zu durchsuchen. Natürlich hat er etwas gefunden. Wenn man irgendwo herumstöbert, findet man immer etwas. Man muss nur hartnäckig und manisch genug sein, dann stellt man Bezüge her, zählt zwei und zwei zusammen, vergleicht. Es gab Hinweise auf den einen oder anderen Seitensprung und ein paar vollkommen harmlose Andeutungen, die er falsch interpretierte.

Meine und deine Untreue unterscheiden sich fundamental voneinander, versuchte ich, ihm zu erklären. Was, unnötig zu sagen, eine schwer zu belegende Behauptung war. Und trotzdem entscheidend.