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Dr. Johanna Brankaer, Jahrgang 1977, hat klassische Philologie, Philosophie, Byzantinistik, Theologie und Orientalismus studiert. Die Promotion in Philosophie erfolgte 2004 an der Freien Universität Brüssel zum Thema „Die Rezeption der Philosophie in Ägypten in der Spätantike“. Es folgten Forschungssemester an der Humboldt-Universität in Berlin und der Friedrich Schiller-Universität in Jena. Derzeit arbeitet sie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster an einem „Lexikon gnostischer Mythologumena“. Diverse Publikationen und Aufsätze über gnostische Schriften: mit H.-G. Betghe „Codex Tchacos“ (2007), „Coptic. A Learning Grammar“ (2010).

Zum Buch

Als religionswissenschaftlicher Begriff bezeichnet Gnosis verschiedene religiöse Lehren und Gruppierungen des 2. und 3. Jahrhunderts, aber auch früherer Vorläufer und steht für ein religiöses Geheimwissen, das die Gnostiker nach eigenem Verständnis von der übrigen Menschheit abhebt. Seit dem 2. Jahrhundert liegen Zeugnisse von Gegnern über diese Bewegung vor, die durch Erkenntnis die Erlösung aus einer feindlichen Welt zu erreichen meint. Neben diesen Zeugnissen existieren noch eine große Anzahl von Originaltexten, die im ägyptischen Wüstensand gefunden wurden und den Reichtum der gnostischen mythologischen Erzählungen aufzeigen. In den Quelltexten werden die wichtigsten gnostischen Lehrer und Systeme offenbar. Darüber hinaus rufen sie auch wichtige Fragen hervor: Gab es eine gnostische Religion? Was war die Rolle der Frau in der Gnosis? Wie verhalten sich Gnosis und Christentum bzw. Gnosis und antike Philosophie? Dieses Buch versammelt nicht nur die Antworten der modernen Gnosisforschung auf diese Fragen, sondern erläutert die bedeutsamsten Elemente der gnostischen Mythologie und illustriert dies anhand einer Textauswahl.

Johanna Brankaer

Die Gnosis

Johanna Brankaer

Die Gnosis

Texte und Kommentar

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Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2012

ISBN: 978-3-8438-0058-7

www.marixverlag.de

INHALT

Vorwort

Der Begriff „Gnosis“

Irenäus und die Gnosis

Die Gnosisforschung vor dem Fund der Originaltexte von Nag Hammadi

Messina: Gnosis und Gnostizismus

Die Gnosis in der neueren Forschung

Grundzüge gnostischer Mythologie

Das Pleroma und der Kosmos

Die Sophia

Die Schöpfung und die Paradiesgeschichte

Die Gnostiker in der Welt

Die Quellen

Die Originalliteratur

Die häresiologische Literatur

Gnostische Lehrer

Simon Magus

Menander

Saturninus/Saturnilos

Basilides

Valentin

Die Valentinianer

Postscriptum

Die Sethianische oder klassische Gnosis

Die Figur des Seth

Die Sethianer in den Berichen der Häresiologen

Die Sethianer in der modernen Fachliteratur

Gab es eine gnostische Religion?

Gab es eine gnostische „Kirche“?

Gnostische Riten

Gnosis und Christentum

Mehrheitskirchliche Gnosisbekämpfung

Gab es eine vorchristliche Gnosis?

Gnosis als christliches Experiment

Gnosis und Philosophie

Frauen in der Gnosis

Subversive Frauen

Die Weiblichkeit in gnostischer Perspektive

Konkrete Frauen in gnostischen Gruppierungen

Epilog

Gnostische Texte

Ptolemäus, Brief an Flora

Der Brief an Rheginus (NHC I,4)

Das Apokryphon des Johannes (BG 2) (Auswahl)

Die Hypostase der Archonten (NHC II,4)

Die dreigestaltige Protennoia (NHC XIII,1)

Der Brief des Petrus an Philippus (NHC VIII,2)

Das Evangelium nach Maria (BG 1)

Die Erzählung über die Seele (NHC II,6) (Auswahl)

Das Evangelium nach Thomas (NHC II,2) (Auswahl)

Das heilige Buch des großen unsichtbaren Geistes („Ägyptisches Evangelium“) (NHC III,2) (Auswahl)

Die Drei Stelen des Seth (NHC VII,5) (Auswahl)

Allogenes (NHC XI,3) (Auswahl)

Apokalypse des Petrus (NHC VII,3)

Das Evangelium nach Judas (CT 3) (Auswahl)

Literaturverzeichnis

Glossar

VORWORT

Es ist nicht einfach, ein allgemeines Buch über die Gnosis zu schreiben. Über viele Teilgebiete der Gnosisforschung gibt es kaum einen Konsens. Wir haben zwar zahlreiche Quellen, die uns aus einer Außenperspektive über die Gnosis ab dem 2. Jh. n.Chr. informieren. Dazu haben wir auch ungefähr 60 gnostische Originaltexte aus Manuskripten ab dem 4. Jh. n.Chr. (Die Texte als solche sind freilich zumeist älter.) Trotzdem wissen wir ziemlich wenig über dieses Phänomen.

Gnosis bedeutet Erkenntnis. Die Erkenntnis steht zentral in verschiedenen Systementwürfen der Antike. Erkenntniserwerb war ein Ziel der Philosophie, aber auch einiger christlicher Theologen. Das Streben nach Erkenntnis, nach Gnosis, kennzeichnet auch die Gnostiker1. Diese Erkenntnis betrifft das eigene Sein in der Welt und die Existenz einer wahren Gottheit, weit über dem Schöpfergott erhaben, und die Lichtwelt, die bei ihm existiert.

Es gibt keine abgegrenzte, klar definierbare Religion, die wir Gnosis nennen. Die Gnosis ist ein vielförmiges Phänomen und daher auch in vieler Hinsicht unfassbar. Über die Sozialgeschichte der Gnosis wissen wir z.B. fast nichts. Da ihre Schriften häufig von mythologischer Art sind, enthüllen sie uns höchstens in indirekter Weise etwas über das Leben, die Organisation, die Praxis der Menschen, die diese Texte benutzt und gelesen haben. Die Gnosis hatte keine eigene Dogmatik, keinen exklusiven Kanon von autoritativen Schriften, keine Lebensregel, keine Ämter, usw.

Auch über die Bedeutung des Begriffes „Gnosis“ gibt es keine Einigkeit in der Forschung. Es gibt keine allgemein akzeptierte Definition des Phänomens Gnosis. Die Gnosis ist ein Phänomen besonderer Art, es ist keine eigentliche Religion. Vielleicht ist es nur eine Tendenz, die wir bei verschiedenen Denkern und in verschiedenen Schriften finden.

In diesem Buch beschränken wir uns auf das Phänomen Gnosis wie es in Zeugnissen des 2. und 3. Jh. n.Chr. fassbar ist. Spätere religiöse Gruppierungen, die auch eine gnostische Komponente haben, wie der Manichäismus, der Mandäismus oder z.B. die Katharer, sind hier nicht im Blick. Man könnte natürlich sagen, dass die Gnosis erst im Manichäismus zu einer wirklichen Religion geworden ist, aber der Manichäismus hatte andererseits auch viele nicht-gnostische Komponenten. Auch die Vorgeschichte der Gnosis, über die es keinen wissenschaftlichen Konsens in der Forschung gibt, wird hier nicht behandelt.

Dieses Buch ist ein Versuch, das Phänomen Gnosis aus verschiedenen Perspektiven zu beschreiben. Wie erscheint die Gnosis in den Originaltexten, wie erscheint sie in den Schriften der Ketzerbekämpfer, also ihrer Gegner? Wie erscheint sie in den mythologischen Erzählungen? Was lehrten die gnostischen Lehrer? Welche gnostischen Gruppierungen gab es? Wie verhielten sich Gnosis und Christentum, wie verhielten sich Gnosis und Philosophie? Hatte die Frau eine besondere Rolle in der Gnosis?

Ein wichtiges Thema dieses Buches ist das Gleichgewicht der Inkulturation und der Abgrenzung der Gnosis. Die Gnosis wird hier in ihrem hellenistischen und frühchristlichen Kontext gesehen. Die Gnosis war kein Fremdkörper in der spätantiken Kultur, denn sie war in ihrer kulturellen Umwelt fest verwurzelt. Genau diese Verwurzlung macht es so schwierig, sie als eigenständiges Phänomen zu umschreiben. Dass sie aber als Teil der antiken und christlichen Kultur erscheint, ist eine wichtige Erkenntnis, die weite Teile dieses Buches bestimmten.

Ich möchte mich bei Prof. Dr. Manuel Vogel bedanken, weil er bezüglich dieses Buches an mich gedacht hat.

Ich möchte mich auch bei Prof. Dr. Hans-Gebhard Bethge bedanken. Er war so freundlich, die ersten Entwürfe der Texte zu lesen und stets schnell seine Bemerkungen und Vorschläge zu sprachlichen Verbesserungen zur Verfügung zu stellen.

Auch bei Prof. Dr. Jürgen Wehnert möchte ich mich bedanken. Er hat in sehr kurzer Zeit noch wichtige Partien dieses Buches durchgelesen.

Schließlich möchte ich mich bei den Menschen vom Marix-Verlag bedanken, besonders bei Frau Miriam Zöller, Frau Nicole Ehlers und Dr. Paul Metzger.

Am Ende dieses Bandes findet sich ein Glossar mit dem technischen Vokabular.

1 Mit dem Terminus „Gnostiker“ werden hier sowohl Gnostikerinnen als auch Gnostiker bezeichnet.

DER BEGRIFF „GNOSIS

Der Begriff „Gnosis“ hat eine lange Geschichte bzw. Wirkungsgeschichte. Die ältesten Zeugnisse finden wir in den Schriften der Ketzerbekämpfer. Diese bezeugen sowohl die Bezeichnung „Gnosis“ für die Bewegung als auch die Bezeichnung „Gnostiker“ (gnostikos) für bestimmte Anhänger der Gnosis. In der Neuzeit wurde der Terminus „Gnostizismus“ eingeführt, der seit dem Kongress von Messina im Jahr 1966 für die Bewegung, die die Häresiologen „Gnosis“ nannten, angenommen wurde. Seit dem Ende des 20. Jh. ist der Begriff „Gnosis“ selbst in Frage gestellt. Daraufhin hat sich eine Diskussion über die Frage entwickelt, ob man den Terminus „Gnosis“ überhaupt noch verwenden soll. Wenn wir ihn doch noch benutzen, so sollten wir ihn neu umschreiben bzw. definieren.

IRENÄUS UND DIE GNOSIS

Irenäus wurde in der ersten Hälfte des 2. Jh. in Kleinasien geboren, wo er ein Schüler des zu den „apostolischen Vätern“ zählenden Polykarp war, der nach Irenäus ein Schüler des Apostels Johannes war. Um 177 war er wahrscheinlich schon Bischof von Lyon in Gallien, nachdem sein Vorgänger Photinus das Martyrium erlitt. Um 180 hat er seine „Entlarvung und Widerlegung der fälschlich so genannten Erkenntnis (Gnosis)“ in fünf Büchern verfasst. Dieses Werk ist auch unter dem lateinischen Namen Adversus Haereses („Gegen die Häresien“) bekannt. Gnostiker hat er in seiner eigenen Gemeinde kennengelernt, obwohl er wahrscheinlich auch während eines Aufenthalts in Rom über sie Kenntnisse bekommen hat. Er hat sich dabei wahrscheinlich auch auf ein älteres, verlorengegangenes Werk des christlichen Philosophen Justin, der in Rom lehrte, bezogen.

Dass Irenäus sein Werk gegen die fälschlich so genannte Erkenntnis schrieb, impliziert, dass seine Gegner ihre eigene Lehre als „Erkenntnis“, Gnosis auf Griechisch, verstanden. Das war in der Antike nicht so außergewöhnlich. Sowohl griechische Philosophen als auch christliche Lehrer beanspruchten eine besondere Erkenntnis. Neu ist aber, dass Personen mit dem Adjektiv gnostikos („gnostisch“) bezeichnet werden. Irenäus benutzt diese Terminologie nicht für alle Gnostiker, sondern nur für bestimmte Gruppen. Die Kategorie „Gnosis“ wurde aber für alle gnostische – und einige jetzt nicht mehr als gnostisch angesehene – Systeme und Denker benutzt.

DIE GNOSISFORSCHUNG VOR DEM FUND DER ORIGINALTEXTE VON NAG HAMMADI

Wir beginnen diese Übersicht mit Adolf von Harnack (1851-1930), dem berühmten Berliner Kirchengeschichtler und Theologen. Er hat die Gnosis als „akute Hellenisierung des Christentums“ gesehen2. Es geht um einen Versuch, das Christentum in eine absolute Religion in hellenistischem Geist zu wandeln. Die Gnosis ist nach seiner Meinung ein grundsätzlich christliches Phänomen mit folgenden Grundzügen: Es gibt einen Unterschied zwischen dem wahren Gott und dem Schöpfergott des AT. Das Böse wurde als eine physische Macht gesehen, der Materie inhärent, die als ewiges und unabhängiges Prinzip dargestellt wurde. Es wird zwischen dem himmlischen und dem menschlichen Christus unterschieden. Die Aufgabe Christi ist das Wiedervereinigen dessen mit Gott, was von Gott durch Kontakt mit der Materie getrennt ist. Nur die spirituellen Menschen können die heilbringende Erkenntnis (Gnosis) empfangen und erlöst werden. Die Idee einer körperlichen Auferstehung wurde verworfen zugunsten der Sicht, dass die Gnostiker schon in der Welt ihrem Wesen nach unsterblich sind. Die Gnostiker kannten nur zwei Arten ethischen Verhaltens, strikten Asketismus oder Libertinismus. Wie die Häresiologen Hippolyt und Tertullian war von Harnack der Meinung, dass die Gnosis von der griechischen Philosophie beeinflusst wurde.

Am Ende des 19. Jh. interessierte sich die sogenannte Religionsgeschichtliche Schule für die Gnosis. Die wichtigsten Vertreter waren Wilhelm Bousset und Richard Reitzenstein. Sie sahen den Ursprung der Gnosis in der Babylonisch-Iranischen Religion. Dieser orientalische Einfluss ist vor allem deutlich im Mythos vom Urmenschen. Der Urmensch, aus dessen geopfertem Körper in alten persischen Mythen die Welt entstanden ist, wurde in der Gnosis der proanthropos (Vor-Mensch), der erstgeborene Sohn der Gottheit, der am Anfang der Entstehung der Welt in die Materie herabsteigt. So entsteht alles in der Welt als Mischung von Licht (des Urmenschen) und Finsternis (der Materie). Dieser Urmensch ist auch eine Erlöserfigur, die die Lichtfunken in der menschlichen Seele befreit und mit ihrem Ursprung vereint. Die Gnosis wird also nicht als innerchristliches religiöses Phänomen gesehen. Das Gewicht der griechischen Philosophie für die Gnosis wird als weniger wichtig geachtet als die Mysterienkulte. Es ist nicht das Studium philosophischer Schriften, sondern die Teilnahme an Mysterienkulten, die zur Erlösung führt. In den sechziger Jahren des 20. Jh. haben Carsten Colpe und Hans-Martin Schenke gezeigt, dass der Mythos vom Urmenschen kein Teil der persischen Religion war.

Seit 1934 publizierte Hans Jonas seinen wichtigen Beitrag zur Gnosisforschung, Gnosis und spätantiker Geist. In diesem und in späteren Werken präsentiert er die Bedeutung und den Charakter der Gnosis mit Hilfe der existentialistischen Philosophie Martin Heideggers. Anders als die Religionsgeschichtliche Schule sucht er die Wurzeln der Gnosis nicht an einem bestimmten geographischen Ort oder in einer anderen Religion, sondern in der mentalen und sozialen Atmosphäre der Spätantike. Zentral bei diesem Verständnis ist die Erfahrung der Entfremdung. Der Gnostiker fühlt sich als in diese weltliche Existenz geworfen. Das eigentliche Selbst des Menschen ist die göttliche Komponente in ihm, die der Transzendenz angehört und Objekt der Erlösung ist. Erlösung ist die Rückkehr zur transzendenten Wirklichkeit. Die Erfahrung der Weltfremdheit beschränkte sich nicht auf die eigentliche Gnosis, sondern war nach Jonas typisch für die ganze Spätantike.

MESSINA: GNOSIS UND GNOSTIZISMUS

Im Jahr 1966, mehr als 20 Jahre nach dem Fund der damals freilich erst in den Anfängen bekannt gewordenen gnostischen Bibliothek von Nag Hammadi, wurde im italienischen Messina die erste große Gnosistagung organisiert. Im Schlussdokument dieses Kongresses wurden die Begriffe „Gnosis“ und „Gnostizismus“ neu umschrieben. Unter dem Stichwort „Gnostizismus“ verstand man jene „Gruppe von Systemen des 2. Jh. nach Christus“, die bei Irenäus als „Gnosis“ bezeichnet wurde. Mit dem Stichwort „Gnosis“ hingegen bezeichnete man in allgemeiner Weise das „Wissen um göttliche Geheimnisse, das einer Elite vorbehalten ist“. Der sogenannte „Gnostizismus“ wird in folgender Weise umschrieben:

Le Origine dello Gnosticismo, documento finale3: Der Gnostizismus der Sekten des zweiten Jahrhunderts enthält eine Reihe zusammenhängender Charakteristika, die man in die Vorstellung von der Gegenwart eines göttlichen “Funkens” im Menschen zusammenfassen kann, welcher aus der göttlichen Welt hervorgegangen und in diese Welt des Schicksals, der Geburt und des Todes gefallen ist, und der durch das göttliche Gegenstück seiner selbst wiedererweckt werden muss, um endgültig wiederhergestellt zu sein. Diese Vorstellung, neben der auch andere Anschauungen von einer „Abwärtsentwicklung“ des Göttlichen zu berücksichtigen sind, gründet sich ontologisch auf die Anschauung von einer Abwärtsentwicklung des Göttlichen, dessen äußerster Rand (oftmals Sophia oder Ennoia genannt) schicksalhaft einer Krise anheimfallen und – wenn auch nur indirekt – diese Welt hervorzubringen hatte, an welcher er dann insofern nicht desinteressiert sein kann, als er das Pneuma wieder herausholen muss (Dualismus auf monistischen Hintergrund, der sich in einer doppelten Bewegung – Abwärtsentwicklung und Wiederherstellung – ausdrückt.)

Die hier erwähnten Charakteristika sind alle dem „gnostischen Mythos“ entnommen. Dieser Mythos, wenn er auch in unterschiedlichen Versionen in verschiedenen Schriften begegnet, ist allerdings kein Teil aller gnostischen Systementwürfe und Texte.

Neben den Termini „Gnosis“ und „Gnostizismus“ hat die Konferenz von Messina zwei weitere neue Begriffe eingeführt. Der Terminus „prägnostisch“ verweist auf die zeitlich frühere Bezeugung verschiedener Themen und Motive, in denen sich der eigentliche „Gnostizismus“ noch nicht ausgebildet hat. Der Terminus „protognostisch“ bezieht sich auf Systementwürfe, in denen man das Wesentliche des „Gnostizismus“ findet, die aber nicht zum „Gnostizismus“ des 2. Jh. gehören.

Die Definition von Messina impliziert, dass der Terminus „Gnostizismus“ sich auf die gnostischen Bewegungen ab dem 2. Jh. bezieht, die von den Häresiologen bekämpft wurden, während der Terminus „Protognostizismus“ auf vorchristliche und außerchristliche gnostische Systementwürfe hinweist.

Es hat nie einen wirklichen Konsens über die Definitionen von Messina gegeben. Im deutschen Sprachraum wurde z.B. weiterhin der Terminus Gnosis benutzt, um über die von den Häresiologen bekämpften Systeme und Denker zu sprechen.

DIE GNOSIS IN DER NEUEREN FORSCHUNG

Im Jahr 1996 hat Michael A. Williams einen gewichtigen Beitrag zur neueren Gnosisforschung publiziert. In seinem Buch Rethinking Gnosticism. An Argument for Dismantling a Dubious Category schlägt er vor, den Terminus „Gnosis“ weiterhin nicht mehr zu benutzen. Es gibt hierfür zwei wichtige Gründe. Einerseits ist der Begriff „Gnosis“ (auf Englisch gnosticism) ein modernes Konstrukt, das nicht auf eine allgemeine Selbstbezeichnung der Gruppen zurückgeht, die so genannt werden. Unter diesem Stichwort haben alte und moderne Häresiologen ein typologisches Modell bezeichnet, das nicht mit einem eindeutigen religiösen Phänomen zusammenfällt. Von den Gruppen, die von den alten Ketzerbekämpfern zur Gnosis gerechnet werden, werden einige auch jetzt noch als gnostisch angesehen, andere aber nicht. Andererseits werden seit Irenäus mit der Kategorie „Gnosis“ bestimmte Kennzeichen verbunden, die fälschlicherweise den „Gnostikern“ zugeschrieben werden. Bestimmte Klischees, z.B. dass die Gnosis eine Protestbewegung ist, dass sie andere Religionen unterläuft, dass die Gnostiker die Welt und das Leben darin ganz ablehnen, dass sie den Körper hassen, dass sie keine echte Ethik entwickelt haben, usw. entsprechen eher den Vorurteilen der Häresiologen als der Realität.

Michael Williams schlägt vor, statt des Terminus „Gnosis“ den Begriff „biblical demiurgy“ (biblisches Weltschöpfertum) zu benutzen. Mit diesem neuen Konstrukt würden die meisten „gnostischen“ Systeme bezeichnet, in denen ein Mythos von einem niederen Schöpfergott oder Demiurgen enthalten ist. Im Gefolge des Erscheinens dieses Buches wurde die wissenschaftliche Diskussion über den Begriff „Gnosis“ weitergeführt. Einige Spezialisten meinen, dass wir nur noch über bestimmte gnostische Sekten reden können, z.B. die Valentinianer oder die Sethianer, ohne den übergreifenden Begriff „Gnosis“ zu benutzen. Andere begrenzen den Terminus „Gnostiker“ auf eine bestimmte Gruppe, z.B. die Sethianer.

Fast fünfzehn Jahre nach dem Erscheinen von Rethinking Gnosticism wird der Terminus „Gnosis“ immer noch von Wissenschaftlern und Laien benutzt. Es ist so, wie Kurt Rudolph es gesagt hat: Man braucht ein Stichwort, um über diese Kategorie zu reden und der Terminus „Gnosis“, den er gegenüber dem Begriff „Gnostizismus“ bevorzugt, ist unter den Spezialisten seit langem verbreitet. Der Terminus ist in der Tat bisher nicht durch andere Vorschläge ersetzt worden. Der auf Deutsch benutzte Begriff „Gnosis“ ist dabei auch weniger kontrovers als die englische Bezeichnung „gnosticism“, ein Begriff, der erst aus der Neuzeit stammt.

Wenn der Begriff „Gnosis“ ein typologisches Konstrukt ist, dann ist es wichtig zu erwähnen, was man unter diesem Stichwort versteht. Wie Michael Williams schon gezeigt hat, wird eine Vielfalt von Kennzeichen ungerechterweise mit der Gnosis verbunden. Sie stammen aus der Sichtweise der Häresiologen. Ihre feindlichen Bezeichnungen wurden von vielen modernen Forschern übernommen. So wird die Gnosis z.B. oft als Ketzerei gegen die Orthodoxie betrachtet. Dies ist jedoch problematisch. Neben anderen warnt Karen L. King in ihrem 2003 erschienenen What is Gnosticism? vor einer Übernahme der häresiologischen Kategorien. Sie meint, dass viele Forscherinnen und Forscher die Gnostiker immer noch durch die Augen der Ketzerbekämpfer sehen. Sie sehen die Gnosis als ein abgeleitetes Produkt eines reinen orthodoxen Christentums. Die Beschäftigung mit Genealogie und Typologie der Gnosis geht ihres Erachtens auch auf die häresiologische Sicht zurück. Züge der genealogischen und typologischen Annäherung an das Phänomen Gnosis sind die Beschäftigung mit Ursprung, Wesen und Reinheit. In dieser Weise wird die Gnosis als „das Andere“ konstruiert, als das, was der Orthodoxie gegenübersteht. Dass mehrheitskirchliches Christentum und Gnosis einander in ihrer Entwicklung auch nahe standen, wird somit verdunkelt. Genealogie und Typologie präsentieren die Gnosis als ein eindeutiges Phänomen, aber die Originaltexte zeigen uns, dass das nicht der Fall ist. Wenn man den Begriff „Gnosis“ definieren will, muss man deutlich machen, was die Voraussetzungen dieser Definition sind. Man sollte sich auch bewusst sein, dass jede Definition dieses Phänomens provisorisch ist.

Christoph Markschies schlägt u.a. in seiner Publikation Die Gnosis aus 2001 vor, die Kategorie „Gnosis“ weiterhin zu benutzen. Er hat ein typologisches Modell herausgearbeitet, nach dem die Gnosis mehrere Grundzüge hat, die man in den Texten finden kann4:

1. Die Erfahrung eines vollkommen jenseitigen, fernen obersten Gottes;

2. die Einführung weiterer göttlicher Figuren oder die Aufspaltung der vorhandenen Figuren in solche, die dem Menschen näher sind als der ferne oberste Gott;

3. die Einschätzung von Welt und Materie als böser Schöpfung und die damit verbundene Erfahrung der Fremdheit des Gnostikers in der Welt;

4. die Einführung eines Schöpfergottes oder Demiurgen („Handwerker“), zum Teil nur als unwissend, zum Teil aber als böse geschildert;

5. die Erklärung dieses Zustandes durch ein mythologisches Drama, in dem ein göttliches Element aus seiner Sphäre in eine böse Welt fällt und als göttlicher Funke in Menschen einer Klasse schlummert und daraus befreit werden kann;

6. eine Erkenntnis („Gnosis“) über diesen Zustand, die aber nur durch eine jenseitige Erlösergestalt zu gewinnen ist, die aus einer oberen Sphäre hinab- und wieder hinaufsteigt;

7. die Erlösung durch die Erkenntnis des Menschen, dass Gott (bzw. der Funke) in ihm ist;

8. eine unterschiedlich ausgeprägte Tendenz zum Dualismus, die sich im Gottesbegriff, in der Entgegensetzung von Geist und Materie, in der Anthropologie äußern kann.

Der Gnosisbegriff von Markschies basiert vor allem auf einem gnostischen Mythos, der die Entfaltung der göttlichen Realität, die Schöpfung der Welt durch einen niederen Gott und die Erlösung durch Erkenntnis umfasst. In diesem Mythos ist die existenzielle Geworfenheit in eine fremde Welt enthalten, die auch in dem Gnosisverständnis von Hans Jonas prägend war. Diese Typisierung der Gnosis verzichtet auf eine soziologische Charakterisierung der Bewegung. Letztere Dimension ist ja auch viel schwieriger zu fassen. Das Problem einer typologischen Definition besteht darin, dass sie Bausteine, die sich in verschiedenen Schriften finden, als Essenz des Phänomens versteht. Doch findet man für jedes Element der Typologie Gegenbeispiele in den Widerlegungen der Häresiologen und vor allem auch in den Originaltexten. Es gibt z.B. zahlreiche von der Forschung weithin als gnostisch angesehene Schriften, in denen der negativ gesehene Schöpfergott keine Rolle spielt (u.a. Evangelium Veritatis, Eugnostos, Allogenes). Auch wenn man oft in gnostischen Schriften das Gegenüber von göttlichem Pleroma und erschaffenem Kosmos findet, sind diese Systementwürfe nicht immer ganz dualistisch, weil die Welt auch noch zur überragenden Vorsehung des wahren Gottes gehören kann (u.a. Tractatus Tripartitus, Hypostase der Archonten). Die „Weltfremdheit“ könnte suggerieren, dass die Gnostiker das Leben in der Welt (und im Körper) ablehnen und z.B. der Politik und der Ethik gegenüber gleichgültig sind. Wir haben aber keine Zeugnisse, die das wirklich belegen können. In vielen gnostischen Schriften gibt es nämlich klar erkennbar eine Beschäftigung mit der innerweltlichen Ethik. Dazu findet man auch viele Beispiele für das Bedürfnis, die gnostische Lehre weiter in der Welt zu verkündigen (u.a. der Brief des Petrus an Philippus und die Apokalypse des Petrus).

Barbara Aland schlägt in ihrem Buch Was ist Gnosis? im Jahr 2009 folgende Kurzdefinition vor: „Gnosis gibt die christliche, durch Offenbarung aufgedeckte und durch Offenbarung zugesagte Erfahrung von Fall und Errettung wieder. Sie wird in bildhafter, mythisch-narrativer oder philosophieartiger Form dargestellt.“5 Zentral in dieser Definition ist die Tatsache, dass der Gnostiker Offenbarungen über Fall und Errettung empfängt. Die von Hans Jonas vielbetonte Fremdheit des Gnostikers in der Welt ist für sie erst sekundär im Selbstverständnis des Gnostikers. Zuerst gibt es seinen Jubel und seine Freude über die göttliche Offenbarung, über die Erlösung und das positive Selbstbild, das daraus hervorgeht. Die Ablehnung der Welt kommt erst nach der Anerkennung einer höheren Wirklichkeit. Diese Welt wird erst mit der aus Offenbarungen erworbenen Erkenntnis retrospektiv in ihrer Begrenztheit bzw. ihrer Schlechtigkeit erkannt. Ein anderes wichtiges Element der Definition von Barbara Aland ist, dass die Gnosis ein grundlegend christliches Phänomen ist. Dass sich die Gnosis christlich versteht, geht auch aus den Polemiken der Häresiologen hervor. Diese Polemiken lassen eine bestimmte Nähe zwischen den Ketzerbekämpfern und ihren Gegnern erkennen. Irenäus schreibt, dass die Gefahr gerade darin liegt, dass die Gnostiker so ähnlich reden wie die Christen der Mehrheitskirche, dabei aber ganz Verschiedenes meinen (I, Praef.). Was Irenäus den Gnostikern vorwirft, ist ihr Aufgeben des eschatologischen Vorbehaltes und ihre Vergöttlichung des Menschen. Ebenso wie Christoph Markschies stellt auch Barbara Aland die Frage, wie sich die Gnosis auf dem „Marktplatz der religiösen Möglichkeiten“ situiert hat. Markschies redet vom Experimentieren der Gnostiker im „Laboratorium der christlichen Theologie des 2. Jh.6“ Beide Autoren meinen, dass die Gnosis ein Versuch war, das Christentum auch für die (halb-)gebildete Klasse ihrer Zeit attraktiv zu machen. Hierzu greifen die Gnostiker auf Mythen und Popularphilosophie zurück. So wird auch deutlich, weshalb die Gnosis so viele Ausdrucksformen kennt. Sie ist vielgestaltig, weil sie sich in einen pluralistischen Kontext einschreibt.

Die Diskussion über den Gnosisbegriff hat deutlich gemacht, dass jeder, der den Terminus „Gnosis“ verwendet, diesen Begriff auch – sei es provisorisch – umschreiben muss. Dieser Sachverhalt lässt es nicht zu, das Phänomen „Gnosis“ ganz genau abzugrenzen. Die hier versuchte Definition legt ein Zentrum fest, um das herum sich die verschiedenen konkreten gnostischen Erscheinungsformen situieren. Einige sind diesem Zentrum sehr nahe, andere befinden sich eher an der Peripherie und sind auch mit anderen Strömungen sowie der Hermetik oder dem Manichäismus verwandt. Das Gnosisverständnis dieses Buches beinhaltet folgende Grundzüge:

1. Es geht um Bewegungen, die sich ab dem 2. Jh. innerhalb – im „Laboratorium“ – des Christentums entwickeln.

2. Die Gnostiker glauben, dass sie durch eine besondere Erkenntnis, meistens von einer Erlösergestalt von außen vermittelt, erlöst und über die Welt erhaben sind.

3. Die positive Anthropologie – der Glaube, dass man mit einer höheren Wirklichkeit verbunden ist – hat oft eine negative Bewertung der Welt und der Materie zur Folge.

4. Die Gnostiker stellen ihr Weltverständnis in Kunstmythen dar, in denen der Ursprung der Welt durch den Fall eines höheren Wesens erklärt wird; oft schildern sie dabei einen niederen Schöpfergott, der unwissend oder sogar schlecht ist.

Zu den wichtigen Elementen dieses Definitionsversuches gehört die innerchristliche Situierung des Phänomens Gnosis. Es ist freilich möglich, dass bestimmte gnostische Bewegungen in ihrer Entwicklung einen größeren Abstand zum Christentum gewonnen haben. Diese Abstandsnahme ist somit sekundär. Barbara Aland ist der Überzeugung, dass die Gnosis zutiefst christlich bestimmt war, indem sie den Sachverhalt von Fall und Errettung als zentral ansieht. M.E. geht ein positives Verständnis des Selbst der mehr oder weniger ausgesprochenen Ablehnung der Welt und des Körpers voraus. Die Gnosis ist nicht zuerst eine Protestbewegung, die sich von der Welt und dem Leben in ihr abkehrt. Sie interpretiert die Welt erst aus der Erfahrung der Erlösung, die auch eine Erlösung aus der irdischen Beschränktheit ist. Die gnostischen Mythen sind zahlreich und verschieden. Dass der Ursprung der Welt in einem Fall bzw. einem Fehler bzw. einer Degeneration einer höheren Wirklichkeit liegt, ist ein Element, das man in vielen Erzählungen findet. Dabei wird die Welt oft von einem niederen Schöpfergott bzw. Demiurgen erschaffen, der häufig unwissend ist über erhabenere Sachverhalte. Der oft unter Bezugnahme auf den biblischen Schöpfungsbericht bzw. in Uminterpretation präsentierte Schöpfungsmythos findet sich in verschiedenen gnostischen Schriften und wird in anderen vorausgesetzt. Es gibt aber auch gnostische Texte, in denen die Entstehung der Welt und ihr minderwertiger Schöpfer nicht zur Sprache kommen. Diese Schriften umfassen aber fast alle den Sachverhalt, dass man durch Offenbarungen zu einer besonderen Erkenntnis gelangt, die Grund der Erlösung ist. Dieser Zug scheint mir dann auch grundsätzlicher für die Gnosis zu sein als der Schöpfungsmythos. Wenn wir die Gnosis aber nur als Bewegung, die an eine Erlösung durch Erkenntnis glaubt, definieren, ist die Umschreibung nicht ausreichend genau. Auch nicht-gnostische Autoren und Bewegungen haben sich auf eine Art von heilbringender Erkenntnis berufen, wie es auch in der Definition von Gnosis von Messina erwähnt wird (s.o.). So hat sich z.B. auch der christliche Philosoph Klemens von Alexandrien auf eine höhere Erkenntnis berufen. Deswegen ziehen wir auch die gnostischen Mythen heran, die für bestimmte Bewegungen ab dem 2. Jh. spezifischer sind. Das Wesentliche dieser Bewegungen ist aber m.E. die Anthropologie, selbst wenn diese auch in anderen Kontexten auftaucht. Man sollte die Gnosis nicht nur in den Begriffen beschreiben, die sie von anderen Strömungen unterscheiden. Auch das, was sie gemeinsam haben, ist erleuchtend für ein besseres Gnosisverständnis.

2 A. von Harnack, Dogmengeschichte I, 223-266.

3 „Vorschlag für eine terminologische und begriffliche Übereinkunft zum Thema des Colloquiums“, in: U. Bianchi, Le origini dello gnosticismo, xxix-xxx.

4 C. Markschies, Die Gnosis, 25-26.

5 B. Aland, Was ist Gnosis?, 2.

6 C. Markschies, Gnosis und Christentum, 48.

GRUNDZÜGE GNOSTISCHER MYTHOLOGIE

In diesem Kapitel werden einige Züge der gnostischen Mythologie behandelt. Dabei muss man aber den Vorbehalt machen, dass es nicht eine einheitliche Mythologie gibt. Es gibt verschiedene Themen und Motive, die in unterschiedlichen Varianten begegnen. Es gibt keinen ursprünglichen Mythos, von dem die bezeugten Mythen abgeleitet wären. Es gibt eher einen Komplex von mythologischen Elementen, die von den gnostischen Mythopoeten frei kombiniert wurden.

DAS PLEROMA UND DER KOSMOS

In allen gnostischen Systementwürfen gibt es einen Kontrast zwischen dem Pleroma, der überweltlichen Fülle von Äonen, und dem Kosmos, der erschaffenen Welt. Dieses Gegenüber ist aber kein Dualismus im eigentlichen Sinne. Kosmos und Pleroma sind nicht gleichursprünglich. Das Pleroma ist ewig und unvergänglich. Es ist die göttliche, immaterielle Wirklichkeit. Der Kosmos ist nach dem Pleroma entstanden, durch einen Fehler innerhalb des Pleromas – meistens durch den Fall der Sophia. Er ist also sekundärer Natur. Er ist entstanden und wird auch wieder vergehen. Das Pleroma ist die Entfaltung der höchsten Gottheit, während der Kosmos das Produkt eines niederen Schöpfergottes ist. Das Pleroma besteht aus Äonen, Ewigkeiten, die als persönliche Entitäten erscheinen. Die ursprünglichste Entität ist der Vater, der bei den Valentinianern auch „Bythos“ („Tiefe, Urgrund“) und im Sethianismus „Unsichtbarer Geist“ genannt wird7. Sowohl im Valentinianismus als auch im sethianischen System gibt es ein weibliches Wesen, mit der der Vater die anderen Äonen zeugt. Im Valentinianismus geht es um „Sige“ („Stille“) bzw. „Ennoia“ („Gedanke“). Im Sethianismus heißt diese Figur Barbelo – diese stellt auch den ersten Gedanken des Vaters da. Das weibliche Prinzip ist also vom Vater abgeleitet: Es ist sein (erster) Gedanke, der hypostasiert, d.h. zu einer selbständigen Entität wird. In einer Reihe von sethianischen Schriften ist die Barbelo in drei Subäonen aufgeteilt: „Kalyptos“ („Verborgener“), „Protophanes“ („Ersterschienener“) und „Autogenes“ („Selbstentstandener“). Diese stellen die Entwicklung des ersten Gedankens aus dem Vater dar: Zuerst ist das Gedachte noch verborgen, dann erscheint es, und dann bringt es sich selbst hervor. Es gibt sethianische Texte, in denen es noch den „Dreifach Kräftigen“ gibt, zwischen der Barbelo und dem Vater. Dieser ist die Hypostase – Verselbständigung – der Kräfte des Vaters. Die Barbelo und der Vater bringen den Sohn, den „Monogenes“ („Einiggeborenen“), hervor. Dieser wird auch „Autogenes“ („Selbstentstandener“) genannt. Der Autogenes bringt die vier Erleuchter hervor: Harmozel, Oroiael, Daveithe und Eleleth. Der himmlische Adam gehört zum Äon des Harmozel, Seth wird im Äon des Oroiael platziert, zum Äon des Daveithe gelangt der Same des Seth. Im Äon des Eleleth schließlich befinden sich die Seelen, die sich nach einer Zögerung umkehren. Jeder Erleuchter ist mit drei Äonen verbunden, was dazu führt, dass es insgesamt 12 Äonen gibt, von denen die Sophia der letzte ist. S. Figur 1.

Das valentinianische Pleroma kommt auch aus dem Vater hervor. Dieser wird auch „Bythos“ („Tiefe, Urgrund“) genannt. Aus ihm und der Ennoia („Gedanke“) bzw. „Sige“ („Stille“) kommen drei Äonenpaare hervor: der Monogenes („Einiggeborener“) und die Wahrheit, der Logos („Wort“) und das Leben und der Mensch und die Ekklesia („Kirche“). Zusammen bilden sie die Ogdoas („Achtheit“). Zudem gibt es noch eine Zehnheit, fünf Äonenpaare, die aus dem Logos und dem Leben stammen, und eine Zwölfheit, sechs Äonenpaare, die aus dem Menschen und der Ekklesia („Kirche“) stammen. Insgesamt gibt es also 30 Äonen im Pleroma, von denen die Sophia das unterste Wesen ist. S. Figur 2.

Der erschaffene Kosmos ist nach dem Bild des Pleromas kreiert, aber in unvollkommener Weise. Herrscher des Kosmos ist der Demiurg, der die anderen kosmischen Kräfte erschaffen hat, d.h. die Archonten, die Engel und weitere Kräfte und Mächte. Diese werden z.B. von den sieben Planeten symbolisiert oder von den zwölf Zeichen des Tierkreises. Planeten und Sterne determinieren das Geschick von allem, was es in der Welt gibt. Die Archonten halten die Welt in ihrer Macht und führen ihr eigenes Gesetz ein. Die Welt ist weithin vom Pleroma abgeschnitten.

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Figur 1: Das Pleroma der sethianischen Gnosis (nach dem Apokryphon des Johannes)

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Figur 2: das valentinianische Pleroma (nach Irenäus, Adversus Haereses I,1-3)

DIE SOPHIA

Die Geschichte der Sophia findet man sowohl in sethianischen als auch in valentinianischen Schriften. Die Sophia ist der letzte bzw. unterste Äon des Pleromas. Der Übergang vom Pleroma zum Kosmos wird in „gnostischen“ Schriften des Öfteren mit der Vorstellung eines „Falles“ eines femininen Wesens verbunden. Anlass und Umstände dieses „Falles“ und darüber hinaus die Rolle und die Funktion der Sophia sind dabei in den einzelnen Schriften teilweise sehr unterschiedlich beschrieben. Man sollte unterscheiden zwischen Mythen, wo die Sophia selbst, durch ihr eigensinniges Auftreten, aus der Einheit des Pleromas heraus bricht und so (zwar unfreiwillig) eine niedere Wirklichkeit hervorbringt, und wo der Abstieg der Sophia (in die schon vorgegebene Materie, Welt, usw.) unfreiwillig ist. In beiden Fällen kann die Motivation des Handelns der Sophia in verschiedener Weise erklärt werden, wobei nicht alle Versionen des Mythos jeweils alle Elemente dieser Motivationen enthalten. Die wichtigsten Beweggründe der Sophia sind ihr Verlangen nach dem Vater bzw. dem Licht, ihr Wunsch, ebenso wie der Vater, selbst – und allein – etwas hervorzubringen, die Abwesenheit eines Paargenossen (die Äonen sind immer in Paaren zusammengesetzt), das Aufhören mit ihrer eigentlichen Beschäftigung.

Es gibt verschiedene Metaphern, die den „Fall“ der Sophia ausdrücken. Die sexuelle Metapher verbindet das Verlangen der Sophia mit der Kraft, etwas hervorzubringen, die eigentlich für den Vater reserviert ist. Die intellektuelle Metapher besteht in der Vorstellung, dass die Sophia durch ihre Denkaktivität ein Produkt hervorbringt. Beide Metaphern drücken das Verlangen oder den Willen der Sophia aus. In vielen Schriften wird betont, dass die Sophia hier ohne Übereinstimmung ihres Paargenossen bzw. des Geistes aktiv wird. In beiden Fällen ist das Hervorgebrachte seiner Mutter unähnlich und minderwertig.

Das Produkt der Sophia ist minderwertig, weil sie es ohne Zustimmung ihres Paargenossen oder des Geistes hervorgebracht hat. Das Hervorgebrachte wird manchmal als Fehlgeburt beschrieben oder als eine Gestalt mit tierischen Zügen. Es geht hierbei meistens um den Demiurgen, der in der sethianischen Gnosis Jaldabaoth genannt wird. Die Sophia wirft das Produkt ihres Verlangens aus dem Pleroma, damit die Unsterblichen es nicht sehen, weil sie es in Unwissenheit hervorgebracht hat, oder sie hüllt ihr Produkt in eine Lichtwolke – mit einem Thron –, damit niemand es sehen kann.

Der Demiurg entnimmt der Sophia einen Teil ihrer Kraft und wird so selbst mächtig. Die Sophia gelangt nicht in das Pleroma zurück. Sie erkennt ihren Fehler an und gibt sich der Reue hin. Sie schreit zum Pleroma hinauf. Die Äonen des Pleromas hören sie und haben Mitleid. Sie bitten den Vater, ihr zu helfen. Ihr ursprünglicher Paargenosse – in bestimmten Texten ist er Christus – wird zu ihr gesandt und erhöht sie, aber nicht zu ihrem ursprünglichen Platz. Sie bleibt wegen ihrer Unwissenheit in einem Zwischenort, der in sethianischen Texten auch die Reue genannt wird, bis die ganze Welt erlöst ist.

DIE SCHÖPFUNG UND DIE PARADIESGESCHICHTE

Die Gnostiker interpretieren das alttestamentliche Buch Genesis in ganz einzigartiger Weise. Nicht der höchste Gott, sondern das Produkt des Falles der Sophia ist der Schöpfer des Kosmos. Dieser ist ein niedriger Gott, der keine Ahnung von dem hat, was im Pleroma existiert. Er richtet seinen eigenen Machtbereich mit ihm untergeordneten Archonten und Engeln ein und sagt in seiner Unwissenheit, dass er der einzige Gott ist, dass es neben ihm keinen anderen gibt. Als Antwort auf diese Selbstüberhebung kommt ein Signal aus dem Pleroma. Dies kann eine Stimme sein, oder ein Bild, das im Wasser erscheint. So lernt der Demiurg, dass es den – himmlischen – Menschen gibt. Um ihn beherrschen zu können, will er selbst einen Menschen hervorbringen. Er erschafft Adam nach dem Gleichnis von dem, was er gesehen hat. Das Abbild, das er gemacht hat, kann sich aber nicht bewegen. Er haucht den Geist, der die gestohlene Kraft der Sophia ist, in das Gebilde und verliert sie somit selbst. Die Kraft der Sophia ermöglicht es Adam, aufzustehen und sich zu bewegen. Durch sie ist er über seinen Schöpfer erhaben. Der Demiurg ist eifersüchtig und will Adam in einen fleischlichen Leib einsperren, den die anderen Archonten und Engel gebildet haben. Adam wird in das Paradies gesetzt. Er darf von allen Bäumen außer dem Baum der Erkenntnis und dem Baum des Lebens essen.

In der Version des Apokryphons des Johannes ist in Adam die göttliche Epinoia (Nachsehung) des Lichtes verborgen. Der Demiurg, der oberste Archont, nimmt sie aus ihm hinaus, als er die Eva erschafft. Sie überredet Adam, vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen zu essen. Die Schlange, die Eva hierzu überredet hat, eine positive Rolle in bestimmten Schriften, aber eine negative in anderen. Wenn die Menschen vom Baum gegessen haben, erkennen sie ihre eigene wesentliche Vollkommenheit und den Mangel der Welt, in der sie leben. Sie wissen auch um die Minderwertigkeit des Demiurgen, der nur ein niederer Gott ist. Als Strafe für ihre Übertretung werden die Menschen aus dem Paradies geworfen. Im Apokryphon des Johannes wird die Herrschaft der Mann über die Frau auch als Folge des Fluchs des Demiurgen dargestellt. Der Demirug, Jaldabaoth, will dann seinen Samen aus der Eva erwecken. Er schändet sie und erweckt zwei Söhne: Kain und Abel, die auch Jave und Eloim genannt werden. Adam aber erzeugt mit Eva den himmlischen Seth

DIE GNOSTIKER IN DER WELT

Der Gnostiker hat etwas vom göttlichen Licht in sich und ist dadurch über die Archonten erhaben. Er ist aber in dieser Welt und im Körper gefangen. Seine Erkenntnis wird ihn letztendlich erlösen, weil sie ihm Macht über die Archonten verleiht. Der Gnostiker lebt in der Welt, aber er ist über sie erhaben. Er hat etwas von einem göttlichen Ursprung in sich, durch ein Eingreifen pleromatischer Wesen in seiner Schöpfung. Der Mensch – oder zumindest der Gnostiker – hat, anders als der Rest der erschaffenen Welt, etwas in sich, das dem Pleroma gehört.

In vielen gnostischen Schriften haben nicht alle Menschen, sondern nur einige teil am göttlichen Licht. Man findet einen Unterschied zwischen verschiedenen Menschenklassen. Bei den Valentinianern geht es um Pneumatiker (geistliche Menschen), Psychiker (seelische Menschen) und Hyliker (materielle Menschen). Die Pneumatiker werden in jedem Fall erlöst, die Hyliker sowieso nicht, und die Psychiker können erlöst werden, wenn sie sich auf das Gute, auf das Geistliche richten. Für die Sethianer wird nur das Geschlecht des Seth erlöst. Dieses Geschlecht kann aber in verschiedenen Texten potenziell die ganze Menschheit umfassen.

Die Menschen, die den Lichtfunken in sich haben, sind sich darüber normalerweise nicht bewusst. Sie müssen durch etwas Höheres erweckt werden. In der Welt leben sie in Unwissen und Vergessen. Ihr Geschick wird von den Archonten, den Sternen und den Planeten determiniert. Sie leben in Unfreiheit. Die Welt ist Ort der Finsternis. Die Erweckung vollzieht sich durch Offenbarungen eines höheren Wesens. Diese Offenbarungen können auch durch Schriften weiter vermittelt werden. Durch die Offenbarungen gelangt der Gnostiker zur Erkenntnis. Diese betrifft sowohl seine eigene Natur als auch die Struktur des Kosmos und die Existenz des Pleromas. In der Dreigestaltigen Protennoia (NHC XIII,1) sagt die Pronoia („Vorsehung“) das Folgende:

Dreigestaltige Protennoia p. 36:

Durch mich ist es, dass Gnosis aufbricht,

die [ich] wohne unter den Unsagbaren und Unerkennbaren.

Ich bin die Erkenntnis und das Wissen,

die ich einen Ruf aussende kraft eines Gedankens.

Ich bin der wahre Ruf,

die ich rufe in einem jeden.

Ja, sie werden [mich] an ihr (sc. der Stimme) erkennen,

sofern ein Same (von mir) in [ihnen] ist.

Der Gnostiker ist derjenige, der positiv auf diesen Ruf antwortet. Der Inhalt dieses Rufs ist wahrscheinlich der Mythos, der den Menschen sowohl über sich selbst als auch über die Welt und das Pleroma belehrt. Gnosis fängt mit Selbsterkenntnis an: Man erkennt sich selbst als einen, der nicht zur Welt gehört. Die eigene innere Göttlichkeit weist auf den göttlichen Ursprung im Pleroma hinaus. Der Mensch erkennt sich als einen Fremden in dieser Welt, als einen, der einer höheren Wirklichkeit zugehört.

Diese Erkenntnis macht frei: Wenn man weiß, dass man den Archonten und dem Schöpfergott überlegen ist, dann haben diese nicht mehr dieselbe Macht. Wenn man das Pleroma kennt, dann weiß man mehr als die Archonten, wenn man das innere Selbst erkennt, dann ist man ihrer Macht nicht mehr unterlegen. In der Welt genießt der Gnostiker also eine innere Freiheit, die diejenigen, die dem Schicksal der Archonten unterlegen sind, nicht kennen.

Der Erlöser sammelt die Lichtfunken, die im Menschen sind und führt sie dann zurück, um sie wieder mit dem Licht im Pleroma zu vereinen.

7 Der Valentinianismus und der Sethianismus sind die zwei am Besten bezeugten, gnostischen Strömungen.

DIE QUELLEN

DIE ORIGINALLITERATUR

Die gnostische Originalliteratur ist vor allem aus einer Vielheit an koptischen Übersetzungen von griechischen Originaltexten bekannt, die im ägyptischen Wüstensand gefunden wurden. Für einige dieser Schriften gibt es noch wenige griechische Fragmente. Einige alte koptische Bücher (oder Codices) sind schon länger bekannt, z.B. neben dem Codex Berolinensis (8502) der Codex Askewianus und der Codex Brucianus. Aus diesen letzgenannten komplizierten spätgnostischen Texten hatte man ein sehr verwirrendes Bild der Gnosis. Erst seit dem Fund von Nag Hammadi in 1945 haben wir aus den etwa 50 Schriften in den elf Codices einen privilegierten Einblick in das Denken der Gnostiker. Man hat zudem entdeckt, dass sie eine Vielfalt an literarischen Gattungen und Ausdruckweisen kannten. Hier folgt einen Überblick der uns bekannten gnostischen Originaltexte.

Die meisten Originaltexte stammen aus Codices aus dem 4. bzw. 5. Jh. Die Schriften selbst aber sind älter: sie sind zwischen dem 2. und dem 4. Jh. geschrieben.

Der Codex Askewianus ist benannt nach dem Sammler A. Askew, der das Manuskript 1772 in London gekauft hat. Nach seinem Tode wurde der Codex vom British Museum gekauft. Dieser Codex wurde von verschiedenen Spezialisten ab dem Ende des 18. Jh. studiert, aber er wurde erst 1851 publiziert. Er enthält die vier Bücher der spätgnostischen Schrift Pistis Sophia (Glaube-Weisheit) aus dem Griechischen ins Koptische übersetzt. In einem Gespräch zwischen dem auferstanden Jesus, einigen Jüngern und Maria wird der Mythos des Falls der Sophia (Weisheit), ihre Reue und ihre Erlösung durch Christus erzählt. Jesus lehrt die Jünger auch, wie sie die Gnosis verkündigen sollen und wie die Seele den Archonten entkommen kann. Die Archonte werden bestraft, während die Jünger durch ihre Erkenntnis dem Urteil entkommen werden.

Bücher des Jeu