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JOHANNES THIELE, geb. 1954, ist nach dem Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie an der Universität Paderborn seit 1981 freier Schriftsteller und Publizist, Autor erfolgreicher Biographien (»Elisabeth«, »Luise«) und Herausgeber zahlreicher Anthologien (u.a. »Das Buch der Deutschen«, »Die allerschönsten Geistesblitze«, »Das österreichische Zitatenlexikon«). Er lebt und arbeitet in München.

Zum Buch

Die Sieben Weltwunder

Die Sieben Weltwunder sind sieben sagenumwobene Bau- und Kunstwerke der Antike:

1. Die Pyramiden von Gizeh (2590 - 2470 v. Chr.)

2. Die hängenden Gärten der Semiramis (605 - 562 v. Chr.)

3. Der Tempel der Artemis in Ephesos (Mitte des 6. Jh. v. Chr.)

4. Die Statue des Zeus in Olympia (um 430 v. Chr.)

5. Das Mausoleum von Halikarnassos (377 - 353 v. Chr.)

6. Der Koloss von Rhodos (ca. 290 v. Chr.)

7. Der Leuchtturm von Alexandria (ca. 300 v. Chr.)

Heute existieren von diesen Weltwundern nur noch die Pyramiden von Gizeh, alle anderen wurden durch Erdbeben und Kriege zerstört, oder verfielen im Laufe der Zeit vollständig.

Der vorliegende Band beschreibt diese eindruckvollsten technischen Höchstleistungen der antiken Welt rund um die Ägäis und lässt sie wieder auferstehen. Mit Abbildungen und Grundrissen sowie einer ausführlichen Bibliographie.

Johannes Thiele

Die Sieben Weltwunder

Johannes Thiele

Die Sieben
Weltwunder

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Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2012

ISBN: 978-3-8438-0215-4

www.marixverlag.de

INHALT

ERSTE AUFZÄHLUNG DER SIEBEN WELTWUNDER

EINLEITUNG

Ein Kanon der Sehenswürdigkeiten

Die Faszination der Sieben

Eine magische Zahl

Die Spuren der Zeit

ERSTES KAPITEL

DIE GROßE PYRAMIDE VON GIZEH

Ein unlösbares Rätsel

Die Welt der Pharaonen

Die Pyramiden von Gizeh

Idee und Symbol der Pyramiden

Der Bau der Pyramiden

Im Inneren der Cheops-Pyramide

ZWEITES KAPITEL

DIE HÄNGENDEN GÄRTEN VON BABYLON

Die Entzifferung einer Kultur

Das Babylon Nebukadnezars

Die himmlische Stadt

Ischtar und ihr Kult

Das Ischtar-Tor

Der Turm zu Babel – ein übergangenes Weltwunder?

Die Festungsmauer

Die Eroberung Babylons

Alexander in Babylon

Die sagenumwobene Semiramis

Terrassengärten auf dem Dach

Das Problem des Standorts

DRITTES KAPITEL

DIE STATUE DES ZEUS IN OLYMPIA

Der Weg zum Glauben der Götter

Zeus, der Gott

Olympia

Die Olympischen Spiele

Der Zeus-Tempel

Der Tempelbau

Die Zeus-Statue

Phidias und seine Werkstatt

Götterdämmerung

Die Wiederentdeckung Olympias

VIERTES KAPITEL

DER ARTEMIS-TEMPEL VON EPHESOS

Das Vorbild der Großen Mutter

Die Göttin Artemis

Feste in Ephesos

Ein Tempel für die Göttin

Die Statue der Artemis

Die Tat eines Wahnsinnigen

Wo war die Göttin in der Schicksalsnacht?

Das zweite Artemision

Der Untergang des Tempels

Die Suche nach dem versunkenen Heiligtum

FÜNFTES KAPITEL

DAS MAUSOLEUM VON HALIKARNASSOS

Ein prinzipienloser Tyrann

Die Hauptstadt Halikarnassos

Die Idee des Grabmals

Ein Monument großer Träume

Die Baukonzeption

Die Bewunderer

Das Ende des Mausoleums

Wiederentdeckungen

SECHSTES KAPITEL

DER KOLOSS VON RHODOS

Der Mythos des Helios

Rhodos, die Stadt am Meer

Der Erbauer

Der Standort des Koloss

Phantasie und Wirklichkeit

Die Errichtung

Spekulationen über das Aussehen

Der umgestürzte Riese

Die Rekonstruktion durch Herbert Maryon

Faszination bis heute

SIEBTES KAPITEL

DER LEUCHTTURM VON ALEXANDRIA

Alexander der Große

Die Stadt des Königs

Ein Triumph der Technik

Die Konstruktion

Der Betrieb des Leuchtturms

Das Ende des Pharos

BIBLIOGRAPHIE

Das ist der Sinn von allem, was einst war,

daß es nicht bleibt mit seiner ganzen Schwere,

daß es in unserem Herzen wiederkehre,

in uns verwoben, tief und wunderbar.

RAINER MARIA RILKE

ERSTE AUFZÄHLUNG DER SIEBEN WELTWUNDER

Babylons ragende Stadt, ich sah sie mit Mauern, auf denen

Wagen fahren. Ich hab Zeus’ am Alpheios gesehn, sah des Helios Riesenkoloß und die Hängenden Gärten, auch den gewaltigen Bau der Pyramiden am Nil und des Mausolos prächtiges Mal. Doch als ich dann endlich

Artemis’ Tempel erblickt, der in die Wolken sich hebt, blaßte das andre dahin. Ich sagte: »Hat Helios’ Auge außer dem hohen Olymp je etwas Gleiches gesehn?«

ANTIPATROS VON SIDON

(2. Jahrhundert v. Chr.)

EINLEITUNG

Aus Zeit und Bewegung entsteht Vergänglichkeit. Aus der Vergänglichkeit der Wunsch nach Beständigkeit. Aus dem Wunsch nach Beständigkeit der Wille zur Erinnerung, zur Mahnung, zum Monument. Erinnerung aber ist das fragilste, das kostbarste Gut des menschlichen Geistes. Angefochten, verhasst, geliebt. Sie soll unauslöschlich sein, und doch gehen über sie die Stürme der Zeit und der Geschichte hinweg und verwehen alle ihre Spuren. Überlieferung ist daher die einzig wirksame Waffe gegen das Verlöschen der Erinnerung, das Versinken dessen, was Menschen gedacht, geliebt und hervorgebracht haben, in den Nebeln des Vergessens.

In diesem Buch geht es um eine spezifische Form der Tradition: um die Rekonstruktion dessen, was seit der Antike »Weltwunder« genannt wird. Ein Weltwunder ist mehr als eine Sehenswürdigkeit der Vergangenheit, die uns heute nichts mehr angeht. Es ist selbst dort noch, wo wir es mühsam der Vergessenheit entreißen, indem wir alte Schriften studieren, fremde Zeichen entziffern, Schicht um Schicht Erde, Staub und Sand durchsieben, eine einzigartige Einladung zu einer der schönsten menschlichen Fähigkeiten: zum Staunen.

EIN KANON DER SEHENSWÜRDIGKEITEN

Die als Weltwunder »bestaunenswerten Sehenswürdigkeiten« wurden schon in der Antike in einem Kanon festgelegt, dem auch dieses Buch folgt. Um das Jahr 250 v. Chr. entstand die erste Liste der Ta hepta theamata, die nicht im Original erhalten geblieben ist. Insgesamt fünfundzwanzig Listen sind uns allein aus der Antike überliefert, sie gehen jedoch immer wieder auf die erste zurück.

In alten Nachschlagewerken findet man Listen mit einer anderen Zahl oder Zusammensetzung. In der ältesten Weltwunderliste zu Beginn des 3. vorchristlichen Jahrtausends fehlt zum Beispiel der Leuchtturm auf der Insel Pharos vor Alexandria, weil es ihn damals noch gar nicht gegeben hat. Sie enthielt noch ein anderes Weltwunder, nämlich die Mauern von Babylon. Doch schon in der zweitältesten Liste taucht der Leuchtturm vor Alexandria auf. Dafür sind die mit dem Niedergang Babylons verfallenden Festungsmauern aus der Liste gestrichen.

Auch wurden immer wieder neue, noch vorhandene als Ersatz für die versunkenen Weltwunder vorgeschlagen: der Porzellanturm von Nanking, die Große Chinesische Mauer, die Hagia Sophia in Konstantinopel, der Schiefe Turm von Pisa, die Steine in Stonehenge in England – sie alle finden sich auf diversen Listen der Neuzeit.

Die umfangreichste Aufzählung enthält die um 1300 entstandene Liste der »schönsten Werke und Schaustücke der Welt«, die ein Codex in der Bibliothek des Vatikan bewahrt. Hier wurden gleich dreißig Weltwunder hervorgehoben, neben den bekannten Werken, diversen Götterstatuen und Tempeln verschiedener Gottheiten unter anderem das Kolosseum und der Obelisk des Circus Maximus in Rom, das Labyrinth des Minos von Kreta, die Theater in Sidon und Herakleia am Schwarzen Meer, der Säulengang in Sardes.

Doch alle diese kursierenden Listen überstrahlt noch immer die Eine, die Große Liste der Sieben Weltwunder. Die Sieben ist einfach unschlagbar.

DIE FASZINATION DER SIEBEN

Dass es ursprünglich sieben Weltwunder sein mussten, nicht mehr und nicht weniger, hängt mit der zauberischen und symbolischen Bedeutung dieser Zahl zusammen. Ein Zauber, der sich erhalten hat. Er wirkt bis in unsere Zeit fort.

Der griechische Philosoph Aristoteles (um 350 v. Chr.) stellte sich das Gewölbe der Welt aus sieben durchsichtigen Schalen erbaut vor: Sie drehen sich um unsere Erde, eine jede für sich und verschieden schnell. Die Sonne, der Mond, die Planeten wandern mit den gläsernen Sphären. Noch heute lebt dieses Weltbild in der Redensart vom »siebten Himmel« weiter.

Sieben Planeten, von sieben Fürsten regiert, umkreisen in festen Bahnen die Sonne.

Die siebenfache Netzhaut des Auges ist der Ausdruck für die Spieglung der Siebenzahl in der geistigen und kreatürlichen Welt.

Auf sieben Hügeln standen unter anderem die Reichsund Tempelstädte Babylon, Jerusalem und Rom.

Vor zweieinhalbtausend Jahren schon zählten die Griechen sieben Philosophen zu den »sieben Weisen«, zu denen Solon, der große Gesetzgeber Athens, aber auch Thales von Milet gehörte, der Mond- und Sonnenfinsternisse vorausberechnete und – zum großen Staunen der Ägypter – die Höhe der Pyramiden aus der Entfernung mathematisch bestimmen konnte.

Sieben Helden Griechenlands zogen unter Theseus’ Führung gegen das siebentorige Theben.

Sieben junge Männer und sieben junge Frauen hatte Athen siebenmal sieben Jahre nach Kreta, in das Labyrinth des Minos, zu schicken.

Am siebten Tag sollst du ruhen, verlangt das hebräische Gesetz in der Bibel.

Jedes siebente Jahre ließ man die Felder brach liegen.

Als Gleichnis des ewigen Lebens, gespiegelt in den sieben Planeten, stand der siebenarmige Leuchter im jüdischen Tempel.

Und es gab Sieben Weltwunder.

EINE MAGISCHE ZAHL

Wie kam es, dass ausgerechnet die Zahl Sieben einen solch außerordentlichen Rang erhielt? Ein Zufall? Oder eine Laune des Menschen?

Pythagoras, um 570 v. Chr. auf Samos geboren, »weise wie der Sterblichen keiner«, lehrte, dass alle Dinge im Himmel und auf Erden nach Zahlenverhältnissen geordnet sind. Ausgangspunkt war die Entdeckung, dass die Tonhöhe einer gespannten Saite genau im umgekehrten Verhältnis zu ihrer jeweiligen Länge steht.

Forschungen und Messungen ergaben, dass die akustisch-harmonischen Grundverhältnisse sich eingebaut finden in den heiligen Gebäuden der Griechen, ja dass sie letztlich in allen heiligen Bauten der alten Welt wiederzufinden sind. Nach der Symmetrie des Goldenen Schnittes, der heiligen Zahl, wiederholt der Sakralbau als Ganzes, wie in allen seinen Teilen, den Makrokosmos. Sein Urheber ist also nicht der Mensch, sondern die Gottheit selbst.

Pythagoras sprach aus, was die Magier und Priester der alten Kulturen irgendwie zu wissen schienen: Zahlen sind mehr als eine Rechenhilfe. Das Gebäude der Welt ist nach einem mathematischen Plan geschaffen.

Unter den Zahlen spielt die Sieben eine besondere Rolle. Sie ist eine Primzahl, das heißt, sie lässt sich nur durch 1 oder durch sich selbst teilen. Auch 2, 3 und 5 sind Primzahlen; sie lassen sich aber durch Teilung aus der ersten Zehnerreihe im antiken Sinne gewinnen. Die Sieben allein steht für sich; innerhalb dieses Zahlenraumes »zeugt« sie nicht und ist nicht »erzeugt«. Eine magische, eine vollkommene Zahl. Inbegriff der immer sich gleichenden, unwandelbaren Gottheit, die aber zugleich die Veränderung in der Natur und im Leben der Menschen bewirkt.

DIE SPUREN DER ZEIT

Wir wissen heute annähernd, wie die Sieben Weltwunder ausgesehen haben, obwohl sie – bis auf die Pyramiden – schon seit vielen Jahrhunderten zerstört oder untergegangen sind. Doch selbst die Große Pyramide von Gizeh vermag uns nur noch eine Andeutung ihrer einstigen Schönheit zu geben. Was wir heute sehen, ist allein der Kern, sozusagen der Rohbau.

Die Sieben Weltwunder verführen geradezu zum Superlativ, zur Bewunderung ihrer Größe, ihrer Höhe, ihres Wertes. Doch die Zeus-Statue von Olympia ist nicht nur ein tonnenschwerer Klotz aus Elfenbein und anderen kostbaren Materialien, die Große Pyramide nicht nur eine Anhäufung von 2,5 Millionen Steinquadern, der Tempel der Artemis ist nicht nur die Summe ihrer imponierenden Säulen.

Jedes einzelne der Sieben Weltwunder ist vielmehr ein Spiegelbild seiner Zeit und der Menschen, die es erdachten, planten, bauten und mit ihm lebten. Von ihrer einstigen Existenz zeugen heute gewaltige Fundamente, Mauerbruchstücke, Säulenkapitelle, Torsi, Tontafeln, Abbildungen auf antiken Münzen. Wer sich ihnen nähern will, ist auf Vermutungen angewiesen, auf Spekulationen, auf Rekonstruktionsversuche, selbst wenn er alle vorhandenen schriftlichen Quellen und Überlieferungen einer wissenschaftlichen Prüfung unterzieht. Es bleibt ein undefinierbarer Raum für Geschichten und Gerüchte, für Kontroversen und Kalkulationen. Die Sieben Weltwunder sind das denkbar geeignetste Spekulationsobjekt der Forschung.

Die ersten Zeugnisse und Berichte verdanken wir griechischen Historikern und Reiseschriftstellern, zum Beispiel dem stets bewunderungsbereiten und erzählfreudigen Herodot aus Halikarnassos, dessen weltgeschichtliches Werk nicht nur eine antike Quelle ersten Ranges ist, sondern zugleich so etwas wie ein Baedeker, ein Reiseführer durch die Zeit des 5. vorchristlichen Jahrhunderts. Herodot verstand sich nicht als Entdecker neuer Dinge, sondern als Historiker, der festhalten wollte, was er auf den großen Handelsrouten, die damals alles andere als unbeschwerlich zu bereisen waren, an Informationen fand. So schrieb er ein neunteiliges, fesselndes, lebendiges Geschichtswerk über Könige und Künstler, Götter und Helden, Philosophen und Feldherren der gesamten damals bekannten Welt – von Ägypten über Griechenland und Kleinasien bis nach Mesopotamien und die angrenzenden Länder. Dass später manche seiner Behauptungen widerlegt wurden, tut zwar bisweilen seiner Glaubwürdigkeit, nicht aber der Aussagekraft seines Werkes Abbruch.

Ebenfalls skeptisch werden heute die Überlieferungen von Ktesias, Xenophon und Diodorus Siculus beurteilt, vor allem, weil sie sich in ihren Berichten oft einander widersprechen oder gar gegenseitig widerlegen. Die antike Welt war geradezu süchtig nach Geschichten, und es ist nicht auszuschließen, dass so mancher Augenzeugenbericht »aufgepeppt« wurde, um ihn spannender zu machen und um damit dem Publikum entgegenzukommen.

Als zuverlässig gilt der Geograph Strabon, der zahlreiches Material zusammentrug, mit dessen Hilfe versunkene oder verschüttete Städte, Heiligtümer oder Tempel wiedergefunden und rekonstruiert werden konnten.

Und schließlich Pausanias, ein Reiseschriftsteller, der im 2. Jahrhundert n. Chr. einen »Führer durch Griechenland« für römische Reisende schuf und darin einen ausführlichen Überblick über allerlei Wissenswertes gab.

Mit dem Untergang des Römischen Reichs ging auch das Interesse an den Wundern der antiken Welt verloren. Die Christen entdeckten die Weltwunder erst auf ihren Kreuzzügen, sahen sie jedoch als heidnisch an und verwendeten sie zum Teil als Steinbrüche.

Erst die Renaissance erinnerte sich im 15. Jahrhundert wieder an das antike Erbe. Doch noch weitere zweihundert Jahre vergingen, bevor sich der Wiener Architekt Johann Fischer von Erlach (1656–1723) dem genauen Studium der vorhandenen Quellen über die Weltwunder widmete. Er verglich die vorhandenen Münzabbildungen mit den schriftlichen Überlieferungen für seinen »Entwurf einer historischen Architektur«. Seine Rekonstruktionen sind jedoch eine Mischung aus zeichnerischer Akribie und blühender Phantasie.

Erst im vorletzten Jahrhundert, mit dem Aufschwung der Archäologie und der wissenschaftlichen Erforschung der klassischen Antike, wurden die Rekonstruktionen zuverlässiger. Ganze Städte wurden ausgegraben, in Griechenland, in Kleinasien. Tempel, Mauern, Paläste, Theater wurden freigelegt, eine Unzahl Statuen, Keramiken, Schmuck, Waffen und Gebrauchsgegenstände des Alltags ans Tageslicht befördert. Aus dem geheimnissüchtigen und nicht selten raffgierigen Ausgräber der ersten Stunde wurde ein Fährtensucher, ein Gelehrter, ein »Wissenschaftler des Spatens«. »Die einzigen Siege sind die, welche der forschende Geist über die Unwissenheit erringt«, sagte Napoleon Bonaparte.

Durch die Entzifferung der Hieroglyphen und der Keilschrift erfuhr man, dass es vor Griechenland und Rom große Kulturen gegeben hatte – Ägypten, Mesopotamien und die angrenzenden Länder des östlichen Mittelmeerraumes. Kulturen, in denen sich einst die Traditionen, Wissenschaften und Künste entwickelt hatten, in denen die westliche Kultur wurzelt.

Völker und Herrscher vergingen, die großartigsten Zeugnisse der Kultur und der Kunst wurden zertrümmert, zerstört oder gänzlich vernichtet.

Heute können die wenigen Reste, die von den Sieben Weltwundern geblieben sind, nur in zumeist dunklen Museumsräumen bei künstlichem Licht bewundert werden. Sie geben nur mehr eine Ahnung von ihrer einstigen Farbenpracht, ihrer Umgebung im gleißenden Licht, in ihrem Klima und ihrer Landschaft, belebt von den Menschen ihrer Zeit. Wir erhalten nur noch einen rudimentären Einblick in Städte und Länder, die einst den Mittelpunkt der Welt bildeten.

Was blieb, war und ist das Traumbild des menschlichen Bemühens, die Erinnerung an die Gipfelpunkte menschlicher Zivilisation und Kultur; die Erkenntnis, dass die Entwicklungen von gestern, die einer alten, längst vergangenen Welt, uns heute noch immer beeinflussen und prägen.

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Kupferstich von Johann Fischer von Erlach

ERSTES KAPITEL
DIE GROßE PYRAMIDE VON GIZEH

Jahrtausende haben die ägyptischen Pyramiden überdauert. Sie sind das einzige Weltwunder, das noch zu besichtigen ist, und doch sind sie noch immer geheimnisumwittert und von ungelösten Rätseln umgeben. Mag sein, dass die Phantasie das, was endgültig versunken und verschwunden ist, sich prächtiger ausmalt, als es in Wirklichkeit war. Die Pyramiden jedenfalls sind ein großartiger Maßstab für die untergegangene Großartigkeit der übrigen Weltwunder. Was immer an den Pyramiden gemessen werden konnte, was man in einem Atemzug mit ihnen nannte, muss in der Tat staunenswert gewesen sein.

EIN UNLÖSBARES RÄTSEL

Das Kulturland Ägyptens ist nur sechsundzwanzigtausend Quadratkilometer groß, also kleiner als Belgien. Zu beiden Seiten des Nils, der in den Gebirgen und Sümpfen Zentralafrikas entspringt, war es ein schmaler Streifen Land von etwa zwölfhundert Kilometer Länge. Dieser schmale Landstreifen verbreiterte sich zweihundertachtzig Kilometer vor der Mündung des Nils in das Mittelmeer zu einem mit der Spitze nach Süden gerichteten Dreieck, dem Delta. Der Nil und die mit seiner Hilfe geschaffenen Kanäle sowie die idealen klimatischen Verhältnisse waren die Quellen des Reichtums Ägyptens. Mit ausdauerndem Fleiß und einem hohen Grad an Geschicklichkeit bebauten die Ägypter ihre riesige Nil-Oase, und daran hat sich bis heute kaum etwas geändert.

»O Ägypten, Ägypten – deine Religion wird nur noch eine Fabel sein, die deine eigenen Kinder nicht mehr glauben. Nichts wird bleiben als Worte in Stein gehauen. Götter und Menschen werden sich schmerzvoll trennen. Und es wird scheinen, als habe Ägypten umsonst mit frommem Gemüt an der Verehrung der Gottheit gewirkt«, so prophezeite es Priesterweisheit am Ende des ägyptischen Reiches. Der ewig wandernde Sand der Wüste verwehte die heiligen Stätten. Und mit dem Sieg des Christentums im Laufe der Spätantike erlosch die Kenntnis von der »heiligen« Hieroglyphenschrift für fünfzehnhundert Jahre. Ägypten wurde ein unlösbares Rätsel, ein hermetischer Raum für Geheimnisforscher, Abenteurer, Astrologen und Verschwörungstheoretiker.

Erst die Expedition Napoleons nach Ägypten im Jahr 1799 und die damit verbundene Erschließung des Nil-Tals brachte die Wende. Bei Schanzarbeiten französischer Soldaten wurde der sogenannte Stein von Rosetta entdeckt, auf dem ein Priesterdekret in hieroglyphischer, koptischer und griechischer Sprache und Schrift eingemeißelt war. Es gelang dem Franzosen François Champollion, die Schrift zu entziffern und nach zehn Jahren mühsamer Erforschung 1822 zum Verständnis aller erreichbaren Inschriften und Papyri vorzudringen.

Als der geniale Forscher 1832 starb, hatte er den Schlüssel zum wahren Verständnis der Geschichte des alten Ägypten gefunden. Erst jetzt war es möglich, den ägyptischen Kalender, der auf der Einteilung des Jahres in drei Jahreszeiten basierte, zu verstehen und damit die Perioden der Geschichte Ägyptens zu erkennen.

DIE WELT DER PHARAONEN

Fünftausend Jahre lang regierten im altägyptischen Reich die Pharaonen – Könige ihres Landes und als Söhne des Sonnengottes Re unumschränkte Herrscher über Leben und Tod, Mittler zwischen Himmel und Erde. Schon zu Lebzeiten als Gottkönige verehrt, wurden die Pharaonen nach ihrem Tod den anderen Göttern gleichgestellt.

Um seine Stellung als Gottkönig über den Tod hinaus zu manifestieren, begann der Pharao bereits zu Beginn seiner Herrschaft mit dem Bau eines Grabmals, einer Pyramide, die alle bestehenden Bauwerke an Größe, Pracht und Himmelsnähe übertreffen sollte.

Ein wesentlicher Bestandteil der ägyptischen Religion war die Vorstellung, der Pharao werde nach seinem Tod zu den Sternen aufsteigen, wo sein Vater Re, der Große Gott, ihn in seinem himmlischen Sonnenschiff abholen werde.