Die Hütte im Wald


Alexander Niel

 

Ein fiktiver Roman über zwei Menschen

und ihre ungewöhnliche Liebesgeschichte

 

 

 

 

Himmelstürmer Verlag, part of Production House GmbH

20099 Hamburg, Kirchenweg 12

www.himmelstuermer.de

E-mail:info@himmelstuermer.de
Originalausgabe, September 2012

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage

Coverfoto: shutterstock

Das Modell auf dem Coverfoto steht in keinen Zusammenhang mit dem

Inhalt des Buches und der Inhalt des Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Modells aus. 

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de 

Printed in Denmark

 

ISNB Print 978-3-86361-187-3

ISBN ePub 978-3-86361-188-0

ISBN PDF 978-3-86361-189-7

 

 

 

 

Neue Erfahrungen für Markus

 

Es war ein warmer Septembermorgen, an dem Markus und seine Freundin Tanja in ihrem Dorf „Obermühlen“ die Zeitung austrugen. Das Dorf war mit ca. siebenhundert Einwohnern nicht gerade das größte Dorf, immerhin gab es aber ein paar kleine Läden und ansonsten viel Natur und Landwirtschaft, wie es für ein Dorf in der Eifel so üblich ist.

Dementsprechend dauerte das Austragen der Zeitung nicht wirklich lang, das Schlimmere war für Markus und Tanja eher, dass sie an einem Samstag früh aufstehen mussten. Doch irgendwo musste etwas Geld herkommen, schließlich waren die beiden fünfzehn Jahre alt, wenn man in diesem Alter mit seinen gleichaltrigen Klassenkameraden mithalten möchte, sollte man nicht unbedingt mit Klamotten aus Secondhandläden rumlaufen. Ja, auch auf die ländliche Eifel ging dieser Trend langsam rüber, es ist nun einmal nichts mehr so wie früher.

Vor allem Markus war es wichtig, sich was dazu zu verdienen, um seine Mutter etwas entlasten zu können, schließlich war sie allein erziehend und musste ihn und seine dreizehnjährige Schwester Lena versorgen. Seit acht Jahren waren seine Eltern getrennt, zwar lebte sein Vater auch in Obermühlen, dennoch hatte er kein enges Verhältnis zu ihm, das hatte er noch nie und nach der Trennung seiner Eltern wurde es immer und immer weniger. Sein fünf Jahre älterer Bruder Thomas hatte zu seinem Vater ein viel engeres Verhältnis, schließlich lebte er auch bei ihm. Markus dachte sich, dass es einfach daran liegen könnte, dass Thomas eher der Sohn war, den sein Vater sich wünschte, schließlich spielte er wie sein Vater leidenschaftlich Fußball oder fuhr gern mit ihm in den Wald, um Bäume zu fällen oder so was in der Art. Markus war da ein anderer Typ, eher etwas ungewöhnlich für einen Jungen. Er war sehr sensibel, bevorzugte es eher seiner Mutter im Haushalt zu helfen als draußen im Wald mit seinem Vater irgendwas zu arbeiten und konnte sich sehr gut mit kleinen Kindern beschäftigen, deshalb verdiente er sich auch manchmal noch etwas Geld dazu, indem er auf kleine Kinder aufpasste, wenn deren Eltern mal Lust hatten, noch einmal einen Abend für sich zu verbringen. 

Da er sich von seiner Art ziemlich von anderen Jungen aus dem Dorf unterschied, hatte Markus nicht wirklich einen Kumpel in seinem engen Freundeskreis, Tanja war eigentlich die Einzige aus dem Dorf, mit der er sich wirklich gut verstand. Sie war ein liebes, quirliges Mädchen mit braunem langem Haar. Ihr konnte er viel erzählen, worüber er sehr froh war. So konnte er auch mit ihr darüber reden, dass er manchmal das Gefühl hatte, sich zu Männern hingezogen zu fühlen, anstatt zu Frauen. Wirklich ernst genommen hat er diese Gedanken aber noch nie wirklich und Tanja meinte auch immer zu ihm: „Markus, du bist in der Pubertät, da fängt man erst mal richtig an zu checken, wer man ist und hat viele Gedanken im Kopf, mach dich jetzt nicht verrückt.“ Sollte er wirklich schwul sein, wäre sie sicherlich die Letzte, die ein Problem damit hätte, aber in so einem Dorf wie Obermühlen wäre er als Homosexueller sicher so etwas wie eine Attraktion und sicherlich würden viele Leute mit dem Finger auf ihn zeigen und das machte Markus ziemlich Angst, weshalb er auch immer wieder versuchte, solche Gedanken schnell wieder zu verdrängen.

Die beiden schlenderten also die Straße entlang und gingen ihrer Arbeit nach. Sie machten sich auf den Weg zum nächsten Haus, welches von einer jungen Familie bewohnt wurde. Vor dem Haus war eine kleine Wiese, auf der eine Schaukel stand. Ein kleines Mädchen mit goldblondem Haar saß auf der Schaukel und wurde von ihrer Mutter angeschubst. Markus kannte die beiden, die Mutter hieß Nadine und das Mädchen war die kleine dreijährige Annabelle, sie war die Tochter von Ralf, dem Trainer der dorfeigenen Fußballmannschaft, in der auch sein Bruder spielte. Zwar hatte Markus sich eigentlich noch nie ein Fußballspiel seines Bruders angesehen, weil es ihn einfach nicht interessierte, aber dennoch kannte er den Trainer Ralf und seine Familie im entfernten Sinne, in so einem kleinen Dorf kannte man eigentlich jeden.

„Moment, Schatz, Mama holt grad die Zeitung, dann schubs ich dich weiter an“, sagte Nadine, als sie auf Markus und Tanja zuging und die Zeitung entgegen nahm, „na ihr zwei, macht’s noch Spaß?“

„Naja, es bringt halt Geld ein, zwar nicht viel, aber passt“, entgegnete Tanja.

„Das glaub ich gerne“, antwortete Nadine und fuhr fort, „aber wenn ihr euch noch was dazu verdienen wollt, habe ich eine Idee für euch: Nächste Woche Freitag sind Ralf und ich auf der Geburtstagsfeier von meinem Vater eingeladen, da bräuchten wir noch jemanden, der sich um Annabelle kümmern kann. Erst sollten dass Ralfs Eltern machen, aber die würden auch gerne auf den Geburtstag gehen. Also wenn einer von euch Lust und Zeit hat?“

Bevor Markus etwas sagen konnte, antwortete Tanja bereits: „Klar, Markus kann ja gut mit Kindern, der hat das ja schon mal gemacht, weil ich hab Freitag keine Zeit.“ Daraufhin schaute Nadine Markus fragend an: „Na, hättest du Lust?“

Markus zögerte, schließlich hatte er noch nicht viel mit der Familie und der kleinen Annabelle zu tun, aber er brauchte das Geld und so antwortete er: „Ja klar, gerne, warum nicht?“

Nadine freute sich sehr darüber und rief Annabelle zu sich. „Hör mal, Maus, am Freitag sind Papa und Mama ja auf dem Geburtstag vom Opa und wir bleiben ganz lange da, aber der Markus hier ist dann daheim und passt auf dich auf, einverstanden?“

Forschend starrte Annabelle Markus an und wirkte noch etwas schüchtern, als sie ihn vorsichtig fragte. ob er denn auch mit ihr spielen könnte.

„Gerne, Annabelle“, antwortete Markus glücklich, die Kleine schien ganz niedlich zu sein und er war sich sicher, dass er mit ihr keine Probleme haben würde.

 

Zuhause angekommen berichtete Markus seiner Mutter davon, dass er eine neue Gelegenheit gefunden hatte, sich noch was dazu zu verdienen.

„Das freut mich, Markus, aber du musst auch mal langsam anfangen, dich für eine Ausbildung zu bewerben. Nächstes Jahr bist du fertig mit der Realschule und dann musst du doch eine Arbeit anfangen, damit du Geld verdienst,“ erklärte seine Mutter ihm daraufhin mit besorgter Miene. Ihr war es sehr wichtig, dass er sich so früh es ging selbst versorgen konnte, damit sie mehr Geld für sich hatte, das wusste Markus auch. Am liebsten würde er eine Ausbildung zum Erzieher machen, doch die war lang und in den ersten Jahren besuchte man weiter die Schule und würde kein Geld verdienen, damit wäre seine Mutter sicher nicht glücklich, aber für ihn wäre es der Wunschberuf, da er Kinder wirklich sehr mochte. Er versuchte seine Mutter zu beruhigen und versicherte ihr, sich bereits nach einem Job umzusehen.

„Das sagst du immer“, antwortete sie nur. Wenn sie ihn aber einmal nicht daran erinnerte, sich Arbeit zu suchen, war sie doch eine sehr fürsorgliche Mutter, die sich dafür interessierte, was mit ihren Kindern los war. Markus‘ Mutter Ulrike war wirklich eine freundliche, offene Frau, mit schulterlangem hellbraunem Haar und dunkelbraunen Augen, welche sie Markus und Lena vererbte. Für ihn war sie sein ein und alles, vor allem da er mit seinem Vater nicht wirklich viel Kontakt hatte.

 

Schließlich war es Freitagabend und Markus machte sich fertig, um aus dem Haus zu gehen. Auch wenn er nur der Babysitter für heute Abend war, legte Markus Wert darauf, gut auszusehen, ein gepflegtes Äußeres war ihm einfach in jeder Lebenslage wichtig. Für einen Jungen war er nicht sonderlich groß und etwas schmächtig. Sein kastanienbraunes Haar musste immer gut sitzen, den Pony stellte er mit Haar-Gel seitlich und die restlichen Haare stellte er etwas hoch, wie es halt modern war. Danach machte er sich auf dem Weg aus dem Haus und ging zur Familie Sachsler, wo er heute Abend auf die kleine Annabelle aufpassen würde.

Dort angekommen öffnete Nadine ihm die Tür, sie hatte sich bereits fertig gemacht und sah wirklich schick aus. Sie hatte ein elegantes schwarzes Kleid an, das ihre schlanke Figur betonte, ihr langes blondes Haar hatte sie sich geglättet. Viele andere Männer hätte dieser Anblick wahrscheinlich mehr beeindruckt, als es Markus tat.  

„Schön, dass du da bist, wir müssen auch gleich los. Annabelle möchte noch was spielen, bring sie aber bitte spätestens um halb acht ins Bett“, sagte sie, während er eintrat. Sie erklärte ihm alles weitere, während sie sich auf den Weg ins Wohnzimmer machten. Die beiden hatten ein sehr schönes modernes Haus, in das Ralf viel Arbeit investiert haben musste. Markus dachte, dass er für so etwas ja handwerklich viel zu ungeschickt sei. Im Wohnzimmer spielte Annabelle gerade mit ihrem Vater, als Markus eintrat.

„Hallo“, sagte Ralf kurz und knapp, als er Markus sah, er kannte ihn zwar, aber natürlich nicht so gut wie seinen Bruder, schließlich spielte Markus kein Fußball und von daher gab es eigentlich auch nicht mehr, was die beiden sich hätten erzählen können. Markus gab ein einfaches „Hallo“ zurück. Ralf verabschiedete sich daraufhin liebevoll von seiner Tochter, die Markus dafür beneidete. So ein enges Verhältnis zu seinem Vater hätte er auch gerne gehabt, Ralf schien wirklich ein guter Vater zu sein, und auch ein hübscher: er hatte dadurch, dass er Sport machte, eine gute Figur, wirkte aber nicht zu extrem durchtrainiert, war ca. 1,80 groß, hatte ein maskulines Gesicht und dunkelblondes kurzes Haar, welches er vorne immer etwas hochstellte. Seine Augen waren hellgrün. Aber schnell wandte Markus seine Gedanken davon ab, schließlich war er hier, um auf Annabelle aufzupassen.

Nach einer kurzen Phase des Kennenlernens nahm diese ihn auch gleich in Beschlag und wollte, dass er mit ihr Verstecken spielte. Nadine schien zufrieden zu sein, dass er und Annabelle sich gleich so gut verstanden und sie hatte den Eindruck, als könne sie ihr Kind nun beruhigt mit Markus alleine lassen.

„Dann können wir ja gehen, Schatz, Papa und Mama wünschen dir später eine gute Nacht, der Markus bringt dich gleich ins Bett, sei bitte lieb. Bis später, Markus“, sagte Nadine und verließ daraufhin mit Ralf das Haus, der noch ein kurzes „Tschüss“ hinzufügte.  

 

Der Abend ging ziemlich schnell vorbei. Annabelle spielte noch ein wenig mit Markus, bis er sie dann ins Bett brachte. Die Gute-Nacht-Geschichte bekam sie nicht einmal mehr bis zum Schluss mit. Nachdem er die Kleine schlafen gelegt hatte, setzte er sich vor den Fernseher und wartete darauf, dass Nadine und Ralf nach Hause kommen würden. Zwischendurch telefonierte er auch noch mit seiner Freundin Tanja, schließlich hatte man sich ja immer was zu erzählen.

Es war fast ein Uhr, als Markus dann schließlich mitbekam, wie jemand die Haustür öffnete und eintrat. Die Tür zum Wohnzimmer öffnete sich und Ralf kam herein, ohne seine Frau.

„Hey“, sagte er und setzte sich ebenfalls auf das Sofa. Er wirkte so, als hätte er ein wenig zu tief ins Glas geschaut.

„Hey“, antwortete Markus und zögerte dann etwas, bevor er fragte: „Ist Nadine noch nicht zurück?“

„Ne“, antwortete Ralf, „die hat mich schon Heim geschickt, weil ich ihrer Meinung nach schon zu viel hab, pff, Weiber ey.“

Markus lachte, doch es war eher ein gezwungenes, kein gewolltes Lachen, aber er dachte, dass wäre immer noch besser als gar nichts darauf zu sagen.

„Haste vielleicht noch Bock aufn Bier?“, fragte Ralf ihn und Markus antwortete: „Öhm, ja klar.“

Eigentlich wäre Markus lieber schon nach Hause gegangen, weil er nicht gerne Bier trank und wirklich nicht wusste, worüber er sich mit Ralf unterhalten sollte, aber er wollte auch nicht unfreundlich wirken. Und so öffnete Ralf zwei Bierflaschen und drückte eine davon Markus in die Hand, bevor er sich wieder zu ihm auf das Sofa setzte. „Prost“, sagte Ralf, was Markus erwiderte, doch danach wurde es wieder still um die beiden und sie schauten einfach nur in den Fernseher.

„Guckst du kein Fußball?“, fragte Ralf Markus, woraufhin dieser ehrlich erwiderte:

„Nein, ehrlich gesagt, interessiert es mich nicht wirklich.“

Ralf schaute ihn danach etwas ungläubig an, schließlich ist Fußball doch der Männersport, wie konnte man sich als Junge nicht dafür interessieren? Markus rechnete bereits mit einer hämischen Antwort, als Ralf sagte:

„Na dann muss ich mich mit dir ja nicht darüber unterhalten, Gott sei Dank! Ständig wollen alle mit mir nur wegen dem Fußball reden, manchmal geht einem das echt auf die Nüsse.“

Markus konnte nicht glauben, was er da gerade gehört hatte, Ralf war bis jetzt wohl einer der einzigen erwachsenen Männer, der nicht auf Markus rum ritt, weil dieser kein Fußball spielte, wie sein Vater es getan hatte oder sein Bruder es im Moment tat. „Ne, ne, keine Angst“, sagte Markus daraufhin, „mit mir musst du dich nicht über Fußball unterhalten“ und fügte ein Lachen hinzu, was dieses Mal aber kein gezwungenes Lachen war, sondern ein gewolltes.

Ralf lachte ebenfalls und sagte: „Gut, gut, ich bin beruhigt.“

Markus wirkte sehr erleichtert, dass Ralf anscheinend doch nicht so spießig war wie viele andere Männer, die mit ihrer Familie in einem Haus auf dem Dorf lebten. An dieser Stelle hatte Ralf sein Bier bereits leer getrunken, während Markus noch nicht mal bei der Hälfte seiner Flasche angekommen war. Es machte sich für ihn immer mehr bemerkbar, dass Ralf angetrunken war, denn ansonsten hätte er sich nie so mit ihm unterhalten.

„Wie du mit Kindern umgehen kanns‘ is‘ echt spitze, Annabelle mag dich ja jetzt schon.“

„Danke“ antwortete Markus etwas verlegen.

Dann legte Ralf seinen Arm um Markus und sagte: „Du bist echt ein guter Jung.“

Das Ganze wirkte für Markus so, als würde Ralf ihn behandeln wie einen seiner Kumpels, bis Ralf begann, ihm in die Augen zu sehen. Zwar war Ralf nicht mehr nüchtern, was man seinen Augen auch deutlich ansah, aber dennoch durchbohrte er Markus förmlich mit seinem Blick. Und dann geschah es: Ralf kam mit seinem Gesicht immer näher an das Gesicht von Markus, bis er begann, ihn auf den Mund zu küssen.  

Markus war mit der Situation überfordert, viel zu überraschend kam das für ihn. Ralfs Atem roch zwar stark nach Bier, aber dennoch fühlte es sich für Markus irgendwie gut an, dass Ralf ihn küsste.

Doch plötzlich zog Ralf sein Gesicht wieder weg und wirkte etwas erschrocken über das, was er gerade tat. „Tschuldigung“, stammelte er, „ich hab nur zu viel Alk intus“.

„Ist schon okay“, entgegnete Markus.

„Bitte erzähl niemandem davon, es tut mir leid“, versuchte Ralf sich zu rechtfertigen.

„Es ist wirklich okay“, wollte Markus ihn beruhigen, doch Ralf widersprach:

„Nein, ist es nicht! Ich geh jetzt besser schlafen und du gehst besser nach Hause.“

Markus wirkte etwas perplex, doch er sah auch ein, dass es wohl besser war, nach Hause zu gehen. Ralf begleitete ihn noch zur Tür und wollte sich erneut versichern lassen, dass Markus das Ganze auch wirklich für sich behielt, worauf Markus ihm abermals sein Wort gab, niemandem etwas zu erzählen. Danach machte Markus sich auf den Heimweg und war immer noch ganz aufgewühlt. Was gerade passiert war, hatte er immer noch nicht wirklich realisiert und er wusste auch nicht wirklich, wie er damit umgehen sollte.

Zuhause angekommen wollte er einfach nur noch schnell in sein Bett, ohne noch mit jemandem zu sprechen, deshalb kam es ihm auch ganz gelegen, dass seine Schwester und Mutter bereits vorm Fernseher eingeschlafen waren. Schnell ging Markus auf sein Zimmer und schmiss sich auf sein Bett. Er starrte auf die Decke, während sich in seinem Kopf immer und immer wieder das Geschehene mit Ralf abspielte. Es dauerte in dieser Nacht lange, bis er endlich einschlafen konnte.

 

Markus im Gefühlschaos

 

Am nächsten Morgen saß Markus mit seiner Schwester und Mutter am Frühstückstisch. Seine Gedanken waren aber nicht beim Essen, sondern immer noch bei dem, was sich mit Ralf und ihm abgespielt hatte.

„Markus, was ist los mit dir, worüber denkst du die ganze Zeit nach?“, fragte seine Mutter ihn, als sie bemerkte, dass Markus sein Müsli mehr herumrührte anstatt es zu essen.

„Vielleicht ist Markus ja verliebt“, warf seine Schwester Lena hämisch ein. Sie war zwar jünger als er, aber dennoch um einiges vorlauter. Sie hatte ein hübsches Gesicht, und, wie ihr gemeinsamer Vater, schwarzes Haar, welches ihr bis zu den Schultern ging. Wahrscheinlich hatte sie schon öfter mit Jungs geflirtet, als Markus mit Mädchen. Seine Schwester merkte auch oft an, dass es für sie komisch sei, dass Markus mit fünfzehn Jahren immer noch keine Freundin nach Hause gebracht hatte. „Lass ihn doch, mit so was kann man sich ruhig Zeit lassen, genießt besser eure Freiheit, solange ihr noch jung seid“, sagt seine Mutter dann immer, wenn Lena sich wieder bei ihr über das nicht vorhandene Liebesleben ihres Bruders wunderte.

„Ich bin ganz sicher nicht verliebt, Schwesterherz“, antwortete Markus mit einem zynischen Unterton.

„Bleib mal locker“, sagte Lena ärgerlich, „daran wäre doch nichts schlimm, es wird mal Zeit, dass du dich in ein Mädchen verliebst. Ansonsten fängt man wirklich an zu glauben, was die Anderen so erzählen.“

„Lena, hör jetzt auf damit“, ermahnte ihre Mutter sie, doch Markus wurde jetzt aufgebrachter und fragte mit verärgerter Stimme:

„Was erzählen die Anderen denn über mich?!“

„Na“, begann Lena mit genüsslicher Stimme zu erklären, als würde es ihr gefallen, ihren Bruder verärgert zu haben, „die Anderen erzählen mir halt, dass sie glauben, du seist schwul, weil du halt noch nie was mit ‘nem Mädchen hattest. Komisch ist das schon, ich mein, du wirst ja auch schon bald sechzehn.“

„Ach ja und wer erzählt so was?“, wollte Markus wissen, doch da wurde er von seiner Mutter unterbrochen, die einwarf:  

„Was andere Leute erzählen, sollte dir egal sein, wir leben hier auf dem Land, da wird über jeden was erzählt, die Leute haben halt nix besseres zu tun. Ich möchte jetzt nichts mehr davon hören!“

Markus und Lena warfen sich noch einen bösen Blick zu, doch nach dem Machtwort ihrer Mutter traute sich niemand mehr, etwas zu sagen und so aßen sie ihr Frühstück mit gedrückter Stimmung zu Ende.

 

Später lag Markus auf seinem Bett und hörte Musik, das tat er immer, wenn er über etwas nachdachte, und an diesem Tag gab es so einiges zu grübeln. Zum einen das, was seine Schwester heute beim Frühstück erzählte. Dass Leute aus seiner Schule so über ihn redeten, wusste er schon und hatte es auch schon öfter mal mitbekommen, aber das dann auch noch von seiner Schwester so gesagt zu bekommen, war schon etwas verletzend. Nur weil er sich nicht unbedingt so verhielt wie ein Großteil der Jungen aus Obermühlen, war er doch nicht gleich schwul. Aber ob er wirklich schwul war oder nicht, wusste er, davon abgesehen, auch selber nicht. Und das führte auch zu der anderen Sache, über die er nachdenken musste: was hatte sich am gestrigen Abend mit Ralf, dem Trainer der Fußballmannschaft und Familienvater, abgespielt? Nach wie vor wusste Markus einfach nicht, was er davon halten sollte. Wenn er so darüber nachdachte, wurde ihm schlagartig auch bewusst, dass es das erste Mal war, das jemand ihn auf den Mund küsste und dass das wirklich Ralf war, war wirklich verrückt.

Während Markus mit den Gedanken noch ganz woanders war, trat seine Mutter in sein Zimmer und er schreckte auf.

„Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken, Nadine ist am Telefon,“ sagte sie und reichte ihm den Hörer.

Markus nahm ihr diesen ab und grüßte Nadine.

„Hey, Markus, ich wollte mich nochmal recht herzlich dafür bedanken, dass du gestern Abend auf Annabelle aufgepasst hast, vielen Dank. Du musst dir natürlich noch dein Lohn abholen kommen.“

Daran hatte Markus gar nicht mehr gedacht und antwortete: „Ja gut, ähm, dann komm ich einfach gleich vorbei und hol‘s mir ab.“ 

„Könntest du so um halb Fünf kommen? Annabelle schläft gerade noch, es wäre schön, wenn du hier bist, wenn sie wach ist, sie würde sich sicher freuen, dich wieder zu sehen“, erklärte Nadine mit ihrer freundlichen Art.

„Okay, dann komm ich dann“, bestätigte Markus und verabschiedete sich. Irgendwie hatte er ja schon ein schlechtes Gewissen gegenüber Nadine. Wenn sie wissen würde, was gestern Abend zwischen ihm und ihrem Mann geschehen war, wäre sie wahrscheinlich nicht mehr so freundlich zu ihm. Aber dafür konnte Markus ja eigentlich nichts. Er beschloss, sich das Geld abzuholen und danach den Kontakt zu Ralf und Nadine wieder auf das zu beschränken, was es vorher war. Auch wenn Obermühlen ein kleines Dorf war, konnte man Leuten aus dem Weg gehen und es gab noch andere Eltern, die auch ab und an mal einen Babysitter suchten.

 

So machte Markus sich um halb fünf auf den Weg, um sein Geld abzuholen und um danach das Haus von Ralf und Nadine nicht mehr betreten zu müssen. Während er die Straße entlang schlenderte, bemerkte er auf einmal, dass sich hinter ihm ein Auto näherte, das immer langsamer wurde. Markus ging einfach weiter, bis er bemerkte, dass das Auto sich seiner Schrittgeschwindigkeit anpasste und neben ihm herfuhr. Vielleicht sollte er doch mal einen Blick ins Auto werfen, dachte Markus sich und schaute nach links von sich. Am Steuer saß niemand geringerer als Ralf, der ihn bat, einzusteigen. Mit mulmigem Gefühl öffnete Markus die Autotür und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Nachdem Markus eingestiegen war, fuhr Ralf wieder mit normaler Geschwindigkeit weiter und Markus fragte sich gerade, ob Ralf wohl einfach nur gerade vom Fußballtraining gekommen war, ihn zufällig gesehen hatte und ihn jetzt mit zu sich nahm, weil er von Nadine wusste, dass Markus auf dem Weg zu ihnen war. Doch die beiden fuhren in eine andere Richtung, Markus fragte sich, wohin sie wohl fuhren, doch er traute sich nicht, Ralf zu fragen. Ralf konnte aber anscheinend spüren, dass er irritiert war und klärte ihn schließlich auf: 

„Nadine hat mir geschrieben, ich soll noch Geld auf der Bank abheben, weil du vorbeikommst, um dir deinen Lohn abzuholen. Ich werde ihr später einfach sagen, dass ich dir das Geld bei dir zu Hause vorbeigebracht habe. Ich hab dich jetzt abgefangen, weil ich einfach nochmal mit dir sprechen muss.“

„Öhm, okay“, sagte Markus zögerlich und war innerlich doch ziemlich nervös, weil er nicht wusste, was jetzt auf ihn zukommen würde.

Die beiden verließen Obermühlen und bogen in einen Waldweg ab. Sie fuhren den holprigen Waldweg ein Stück weit, bis sie an einen Fischteich kamen, an dem eine kleine Holzhütte stand. Ralf hielt hier an, schnallte sich ab und drehte sich zu Markus um. Der war immer noch ziemlich nervös, weil er wirklich nicht wusste, was Ralf ihm jetzt noch sagen wollte. Etwas zögerlich schnallte auch er sich ab und drehte sich langsam zu Ralf. Ralf nahm schließlich tief Luft und begann zu erzählen:

„Hör zu, für das, was da heut‘ Nacht passiert ist, möchte ich mich noch einmal in aller Form entschuldigen. Ich weiß einfach nicht, was ich mir dabei gedacht habe und ich kann es mir auch absolut nicht erklären. Ehrlich gesagt, ist es mir im Nachhinein ziemlich peinlich, ich denke, ich war einfach viel zu betrunken, da macht man ja halt dumme Sachen.“

Während Ralf erzählte, nickte Markus nur freundlich mit dem Kopf, doch innerlich machte sich in ihm irgendwie eine Enttäuschung breit, doch er konnte sich nicht wirklich erklären, warum. Was hätte Ralf ihm auch sonst sagten sollen, etwa dass es ihm gefallen hat, Markus zu küssen? Warum sollte ihm das gefallen, er ist glücklich verheiratet und warum überhaupt sollte Markus wollen, dass ihm das gefällt? Während Markus grübelte, bemerkte er plötzlich, dass Ralf ihn fragend ansah, so als erwarte er eine Antwort auf das, was er ihm eben sagte und so sagte Markus rasch:

„Ja klar, ist wirklich kein Problem für mich.“

„Bitte, versprich mir nur, dass du wirklich niemandem davon erzählst, bitte versprich es mir“, flehte Ralf ihn schon fast an, so als schien ihm das Ganze wirklich peinlich zu sein.

Markus wollte gerade antworten, als Ralf plötzlich zusammen zuckte. Draußen hörte man von weiten einen Hund bellen.

„Scheiße, da kommt jemand, niemand darf uns hier im Auto sehen, schnell steig‘ aus!“, forderte Ralf ihn auf, etwas verdutzt kam Markus seiner Forderung nach. Beide stiegen aus dem Auto, als das Bellen des Hundes immer näher kam.

„Komm schnell mit“, sagte Ralf hysterisch, als er Markus am Handgelenk packte und mit ihm zu der Hütte am Fischteich lief. Unter der Fußmatte vor der Tür grub er schnell einen Schlüssel unter ein paar Blättern aus und öffnete die Tür, es handelte sich wohl um seinen Fischteich, oder er kannte den Besitzer. Er stieß Markus schon fast in die Hütte herein, folgte ihm und schloss die Tür schnell hinter sich zu. Anschließend blickte er aus dem Fenster und sah die Fußgänger mit dem Hund und erschrocken wurde ihm klar, dass man die beiden fast gesehen hätte.

„Mensch, das war knapp, stell dir mal vor, die hätten uns beide bei mir im Auto gesehen“, sagte Ralf zu Markus, und schien den Schock immer noch nicht ganz überwunden zu haben.

Markus fühlte sich langsam etwas angegriffen und wollte sein Schweigen endlich brechen. „Was wäre denn daran so schlimm, wenn die uns in dem Auto gesehen hätten? Denkst du, dass sie daraus direkt herleiten, dass du mich letzte Nacht geküsst hast?!“

Ralf sah Markus entsetzt an, noch nie hatte Markus so viel zu ihm gesagt und vor allem war es das erste Mal, dass er ihm gegenüber so viel Emotionen zeigte.

Markus schien selbst etwas erschrocken über sich zu sein und setzte sich langsam auf die alte, modrige Couch, die da in der kleinen Hütte stand, als er fortfuhr: „Natürlich wäre es nicht schlimm, wenn du mit einem anderen Jungen unterwegs wärst, du kannst ja auch Kumpels in meinem Alter haben. Aber es ist natürlich was anderes, wenn du mit mir, dem Jungen, der in Obermühlen als schwul gilt, gesehen wirst.“  

Anschließend schoss eine Träne über Markus‘ Gesicht, das Ganze war einfach zu viel für ihn.

Ralf schien mit der Situation ziemlich überfordert zu sein, lange blickte er Markus an, während der mit traurigem Blick auf die Holzwand starrte. Langsam setzte er sich neben ihn und begann vorsichtig: „Hör zu, ich wollte das jetzt nicht so darstellen, als wärst du für mich ein schlechterer Mensch und ich mich schämen müsste, wenn ich mit dir gesehen werde. Wirklich gut kenne ich dich ja auch eigentlich nicht, aber das, was ich bis jetzt von dir kenne, ist wirklich positiv, du scheinst wirklich ein guter Mensch zu sein. Und selbst wenn du schwul sein solltest, bleibst du ein guter Mensch.“

Diese Wort aus dem Mund von Ralf zu hören, tat Markus gut und er fühlte sich schon gleich etwas besser, aber irgendwie hatte er auch ein wenig das Gefühl, dass er das wohlmöglich nur aus Mitleid zu ihm sagte. Markus drehte sein Gesicht zu Ralf, als er ihn fragte: „Denkst du wirklich so?“

Ralf antwortete nicht sofort, doch beide blickten sich tief in die Augen. Dann legte Ralf seine Hand an Markus‘ Wange und streichelte mit seinem Daumen die Träne aus seinem Gesicht. „Klar“, sagte Ralf zu ihm, dabei begann er zu lächeln, es war ein so wunderschönes Lächeln, dass es Markus warm ums Herz wurde, „sonst würde ich dir das nicht sagen“, fuhr Ralf fort und drückte Markus an sich.

Mit seinem Kopf lag Markus nun an der Brust von Ralf und konnte sogar etwas sein Herz schlagen hören. Doch sein Herz schlug in diesem Moment viel höher, es schlug so schnell, dass er schon fast Angst hatte, dass es jeden Moment aus seiner Brust springen könnte. Wie die beiden da Arm in Arm auf dieser modrigen Couch in dieser alten Holzhütte saßen, das fühlte sich für Markus irgendwie wie ein magischer Moment an.

Doch plötzlich sprang Ralf auf und sagte: „Oh Mann, ich muss nach Hause, Nadine fragt sich sonst noch, wo ich bin.“

Markus war etwas enttäuscht, wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten die beiden noch eine Ewigkeit dort bleiben können, es fühlte sich einfach so gut an. Doch Ralf war ein Familienvater, seine Frau und seine Tochter warteten zu Hause auf ihn und das hatte natürlich Vorrang, was sollte er mit ihm in einer Holzhütte sitzen, wenn er doch schon alles hatte, was ein Mann sich wünscht.  

Die beiden stiegen zurück ins Auto und machten sich wieder zurück auf den Weg ins Dorf. Ralf hielt vor der Haustür von Markus an und gab ihm das Geld fürs Babysitten. „Du bist echt in Ordnung, Markus.“ Etwas zögerlich fügte er auch hinzu: „Wenn wir nochmal jemanden brauchen, der auf Annabelle aufpasst, dann sage ich dir auf jeden Fall Bescheid, es würde mich nämlich wirklich sehr freuen, wenn du aufpasst, weil ich denke, dass ich dir wirklich mit gutem Gewissen meine Tochter anvertrauen kann. Behalt das, was gestern passiert ist, einfach für dich und das von heute am besten auch.“

Wieder blickten sich beide tief in die Augen, bevor Markus antwortete: „Ja danke, würde mich freuen und natürlich bleibt das unter uns. Und danke … für die aufmunternden Worte.“

„Kein Problem“, erwiderte Ralf und setzte wieder dieses Lächeln auf, welches Markus immer schöner fand. Schweren Herzens verabschiedete er sich dann schließlich von Ralf und stieg aus dem Auto aus. Lange blickte er dem davonfahrenden Auto hinterher, zu gerne würde er jetzt noch mit ihm in der Holzhütte sitzen. In seiner Nähe zu sein hatte sich einfach gut angefühlt, es war irgendwie so aufregend und entspannend zugleich. Und in dem Moment, als sie Arm in Arm in der Holzhütte saßen, fühlte es sich so an, als würde die Zeit stehen bleiben, so als wären die beiden in einer anderen Dimension.

So ein Gefühl hatte er noch nie gehabt, es fühlte sich so gut an, doch gleichzeitig war es so schmerzhaft zu wissen, dass so etwas wie heute oder gestern wahrscheinlich nicht mehr passieren wird, denn Ralf hat schließlich eine hübsche Frau und eine süße Tochter zu Hause. Markus versuchte sich einzureden, dass es einfach nur eine Hormonschwankung aufgrund seiner Pubertät war und entschloss sich, dass er sich klar machen sollte, dass Ralf höchstens nur ein Kumpel für ihn sein kann.  

 

 

Eine kleine Notlüge

 

Markus befand sich in den folgenden Wochen nach wie vor im totalen Gefühlschaos, manchmal gelang es ihm für eine kurze Weile, das Ganze mit Ralf zu vergessen, doch es dauerte nicht lang, da war er wieder in seinem Kopf drin und er begann Ralf schrecklich zu vermissen. Doch Markus redete sich dann immer ein, dass es einfach unmöglich sei, dass er sich in jemanden wie Ralf verlieben könnte. Selbst wenn er schwul sein sollte, warum sollte er sich in Ralf verlieben, dann würde er sich doch eher in jemanden in seinem Alter verlieben. Ralf war ja so viel er wusste schon dreißig und er würde jetzt gerade sechzehn werden, auch wenn Ralf gut aussah, war er aber trotzdem fast doppelt so alt wie er. Und davon abgesehen war er glücklich verheiratet und hatte eine Tochter, es wäre also dumm, sich in ihn zu verlieben, weil ihn das sowieso nur unglücklich machen würde. Aber irgendwo dachte Markus sich auch, dass auch von Ralfs Seite da irgendetwas sein musste, dass er ihn nur geküsst hatte, weil er etwas betrunken war, das hätte er noch glauben können, aber als er ihn in der Hütte am Fischteich in den Arm nahm, war er nicht betrunken und so nah kommen sich zwei Männer doch normalerweise nicht. Vielleicht war das aber auch für Ralf etwas ganz normales und Markus interpretierte da einfach zu viel hinein. Wirklich schlau konnte Markus jedenfalls nicht daraus werden, er hätte das Ganze am Liebsten einfach schnell vergessen, doch er konnte nicht.

Oft hoffte er, dass jeden Moment das Telefon klingelt und Nadine dran ist, weil sie ihn noch einmal zum Babysitten braucht. Dann könnte er Ralf wieder sehen, selbst wenn er ihm nicht das sagen könnte, was er ihm gerne sagten würde, weil Nadine oder Annabelle in der Nähe wären. Draußen wurde es mittlerweile immer früher dunkel, wenn er bei Tanja zu Besuch war, war es meistens schon dunkel, wenn er sich auf den Heimweg machte. Absichtlich ging er dann einen kleinen Umweg an dem Haus von Ralf vorbei und manchmal konnte er ihn sogar durch das Küchenfenster sehen. Dann freute er sich immer, am liebsten würde er länger hinschauen, doch was würde er einem Nachbarn sagen, wenn die ihn dabei erwischten, wie er bei anderen Leuten abends durch die Fenster schaute, oder noch schlimmer wäre es, wenn Nadine oder gar Ralf ihn dort sehen würden.  

 Selbstverständlich dauerte es nicht lange bis seine beste Freundin bemerkte, dass mit Markus etwas nicht stimmte, schließlich kannten die beiden sich ja ziemlich gut und lang. Es war kurz vor den Herbstferien, als sie ihn sich an einem Schultag in der Pause zur Seite nahm und offen und direkt drauf ansprach.

„Hör mal, Markus, was ist in letzter Zeit eigentlich los mit dir, kannste mir das mal sagen?“, fragte sie ihn gerade aus.

In diesem Moment fühlte Markus sich ziemlich ertappt, aber irgendwie hätte er sich denken müssen, dass das früher oder später einfach kommen musste. Wenn Tanja so etwas bemerkte, dann konnte sie das nicht einfach ignorieren oder sich selbst was dabei denken, sie sprach die Leute dann lieber direkt drauf an. Ihre direkte Art hatte Markus immer geschätzt, doch in diesem Moment hatte er keine Ahnung, was er ihr sagen sollte. Er konnte ihr zwar alles anvertrauen, aber sollte er ihr wirklich sagen, was sich zwischen Ralf und ihm abspielte, schließlich kannte sie ihn und seine Familie ja auch? Auch hatte er Ralf versprochen, niemandem etwas zu sagen. Er konnte sich zwar bei Tanja sicher sein, dass sie es für sich behalten würde, aber er fühlte sich in diesem Moment noch nicht bereit dazu, Tanja die Wahrheit zu erzählen. Also beschloss er sich einfach dumm zu stellen und fragte ganz ahnungslos:

„Was meinst du denn? Ich bin doch wie immer?“

„Ne, das kannste mir wirklich nicht erzählen, mein Lieber“, antwortete sie, mit voller Überzeugung, dass sie auf der richtigen Fährte war, „ich merke, dass du anders bist als sonst. Sonst hast du immer mehr Witze gemacht und so, aber in letzter Zeit bist du komisch geworden. Du starrst viel öfter ganz verträumt durch die Gegend und dabei lächelst du manchmal so, als wärst du der glücklichste Mensch auf Erden und im nächsten Moment siehst du auf einmal total deprimiert aus. Also erzähl schon, du weißt, ich lass dich eh nicht in Ruhe bis du mit der Sprache rausrückst.“  

Damit hat sie leider recht, sie würde wirklich nicht ruhen, bis Markus mit der Sprache rausrücken würde. Er könnte sich ja einfach was ausdenken, damit sie Ruhe gibt, aber sie war schließlich seine beste Freundin und er wollte sie nur ungern anlügen. Er hatte selbst gar nicht mitbekommen, dass es für sie so auffällig war, dass er öfter in Gedanken war. Wenn er so glücklich wirkte, musste er wahrscheinlich gerade an den Moment denken, als Ralf ihn in den Arm nahm. Wenn er deprimiert aussah, dann dachte er wohl gerade daran, dass Ralf für ihn absolut unnahbar war.

„Ähm, also, ich weiß echt nicht, was du da laberst“, versuchte er sie abzuwimmeln, doch Tanja blieb eisern und sagte bestimmt:

„Komm schon, deiner besten Freundin wirst du es ja wohl erzählen können. Oder hast du dich etwa in mich verliebt?“

Anschließend musste sie selber über ihren Kommentar lachen, Markus tat es ihr gleich und sagte im selben Atemzug: „Nein, in dich nicht.“

Schon im nächsten Moment wurde ihm bewusst, dass er sich gerade verplappert hatte und das war ihm ziemlich unangenehm.

„Aha, du bist also verliebt“, sagte Tanja und klang dabei so, als wäre sie eine Rechtsanwältin, die ein pikantes Geständnis von jemandem aus dem Zeugenstand herausbekommen hätte.

Jetzt musste Markus sich schnell etwas einfallen lassen, um sich aus der Situation heraus retten zu können. „Ja okay, ich bin verliebt“, gab er schließlich kleinlaut zu.

„Ja in wen denn?“, schoss es aus Tanja heraus, als könne sie nicht mehr abwarten, es herauszufinden.

Markus grübelte einen Moment, doch viel Zeit dazu hatte er nicht, sonst wäre Tanja dahinter gekommen, dass er sie anlügt. „Es ist Janine“, stammelte er und versuchte dabei so überzeugt wie möglich zu klingen.  

Janine war ein Mädchen aus seiner Klasse, die er gut leiden konnte und sie war die Erstbeste, die ihm in diesem Moment einfiel. Ein Moment lang sah Tanja ihn an und dabei machte er sich große Sorgen, dass sie ihm nicht glaubte, bis sie dann schließlich sagte: „Hey, aber das ist doch toll, ihr wärt sicher ein schönes Paar. Also stehst du jetzt doch nicht mehr so auf Jungs?“

„Ich denke, das war einfach nur so ‘ne Phase, oder vielleicht bin ich ja auch ein bisschen bi, kann ja sein“, sagte Markus mit so viel Überzeugung wie er konnte.

„Ja, das sind wir ja alle“, sagte Tanja lachend, „aber du und Janine wärt sicher ein schönes Paar, du hast doch in einem Monat Geburtstag, mach ‘ne Party und lad sie ein. Dann trinkt ihr schön einen gegen die Hemmungen und dann wird das schon.“

Tanja klang so, als wäre sie froh, dass es eine Gelegenheit für sie gab, ihn dazu zu motivieren, eine Party an seinem Geburtstag zu veranstalten, was er ja eigentlich gar nicht vorhatte. Aber das hatte er sich nun selbst eingebrockt und musste es nun auch selbst wieder ausbaden.

„Ja, da hast du recht“, gab er widerwillig zu.

„Super, Spitze, wir feiern eine Party“, jubelte Tanja so laut, dass einige Schüler auf den Pausenhof sich zu ihnen umdrehten, „ich helfe dir, das alles zu organisieren und dann wird das Spitze!“, anschließend fügte sie noch leise hinzu: „Und das mit dir und Janine wird dann schon, versuch bis dahin einfach mehr mit ihr in Kontakt zu kommen und dann auf deiner Geburtstagsfeier knackst du sie, glaub mir.“

Markus nickte nur, aber jetzt blieb ihm wohl nichts anderes übrig als mitzuspielen, er wollte nicht, dass Tanja dahinter kam, dass er sie angelogen hatte. Er wollte eigentlich seinen Geburtstag nicht groß feiern, da er mit den meisten Leuten aus seiner Klasse und aus dem Dorf eh nicht viel zu tun hatte, aber er versuchte es auch positiv zu sehen: Es war eine gute Gelegenheit, sich endlich mal abzulenken.  

 

Als Markus nach der Schule nach Hause kam, war sein großer Bruder Thomas auch da. Thomas und Markus waren sich nicht wirklich ähnlich. Sein Bruder war zwar nicht viel größer als er, aber dafür besser gebaut, hatte eher kurzes schwarzes Haar wie der Vater und hatte einen ganz anderen Charakter als Markus, er war bei weitem nicht so sensibel und verletzbar, Thomas war viel selbstsicherer. Auch war er in den Augen seiner Eltern eher ein Vorzeigesohn, da er in Markus‘ Alter ja schon sein eigenes Geld verdiente, als er eine Ausbildung zum Maurer machte. Die hatte er erfolgreich abgeschlossen und arbeitete noch bis heute im selben Betrieb.

„Hallo, Markus, die vom Kindergarten haben angerufen, wegen dem Schulpraktikum, das du da machen wolltest. Du sollst da heut Nachmittag mal vorbeigehen“, berichtete seine Mutter ihm.

„Du machst ein Praktikum im Kindergarten, ich dachte, da können nur Frauen arbeiten“, fügte Thomas etwas gehässig hinzu.

„Verdienst du da denn überhaupt Geld?“, wollte seine Mutter im selben Atemzug wissen.

„Nein, Mama, ich verdiene da kein Geld, das Praktikum muss ich wegen der Schule machen, um herauszufinden, welchen Beruf ich machen will, nicht um Geld zu verdienen“, klärte Markus sie genervt auf, da er sich mittlerweile nicht mehr erinnern konnte, wie oft er ihr das noch sagen musste.

„So und du willst also einen so schlecht bezahlten Beruf später machen“, sagte seine Mutter.

Markus hatte in diesem Moment aber keine Lust mehr, darauf einzugehen und lenkte einfach vom Thema ab, indem er seine Mutter darüber informierte, dass er eine Geburtstagsparty veranstalten wollte und fragte, ob er dafür den Keller benutzen durfte. Markus lebte mit seiner Mutter und seiner Schwester in einem Mietshaus mit mehreren Parteien, im Keller gab es einen großen Raum, in dem die Bewohner immer kleinere Feiern abhielten.

„Dann musst du dich mit den anderen absprechen“, erklärte ihm seine Mutter, während Thomas neugierig fragte:

„Sag mal, kommt da auch die eine Blonde aus deiner Klasse, die ich so scharf finde?“

Auch in dieser Hinsicht unterschieden sich die beiden Brüder, Thomas wusste ganz genau, was er wollte: hübsche Frauen.

„Ja, die wollte ich auch einladen“, sagte Markus genervt, „wieso, kommst du dann auch?“

„Würde ich gerne, aber an deinem Geburtstag wollten ich und die Jungs aus der Mannschaft auch wieder ‘nen Stammtisch machen.“