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Hans-K. Lücke, Prof. emer. Studium der Philosophie und Geschichte, 1963 Promotion in Kunstgeschichte. Mitarbeiter des Reallexikons zur Deutschen Kunstgeschichte, München. Ab 1969 Professor an der University of Toronto, Grad. Dept. of History of Art. Schwerpunkt der Forschung: Kunsttheorie, speziell der Architekturtheorie vor allem der italienischen Renaissance. Hierzu zahlreiche Publikationen, u. a. »Alberti Index«, Prestel Verlag 1975–1979.

Susanne Lücke (Lücke-David), Promotion 1962 in Kunstgeschichte, Archäologie und Musikwissenschaft. Mitarbeit am Landesamt für Denkmalpflege in Schleswig-Holstein, dann im Zentralinstitut für Kunstgeschichte und an den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen in München. Nach mehrjähriger Unterbrechung Rückkehr ins Berufsleben, seit 1975 freiberufliche Tätigkeit als Journalistin und Buchautorin.

In Co-Autorschaft: »Antike Mythologie« und »Helden und Gottheiten der Antike« (rowohlts enzyklopädie, Reinbek 1999, 2002; Lizenzausgaben im Marix Verlag, Wiesbaden 2005, 2006).

Zum Buch

Die Götter der Griechen und Römer

Die einst mächtigen Gestalten der antiken Götterwelt faszinieren uns noch heute. Trotz Christianisierung und dem mit ihr verbundenen Ende der Götterverehrung haben die griechische Mythologie und die Manifestationen römischer Religion die Jahrtausende überdauert.

Dieses Buch ist lexikalisch aufgebaut. Jede Gottheit wird unter einem eigenen Lemma von A–Z abgehandelt. Dem Text liegen in der Regel antike Quellen zugrunde, soweit unverzichtbar wurde jedoch auch Sekundärliteratur zu Rate gezogen. Die Quellen- bzw. Literaturangaben finden sich am Ende eines jeden Artikels; auf sie wird im Fließtext durch Anmerkungen verwiesen.

Ein Quellenschlüssel erscheint im Anhang.

Hans-K. und Susanne Lücke

Die Götter der Griechen und Römer

Hans-K. und Susanne Lücke

Die Götter der
Griechen und Römer

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Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2012

ISBN: 978-3-8438-0218-5

www.marixverlag.de

INHALT

VORWORT

Äskulap → Asklepios

Amor → Eros

Aphrodite

Apollo

Apollon

Ares

Artemis

Asklepios

Athena

Bacchus/Liber

Castores

Ceres

Chronos → Kronos

Cupido → Eros

Demeter

Diana

Dionysos

Dioskuren → Dioskur(id)es

Eros

Faunus

Flora

Fortuna

Gaia

Hades

Hephaistos

Hera

Herakles

Hercules

Herkules → Hercules, Herakles

Hermes

Hestia

Ianus → Janus

Janus

Juno

Juppiter

Kronos

Kybele

Lar

Liber → Bacchus

Mars

Mater Magna → Kybele

Mater Matuta

Matuta → Mater Matuta

Mercurius

Merkur → Mercurius

Minerva

Neptunus

Pan

Persephone

Pluto → Hades

Pomona → Vertumnus

Portunus

Poseidon

Priapos

Proserpina → Persephone

Quirinus

Saturn → Saturnus

Silvanus

Tellus

Terminus

Venus

Vertumnus

Vesta → Hestia

Volcanus

Vulkan → Volcanus

Zeus

QUELLEN

ABGEKÜRZT ZITIERTE LITERATUR

VORWORT

Die Götter der Griechen und Römer und ihre Mythen sind noch immer mit uns: unverhohlen in den bildenden Künsten, auf der Bühne, in Musik und Literatur und nicht zuletzt integriert in die Trivialität unseres Alltags. Da garantiert → Demeter für sauberes Getreide, → Hermes ist für den Transport von Gütern zuständig, das trojanische Pferd bringt Unheil in Form eines Hackerprogramms. Schon seit über zweitausend Jahren beginnt das Jahr mit dem Januar, dem Monat des römischen → Janus, des Gottes des Übergangs.

Gewöhnlich unbemerkt begleiten uns die antiken Götter im Alltag auch als Spiegel, in dem wir uns erkennen und wiedererkennen können. Unsere Welt mag größer geworden sein inzwischen, auch in Bluejeans ist der Mensch geblieben, was er war: Der Blick in die Welt der antiken Götter beweist es. Dieses Buch kann – allemal in seiner knappen lexikalischen Form – nicht mehr sein als ein Fenster und vielleicht auch noch eine Tür zu jener Welt, eine Einladung und vielleicht ein Besuchsprogramm dazu.

Die Götter der Griechen und Römer: Das ist ein Stück abendländischer Religionsgeschichte, die wir heute ausschließlich christlich zu definieren pflegen, und zugleich ein Stück Geistesgeschichte. Dass die Götter der Alten noch immer lebendig sind, ist ein Werk ganz wesentlich eben christlicher Überlieferung in einem Prozess, der historisch zu guten Teilen eine Analogie hat in der ausgleichenden (typologischen) Begegnung des Neuen mit dem Alten Testament und den wir heute nüchtern „Assimilisation“ nennen würden.

Gewöhnlich stellen die Götter der Griechen sich uns heute als Götter auch der Römer, vor allem unter ihrem lateinischen Namen vor. Historisch ist solche Einheit in ihren wesentlichen Teilen (im 3. Jh. v. Chr.) ein eher spätes Ereignis, das einen ursprünglichen Wesensunterschied in der Vorstellung vom Göttlichen verdeckt. Allgemein ist diese Begegnung ein Phänomen des Hellenismus.

Dieses Buch ist auch ein Versuch, neben dem fraglos Gleichen der beiden Kulturen auch das jeweils Eigene aufzuzeigen. Dennoch stellen wir einige Gottheiten in ihrer historisch endgültigen Einheit, andere in ihrer jeweiligen Manifestation als griechisch oder wesentlich römisch vor. Anlass für dieses besondere Anliegen ist die Beobachtung, dass griechische und römische Religiosität im Bereich unserer Aufmerksamkeit sich in vieler Hinsicht fundamental voneinander unterscheiden.

Den Griechen zeigen sich die Götter in menschlicher Gestalt und mit menschlichem Wesen, mit menschlichen Gefühlen, Gedanken und Leidenschaften. Dazu gehört, dass sie gar heiraten und eine überschaubare Familie bilden. Kinder haben sie auch mit Sterblichen. So gibt ihr Naturell ihnen eine ungemeine Präsenz im täglichen Leben der Menschen. In Erscheinung und Wesen sind diese Götter ein Spiegelbild des Menschen. Was sie jedoch zu Göttern macht, ist, dass sie zum einen unsterblich sind und dass sie zum anderen den Menschen Respekt abverlangen und Anmaßung erbarmungslos strafen. Das alles wissen wir ganz wesentlich aus Homer, auch aus Hesiod, aus der griechischen Tragödie und damit aus religionsgeschichtlich vergleichsweise später Zeit. Ein Blick auf die Frühzeit griechischer Religion, auf etwa Seelenkult und Fetischismus, lässt uns die olympischen Götter gleichsam als Menschwerdung eines ursprünglich Verborgenen und entrückten Göttlichen erscheinen.

Dem Römer zeigt das Göttliche in seinem eigentlichen Wesen sich als „Numen“. Das ist eine Autorität mit Einsicht und Willen, aber sie bleibt unsichtbar und ist wahrnehmbar wesentlich nur in ihrem Wirken, das man z. B. in Vogelschau und Haruspizien als Zeichen zu deuten weiß, eine Autorität, der man sich mit einem sorgfältigen Kult nähert. Römische Götter haben gewöhnlich keinen Mythos: Ein Numen macht so leicht keine Geschichten. Erst mit der Personifikation in griechischem Geist konnte das sich ändern.

Bemerkenswert bleibt, dass auch diese Numina griechische Göttergestalt anzunehmen vermochten. Eine prominente Ausnahme dabei ist in Abwesenheit eines griechischen Äquivalents → Janus, ein Numen des Übergangs. Es scheint, dass mit gerade dieser Zuständigkeit sich ein fundamentales Stück römischer Religiosität zeigt, sofern das Göttliche dem Menschen Grenzen setzt, die er zu seinem Heil nicht überschreiten soll. Das Gebot setzt Kenntnis voraus, und die ist ein Anliegen der „Religion“ und vermittelt sich dem Römer wesentlich durch Zeichen, deren kultische Wahrnehmung wesentlich dem Auguren obliegt. Dessen Fähigkeit, die Zeichen richtig zu lesen, gibt dem Begriff der Religion im römischen Verständnis von religio den Sinn, in dem Cicero (nat. 2.72) das Wort ableitet von relegere als ein (Immer-)Wieder-Lesen und also Erwägen. Das sind Akte, denen es um Kenntnis geht. Diese Kenntnis verlangt Respekt, und der findet seinen Asdruck in der pietas, einem Prinzip von fundamentaler Bedeutung für das römische Individuum wie für das Gemeinwesen, für den Staat: gewissenhafte Pflichterfüllung, Gehorsam nicht nur gegen die Götter. Kennzeichnend für diese Haltung ist auch das ungemein gewissenhafte Befolgen kultischer Vorschriften und Regeln, das eigentlich nichts anderes ist als das geradezu ängstliche (vgl. die „ängstlichen“ Ohren in Ovid, fasti 1.179) Streben nach Genauigkeit beim relegere der Zechen (s. o.).

Das Verschmelzen etruskischer mit römischer Religiosität ist hier kein Thema: Wir belassen es gewöhnlich bei einer bloßen Erwähnung.

Die Unterscheidung von „italisch“ und „römisch“ ist einzig historisch-geografischer Art. Seit augustäischer Zeit sind Romanus und Italus gleichbedeutend (vgl. Horaz, carmen 2.13 und 18; Vergil, aen. 8.678; vgl. Kl. Pauly 2, Sp. 1484).

Die Religion der Griechen und Römer ist polytheistisch. Mit dem Christentum tritt ihr ein Monotheismus entgegen, der sich durchsetzt. An die Stelle der vielen Götter tritt nun ein einziger Gott, und der zeigt sich der Welt in seinem Sohn Christus als Mensch. Die Botschaft von der Menschwerdung des Göttlichen mag leicht Verständnis gefunden haben bei Leuten, denen die Erscheinung des Göttlichen in Menschengestalt vertraut war. Wohl auch darum vermochte man die Götterwelt der „Alten“ als einen Zustand zu verstehen, der, wie das Alte Testament, den Weg weist auf die Wahrheit, die sich mit Christus offenbart. In diesem Sinn war es möglich, z. B. → Herakles/Hercules, den Sohn des → Zeus/Juppiter, als Antetypus Christi zu sehen. Es ist ebendieser historische Sachverhalt, der substanziell das „Überleben“ der alten Götter bis in unsere Tage begründet hat.

Die gegenwärtige Auswahl griechischer Götter beschränkt sich grundlegend auf die „Zwölfgötter“, auf jene Göttergemeinschaft, die ihren Namen nach dem Sitz des Göttervaters Zeus auf dem Olymp erhalten hat: die „olympischen Götter“ also, die sich gewöhnlich in sechs – mit Ausnahme von Zeus und Hera keineswegs auch beständigen – Paaren zeigen. Dazu kommen in unserem Zusammenhang noch andere bedeutende Götter, vor allem solche, die sich den Olymp erst „verdienen“ mussten, wie → Dionysos und → Herakles.

Die Auswahl der römischen Gottheiten folgt im Sinne des römisch-griechischen Synkretismus der besonderen Erscheinung des römisch-italischen „Partners“. Die Minderheit der genuin römischen Gottheiten im gegenwärtigen Zusammenhang entspricht dem uns fassbaren historischen Sachverhalt.

Ein Unterschied in der jeweiligen Darstellung von griechisch einerseits und römisch andererseits erklärt sich aus dem ursprünglich fundamentalen Unterschied zwischen den beiden Religionen (s.o.): Die griechischen Götter stellen wir dem Leser so vor, wie sie sich in ihrem Mythos zeigen, wobei es uns durchaus darum geht, nach Möglichkeit ein wenig von dessen anschaulicher Lebendigkeit zu vermitteln, die Person vorzustellen. Einsicht in das genuin abstrakt gestaltlose römische Numen lässt sich nur gewinnen durch den – gelegentlich auch spekulativen – Blick auf seinen Kult, der uns ein gleicherweise eher abstraktes Bild der Gottheit vermittelt.

Diese Götter sind durch die Zeiten Gegenstand eines vielfältigen, auch wissenschaftlichen, Interesses geworden. Uns war wichtig, aus den alten grundlegenden Quellen zu schöpfen, gelegentlich im Originaltext. Wir nennen sie mit der Absicht, dem interessierten Leser zu dienen, und in der Hoffnung, dem anderen Leser nicht lästig zu sein.

Schondorf, Dezember 2006        Hans-K. und Susanne Lücke

ÄSKULAP → Asklepios

 

AMOREros

 

APHRODITE, griech., lat. → Venus, etr. Turan. Die griechische Göttin der Schönheit, der Liebe und der Fortpflanzung von Mensch und Tier. Eine der „Zwölfgötter“, Tochter des → Zeus und der Titanin Dione, auch die Tochter des Himmels (des Uranos), die die „Schaumgeborene“ genannt wird.1 Ihr Name wurde von den Griechen mit „aphros“ (griech., „Meeresschaum“) in Verbindung gebracht.

A. ist reich an Mythen. Unter den verschiedenen Berichten über ihre Geburt ist die Version von der „Schaumgeborenen“ die bekannteste (s.o.). Erde (Ge/→ Gaia) und Himmel (Uranos) sind ein Paar. Zwischen den beiden kommt es zu Unstimmigkeiten, als Uranos ihre gemeinsamen Kinder, die grässlich anzuschauenden Hekatoncheiren, vor Scham versteckt. Ge beauftragt → Kronos, Uranos zu strafen. Der entmannt den Vater und wirft das abgetrennte Glied ins Meer. Dem Schaum, der das „unsterbliche Fleisch“ umgibt, oder dem Glied selbst entsteigt dann das Mädchen A. Plautus berichtet, A. sei aus einer Muschel geboren.2

Sie tritt als Vollendete in die Welt (vgl. → Athene) und wird von einer Muschel oder von den schäumenden Meereswogen an Land getragen. Zephir, der Westwind, lenkt sie nach Zypern, wo sie an Land geht. Gras sprießt, wo sie ihren Fuß hinsetzt. Nun wird sie von den Horen, drei Töchtern des → Zeus und der Themis (ursprünglich Personifikationen der Jahreszeiten), in Empfang genommen. Die kleiden und schmücken die Göttin und führen sie den unsterblichen Göttern vor, die von ihrer Schönheit so beeindruckt sind, dass ein jeder sie sich insgeheim zur Frau wünscht; sogar die Vögel und alle anderen Tiere sind verzaubert.3 So zeigt die Göttin sogleich ihre unwiderstehliche Macht. Weniger beeindruckt zeigen sich die keuschen Göttinnen → Athena, → Hestia und → Artemis.

A. hat viele Liebschaften, die erste angeblich mit dem schönen Nerites, Sohn des alten Meeresgottes Nereus, noch bevor sie dem Meer entsteigt.4

Zeus macht, dass sie sich als Erstes in einen Sterblichen verliebt: den schönen Anchises.5 A. wird ihm Lyros und Aineias/Aeneas gebären, den künftigen Stammvater der Römer.6 Unter den Göttern verbindet sie sich mit → Hermes, dem sie den Zwitter Hermaphroditos gebiert. Ihr Kind von → Dionysos ist nach Pausanias7 und Diodor8 der monströse Fruchtbarkeitsgott → Priapos. Noch weitere Kinder hat sie aus anderen Verbindungen.

Schließlich heiratet A. den unansehnlichen, hinkenden Schmiedegott → Hephaistos, den sie nach Kräften hintergeht. Vor allem eine Affäre mit dem Kriegsgott → Ares wird zu einem regelrechen Skandal auf dem Olymp. Ares besucht die A., wenn ihr Gemahl abwesend ist, und liegt mit ihr. Aus dieser Beziehung gehen drei Kinder hervor: Phobos (griech., „Schrecken“), Deimos („Furcht“) und Harmonia.9

Helios, der Sonnengott, sieht die beiden beim Ehebruch und hinterbringt Hephaistos seine Entdeckung. Der Betrogene schmiedet nun ein feines Netz, so fein wie ein Spinngewebe, in dem sich die Ehebrecher gefangen und bloßgestellt sehen, zum großen Gelächter der Olympier. Damals sei A. vor Scham den Tränen nahe gewesen.10

Eine heftige Liebe erfasst A. zu Adonis, der im Grunde seine Existenz dem Zorn der Göttin verdankt: Myrrha, die Tochter des kyprischen Priesterkönigs Kinyras, verliebt sich nach dem Willen der A. in den eigenen Vater.11 Myrrha zeugt mit dem Ahnungslosen den Adonis, der schon als Säugling so schön ist, dass sich A. sogleich in ihn verliebt. Heimlich verbirgt sie das Kind in einem Kästchen und gibt es in die Obhut der → Persephone, die sich aber ebenfalls sofort in A. verliebt. Den Streit, der zwischen den beiden Göttinnen entbrennt, schlichtet Zeus, indem er entscheidet, Adonis solle ein Drittel des Jahres für sich leben, ein Drittel bei Persephone und ein Drittel bei A.

Der ständige Begleiter der A. ist → Eros, der entweder älter ist als die Göttin12 oder – nach späteren Autoren – ihr Sohn.13

Ungewollt greift sie ins Weltgeschehen ein und entfacht ahnungslos den Krieg zwischen Griechen und Troern: Im Wettstreit von A., Athene und Hera, wer von ihnen die Schönste sei, soll der troische Prinz Paris der Siegerin einen goldenen Apfel reichen.14 A. besticht den Richter, indem sie ihm die Ehe mit Helena, der schönsten aller Frauen, verspricht. Als Paris Helena nach Troja entführt hat, entbrennt der Krieg, in dem die Göttin neben → Ares, Apollon und Artemis auf der Seite der Troer steht, während die im Schönheitswettbewerb unterlegenen Göttinnen Hera und Athene die Griechen schützen.15 Ihre besondere Sorge gilt Aineias, ihrem Sohn von Anchises. Sie versorgt seine Wunde, die Diomedes ihm beigebracht hat, und trägt ihn vom Schlachtfeld,16 und dem von Athene hingestreckten Ares hilft sie wieder auf die Beine.17 Den Paris rettet sie in höchster Not, und „in viele Nebel ihn hüllend“ entrückt sie ihn.18

A. ist keine Kämpferin wie Athene, und sie ist verletzlich. Als die streitbare Athene ihr einen heftigen Schlag vor die Brust versetzt hat, muss sie sich dazu den Spott der Siegerin und die Beschimpfung der Hera gefallen lassen, die sie eine „Hundsfliege“ nennt.19 Ihre Waffen sind anderer Art und bleiben auf dem Schlachtfeld wirkungslos. Diomedes nutzt diese Schwäche und trifft sie mit seiner Lanze an der Handwurzel, als sie den Aineias vom Schlachtfeld trägt.20

Die Waffen, die ihr zu Gebote stehen, setzt A. im Übrigen ein zum Guten wie zum Bösen. Vor allem aber stiftet sie Liebe: zwischen Tartaros und Ge,21 in Hephaistos entfacht sie Liebe zu Athene,22 in Kirke zu Odysseus,23 in Heras Auftrag macht sie, dass sich Medeia in Jason verliebt.24

Ihre Günstlinge bedenkt sie mit Wohltaten. Vor dem Wettlauf zwischen Melanion (oder Hippomenes) und der schnellfüßigen Atalanta z. B. erhört sie den Hilferuf des Jünglings und rollt goldene Äpfel in die Rennbahn, die Atalanta verleiten, sich nach ihnen zu bücken. So verliert das Mädchen Zeit und den Lauf.25

Wer dieser Göttin jedoch den Respekt versagt, bekommt ihre Rache zu spüren. Rache ist – nächst der liebestiftenden Kraft – die andere mächtige Waffe der A. So unterscheidet sie sich auch darin wesentlich von Athene. Myrrha verliebt sich in Kyniras, den eigenen Vater, zur Strafe dafür, dass ihre Mutter geprahlt hatte, ihre Tochter sei schöner als A. (s. o.). – Eos, die Göttin der Morgenröte, straft sie mit immerwährender Verliebtheit, weil sie mit Ares geschlafen hat. Pasiphaë, die Gattin des Minos, hat mehrere Jahre der A. nicht geopfert und wird dafür mit einer perversen Liebe zu einem Stier geschlagen.26

Schon in der griechischen Antike tritt an die Seite der A., die die sinnliche Liebe darstellt, eine A., die frei ist von leiblicher Lust. So unterscheidet Platon eine „himmlische“ und eine „irdische“ Liebe.27 Pausanias nennt sogar drei: Urania, die „Himmlische“, die frei ist von leiblicher Liebe, Pandemos, die „Gewöhnliche“, die für den Beischlaf zuständig ist, und Apostrophia, die „Abwenderin“, die die Menschen vor zuchtloser Begierde bewahrt.28

Die Schönheit der Göttin A./Venus manifestiert sich von Anbeginn in ihrer sinnlichen Erscheinung. Ihr charakteristisches Bild zeigt sie seit der klassischen Zeit Griechenlands (5. und 4. Jh. v. Chr.) nackt und wohlgestalt. Man kann ihre Nacktheit, die durch reichen Schmuck noch hervorgehoben wird, geradezu als ihr Attribut bezeichnen (vgl. dagegen die keusche → Artemis!). Auffallend ist ihr fülliges, gekräuseltes oder gewelltes langes Haar. Ihre zahlreichen Attribute lassen sich gruppieren a) in solche, die die Sinne ansprechen, wie eine Blüte, an der A. riecht (in der griechischen Antike: „Duftblüte“), insbesondere die Rose, in der Neuzeit auch Musikinstrumente, b) solche, die auf die Fruchtbarkeit hinweisen, wie der Hase oder Tauben, die auch ihren Wagen ziehen, und der vielsamige Granatapfel, c) Requisiten der Schönheitspflege, meist der Spiegel und aufwendiger Schmuck, vor allem ein reich verzierter Gürtel, der über Liebeszauber verfügt (vgl. → Hera, S. 88 ff.). Trabant der Liebesgöttin ist → Eros/Amor. Einige Attribute weisen auf einzelne Ereignisse in ihrem Mythos hin: Muschel, Schwan, Delfin und Schildkröte auf die Umstände ihrer Geburt aus dem Meer („A. Urania“, die dem Meer entstiegene Tochter des Himmels, deren Begleittier in der Antike häufig eine Gans ist); der Apfel mag an den Schönheitspreis des Paris erinnern. Ein flammendes Herz (auch als Attribut der Göttin) symbolisiert seit der Renaissance die Liebe schlechthin. Überraschend ist die Myrte als Sinnbild der Gattentreue (!) in der Hand einer Göttin, die moralisierenden Interpreten als Flittchen gilt.

Zum nachantiken Verständnis der A. → Venus. 1 Hesiod, theog. 188 ff., 2 Plautus, rud. 704 3 Hom. Hymn. 5, an A., 2 ff. 4 Aelian, de anim. 14,28 5 Hom. Hymn. 5, an A., 45 ff. 6 Apollodor, bibl. 3.12.2 7 9.31.2 8 4.6.1 9 Hesiod, theog. 933 ff.; Apollodor, bibl. 3.4.2; Hygin, fab., praef. 29 10 Ovid, ars 2.582 11 Apollodor, bibl. 3.14.4; Hygin, fab. 251; 12 Hesiod, theog. 201 ff. 13 Nonnos 5.135 ff. u.a. 14 Homer, il. 3.383 ff. 15 il. 20.38 ff. 16 ebd. 5.305 ff. 17 ebd. 21.416 ff. 18 ebd. 3.369 ff. 19 ebd. 21.421 20 il. 5.343 ff. 21 Hesiod, theog. 820 ff. 22 Apollodor, bibl. 3.14.6 23 Hesiod, theog. 1014 ff. 24 Hygin, fab. 22.4 25 Apollodor, bibl. 3.9.2; alle Bewerber vor Melanion hatten verloren und damit ihr Leben verwirkt 26 Hygin, fab. 40.1 27 symp. 180c–e 28 Pausanias 9.16.4

 

APOLLO, lat.; etr. Apulu, Aplu. In der frührömischen Religion gab es keinen dem griechischen → Apollon entsprechenden Gott, abgesehen von dem schlecht fassbaren Veiovis.1 Erst spät fand der Grieche seinen Weg nach Rom, und dann auch nicht in der Komplexität, die ihm eigen ist. Im 8. Jh. v. Chr. brachten griechische Kolonisten den Gott mit nach Ischia und Sizilien, wo Naxos ihre erste Gründung war. Auf dem Festland der Insel Ischia gegenüber gründeten die Griechen ihre Kolonie Kyme (lat. Cumae). Die Sibylle von Cumae war eine Priesterin des A.

In der römischen Religion ist A. wohl vor allem Orakelgott, der Gott der weissagenden Sibyllen und der Gott des reinigenden Sühneopfers (lustratio): Anders als der griechische Apollon, der unerbittliche Rächer, schickt der römische A. nicht Seuchen, sondern befreit von ihnen. In A. Medicus verehren die Römer den Heilgott.

A. reinigt das Heer von Blutschuld. Im Gegensatz dazu weist der griechische Apollon den Herakles zurück, als der ihn bittet, ihn reinzuwaschen, nachdem er Megara und ihre Kinder getötet hat. Vielmehr ist er es selbst, der sich von Blutschuld reinigen lässt, als er die Pytho erlegt hat.2 Während der Zeit der Republik (von etwa 475 v. Chr. an) wird A. zum Musenführer.

Seine Erscheinung gleicht im wesentlichen der des griechischen Apollon. Eine Besonderheit ist der dem Zeus ähnliche blitzeschleudernde A., wie man ihn auf römischen Münzen um 110 v. Chr. sieht (z.B. auf einem Denar von 112/111 v. Chr.). Dieser Typus dürfte auf ein historisches Ereignis zurückgehen: A. soll im Jahr 278 v. Chr. die Kelten mit Blitz und Donner aus Delphi vertrieben haben.3

Es ist evident, dass der Gott in Rom seine schreckenerregenden Aspekte weitgehend abgelegt hat. Dem entspricht, dass die Haus-Apollines in der Funktion von Penaten den Gott nicht mit seinen Attributen Bogen und Pfeilen darstellen, sondern mit Lorbeerkranz oder -stab, Lyra oder Kithara, mit Opfergefäß (Phiale) oder einem Greifen (vgl. S. 28). Der schreckliche, rächende Gott ist dem milden, friedfertigen gewichen, der im Verlauf des 1. Jhs. v. Chr. zugleich auch zum Inbegriff männlicher Schönheit wird.

Rationalistische Deutung sieht in A., der auch in den sibyllinischen Orakeln stets mit Sol gleichgesetzt wird, die Sonne und zugleich die gegensätzliche Wirkung des Gestirns, worin sich die Wesenszüge des mythischen Gottes spiegeln: Die wohltuende Milde einerseits und die verderbende Wirkung der sengenden Sonne andererseits.4 Der wärmenden Sonne schrieb man auch Heilkraft zu; die Vestalinnen sollen den Heilgott als „A. Medice“ und „A. Paean“ angerufen haben.5

Als Gestirn erscheint A./Sol im Strahlenkranz, häufig zusammen mit dem Tierkreiszeichen des Krebses. Er und seine Zwillingsschwester → Diana verkörpern das Tagund das Nachtgestirn (in Gestalt der Selene steht Diana für den Mond).

Die frühen Christen sehen vor allem den Orakelgott A. und machen ihn zur Zielscheibe ihrer Kritik. Unfähig nennt ihn Augustin, unentschieden, doppelsinnig, bösartig und lügenhaft.6 Der Ovide moralisé en prose dagegen will in A. Christus, in Daphne die Jungfrau Maria sehen.7

Herrscher des Absolutismus präsentierten sich mit Vorliebe in der Gestalt des Sonnengottes (Ludwig XIV. als „roi soleil“!). In der gebildeten Welt lebt der heidnische Gott vor allem als Führer der Musen fort, die tanzen zu dem Rhythmus, den A. mit seinem Instrument vorgibt.

1 vgl. Cicero, nat. 3.62 2 Pausanias 2.30.3, Plutarch, quaest. graec. 12; ders., de def. or. 15 3 Pausanias 10.23.1 4 Marcrobius, sat. 1.17.16 5 ebd. 1.17.15 6 Augustin, civ. 1.145 f.; 2.307 f. u. 311; 1.185 f. 7 Maria: Ovide moralisé en prose, de Boer S. 68; vgl. die Kritik Luthers: Enarr. in Gen. 30.9, Werke 43, 1912, S. 668

 

APOLLON, griech., lat. → Apollo, etr. Apulu, Aplu. Einer der Olympier, Sohn des → Zeus und der Titanin Leto, lat. Latona, Zwillingsbruder der → Artemis. Der Ur-A. war vermutlich ein auf Kreta beheimateter Vegetationsgott, der im Laufe der Zeit dann auch Züge eines orientalischen Sonnengotts übernommen hat. In dieser Eigenschaft wurde A. mit dem Titanen Helios (bei den Römern Sol) gleichgesetzt, der die Sonne verkörperte. Als Sonnengott trägt A. den Beinamen Phoibos (griech., „leuchtend“, „rein“, „heilig“; lat. Phoebus), der unter seinen vielen Beinamen neben Nómios (s.u.) der am häufigsten genannte ist. Etliche der Beinamen beziehen sich auf seine Kultstätten, z.B. der Delphische A., der Delische A. (auf der Insel Delos, s.u.) usw.

A. ist einer der ranghöchsten Götter im Olymp, was schon daraus hervorgeht, dass er „zur Rechten des Zeus“ sitzt.1 So wird er oft mit einem Zepter dargestellt. A. ist zudem außerordentlich vielseitig und hat vielerlei Zuständigkeiten. Er ist der Gott der Weissagung, der Medizin, der Musik, der Führer der Musen und Schützer der Herden (A. Nómios: von griech. nómos, „Ordnung“, „Satzung“, „Gesetz“2). Er ordnet, ordnet an und ist ein unerbittlicher Rächer.

Der umfangreiche Mythos des A. beginnt bereits vor seiner und seiner Zwillingsschwester Artemis Geburt. Als die eifersüchtige → Hera, Gemahlin des Zeus, entdeckt, dass Leto von Zeus schwanger ist, verfolgt sie die Frau rachsüchtig. Leto steht vor der Niederkunft, und Inseln und Städte weigern sich, sie aufzunehmen3 aus Furcht vor Hera, die auf jegliche Weise versucht, die Niederkunft zu verhindern.4 Nun bewährt sich schon im Mutterleib die prophetische Gabe des A.: Er weist der Mutter den Weg zur Insel Delos.5 Endlich eilt auch Eileithyia, die Göttin der Geburt, zu Hilfe. Nach neun Tagen kommt Leto nieder. Dabei kniet sie und wirft ihre Arme um eine Palme.6 So gebiert sie Zwillinge: Artemis und A. Das Mädchen sei zuerst auf die Welt gekommen und habe der Mutter bereits bei der Geburt des Bruders Hebammendienste geleistet.7

Eine andere Geschichte erzählt Hygin8: Hera in ihrer Eifersucht habe die schwangere Leto verfolgt und bestimmt, kein Platz unter der Sonne solle ihr Schutz gewähren. Da habe der Meeresgott → Poseidon Leto auf Bitten des Zeus aufgenommen und unter der Insel Orthygia verborgen, wo sie dann ihre beiden Kinder zur Welt brachte. Diese Insel hat ihre eigene Geschichte: Als Zeus auch Letos Schwester Asteria begehrlich nachstellt, verwandeln die Götter das Mädchen in eine Wachtel (griech. órtyga), die wiederum Zeus in einen Stein verwandelt, der dann ins Meer fällt. Als Leto vor der von Hera geschickten Pytho (s.u.) flieht, steigt der Stein auf und wird zur rettenden Insel, die später Delos heißen wird.

Die Titanin Themis füttert den Neugeborenen mit Nektar und Ambrosia, und sogleich zeigt A. seine göttliche Autorität. Vor den staunenden Umstehenden sprengt er seine „goldenen Säuglingsfesseln“ und verkündet sein Vorhaben: „Die Lyra und der geschwungene Bogen sollen immer mir treu sein, und den Menschen will ich den unfehlbaren Willen des Zeus verkünden“.9 Anders als sein Halbbruder → Hermes, der nur Bote des Zeus ist, wird A. auch dessen ordnende Autorität annehmen.

Für den Beginn seines Wirkens kennt der Mythos verschiedene Varianten, in denen zum einen der künftige Orakelgott, zum anderen der Rächer in Erscheinung tritt. Der Homerische Hymnos10 berichtet, A. sei, gerade drei Tage alt,11 aufgebrochen, um die Mutter zu rächen und zugleich einen Ort für ein Orakel zu finden. Er eilt nach Krisa, um unter dem schneebedeckten Parnass über einer engen, wilden Schlucht einen Tempel zu errichten, dessen Fundamente er – der Ordner – selbst legt und damit seinen Kult einrichtet.12 In der Nähe gab es eine Quelle und eine riesige Schlange, die sich in neun Windungen um den Parnass wand und Menschen und Tiere bedrohte.13 A. tötete das Untier mit seinen Pfeilen – allein14 oder gemeinsam mit der Zwillingsschwester.15 Weil der Kadaver unter der heißen Sonne verweste, nannte man den Ort nun „Pytho“ (von griech. pýthestai, „verfaulen“) und den „Drachentöter“ A. den „pythischen A.“.16 Es heißt, der Gott habe mit dieser Tat seine Mutter gerächt. Der Pytho habe er dann Leichenspiele ausgerichtet.17

Apollodor kennt eine weitere Version der Geschichte: A. macht sich nach Delphi auf, um sein Orakel einzurichten.18 Dort besteht aber bereits ein Orakel der Themis, das von einer Schlange (oder einem Drachen) bewacht wird. Das Untier verwüstet das Land und vernichtet Mensch und Tier. A. tötet das Ungeheuer mit seinen Pfeilen und übernimmt das Orakel. So legt der Gott den Grund für sein weiteres Wirken.

Der Mythos des A. lässt im Wesentlichen vier Aspekte des Gottes erkennen: 1. den Ordner und Anordner, der sich im Orakelgott manifestiert, 2. den Musiker und Musenführer, 3. den Rächer, 4. den Heiler. Daraus wird deutlich, dass griechische Götter mit wenigen Ausnahmen (z.B. Vesta oder Pan) wohlwollend und schrecklich zugleich sind, den Menschen im gleichen Maße (angemessen!) Heil wie Unheil bringen.

1. Indem A. ein Orakel gibt, sorgt er für Gesetz und Ordnung. Er übernimmt damit das Erbe der Themis (griech., „Gesetz“, „Satzung“, „Ordnung“), seiner Amme und Erfinderin der Orakelkunst, welche die Weissagung, das Darbringen von Opfern und die den Göttern gehörige Ordnung eingeführt haben soll.19

Eine Version des Mythos besagt, dass A. die Kunst der Mantik (Weissagung) von → Pan erlernt habe.20 Danach erst sei er nach Delphi gegangen, um dort das Orakel von Themis zu übernehmen.

Der wachsame Ordner A. trägt den Beinamen „nómios“ (von nómos, „Ordnung“, vgl. Cicero;21 wohl nicht von nomé, „Weide“). Auch wenn der Name eher nichts mit „Weide“ zu tun hat, ist das Hirtenamt des A. nicht nebensächlich, erweist sich in ihm doch der wachsame Ordner.22 Am Beginn der Kindheitsgeschichte des Hermes erfahren wir, wie er seinem großen Bruder die Herden stiehlt und wie der, beeindruckt vom Gesang des Hermes zur Lyra, seine Rinder gegen das Instrument eintauscht. Eine andere Geschichte, die den Hirten A. betrifft, erzählt Kallimachos23: Als der Gott aus Rache dafür, dass Zeus den Asklepios getötet hat, die Kyklopen erschlägt, will ihn der Vater in den Tartaros verbannen. Doch Leto vermittelt und erwirkt, dass A. zur Sühne für ein Jahr die Herden des Admetos, des Königs von Pherai, zu hüten habe. Unter der Obhut des göttlichen Hirten gedeihen Rinder, Ziegen und Schafe; Rinder und Schafe werfen Zwillinge.24

2. Der musizierende A., der Kitharöde oder Lyraspieler, ist dem Ordner A. wesensverwandt. Das veranschaulicht wohl am besten die Geschichte vom gemeinsamen Mauerbau mit Poseidon (s.o.): Allein durch den Klang seiner Lyra habe A. die Steine zur Mauer gefügt.25 So wie er Mauern fügt, so hat er auch sein Vergnügen am Städtegründen, und er selbst baut die Fundamente.26 Die Macht apollinischer Musik wird offenbar, wenn der wachsame Adler auf dem Zepter des Zeus bei ihrem Klang einschläft, wenn der Blitz durch sie gelöscht wird und selbst der wilde Ares die Waffen sinken lässt. Pindar nennt A. auch einen Tänzer,27 und bei ihm heißt es auch, die goldene Lyra A.s und der Musen lenke den Schritt der Tänzer und den Einsatz der Sänger.28 Die besondere Autorität von Musik in Verbindung mit dem Tanz wird anschaulich auch darin, dass in Griechenland Gesandte ihre Botschaft nicht nur über das bloße gesprochene Wort, sondern singend und tanzend vermittelten.

Der Mythos weiß überdies von den Musen, dass sie singen und tanzen „auf sanften Füßen mit kraftvollem Schritt“.29 So ist die enge Verbindung des A. zu den Musen nur folgerichtig.30 Pausanias wird A. den „Tanzmeister der Musen“ nennen,31 und der Musenführer (lat. Musagetes) wird schließlich zum vorrangigen Verständnis des Gottes in nachantiker Zeit.

Von wesentlicher Bedeutung ist die Art des Instruments, das A. spielt: Es ist das Saiteninstrument, das die ordnende apollinische von der lösenden dionysischen Musik unterscheidet, für die die Flöte, ein Windinstrument, steht (vgl. den Wettstreit zwischen A. und Marsyas, s. u.).

3. In den bekanntesten Geschichten, in denen A. seine schreckliche Seite und seine Macht als Rächer zeigt, bestraft er im Grunde das Überschreiten einer Respektsgrenze, die das Göttliche den Sterblichen setzt, und erweist sich so als Wiederhersteller einer verletzten Ordnung. Da erscheint der, der so oft Phoibos (der Strahlende) genannt wird, finster als einer, der „der Nacht gleicht“.32

Berühmt ist die Geschichte der Niobe, der Gemahlin des thebanischen Mitkönigs Amphion, mit dem sie viele Kinder hatte. Sie brüstete sich, mehr und bessere Kinder zu haben als Leto. Da strafen A. und Artemis diese Anmaßung grausam, indem sie die Kinder der Niobe mit ihren Pfeilen töten. Niobe selbst bleibt am Leben und wird auf dem Berg Sipylos in einen Stein verwandelt, der fortwährend Tränen verströmt.33 Eine Bestrafung für seine Hybris erfährt auch Marsyas (im Unterschied zu → Pan). Der bocksfüßige Satyr fordert A. unbedacht zum musikalischen Wettstreit heraus. Er spielt die Flöte, die → Athene weggeworfen und den verflucht hat, der sie aufheben würde.34 Schiedsrichter sind entweder die Nymphen vom Berg Nysa oder die Musen.35 A., der die Lyra spielt, gewinnt und bestraft den Verlierer, indem er ihn schindet, also ihm die Haut abzieht oder abziehen lässt.36

Den Riesen Tityos, einen Sohn des Zeus und der Elare oder der Ge (→ Gaia), Vater der Europa, tötet er, weil er versucht hat, Leto zu missbrauchen, als sie auf dem Weg nach Delphi war.37

Im Kampf um Troja fallen die Griechen bei A. in Ungnade: Agamemnon hat Chryseis, die Tochter des A. Priesters Chryses, geraubt. Daraufhin straft A. (doch wohl der Sonnengott!) die Griechen, indem er ihnen neun Tage lang mit seinen Pfeilen die Pest ins Lager schickt.38 A. ist es auch, der den tödlichen Pfeil des Paris, Sohn des troischen Königs Priamos, auf Achill lenkt.39