Simone Klages

Nummer 28 greift ein

Wir Kinder aus der Brunnenstraße

Mit Vignetten von Regina Kehn

 

 

Originalausgabe 2009

© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

 

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eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 40476 - 1 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 71359 - 7

 

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Inhaltsübersicht

Fiede riecht ein Abenteuer

Helfe! Pulizei!

Die Tasche voll Wasser

Blindes Vertrauen

Der Junge mit den roten Augen

Tandem-Klau

Hinterher!

Melene lügt doch nicht!

Ruckzuck Fall gelöst?

Die Belohnung

Detektive im Regen

Pfandflaschen und Einkaufstaschen

Unter der Brücke

Horsti braucht Hilfe

Flucht

Poli muss mal

Eingesperrt

Alles zu spät

Wo ist Melene?

Stockbrot und Kinderbowle

Die Kinder aus der Brunnenstraße

Nadeshda: würde gern aussehen wie Pippi Langstrumpf. Sie wohnt zusammen mit ihrer Mutter in der Brunnenstraße Nummer 28.

Gogo: heißt eigentlich Geórgios, Nadeshda sagt aber immer nur Gogo zu ihm. Gogos Eltern haben ein griechisches Restaurant in der Brunnenstraße.

Fiede: zieht neu in das Haus von Nadeshda. Er sieht ziemlich cool aus mit seiner Sonnenbrille. Aber so cool, wie er aussieht, ist er gar nicht.

Poli-Kala: ist Gogos kleine Schwester. Sie heißt eigentlich Polyxéni Kalliópi, wird aber überall nur Poli-Kala genannt, denn die Kurzform von Polyxéni Kalliópi wäre Poly Popi und das hört sich ziemlich doof an, findet sie. Da ist ihr Poli-Kala schon lieber, denn das heißt übersetzt »sehr gut«.

Fiede riecht ein Abenteuer

Die vier hockten auf den Treppenstufen im Hauseingang der Nummer 28. Die Hitze flimmerte auf dem Asphalt. Es war entschieden zu heiß, um sich zu bewegen. Trotzdem sprang Poli-Kala, die Kleinste, immer wieder auf, um Ausschau zu halten, ob nicht endlich ein Lieferwagen in die Brunnenstraße einbog.

Fiede rückte seine riesige Sonnenbrille zurecht und beugte sich vor. Er schnüffelte nach allen Seiten wie ein aufgeregter Hund.

Nadeshda stieß ihn an: »Was ist los, Fiede?«

»Ja, riecht ihr das denn nicht?!«, entgegnete Fiede und schnüffelte konzentriert weiter.

Auch Gogo und seine kleine Schwester Poli-Kala schauten ihn nun fragend an. Endlich lehnte Fiede sich lässig zurück und verkündete: »Also, wenn ihr mich fragt, ich würde sagen: Es riecht heute irgendwie verflixt nach Abenteuer!«

»Fiede, nun übertreibst du aber!«, rief Nadeshda und verdrehte die Augen.

Zugegeben, Fiede war bekannt dafür, dass er supergut riechen konnte. Wenn man ihm etwas unter die Nase hielt, konnte er mit fast hundertprozentiger Sicherheit sagen, um was es sich handelte:

»Radiergummi, Käsefüße, Lakritzschnecken, Fahrradöl . . .«

Aber dass er mit seiner Supernase Abenteuer riechen konnte, hielt Nadeshda für erstunken und erlogen. »Abenteuer? Pfff. Schön wär’s!«, war alles, was ihr dazu einfiel.

Die Sommerferien drohten, ein einziger Reinfall zu werden. Die ursprünglich geplante Reise zu Gogos Großeltern nach Naxos, einer Insel in der Ägäis, war ins Wasser gefallen, weil der Vater von Gogo und Poli-Kala am Blinddarm operiert werden musste. In der ersten Ferienwoche waren sie immerhin noch damit beschäftigt gewesen, ihr Detektivbüro im Keller unter dem griechischen Restaurant von Gogos und Poli-Kalas Eltern einzurichten. Sie hatten die Wände gestrichen, Stadtpläne und Landkarten aufgehängt und Bücherregale angebracht. Doch so begeistert sie von ihrem neuen Detektivbüro auch waren, bei der Vorstellung, hier die ganzen Ferien über zu hocken und zu warten, ob vielleicht jemand vorbeikommen und sie mit der Lösung eines Falles beauftragen würde, hatten alle schlechte Laune bekommen. Denn draußen war das schönste Ferienwetter der Welt.

Da hatte Gogo vorgeschlagen: »Los, wir machen eine Fahrradtour!«

»Und Fiede?«, hatte Poli-Kala gefragt. »Soll der vielleicht allein hierbleiben?«

Da hatte Nadeshda die spitzenmäßige Idee: »Hey, wir haben doch noch das Geld von unserer Belohnung!«

»Ja und?«, hatte Fiede gefragt. »Soll ich etwa im Taxi hinter euch herfahren, während ihr Fahrrad fahrt?«

»Taxi? Nichts da. Du wirst auch Fahrrad fahren«, hatte Nadeshda gesagt.

»Aber das geht doch gar nicht. Fiede kann doch gar nicht sehen«, hatte Poli-Kala besorgt eingewandt. »Der fährt doch sofort gegen den nächsten Baum.«

»Ja, und genau deshalb kaufen wir nämlich von unserem Belohnungsgeld ein Tandem! Und dann fahren wir los!«, hatte Nadeshda gesagt.

»Ein was?« Poli-Kala hatte Nadeshda fragend angeschaut. »Was ist das denn?«

»Ein Tandem ist ein Fahrrad, auf dem man zu zweit fahren kann«, hatte Gogo seiner kleinen Schwester erklärt. »Einer sitzt vorn und lenkt, aber beide müssen treten.«

»Tandem fahren. Super Idee! Da mache ich mit. Und wo möchtest du sitzen, Nadeshda? Vorn oder hinten?« Fiede hatte breit gegrinst und wieder mal selbst am lautesten über seinen Witz gelacht.

Aber alle waren von der Idee mit dem Tandem begeistert gewesen. Allerdings hatte keiner eine Vorstellung gehabt, wie teuer so ein Tandem war. Die gesamte Belohnung, die sie für die Lösung ihres ersten Falles erhalten hatten, war dafür draufgegangen. Aber das war ihnen egal gewesen. Sie hatten es bestellt.

Das war vor einer Woche gewesen. Heute nun sollte das Tandem geliefert werden. Seit den frühen Morgenstunden hatten sie schon auf den Treppenstufen gesessen und darauf gewartet. Nur zum Mittagessen waren sie kurz fort gewesen. Jetzt saßen sie in der Mittagshitze und warteten weiter.

»Wenn doch unser Tandem endlich da wäre!«, stöhnte Nadeshda und lehnte sich gegen die kühle Hauswand. »Dann könnten wir jetzt so schön an irgendeinen See radeln.«

»Wir könnten solange etwas spielen«, schlug Poli-Kala vor. »Zum Beispiel: Ich sehe was, was du nicht siehst.«

Fiede schnitt eine Grimasse. »Blödes Spiel. Das könnt ihr allein spielen. Da spiel ich nicht mit«, sagte er entschieden.

»Spielverderber!«, rief Poli-Kala. »Warum denn nicht?!«

»Mensch, Poli!«, rief Gogo. Nadeshda verdrehte die Augen.

Poli-Kala wurde tomatenrot. Beleidigt schob sie die Unterlippe vor und starrte hinauf in den Himmel. Plötzlich kniff sie die Augen zusammen. »Ich sehe was . . .«, murmelte sie. Ihr Blick wanderte im Zeitlupentempo tiefer.

Gogo schaute seine kleine Schwester entgeistert an und knuffte sie in die Seite. »Nun hör schon auf, Poli! Willst du Fiede ärgern? Fällt dir kein anderes Spiel ein?«

»Ja, Blinde Kuh zum Beispiel«, schlug Fiede grinsend vor. »Da wäre ich eindeutig im Vorteil!«

Doch Poli ließ sich nicht beirren. »Aber guckt doch mal! Seht ihr das nicht?!« Sie deutete auf ein Stück Papier, das direkt vor ihren Köpfen durch die Luft segelte. »Da, jetzt setzt es zur Landung an.«

»Was landet da? Ein Raumschiff?«, fragte Fiede und lauschte. »Ziemlich lautlose Landung, was?!«

»Von wegen Raumschiff! Das ist nur ein Fetzen Papier!«, sagte Gogo.

»Eine Luftpost!«, schrie Poli-Kala begeistert. Sie stürzte auf den Fußweg, schnappte sich das Papier und faltete den Zettel auseinander. »Bestimmt ein Brief von einem Außerirdischen!«

»Und, was schreibt dein Außerirdischer?«, wollte Fiede wissen.

Poli-Kala starrte angespannt auf das Papier. Dann seufzte sie und reichte Nadeshda den Zettel. »Nadeshda, lies du mal vor!«, bat sie.

»Und?«, fragte Fiede neugierig.

»Krakelige Kinderschrift. Kaum zu entziffern, voller Fehler«, stöhnte Gogo.

Nadeshda las vor:

Nadeshda und Gogo sprangen augenblicklich auf. Sie quetschten sich zwischen die auf dem Fußweg parkenden Autos und suchten mit Adleraugen die Häuserfront ab, um herauszufinden, von wo der Zettel gekommen sein mochte.

Gogo deutete auf das Nachbarhaus. »Der Zettel ist wahrscheinlich da links aus einem der Fenster geworfen worden«, vermutete er.

Das Nachbarhaus war ein Neubau. Erst kürzlich war es bezogen worden. Niemand von ihnen kannte die neuen Hausbewohner.

»Mensch, da oben wird jemand gefangen gehalten!«, rief Nadeshda aufgeregt. »Dann nichts wie los!«, ließ sich Fiede von der Treppe vor Nummer 28 hören. »Wir haben einen neuen Fall!« Er stand auf und klappte seinen weißen Stock auseinander. Nadeshda kniff ihn vor Aufregung in den Arm. »Mann, Fiede, du kannst tatsächlich Abenteuer riechen!«

Helfe! Pulizei!

»Könnt ihr da oben irgendetwas Außergewöhnliches feststellen?«, wollte Fiede wissen.

»Alle Fenster im dritten Stock sind geschlossen. Nirgendwo ein Mensch zu sehen«, meldete Gogo.

»Das ist doch besonders verdächtig! Los, wir gehen hoch und klingeln«, drängte Fiede.

»Bist du wahnsinnig?« Nadeshda hielt ihn am Arm fest. »Nachher werden wir auch noch eingesperrt.« Sie erinnerte ihn an ihren ersten Fall. Eindringlich hatte sie die Polizei hinterher ermahnt, sich niemals selbst in Gefahr zu begeben, wenn sie wieder einmal etwas Verdächtiges beobachten sollten.

»Wir müssen die Polizei rufen«, sagte sie langsam.

Oder war es besser, mit dem Anruf bei der Polizei zu warten, bis Otto nach Hause kam? Otto war der Freund ihrer Mutter und seit Neuestem als richtiger Detektiv in einem Detektivbüro angestellt. Im Moment war da nicht viel zu tun. Trotzdem war ungewiss, wann Otto kommen würde. Und auch ihre Mutter würde nicht vor heute Abend von der Arbeit zurück sein. So lange konnten sie nicht warten.

Während Gogo und Poli-Kala zusammen mit Fiede unten blieben, um weiter das Nachbarhaus zu beobachten, rannte Nadeshda hinauf in ihre Wohnung, um bei der Polizei anzurufen. Mit zittrigen Fingern gab sie die Nummer ein. Sie nannte ihren Namen und ihre Adresse. Atemlos schilderte sie den Fall: »Wir vermuten, dass da jemand gefangen gehalten wird . . .«

Nadeshda wurde unterbrochen. »Bleibt, wo ihr seid. Die Kollegen sind schon auf dem Weg.«

Aufgeregt raste Nadeshda wieder zu Fiede, Gogo und Poli-Kala, um unten auf der Straße auf das Eintreffen der Polizei zu warten.

Alle redeten durcheinander: »Wahrscheinlich sind wir gerade dabei, jemandem das Leben zu retten!« – »Bestimmt loben sie uns wieder.« – »Vielleicht kommen wir sogar ein zweites Mal in die Zeitung?« – »Mann, ist das aufregend!«

Dann ging alles sehr schnell. Zwei Streifenwagen hielten, vier Polizisten sprangen aus den Wagen. »Bist du das Mädchen, das angerufen hat?«

Nadeshda zeigte ihnen den Zettel und deutete auf das Haus und die Fenster im dritten Stock.

Die Polizisten verschwanden im Hauseingang. Nadeshda, Gogo, Fiede und Poli-Kala folgten ihnen ins Treppenhaus. Doch als einer der Polizisten sie bemerkte, wurden sie umgehend wieder zurückgeschickt. Also drückten sie sich unten im Hausflur herum und lauschten angespannt, um alles mitzubekommen, was oben im dritten Stock passierte.

Eine Frauenstimme war zu hören. Gemurmel. Eine Tür klappte. Stille. Doch es dauerte nicht lange, da wurde die Tür oben wieder geöffnet. Lachend kamen die Polizisten die Treppe wieder heruntergepoltert. Unten bei Nadeshda, Fiede, Gogo und Poli-Kala angekommen, blieben sie stehen. »So leid es uns tut, wir konnten dem Gefangenen nicht helfen«, teilte ihnen einer der Polizisten breit grinsend mit einem Achselzucken mit.

Nadeshda blieb fast das Herz stehen. Was hatte das zu bedeuten? Fiede runzelte die Stirn. Gogo und Poli-Kala schauten die Polizisten schockiert an. Wenn sie nicht helfen konnten, warum lachten sie dann?

Und dann klärte einer der Polizisten sie endlich auf: Der Hilferuf war von einem Erstklässler gekommen. Der Junge war von seiner Mutter dazu verdonnert worden, sein Zimmer aufzuräumen. Doch dazu hatte er offensichtlich keine Lust gehabt und war stattdessen auf die Idee mit dem Zettel gekommen!

Plötzlich grinste der Polizist nicht mehr. »Mit dem jungen Mann dort oben haben wir natürlich ein ernstes Wörtchen sprechen müssen. In der Zeit, die wir jetzt hier für diesen Unsinn verplempert haben, ist vielleicht ein ernster Notruf eingegangen, von jemandem, der wirklich unsere Hilfe braucht. Wir haben wahrhaftig wichtigere Dinge zu tun, als uns um solche Kinderscherze zu kümmern.« Und er fügte, indem er Nadeshda, Fiede, Gogo und Poli-Kala ernst ansah, hinzu: »Das gilt im Übrigen auch für euch. Bevor ihr das nächste Mal die Polizei ruft, besprecht ihr das vorher besser erst einmal mit einem Erwachsenen.«

Der Polizist verabschiedete sich und folgte seinen Kollegen, die bereits vorausgegangen waren. Über die Schulter rief er Nadeshda, Fiede, Gogo und Poli-Kala noch zu: »Wenn ihr Langeweile habt und nicht wisst, was ihr machen sollt, könnt ihr ja hochgehen und dem Jungen beim Zimmeraufräumen helfen.«

Nadeshda lief rot an und platzte fast vor Empörung. Als wenn sie die Polizei aus Langeweile angerufen hätten! »Aber . . .« Nadeshda wollte ihnen noch etwas hinterherrufen. Doch ehe sie dazu kam, waren die Polizisten bereits in ihren Wagen gesprungen und davongebraust. Wütend schaute sie ihnen hinterher.

Fiede kratzte sich verlegen am Kopf. Gogo guckte noch einmal hoch zum dritten Stock. Er schnitt eine Grimasse. Nadeshda folgte seinem Blick. Aus einem der Fenster winkte ihnen ein grinsender Junge zu.

Verärgert trotteten sie zurück zur Nummer 28.

Da kam ihnen Otto entgegen. »Was macht ihr denn für Gesichter?«, rief er. »Ist irgendwas mit eurem neuen Tandem?«

Ach ja, das Tandem! Nadeshda schüttelte den Kopf. »Nö, mit dem Tandem ist nichts. Abgesehen natürlich davon, dass es noch immer nicht da ist.«

Schnell berichteten sie Otto, was passiert war.

»Los, Poli, zeig Otto mal den Zettel!«, forderte Nadeshda Poli-Kala auf. Denn Poli-Kala hatte darauf bestanden, den Papierfetzen als Erinnerung aufzubewahren, obwohl er nicht von einem Außerirdischen war. Umständlich kramte sie das Papier aus ihrer Hosentasche und gab es Otto zu lesen.

Aber auch Otto schien ihre Geschichte von dem Erstklässler, der keine Lust hatte, sein Zimmer aufzuräumen, todkomisch zu finden. Erst als er merkte, dass Nadeshda und die anderen ihn beleidigt anstarrten, beeilte er sich, zu versichern: »Also, ich finde trotzdem, dass ihr ganz richtig gehandelt habt. Das Ganze hätte ja auch wirklich einen ernsten Hintergrund haben können.« Aber ganz versöhnt mit ihm waren sie erst, als er ihnen vorschlug: »Ab mit euch runter an die Elbe. Da weht eine frische Brise. Da holt ihr euch ein Eis bei der Strandperle. Ich gebe eine Runde aus. Das wird euch auf andere Gedanken bringen. Ich bleibe so lange hier und warte auf das Tandem. Und wenn ihr wiederkommt, ist es vielleicht schon da.«

Alle waren von der Idee begeistert.

Wer hätte auch ahnen können, was Ottos Vorschlag für Folgen haben würde!

Denn unten an der Elbe fanden sie die Tasche. Die Tasche voll Wasser.