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Inhalt

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2015 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-99048-053-3

ISBN e-book: 978-3-99048-054-0

Lektorat: Silvia Zwettler

Umschlagfotos: Bram Janssens, Ilja Mašík, Seoterra | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Kapitel 1

Zora war eine gewöhnliche Frau, die in einer Pflegefamilie aufwuchs, in einem kleinen Haus, mit Eltern und Geschwistern, die selbst alle adoptiert waren. Sie verstand sich ganz gut mit den anderen, doch sie hassten alle ihre Pflegeeltern. Es gab harte Regeln hier, z. B. dass sie die beiden als richtige Eltern akzeptieren mussten, Backen, Kochen und Putzen standen an der höchsten Stelle der Tagesordnung. Außerdem wurde ihnen immer eingeprägt, wie sie sich gegenüber den Männern zu verhalten hatten. Der Mann sollte verwöhnt werden und die Frau durfte nicht widersprechen. „Die Frau kocht, putzt und kümmert sich um die Kinder und der Mann geht arbeiten und lässt sich von der Frau verwöhnen, das ist doch nicht normal, wir leben doch nicht im Mittelalter!“

„Ob du dich nun aufregst, Amelia, oder nicht. Du weißt, wenn wir nicht gehorchen und nicht unsere Arbeit machen, dann bekommen wir wieder Schläge von den Alten. Denkst du, uns anderen macht es Spaß, hier in dieser Bude zu leben und das alles zu machen?“ Wie jeden Tag regten sie sich über die Eltern auf – außer Zora. Sie stand ruhig in der Küche und machte den Abwasch. Sie mischte sich nicht mehr ein in solche Sachen, seit sie Schläge bekommen hatte von dem Herrn. Zora wusste nicht, wie die anderen das jedes Mal machen konnten, obwohl sie doch schon selber alle Prügel bekommen hatten, aber trotzdem redeten sie so über die Eltern und machten keine Anstalten, ihre Arbeit richtig auszuführen. Zögernd sagte Zora: „Wisst ihr … ich finde das nicht richtig. Irgendwann werden wir hier raus sein, könnt ihr nicht dann über die beiden reden? Ihr wisst doch genau, wenn einer von ihnen das mitbekommt, was dann wieder passiert.“ Amelia sah Zora fassungslos an.

„Was soll das, Zora? Sag bloß, du bist schon so eingeschüchtert von einmal Schläge? Du lebst so lange hier mit uns, nur einmal hast du Schläge bekommen im Gegensatz zu uns. Nun willst du dir alles gefallen lassen?“ Jetzt mischte sich auch Ella ein. „Lass sie. Irgendwo hat sie eigentlich recht damit.“

Die beiden verschwanden und Zora war froh endlich etwas Ruhe zu haben. Sie freute sich schon endlich ihren Bruder wiederzusehen, doch die Frage, warum sie hier war, ging ihr nicht aus dem Kopf. Zora nahm sich vor ihren Bruder endlich zu fragen, doch bis dahin dauerte es noch mindestens drei Stunden. Nun musste sie erst einmal noch abtrocknen und summte vor sich hin. „Hör auf zu träumen und mache das Geschirr endlich sauber und stell es in den Schrank!“ Erschrocken fuhr sie herum und sah in das Gesicht der Frau, die sie großgezogen hatte, drehte sich aber schnell wieder herum zu dem Geschirr und machte sofort mit ihrer Arbeit weiter. „Bring das Papier raus, sobald du hier fertig bist. Wenn du das getan hast, kannst du in deinem Zimmer warten, bis dein Bruder da ist, und kein Wort darüber, was hier passiert, verstanden!?“

„Ja, verstanden.“ Nach dreißig endlos langen Minuten war sie in der Küche fertig und ging in den Keller. Kurz schaute sie zu der Foltertür, senkte dann schnell den Kopf wieder und ging zum Papier. Ihr kamen die Bilder hoch, wie der Alte den Stock nahm und auf sie einprügelte, niemand unternahm etwas, obwohl ihre Schreie durch das Haus zu hören gewesen sein mussten. Zora nahm schnell eine Tüte, kramte das Papier zusammen und steckte es hinein, sie hatte nicht das Verlangen, länger als nötig hier unten zu sein, wo das alles geschehen war. Als sie draußen war, freute sie sich über die frische Luft, im Haus war es nur stickig, roch nach Zigaretten und Alkohol. Als Zora das Papier in den Container geschmissen hatte, überkam sie ein komisches Gefühl, als ob ihr jemand gefolgt wäre. Angst stieg in ihr auf und sie wusste nicht, ob es schlau wäre, sich umzudrehen. Sie stand da und konnte sich nicht bewegen. „Was ist denn mit dir los, Schwesterherz?“ Beim Klang dieser Stimme beruhigte sie sich schnell wieder, und ehe er sich versah, lag sie schon in seinen Armen. Er umarmte sie fürsorglich und sein Blick wurde nachdenklich. „Was ist denn los mit dir? In der letzten Zeit stürzt du dich in meine Armen und umklammerst mich, dass ich kaum Luft bekomme. Ist irgendwas passiert, was ich nicht weiß?“

„Nein, es ist nichts … ich freue mich nur, dass du mich besuchen kommst.“

Zoran hörte in ihrer Stimme jedoch etwas Ängstliches und man hörte, dass sie weinte. Er konnte sie nicht zwingen zu reden, aber er wollte es wissen, sie war seine kleine Schwester, die er beschützen musste, nicht nur weil seine Eltern es ihm damals befohlen hatten, sondern auch weil er sie als Schwester liebte und nichts über sie kommen lassen wollte. „Ich zwinge dich nicht mir alles zu erzählen. Das möchte ich auch nicht, aber ich hoffe, dass du Vertrauen zu mir hast. Du kannst alles sagen, was du willst, und egal wie sehr du auch versuchst zu leugnen, dass etwas war, ich höre es in deiner Stimme, dass etwas passiert ist.“ Zora wollte nicht reden, zumindest jetzt nicht. Sie klammerte sich an ihrem Bruder fest und wünschte sich, dass er sie hier herausholen würde. Was er bestimmt machen würde, wenn er wissen würde, was hier passierte, doch Zora hatte so viel Angst, dass sie darüber kein Wort reden konnte. „Es ist wirklich nichts, das sind Freudentränen … wirklich. Mir geht es gut.“ Zoran musste seine Wut unterdrücken, weil er ganz genau wusste, dass sie etwas bedrückte, doch was war das gewesen, dass sie nicht darüber reden konnte oder wollte? Sie gingen gemeinsam in das Haus hinein. Zoran begrüßte alle sehr freundlich, dann gingen sie in den Wohnraum und setzten sich alle an den Tisch, um Kaffee zu trinken. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir einen Tee zu machen und bitte auch für meine Schwester?“

„Nein, überhaupt nicht. Amelia, gehe doch bitte mal in die Küche und mache zwei Tassen fertig.“ Es war wie immer, wenn Besuch kam, die beiden setzten ihre Maske auf und verhielten sich sehr freundlich. Der Schein einer glücklichen Familie, dachte Zora sich. Niemand wusste, was hinter den Scheinwerfern wirklich los war. Amelia kam mit zwei Tassen wieder und stellte sie auf den Tisch. Zora spürte die Blicke von ihrem Bruder auf sich, dass er kein Wort glaubte, wusste sie. Zoran erkannte immer sofort, wenn was nicht stimmte.

„Also wir haben überlegt, ob es nicht an der Zeit wäre, Ihrer Schwester einen Mann zu suchen. Sie ist sehr schlau und extrem hübsch. Die Hausarbeiten beherrscht sie alle. Wir sind uns sicher, dass sie einen Mann glücklich machen könnte.“ Zoran überlegte kurz und ließ seinen Blick nicht von Zora. Die Eltern waren bekannt dafür, dass sie ihre „Frauen“ an reiche und gut aussehende Männer weitergaben. Die letzte hatten sie sogar zum Tanz- und Gesangunterricht gebracht, weil sie mit einem Musiker zusammengebracht wurde. „Ich bestreite nicht, dass Sie sich sehr gut um Zora gekümmert haben, schon gar nicht, weil Sie schließlich eine gute Summe dafür bekommen haben, um auf sie zu achten. Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar. Was jedoch Vermählungen und sonstiges angeht, so möchte ich doch bitte entscheiden, wann die richtige Zeit dafür ist und wer es sein wird.“ In dem Raum wurde es ganz still und die Pflegeeltern schienen alles andere als glücklich zu sein über seine Antwort. Zora hörte zum ersten Mal davon, dass man Geld dafür bezahlt hatte, dass sie hier lebte. Umso mehr fühlte sie sich schuldig, dass sie Zoran nichts erzählt hatte, was hier in Wirklichkeit vor sich ging. Dann räusperte sich die alte Frau und setzte ein Lächeln auf. Langsam kam in ihr Gesicht wieder Farbe, welche nach Zorans Antwort entwichen war. „Natürlich können Sie das alles entscheiden. Dann werden wir uns nicht weiter in diese Angelegenheit einmischen.“ Als sie mit dem Tee fertig waren, gingen Zoran und Zora gemeinsam in die Stadt. Sie waren beide erleichtert aus dem Haus hinaus zu sein. In der Stadt durfte sie sich Sachen und Schmuck aussuchen, doch sie wollte nur ein einziges Kleid haben. Es war schwarz und lag eng an der Haut, der Ausschnitt war nicht sehr tief und deswegen hatte Zoran eingewilligt. Ihm passte es jedoch nicht wirklich, dass Zora so ein Kleid aussuchte, weil es doch ziemlich kurz war. Es ging bis zur Hälfte ihrer Oberschenkel, da er aber wusste, dass sie nicht viel von dieser Familie bekam, stimmte er zu. Als sie an einem Buchladen vorbeikamen, wollte Zora da gerne hinein. Sie nahm ein Buch, bei dem es sich anscheinend um einen Liebesroman handelte. Gemeinsam gingen sie an die Kasse und Zoran bezahlte es. „Hast du Lust, mit mir zum Japaner essen zu gehen?“

„Gerne, aber du hast doch schon so viel bezahlt für mich. Das Kleid war schon teuer genug, du musst mich nicht noch zum Essen einladen.“

„Das sind Kleinigkeiten, die ich gerne mache für meine Schwester. Geld spielt für mich keine Rolle, solange ich es für dich ausgebe. Ich bestehe darauf, dass du mit mir essen gehst, dann kannst du wenigstens nicht ablehnen.“

Er grinste leicht und hoffte, dass Zora endlich mit der Sprache herausrücken würde, was passiert war. Hatte es was damit zu tun, das sie einen Mann bekommen sollte? Das konnte nicht sein, Zora hatte seine Antwort gehört.

„Warum musste ich dort aufwachsen und wo bist du denn aufgewachsen? Warum bekommen sie Geld dafür von dir?“ Er merkte zuerst nicht, dass sie stehen geblieben war, weil er so in seine Gedanken vertieft war. Ihre himmelblauen Augen sahen ihn an und warteten auf Antworten. „Es ging damals nicht anders. Wir hatten viele Probleme gehabt und wollten nicht, dass dir etwas passiert. Deshalb haben wir dich zu einer Familie gebracht, wo du sicher aufwachsen konntest. Diese Familie ist bekannt dafür, dass sie den Kindern alles beibringen, was sein muss. So wie sie dir den Haushalt beigebracht haben zum Beispiel. Außerdem wurden die Frauen immer an sehr gute Männer weitergegeben. Zumindest wurden keine Beschwerden gehört. Ich bin damals bei unseren Eltern geblieben, da ich älter bin als du. Das Geld haben sie für dein Wohlbefinden bekommen. Gibt es ein Problem damit? Du lebst doch hoffentlich gut bei ihnen?“

„Ja, es geht mir gut. Was waren das für Probleme und warum wolltet ihr mich in Sicherheit bringen?“

„Das ist egal, das musst du nicht wissen. Ich habe dir deine Fragen beantwortet, das sollte reichen.“ Sie kamen bei dem Japaner an und bestellten sich beide Sushi. Keiner redete mehr über das Thema. Zora merkte, dass er gereizt war, und wollte ihn nicht noch weiter provozieren, deshalb behielt sie ihren Kopf unten und aß ihr Sushi auf. Wieder bezahlte Zoran und bedankte sich für das köstliche Essen. Zora ging der Kommentar nicht aus dem Kopf, dass sie sehr hübsch sei. Neben ihrem Bruder sah sie bestimmt nicht hübsch aus. Er hatte dunkelblaue Augen und dunkelblonde Haare, einen sportlichen Körper und war immer sehr gut gekleidet. Wenn er lächelte, schmolzen die Frauen fast dahin, was Zora total übertrieben fand. Vielleicht lag es auch daran, weil sie seine Schwester war. Warum musste sie sich immer über solche unwichtigen Dinge Gedanken machen? Die beiden waren auf dem Weg nach Hause, zu Zoras Zuhause. Sie wollte nicht zurück und ging immer langsamer, umso näher sie kamen. „Jetzt reicht es Zora!“ Sie fuhr so heftig zusammen und stand wie erstarrt da, ihr ganzer Körper fing unkontrolliert an zu zittern. Zoran hatte sie so sehr angeschrien, wie sie es noch nie erlebt hatte bei ihm. Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an und wusste nicht, was sie sagen sollte. Zoran schubste sie gegen eine Wand, schlug seine Hände auf beiden Seiten dagegen und schaute seine kleine Schwester wütend an.

„Erkläre mich nicht für dumm! Ich merke ganz genau, dass etwas passiert ist. Du willst nicht zurück und du erstarrst, sobald etwas ist. Außerdem zitterst du am ganzen Körper vor Angst. Erzähl mir endlich, was verdammt noch mal passiert ist! Und fange nicht wieder an, dass es dir gut geht!“ Zora öffnete zwar den Mund, doch es kam kein Wort heraus, dafür aber traten Tränen aus ihren Augen und rollten an ihren Wangen herunter. Die Bilder von den Ereignissen überschlugen sich, diese Augen, die sie so anstarrten, das Grinsen, die Schmerzen, das Schreien. Sie sank auf den Boden und zog die Knie an sich, umfasste diese mit den Händen und weinte mit gesenktem Kopf. Zoran schaute sie an, doch nicht mehr sauer, sondern traurig. Er ging vor ihr in die Hocke und nahm sie in die Arme. „Entschuldige, wenn ich dir Angst gemacht habe. Ich kann einfach nur nicht mit ansehen, wie du leidest.“

„Halt mich einfach nur fest, Zoran, und lass mich bitte nicht los. Ich kann es dir nicht erzählen, es tut mir leid, wirklich. So sehr ich es auch will, ich kann es einfach nicht.“ Zoran erwiderte nichts mehr und hielt seine Schwester einfach, ohne ein Wort zu sagen, in den Armen. Sie ist so zerbrechlich und so ängstlich und schüchtern, sie könnte niemals einer Fliege was zuleide tun, was wurde ihr nur angetan? Er beschloss jemanden an ihre Seite zu stellen, der ein Auge auf sie haben sollte. Irgendwann würde er es erfahren, was man seiner Schwester angetan hatte. Langsam hörte Zora auf zu weinen und stand auf. Sie richtete den Blick immer noch nach unten und traute sich nicht ihren Bruder anzusehen. Langsam gingen sie weiter zum Haus, mittlerweile war es schon dunkel geworden und die Eltern standen an der Tür und warteten schon, Zora wusste, dass sie sauer waren, ohne dass sie es sehen musste. „Entschuldigung, dass es so lange gedauert hat. Ich war mit meiner Schwester noch essen und habe vergessen auf die Uhr zu schauen, während wir uns unterhielten.“

Beide schauten erst Zoran an und dann gingen die Blicke zu Zora. Sie blickte immer noch auf den Boden und krallte sich an Zoran fest. „Ist schon okay, wir wussten ja, dass sie mit Ihnen unterwegs ist.“ Zoran drückte seine Schwester noch einmal fest an sich und flüsterte ihr ein „Auf Wiedersehen“ zu. Dann ließ er sie los, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und ging. Zora blickte ihm noch eine lange Zeit hinterher, bis er nicht mehr zu sehen war. Dann bemerkte sie, dass eine Hand ihren Arm packte und sie hereinzerrte. Es war der Herr, der sie wütend ansah und anfing sie anzuschreien. „Was hast du ihm erzählt und warum bist du total verheult? Du hast ihm etwas erzählt, stimmt’s?“

„Nein! Ich … ich habe wirklich nicht …“

„Schweig, du Lügnerin!“ Zora wurde in den Keller gezerrt und sie weinte und schrie, dass er sie loslassen sollte. Doch er hörte nicht und schubste sie in die Kammer. Hinter sich schloss er die Tür ab und nahm das Brett zur Hand. Zora sah nur noch, wie er ausholte, und schloss dann die Augen, als sie schrie. Der Schmerz war nicht auszuhalten und es brannte, als würde man sie mit Feuer verbrennen. Dann merkte sie nur noch, wie das Blut über ihren Rücken floss, bevor alles schwarz wurde.

Etwas Helles blendete Zora im Gesicht und sie spürte Schmerzen. Sie konnte ihre Augen nicht öffnen, weil das Licht zu grell war. Es dauerte ein paar Minuten, bis sie es schaffte, die Augen leicht aufzubekommen. „Wo bin ich hier? Das ist nicht mein Zimmer.“ Ihre Stimme war kaum hörbar. Sie setzte sich langsam auf und überlegte, was geschehen war und wie sie hierhergekommen war. Als Zora durch den Raum blickte, erkannte sie, dass es ein Krankenhauszimmer war. Erst jetzt bemerkte sie den Tropf und die Pflaster. Bei jeder Bewegung spürte sie den Schmerz, der über ihren Rücken fuhr. Langsam kamen die Gedanken wieder, mit dem Keller, die Schläge und die Behauptung, dass sie ihrem Bruder etwas erzählt hätte. Was haben die den Ärzten erzählt, wie das passiert ist? Als es klopfte, zuckte Zora heftig zusammen und schrie fast auf, konnte es aber gerade noch unterdrücken. „Oh, Sie sind wach. Wurde auch Zeit, Sie haben schließlich drei Tage geschlafen. Wir haben uns schon Sorgen gemacht. Können Sie sich erinnern, was passiert ist?“

„Nein, kann ich nicht“, log Zora, um zu erfahren, was die Eltern gesagt hatten.

„Sie sollen mit einem Fahrrad im Wald von einem Berg heruntergestürzt sein. Durch die Äste und Sträucher haben Sie schwere Wunden, aber keine Sorge, so wie es aussieht, wird später nichts mehr zu sehen sein.“

Das haben sie also erzählt, dachte Zora. Sind die Ärzte wirklich so dumm, um so was zu glauben? „Ja, klingt irgendwie nach mir. Wann darf ich hier raus?“

„Die Ärztin meinte, wenn alles gut geht, in sieben Tagen. Ich soll noch ausrichten, dass Ihrem Bruder Bescheid gesagt wurde und er bald hier sein müsste.“

„Danke für die Nachricht.“ Erst überlegte sie, ob man der Schwester vertrauen konnte, um die Wahrheit zu erzählen, hielt dann aber doch inne, weil sie nicht noch mehr Probleme haben wollte. Langsam lehnte sie sich zurück und schloss die Augen wieder. Nach einer Weile schlief sie wieder ein, weil ihr Körper zu erschöpft war von den ganzen Ereignissen.

„Zora? Zora, hörst du mich?“ Besorgt sah Zoran seine Schwester an und streichelte ihr über die Wange. In ihm kochte es vor Wut. Ihm kamen keine Zweifel mehr, dass die Familie ein dunkles Geheimnis hatte. Die Geschichte, dass Zora von einem Berg mit dem Fahrrad gestürzt sein sollte, hatte er von Anfang an nicht geglaubt. Dafür kannte Zoran sie zu gut. „Zo…ran …“, sein Blick ging sofort hoch auf ihr Gesicht. Ihr Lächeln war sehr schwach. Ihm kamen die Tränen, als er sie so sah. Langsam, als könnte sie bei jeder Berührung zerbrechen, streichelte er ihr über die Haare und küsste sie ganz vorsichtig auf die Stirn. „Ich bin so froh, dass du noch lebst. Wer hat dir das angetan?“

„Es bringt nichts mehr, dich anzulügen, oder?“ Zoran schaute seiner Schwester direkt in die Augen, legte seine Hand auf ihre und schüttelte leicht den Kopf.

„Hätte ich mir auch denken können. Es ist nicht einfach, das zu erzählen. Ich habe Angst, dass sie mich das nächste Mal umbringen.“

„Sie werden dir nichts mehr antun, das schwöre ich dir.“

„Ich hätte es dir so oder so erzählt, ich kann einfach nicht mehr darüber schweigen. Wenn wir nicht hören und machen, was sie sagen, dann bekommen wir Schläge. Es war das erste Mal vor ungefähr einem Monat, als ich mich mit den anderen über sie beschwert hatte. Die Herrin hat es gehört und dem Herrn erzählt. Bevor ich etwas verstehen konnte, hatte er mich schon in den Keller gezerrt und mit dem Stock ausgeholt. So war es auch an dem Tag, als du gegangen warst. Der Herr hat behauptet, ich hätte dir etwas erzählt, als ich es abstritt, nannte er mich eine Lügnerin und zerrte mich wieder in den Keller. Ich habe nur einen sehr starken Schmerz gespürt und sehr bald wurde vor meinen Augen alles schwarz. Die Schwester meinte, ich hätte drei Tage geschlafen.“

Ihr Kopf fing an wehzutun. Zoran bemerkte es und wollte schon nach einer Schwester klingeln, doch Zora nahm seine Hand und zog sie langsam davon weg. „Schon gut, ich brauche nichts. Als du dich von mir verabschiedet hast, sah ich noch lange hinter dir her. Ich habe gehofft, dass du wieder zurückkommen würdest, um mich mitzunehmen.“ Zoran schluckte seine Wut runter. Der Hass zerfraß ihn innerlich. Am liebsten wäre er zu dieser Familie gefahren, um ihnen alles heimzuzahlen. Doch seine Schwester brauchte ihn jetzt, das wusste Zoran. „Ich habe jemanden mitgebracht. Dass etwas nicht stimmte, wusste ich schon früher, auch wenn du nicht den Mund aufgemacht hast. Er wird auf dich aufpassen und immer ein Auge auf dich haben, auch wenn du ihn nicht sehen wirst, kannst du sicher sein, dass er an deiner Seite ist. Könntest du bitte hereinkommen, Leander?“ Zoran sah, dass seine Schwester etwas verwirrt war, das konnte er gut verstehen, wenn er in ihrer Situation gewesen wäre, würde er auch kein Wort verstehen. Zoran hoffte, dass Zora nicht weiter darauf einging. „Guten Tag, Zora. Du bist also die Schwester von meinem besten Freund? Hübsches Fräulein, muss ich schon sagen. Liegt wohl in der Familie.“

Zoran warf ihm einen wütenden Blick zu, der aber wieder verschwand, als Zoran das leichte verlegene Lächeln seiner Schwester sah. Er hatte recht, sie war wirklich sehr schön. Ihre dünne Figur und ihre langen hellblonden Haare passten zu ihrer blassen Haut und ihre wunderschönen großen Augen erinnerten Zoran an seine Mutter. Doch er wusste, dass es nicht sie war, wie sie geboren wurde. Ihr Wirkliches Ich war tief verschlossen worden, damit sie in Sicherheit sein konnte. Nun drohte aber seit langer Zeit schon keine Gefahr mehr. Ihre Eltern waren gefallen im Kampf und Zoran war verpflichtet sich nun um seine Schwester zu kümmern. Er wusste nicht, wie man die wirkliche Zora freilassen konnte, und auch nicht, wie er ihr überhaupt die Geschichte irgendwann erklären sollte. Bis dahin hatte er zum Glück noch Zeit, erst einmal musste er seine Wut unter Kontrolle bekommen, für Zora, und mit Leander reden. „Leander, könntest du bitte mal kurz mitkommen vor die Tür? Ich muss noch etwas Wichtiges mit dir besprechen.“ Zora blickte erst zu ihrem Bruder, dann zu Leander. Sie verstand nicht, warum ihr Bruder mit ihm alleine reden wollte. Zora fühlte sich erschöpft und beschloss sich wieder hinzulegen. Die Zeit im Krankenhaus sollte genutzt werden, um sich auszuruhen. Wenn die Zeit hier drin vorbei war und es dann wieder nach Hause gehen würde, fing der Stress wieder an. Arbeiten und alles machen, was die Alten wollten. Zora hatte keine Lust mehr, wegen irgendeinem Vergehen geschlagen zu werden. Wie wollte Leander sie beschützen? Ihr fiel der Satz ein, als Zoran meinte, dass Leander immer bei ihr wäre, auch wenn sie ihn nicht sehen würde. Wie meinte er das? Egal, dachte sie sich. Ich kann mir darüber später immer noch Gedanken machen. Als ihr die Augen zufielen, hörte Zora die Tür wieder aufgehen und sie schaute sofort wieder auf. Vor ihr stand Leander und hielt ihr ein kleines Päckchen hin. Langsam schaute Zora hoch zu ihm, dann wieder zu der Schachtel. Da ihr der Rücken immer noch wehtat, erhob sie sich nur langsam und setzte sich. Das Päckchen war leuchtend rot und sauber eingepackt. Eine goldene Schleife war darum gebunden und das Material leuchtete im Licht. Es sah so schön aus, das Zora es ganz langsam öffnete, um das Papier nicht zu zerstören. Zum Vorschein kam ein Buch mit einem Drachensymbol, und ohne dass Zora es wollte, kamen ihr Tränen der Freude. Dieses Buch wollte sie schon so lange haben, nun schenkte es ihr jemand, der sie nicht kannte. Im Geheimen wusste sie aber, dass ihr Bruder dahintersteckte. „Danke … sehr“, schluchzte sie. Zoran setze sich neben sie und umarmte sie vorsichtig, damit er ihr nicht wehtat. Leander schaute Zora an und lächelte. Dann ging er zum Fenster, um hinauszusehen. Zum ersten Mal konnte Zora ihn richtig betrachten. Er war dünn und hatte eine Lederjacke an, die offen war, und eine dunkelblaue Jeans, dunkelbraune kurze Haare und dunkelbraune Augen, an seiner Taille ein breiter schwarzer Ledergürtel und Leander hatte noch schwarze Turnschuhe an. Zum ersten Mal fand Zora einen Mann ziemlich attraktiv. Seine Haut ist braun, von der Sonne wahrscheinlich, dachte Zora. „Es wird eine lange Zeit vergehen, bis ich dich wieder besuchen kann. Bitte passe auf dich auf und erhole dich hier im Krankenhaus. Wenn ich wiederkomme, dann werde ich dich mitnehmen. Leander bleibt so lange die ganze Zeit bei dir und achtet auf dich.“

„Danke dir für alles. Ich werde warten, bis du wieder zu mir kommst, egal wie lange das auch dauern wird. Jede Sekunde werde ich daran denken, dass ich da bald herausgeholt werde von dir. Ich hab dich lieb, Bruder.“ Beim letzten Satz umarmte sie ihn und vergrub ihr Gesicht an seinem Hals, damit er nicht ihre Tränen sehen konnte. Am liebsten hätte sie ihn niemals losgelassen. Auch ihrem Bruder ging es so. Selbst ihm kamen die Tränen, wenn er nur daran dachte, dass er Zora hier noch so lange alleine lassen musste. Das Gefühl, dass Leander da war, gab ihm aber Kraft. Zoran konnte sich auf ihn verlassen, das wusste er. Leise sagte er zu ihr, dass auch er sie lieb hat, und löste sich widerwillig aus der Umarmung. Nun merkte Zora, dass es eine sehr lange Zeit sein würde, bis sie ihren Bruder wiedersehen würde, und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Als Zoran gegangen war, ging Leander an ihr Bett und drückte sie leicht, um ihr Trost zu spenden. „Er wird so schnell wie möglich zu dir zurückkommen.“ Zora nickte nur, denn sie konnte nicht reden. Am liebsten hätte sie den Tropf herausgerissen und wäre ihm nachgelaufen, nur um nie wieder zurückkehren zu müssen. Der Gedanke daran, dass sie wieder zurück zu den Pflegeeltern musste, ließ sie erschaudern. Leander bekam das mit und streichelte ihr beruhigend über die Haare. „Wie lange bist du schon bei denen?“

„Seit ich zehn bin.“

„Vierzehn Jahre schon. Haben sie dir davor schon etwas getan?“ Sie schüttelte den Kopf. Leander half ihr beim Hinlegen und deckte sie vorsichtig zu, auch er hatte Angst, ihr wehzutun. Er riet ihr zur schlafen, doch sie schüttelte wieder nur den Kopf. Leander versprach, dass er im Zimmer bleiben und nicht von ihrer Seite gehen würde, damit ihr nichts passierte. Dann gehorchte sie und schloss die Augen. Als Leander ihre ruhige Atmung bemerkte, wusste er, dass sie eingeschlafen war. Er nahm das Buch, das Zoran und er ihr geschenkt hatten, und fing an zu lesen. Die Geschichte klang sehr interessant und Leander musste zugeben, dass Zora einen guten Buchgeschmack hatte. Abends kam noch mal eine Schwester rein, um nach ihr zu sehen. Als sie dann gegangen war, schlief Leander irgendwann auf dem Stuhl ein.

Zoran sah vom Beifahrersitz aus dem Fenster und überlegte, wie er ihr alles erklären könnte, wenn Zora zu ihm kommen würde. Leider hatten seine Eltern ihm nie etwas von diesem Siegel erzählt, aber er wusste, dass es ein unglaublich starkes Siegel sein musste, wenn es so viele Jahre hielt. „Worüber denkst du nach? Ist es wegen deiner Schwester?“

„Ja, besser gesagt wegen des Siegels. Ich kann mir keinen Reim darauf machen. Du weißt auch nichts darüber, oder?“

„Nein, ich habe nie etwas von so einem Siegel gehört. Es ist außergewöhnlich, da es alles von ihr verschließt. Sie sieht nicht mal annähernd mehr so aus wie damals und sie kann sich an nichts erinnern. Ich kann mir schon vorstellen, wie es sein muss für sie. Hat sie denn nie gefragt, was vor dem Ganzen war? Ihre Erinnerungen gehen doch erst los, als sie zehn Jahre alt war und dort hingebracht wurde von dir, oder etwa nicht?“

„Das stimmt. Zu meinem Erstaunen hat sie diese Frage noch nicht gestellt. Sie wollte nur wissen, warum sie bei dieser anderen Familie aufwachsen musste.“

Der Blick blieb nach draußen gerichtet, während sie im Dunklen die Straße entlangfuhren. Zoran wurde aus seinen Gedanken gerissen, als sein Handy klingelte. „Was gibt es, Maaike, wir sind unterwegs nach Hause.“

„Es wird dir nicht gefallen, aber der Blutclan scheint dich beschattet zu haben. Leroy Loitador hat herausgefunden, dass deine Schwester lebt. Er erklärt dir den Krieg wegen Geheimhaltung von der Herrscherin.“

„Verdammt!“, er knirschte mit den Zähnen und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. Dann legte er auf. „Was ist los? Was wollte sie?“

„Loitador hat mir den Krieg erklärt.“ Er musste seine Schwester so schnell wie möglich aus dieser Familie holen, doch mit dieser Kriegserklärung wurde ihm ein Strich durch die Rechnung gemacht. Zoran konnte sie nicht zu sich holen, wenn er sich in einem Krieg befand. Nun gab es nur eine Möglichkeit, die ihm überhaupt nicht gefiel. Um keine Zeit zu verlieren, nahm er sein Handy zur Hand und wählte die Nummer. Er sah keine andere Möglichkeit, als seinen schlimmsten und langjährigen Feind um Hilfe zu bitten. Mario Paxaro, den Anführer des Schwarzen Clans.

Kapitel 2

Als die Schwester an der Tür klopfte, hereinkam und die Fenster öffnete, wurden Zora und Leander wach. Beide blinzelten erst, dann streckte sich Leander. Zora sah kurz seinen freien Bauch. Wow, war das Einzige, was sie in diesem Moment denken konnte. Die Schwester sagte, dass sie einmal Blut abnehmen müsste. Leander schaute weg, als sie das machte. Zora fing an zu kichern, als sie sah, dass Leander ganz kurz hingeschaut hatte und sofort blass wurde. Dann wurden einmal Blutdruck und Fieber gemessen. Die Schwester ging dann und sagte noch, dass die Ärztin gleich noch mal vorbeikommen möchte. „Kannst du Blut nicht sehen?“

„Das hat nichts mit Blut zu tun. Es sind die Nadeln“, erwiderte er kleinlaut. Leander schüttelte sich, als er das Wort nannte. Zora fand es lustig und musste lachen. Sie sah das Buch aufgeschlagen. Leander erzählte, dass er da mal reingeschaut hatte. Er stand auf, um sich einen Kaffee zu holen, davor fragte er, ob sie auch etwas wollte. Zora bedankte sich, wollte aber nichts weiter haben. Leander ging den Flur entlang. Der Krankenhausgeruch ließ ihn erschaudern. Er konnte es einfach nicht ab. Komischerweise konnte Zora ihn wunderbar ablenken. Er hatte nicht gelogen, als er meinte, dass sie schön sei, denn das war sie wirklich. Wunderschön, um genau zu sein. Leander fragte sich, wie man einer Frau so etwas antun konnte. Sie schien wirklich schwer verletzt zu sein. Wenn sie sich hinsetzte, zuckte sie schon zusammen. Manchmal traute Zora sich nicht einmal aufzusetzen. Doch man sah auch, dass es ihr wieder besser ging. Leander fand es seltsam, dass sich die Verletzungen so schnell bessern konnten, machte sich aber darüber keine weiteren Gedanken mehr. Der Kaffee würde bestimmt ekelhaft schmecken, deshalb überlegte er zu einem Bäcker zu gehen und dort einen zu holen, doch er wollte nicht zu lange wegbleiben und entschied sich dagegen. Er steckte ein paar Münzen in den Automaten und ging wieder zurück. Zora blickte von dem Buch auf und lächelte ihn an. Sie sah immer noch sehr blass aus. Als er einen Schluck nahm, verzog er gleich den Mund, worauf Zora lachen musste. „Der muss ja wirklich widerlich schmecken, so wie du gerade deinen Mund verzogen hast.“ Am liebsten hätte Leander ihr angeboten selber mal zu kosten, doch nicht aus dem Becher. Er biss die Zähne zusammen. Was fiel ihm ein, an so etwas zu denken? Er sollte auf sie aufpassen, nicht mehr und nicht weniger. Sie hatte eine traumhafte Stimme gehabt. Ihre Augen waren wie der Himmel. Leander schüttelte den Kopf. Jetzt reicht es aber, ermahnte er sich. Er kannte sie doch erst seit ein paar Stunden und sie war alles andere als nur eine Frau für eine Nacht. Doch er konnte nicht anders, als ihre Beine zu betrachten, die auf der Decke lagen, und ihre Hüften. Zum Glück war sie vertieft in das Buch und bekam es nicht mit, wie er sie anstarrte wie ein gieriger Hund, der ein Leckerli haben wollte. Leander schaute zur Tür, als es klopfte. Er hörte eine tiefe, unfreundliche Stimme, als die Tür einen Spalt aufging. „Zora! Du … oh, guten Tag. Wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“ Der Mann schaute grimmig zu Leander. Anders hatte er sich den nicht vorgestellt. Er hatte einen Stoppelbart, war dick und unfreundlich noch dazu. Zora unterbrach die Stille schnell, als sie sah, dass der Vater immer wütender wurde, weil er keine Antwort bekam. „Das ist ein sehr guter Freund von meinem Bruder. Da er selber im Moment nicht hier sein kann, besucht Leander mich an seiner Stelle.“

„Kann dieser Kerl nicht selber reden?“ Leander blickte ihn wütend an. Am liebsten hätte er ihn gleich wieder hinausbefördert, aber nicht zur Tür, sondern gleich aus dem Fenster. Der Mann meinte brummig zu Leander, dass er sich hinausscheren solle, weil er alleine mit ihr reden wollte. Leander sah aus den Augenwinkeln, dass Zora ängstlich schaute und den Blick auf die Decke gerichtet hatte. Sein Blick ging noch einmal zu dem Mann, bevor er die Tür schloss und sich dran lehnte. Wenn er allen Ernstes glaubte, dass Leander nicht zuhören würde, dann hatte er sich geirrt. „Glaub ja nicht, du Miststück, dass sich was ändern wird, wenn du zu Hause bist. Dann wirst du erst mal sehen, was richtige Arbeit ist. Du bescherst uns allen nur Probleme. Wenn das Geld nicht stimmen würde, dann hätte ich dich schon längst entsorgt.“ Es folgte eine kurze Stille. Leander ballte seine Hände zu Fäusten, als er ihn weiterreden hörte. „Oder ich hätte dich für andere Sachen benutzt. Aber wenn du auch nur ein Wort sagst, dann lernst du mich richtig kennen. Verstanden?“ Leander hörte nur leise Zoras Stimme. Doch er hörte das Zittern und die Angst darin. Er trat zur Seite, als der Alte hinauskam, der Leander kurz wütend ansah, doch nichts mehr sagte. Leander trat wieder in das Zimmer. Als er Zora wie ein Häufchen Elend auf dem Bett sah, blieb er abrupt stehen. Er blickte besorgt zu ihr. Als er näher kam und sie am Arm berührte, fuhr sie auf. Sie entschuldigte sich deswegen schnell bei ihm. Leander strich mit dem Daumen ihre Tränen weg. Vorsichtig nahm er sie in die Arme und legte seine Wange auf ihre Haare. „Er wird dir nichts tun. Was war gerade, als nichts mehr zu hören war? Erzähl es mir.“

„Nein. Du würdest ihn verletzen.“ Erstaunt sah er sie an. Ihr Blick war traurig. Leander schluckte, als sein Blick auf ihren Lippen haften blieb. Er schüttelte leicht den Kopf. Leander versprach ihr, dass er nichts machen würde, solange er sie nicht noch einmal so zurichtete. Sie erzählte Leander, dass er ihr über das Bein gestreichelt hatte. Leander drückte sie sanft näher an sich. Sie blieb die ganze Zeit in seinen Armen liegen, denn er gab ihr einen gewissen Schutz. Leander hatte sich auf das Bett gelegt, weil sie ihn nicht loslassen wollte. Er fand, dass sie traumhaft aussah, wenn sie schlief. So friedlich. Leander betrachtete sie die ganze Zeit. Er konnte nicht anders, als ihre Lippen nur ein einziges Mal zu berühren. Sie waren weich und sie roch nach Rosen. Was war nur in ihn gefahren? Er sollte schnellstmöglich wieder einen klaren Verstand kriegen. Langsam legte er sie auf das Bett, während er aufstand und zur Toilette ging. Er spritzte sich ein paarmal Wasser ins Gesicht und schaute in den Spiegel. Davor hatten ihn die Frauen auch nicht interessiert, warum jetzt auf einmal? Warum ausgerechnet sie? Sie hatte doch nichts anderes als die andern Frauen auch. Doch sie hatte etwas, was nur wenige hatten. Eine reine Seele und ein großes Herz. Leander wusste, dass sie, egal wann es auch sein mochte, ihm nie gehören würde. Wehmütig lächelte er. Er ging hinaus und setzte sich auf den Stuhl. Sein Blick blieb immer noch haften auf ihrem Körper. Immer wieder biss er sich auf die Lippe. So was gab es doch nicht.

Zoran hatte mit einem Mitglied von Mario gesprochen. Es war logisch, dass er nicht persönlich zu erreichen war. Schon alleine der Gedanke, sich mit ihm zu treffen, ließ ihm einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Mario war nicht gut auf Verhandlungen zu sprechen. Er war gefühlskalt und tödlich. Abgesehen davon hatten sie nicht wirklich eine gute Vergangenheit. Mit ein Grund, warum sie sich hassten. Zoran ging gleich in sein Büro. Der Mann im Raum drehte sich zu ihm um und schaute ihn mit seinen hellblauen Augen durchdringend an.

„Wie geht es ihr?“

„Warum interessiert es dich dauernd, wie es Saphira geht?“

„Darf ich nicht fragen? Seit wann ist das verboten?“

„Sei froh, dass du dich hier überhaupt frei bewegen darfst. Vergiss nicht, dass ich es schnell ändern könnte. Aber es geht ihr den Umständen entsprechend, wenn du es wissen willst. Fall mir nicht in den Rücken, sonst vergesse ich ganz schnell, dass wir Freunde geworden sind, und denke daran, was du bist, Nicolai.“

Er sagte nichts mehr zu Zoran. Nicolai berichtete, dass alles gut gelaufen war im Clan und es keine Vorkommnisse gab, bis auf die Kriegserklärung von Leroy. Danach ging Nicolai hinaus. Zoran setzte sich auf den Stuhl und atmete einmal tief durch. Dieser verdammte Nicolai. Wäre er nicht so ein guter Kämpfer und Beschützer, hätte Zoran ihn gleich erledigt, als er herausgefunden hatte, was Nicolai wirklich war. Aber Nicolai hatte alles gut unter Kontrolle, wenn Zoran bei seiner Schwester war. Er machte sich mehr Gedanken um Mario und was geschehen könnte, wenn er und Saphira aufeinandertreffen würden. Zoran wollte sie doch immer von Nicolai und Mario fernhalten. Nun war er in einer Zwickmühle. Hier war Nicolai und bei Mario war der einzige Ort, wo sie sicher war, solange er sich mit Leroy Loitador, dem Anführer des Blutclans, herumärgern musste. Nun hatte er den Anruf gemacht. Es würde hoffentlich nicht lange dauern, bis er sich endlich melden würde.

Die Tage verliefen immer gleich im Krankenhaus. Die Ärztin kam zur Kontrolle, die Schwester maß Blutdruck und Fieber. Sonst unterhielten sie sich oder Zora las im Buch. Einmal hatte sich Leander neben sie gelegt. Eigentlich nur, damit es bequemer war, doch Zora rutschte an ihn heran und er musste sich sehr zusammenreißen sie nicht an sich zu drücken. Danach hatte er es nicht noch einmal gewagt, sich neben sie zu legen. Ihre Eltern hielten es nicht einmal für nötig, sie abzuholen, und so fuhr Leander sie nach Hause. Er spürte ihre Anspannung und die Furcht davor, wieder dorthin zu müssen. Er hoffte, dass Zoran sich beeilte sie hier herauszuholen. Leander konnte für nichts garantieren, was passieren würde, wenn Zora etwas angetan wurde. „Ich will nicht. Gibt es keine andere Möglichkeit?“

„Glaub mir, ich wünschte, es gäbe eine. Leider fällt mir nichts ein.“ Als sie anhielten, krallte sich Zora an Leander fest. Sie fing jetzt schon an zu weinen. Tröstend nahm er sie in die Arme und blickte zu dem Haus hinüber. Könnte er sie nicht einfach mitnehmen? Einfach irgendwohin? Zoran würde ihn zu Hackfleisch verarbeiten, wenn er das täte. „Ich werde dich nicht aus den Augen lassen. Sobald er es wagen sollte, dich anzufassen, werde ich ihm sonst etwas antun.“ Zora schmiegte sich an ihn. In dieser Woche hatte Leander sie viel zum Lachen bringen können. Sie mochte ihn und vertraute ihm. Langsam trennte sie sich von Leander und ging traurig rein. Davor hatte sie ihm noch gesagt, welches Zimmer ihr gehörte. Er kletterte auf den Baum und beobachtete sie. Es schien Zora nicht im Geringsten zu stören, dass er sie sah. Er wandte den Blick ab, als sie sich auszog und ein weites Kleid anzog. Danach band sie ihre langen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Leander sabberte förmlich, als er sie beobachtete. Verdammt, dieses Weib ist der Wahnsinn. Eine Frau kam in ihr Zimmer und schmiss einen Müllbeutel vor ihre Füße. Zora hob ihn auf und ging hinunter. Leander sah, dass sie um das Haus ging, anscheinend zu den Mülltonnen. Er sprang vom Baum hinunter. Zora blickte nach unten und lief gegen Leander. Erschrocken blickte sie auf. Sie atmete erleichtert durch, als sie ihn sah. „Du hast mich erschreckt. Pass bloß auf, dass dich keiner sieht.“

Leander lächelte warm und strich ihr eine Haarsträhne, die ihr ins Gesicht fiel, hinter ihr Ohr. Leicht beugte er sich vor. „Keine Angst, ich passe schon auf. Weißt du eigentlich, wie wundervoll du bist?“ Verwirrt und blinzelnd schaute sie ihm in die Augen. Leander gab ihr einen kurzen Kuss. Erschrocken schlug sie die Hand vor ihren Mund. „Entschuldige, aber ich konnte einfach nicht anders. Schlaf gleich gut, Süße.“ Er ging weg und verschwand schnell in der Dunkelheit. Es war zwar kein richtiger Kuss, aber trotzdem verunsicherte sie das. Sie ging langsam wieder hinein. Benommen saß sie auf dem Bett. Leander lächelte, ihre Lippen waren köstlich. Langsam fuhr er mit seiner Zunge über seine Lippen. Was würde er alles dafür tun, nur um mit dieser Frau zusammen sein zu können? Leander verstand immer noch nicht, warum es so war, doch er war von ihr gefesselt. Ihre Bewegungen, ihr Körper, ihr Geruch. Alles machte ihn wild. Wenn das so weitergehen würde, würde er bald selbst Hand anlegen müssen, damit sein kleiner Kumpel sich beruhigte. Immer wieder fragte er sich, was sie an sich hatte. Was faszinierte ihn so sehr an ihr? Für diese Frau würde er alles machen, er war komplett in ihrem Bann.

Zoran hatte immer noch nichts gehört von Mario. Langsam fragte er sich, ob man ihm überhaupt Bescheid gesagt hatte. Er rief dort noch einmal an. Diesmal ging ein Mann an den Hörer. Zoran erklärte ihm sein Anliegen. Am anderen Ende wurde kurz gesprochen. Dann wurde gesagt, dass Mario keine Zeit hatte, doch unverzüglich Bescheid gegeben werde, dass Zoran sich gemeldet hatte. Zoran stand vor dem Zelt und blickte hinunter zu den Gruppen. Sie bereiteten sich alle für den Kampf vor. Wie konnte er das übersehen haben, dass Leroy Loitador ihm jemand hinterhergeschickt hatte? Zoran wusste noch nicht einmal, wie er auf diese Idee überhaupt gekommen war, ihn beschatten zu lassen. Loitador liebte sie damals, vielleicht hatte er etwas geahnt. Er schnaubte, das konnte wohl kaum sein. Alle nutzten es doch nur aus, dass Saphira die Herrscherin war. Königin der Clans. Um etwas anderes ging es doch nie bei den Männern. Doch er wollte auch nicht vergessen, was er wirklich vorhatte. Hinterlistig lächelte er und verschwand wieder in sein Zelt. Sein Plan musste einfach aufgehen. Niemals würde er die Vergangenheit ruhen lassen. Die Rache würde er persönlich durchführen können, was ihm damals alles angetan wurde. Nun musste er aber geduldig sein und auf einen Anruf vom Schwarzen Clan warten.

Die Nacht war kalt. Leander bereute es, dass er sich keine Decke besorgt hatte. Er schaute in den sternenklaren Himmel hinauf und überlegte. Warum brauchte Zoran so lange? Seine Besorgnis schien doch echt zu sein und sie war seine Schwester. Vielleicht war auch etwas dazwischengekommen, wovon er nichts wusste. Leander hatte nicht das Recht, sich darüber Gedanken zu machen. Sein Auftrag lautete, Zora zu schützen. Schützen, mehr nicht. Er hörte leise seinen Namen rufen. Leander blickte zu dem Fenster, aus dem Zora rausschaute. „Was ist Zora?“ Sie lächelte wie ein Engel. Wenn man sie so sah, hätte man nicht denken können, was sie alles erlebt hatte. „Ich dachte, es ist kalt. Es wird keiner mehr reinkommen und mein Zimmer ist abgeschlossen. Wenn du möchtest, kannst du hereinkommen.“ Leander wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er würde gerne im Warmen sein, aber er wusste, dass es nicht gut sein würde. Schließlich verdrehte diese Frau ihm den Kopf. „Ich glaube, es ist keine gute Idee, dein Angebot anzunehmen.“ Zora sah ihn traurig an. „Ich lasse das Fenster auf, falls du es dir noch mal überlegen solltest.“ Leander glaubte nicht, dass sie es wirklich machte. Ihr musste doch kalt werden, wenn sie das Fenster auflassen würde. Er schüttelte den Kopf. Ihm blieb keine andere Wahl. Wenn er draußen blieb, würde sie frieren, weil sie das Fenster aufließ. Leander sprang geschmeidig durch das Fenster und schloss es leise. Er nahm sich eine Decke, die Zora auf den Stuhl gelegt hatte, und legte sich auf den Boden. Ein paar Stunden später merkte er, wie Zora zu ihm hinunterkam und sich an ihn schmiegte. Leander flüsterte: „Bleib doch auf dem Bett.“ Er merkte, dass sie den Kopf schüttelte und ihren Arm um ihn legte. Leander legte einen Arm unter ihren Kopf, damit es nicht zu hart war, und mit dem anderen umarmte er sie. „Ich hab dich lieb. Du bist ein sehr guter Mann, bei dem ich mich wohlfühle. Aber du magst mich mehr, oder, Leander?“ Unwillkürlich drückte er sie fester an sich. Was sollte er sagen? Es zugeben und Hackfleisch werden, wenn Zoran es herausbekam? Abstreiten wäre noch sinnloser. Zora war vierundzwanzig Jahre alt, sie war doch nicht dumm. „Ja. Ich glaube schon, dass ich mehr für dich empfinde. Du hast mir den Kopf verdreht und ziehst mich immer mehr in deinen Bann. Davor haben mich Frauen nicht wirklich interessiert.“

Zora wollte nicht, dass er aufhörte zu reden. Sie mochte seine beruhigende Stimme. „Wie ist das, Sex zu haben?“

„Hattest du noch nie welchen?“

„Eine Frage beantwortet man nicht mit einer Gegenfrage. Nein, ich hatte nie einen. Damals, als ich zwölf war, hatte ich einen Kuss bekommen. Es war genauso wie deiner einfach nur so auf den Mund. Aber ich weiß nicht, wie ein Zungenkuss ist oder Sex.“ Leander überlegte. Doch seine Gedanken gingen immer wieder nur dahin, ihre sanften Lippen zu küssen und ihren Körper zu streicheln. „Darf ich etwas machen? Es ist nichts Schlimmes, versprochen.“