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Fachbereich

PHILOSOPHIE/ KULTURWISSENSCHAFTEN

Zeit – Postmoderne

Von Prof. Dr. Karlheinz A. Geißler

Postmoderne Zeitgeber:

Durch die Beschleunigungspotentiale der Medien wurden völlig neue Möglichkeiten des Denkens und Handelns erschlossen. Mit der „elektrischen Augenblicksverbindung“ und der „Eroberung der Allgegenwärtigkeit“ (A. Warburg), lässt sich die Zeit scheinbar eliminieren. Nichts dauert mehr. Alles ist sofort, auf Knopfdruck, da. Und doch haben wir das Gefühl, dass uns mehr denn je etwas fehlt. Und das trotz der Millionen Fernsehgeräten und Telefone, der DVD- und CD-Player, der Radios und Handys, die in deutschen Wohnungen und so mancher Jacken- oder Hosentasche zu finden sind.

Mit dem Ende der Beschleunigung gewinnt die „Zeit-Verdichtung“ mehr Bedeutung. Sie ist, ebenso wie die Steigerung der Geschwindigkeit, eine zeitökonomische Strategie. Verdichtet, so die real wirksame Vorstellung, lässt sich die relativ knapp bemessene Lebenszeit „effizienter“ nutzen, wenn man mehrere Dinge gleichzeitig tut beziehungsweise möglichst viel (an Information) in die gleiche Zeit packt.

Auch hierfür bietet die Welt der Medien eine Vielzahl an Möglichkeiten: Radiohören beim Zeitungslesen, Bügeln beim Fernsehen, Musikhören beim Internet-Surfen, Telefonieren beim Auto- oder Zugfahren. Wer seine Aufmerksamkeit teilt, hat mehr vom Leben - so lautet das Credo der Zeitoptimierer. Die Zeit wird porenlos genutzt, und da die Erlebnisdichte zunimmt, wird so mancher Zeitgenosse dabei atemlos. Immer geschieht etwas, und weil immer etwas geschieht, geschieht auch vieles andere, und das möglichst gleichzeitig, zumindest aber möglichst schnell.

Das Handeln derer, die die Medien nutzen, erschöpft sich jedoch nicht in den Strategien der Beschleunigung und Zeitverdichtung. Denn Zeit ist in unserer Gesellschaft nicht nur zu einem knappen Gut geworden, mit dem es möglichst „effizient“ und „sparsam“ zu wirtschaften gilt. Sie ist zuweilen auch im Überfluss vorhanden. Am offensichtlichsten für das wachsende Heer der unfreiwilligen Arbeitslosen.

Aber auch für diejenigen, die sich tagsüber in ihrem Beruf abrackern (dürfen), verwandelt sich Zeit spätestens am Feierabend oder in der Freizeit zu etwas, mit dem man reichlich gesegnet ist. Mit diesem Zeit-Reichtum können nicht alle gleichviel anfangen. Die gesuchte Ablenkung, die drei Stunden, die die Bundesbürger täglich vor dem Fernseher verbringen, ist immer auch eine Ablenkung von der „Leere“ der Zeit, von der „Langeweile“, dem ereignislosen Verfließen der Zeit - und damit immer auch eine Ablenkung von sich selbst. Der zunehmende Mediengebrauch dient offenbar nicht nur der Beschleunigung des Lebens, sondern auch dazu, die wachsende „freie“ Zeit zu strukturieren und ihr einen wie auch immer gearteten Sinn zu geben.

Ganz gleich, ob in chronischer Zeitnot oder in Situationen, in der wir uns einem Überfluss an Zeit gegenüber sehen: In beiden Fällen - gehetzt wie gelangweilt - vertreiben wir die Zeit aus unserem Leben: Zum einen, indem wir sie möglichst intensiv bewirtschaften und nach dem Prinzip „Zeit ist Geld“ den Kampf gegen alles Langsame, Bedächtige, Pausierende aufnehmen. Zum anderen, indem in der so gewonnenen Freizeit mit Hilfe der Medien die Zeit „totgeschlagen“ wird. Auch wenn tagsüber durch Telefon und Mailverkehr erfolgreich Zeit „gespart“, Abläufe beschleunigt und durch zahlreiche Parallelhandlungen verdichtet wird, scheinen viele doch an langen Fernsehabenden oder in stundenlangen Internet-Sitzungen alle Zeit der Welt zu haben. Die Rastlosigkeit beim vermeintlichen Sparen von Zeit mündet am beruflichen Feierabend in der nicht minder großen Ratlosigkeit, sinnvoll mit ihr (und sich) umzugehen. Es fällt offenbar schwer, eine Balance zwischen dem Zeitsparen Müssen und der Muße zu finden. Zeitmangel und Zeitüberfluss verwirren sich zu postmoderner Zeiterfahrung. Je mehr Zeit man hat, um so mehr muss mit dieser etwas gemacht werden und entsprechend weniger hat man schließlich wieder, mit der man sparsam umzugehen hat.

Vier Zeit-Tendenzen sind es, die für die elektronischen Medien und für deren Gebrauch charakteristisch sind:

  1. Informations- und Kommunikationsmedien zielen grundsätzlich darauf ab, räumliche wie zeitliche Distanzen zu reduzieren. Bereits die frühen Formen der Nachrichtenübermittlung versuchten das Trennende des Raumes mit möglichst geringem Zeitaufwand zu überwinden. Den neuen elektronischen Medien gelingt es erstmals, diesen Zweck aller Mediennutzung zu vollenden. Mit der Lichtgeschwindigkeit der Signalübertragung wird die Grenze der Beschleunigung erreicht, werden zeitliche und räumliche Distanzen reduziert und der Wahrnehmung entzogen. Ohne nennenswerte Zeitverzögerung ist uns von nun an jeder Ort der Welt medial zugänglich. Und auch wir sind an jedem Ort erreichbar. Räumliche wie zeitliche Unterschiede verlieren ihre Bedeutung im weltweiten Netz der Medien. Die globale Gleichzeitigkeit wird zur zentralen Zeiterfahrung.