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Buchinfo

Das darf doch nicht wahr sein!? Ella und Hanno waren DAS Traumpaar an ihrer Schule. Und jetzt macht er Schluss – einfach so, am Telefon? Als Ella erfährt, dass Hanno bereits eine Neue hat, ist ihr sofort klar: Die muss ihn verhext haben! Um Hanno zurückzuerobern, wendet sie alle möglichen Tricks an. Nicht einmal vor nächtlichen Verfolgungsjagden schreckt sie zurück. Ella lässt sich sogar einen speziellen Hexentrunk brauen, doch irgendwie scheint nichts zu wirken …

Autorenvita

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© privat

Sabine Both, Jahrgang 1970, lebt und arbeitet als freie Autorin in Neuss. Eine rabaukige Kindheit, eine rebellische Pubertät und ein paar turbulente Jahre als Sozialarbeiterin haben genügend Stoff für jede Menge frecher Jugendromane angehäuft. Wenn Sabine Both gerade nicht auf den Spuren frisch verliebter Mädchen oder hormongesteuerter Jungen ist, küsst sie ihren Mann, beackert ihren Garten und bekocht ihre Freunde.

  SABINE BOTH– VERHEXT NOCH MAL– PLANET GIRL

Für Kiara & Janine

NA KLAR, EIN HIRNTUMOR!

Liebe Ella!

Jetzt sind wir schon ein halbes Jahr zusammen. Du und ich, das ist forever, oder? Ich meine, so was gibt es doch nicht noch einmal im Leben. Was ich für Dich fühle, kann ich gar nicht in Worte fassen. Wenn ich Dich morgens sehe, dann kribbelt es mir wie irre im Bauch und ich freu mich, als wenn die Borussen den Pokal mit nach Hause nehmen.

Wie soll ich sagen, ich schätze, das ist die ganz große Liebe.

Tausend Küsse,

Dein Hanno

Ich klebe den Brief auf. Neben das Foto, auf dem wir Arm in Arm vor dem gigantischen Schneemann, den wir mit Papas altem Wintermantel und Omas Brille zu unserem Standesbeamten gemacht hatten, stehen. Über das Bild, das uns vor diesem irren Sonnenuntergang am Badesee zeigt, kurz bevor wir ins Wasser sprangen und feststellten, dass Unterwasserküsse ziemlich luftraubend sind.

Ich klebe alles auf. Die Fotos von der Klassenfete. Die aus der Jugendherberge. Die von Weihnachten. Fast ein ganzes Jahr matt glänzend und in Farbe. Dazu die Eintrittskarten. Vom Kino, in dem wir mehr geknutscht als geguckt haben. Vom Theater, Romeo und Julia, in das er nur mir zuliebe gegangen ist, damit ich mich auf meine Hauptrolle in der Theater-AG einstellen konnte. Von der Eishalle. Vom Schwimmbad. Ich verbrauche jede Menge Kleister und tapeziere die Schräge über meinem Bett. Mit den getrockneten Rosen zum Dreivierteljahr. Mit der Valentinskarte. Mit den Pralinenpapierchen. Den Preisschildern. Allen Zettelchen, die wir im Unterricht geschrieben haben. Es sind Tausende.

»Ella?« Mama steht vor der Tür.

»Bin beschäftigt!«

»Ella. Mach auf!«

»Hörst du nicht, Mama, ich hab zu tun!«

Ich heule. Schon wieder. Wie ein Schlosshund. Ich kann nicht leise. Es geht nur laut. Und irgendwie gespenstisch. Es kommt aus meinen Eingeweiden. Es kann nicht wahr sein. Es darf nicht wahr sein!

»Ella.« Jetzt ist ihre Stimme sanft. »Mein Hase.«

»Ich bin kein Hase!«

»Meine Große. Mach mal auf. Komm, ich nehm dich in den Arm.«

»Das bringt doch nichts.« Ich schließe trotzdem auf und kippe Mama direkt entgegen.

»Das kann er doch nicht machen!«, jaule ich. »Ist heute der erste April?«

»Nein, es ist Juni.«

»Das muss ein Missverständnis sein. Gestern war doch noch alles in Ordnung.«

Ganz sicher. Wir sind Hand in Hand über den Schulhof gelaufen. Wir haben uns hinter den Mülltonnen geküsst. Wir haben uns in Mathe Zettelchen geschrieben. Er hat mit KKK unterschrieben!

Er würde doch niemals KKK schreiben, wenn er es nicht mehr so meint. Unser KKK. Kuss. Kuss. Kuss. Und wie er mir zugehört hat, als ich ihm von der Theaterprobe erzählt habe. Wie er gesagt hat, dass er jederzeit meinen Text mit mir durchgeht. Mein Romeo ist, damit ich mich in die Rolle finden kann. Und der Abschiedskuss am Bus. Mit Zunge. Mit Hände um den Nacken. Der war doch schön. Der war doch echt. Den hab ich doch nicht geträumt. Es kann nicht sein. Es darf nicht sein. Ich muss herausfinden, was los ist!

»Mein Schatz. Solche Dinge kommen oft überraschend, weil man die Anzeichen nicht sehen will.«

»Es gab aber keine!« Ich schiebe Mama weg und verschränke die Arme vor der Brust.

»Oder er hat sich gut verstellt. Wahrscheinlich hatte er nicht den Mut, es dir persönlich zu sagen.«

»So ist er aber nicht.«

»Na ja, anscheinend …«

»Du hast ja keine Ahnung! Wie immer!« Ich will sie rausschieben, aber sie geht nicht. Sie hat sie entdeckt. Meine neue Tapete. Für einen Moment vergisst sie, dass ich der bedauernswerteste Mensch auf der ganzen Welt bin, und blafft: »Das geht doch nicht mehr ab!«

»Das soll ja auch nicht mehr abgehen. Das soll für immer bleiben!«, schreie ich.

Ich schlage ihre wieder ausgestreckten Arme aus, rausche an ihr vorbei, schnappe mir meine Jacke und suche das Weite, bevor sie auch nur noch ein Wort sagen kann. Sie sagt sowieso nur Sachen, die ich nicht hören will. Weil sie nicht stimmen.

Hanno und ich, das ist nicht aus. Das kann nicht aus sein. Er hat sich einfach nur … vertan?

»Mira ist oben.« Frau Sommer schaut mich an wie eine Flugzeugabsturzüberlebende. Wie meine Mutter. Natürlich weiß sie Bescheid. Ich würde Mama auch sofort erzählen, wenn Miras Freund mit ihr Schluss gemacht hätte. Wenn Mira einen Freund hätte, der mit ihr Schluss machen könnte.

»Dann geh ich mal hoch.« Ich will an Frau Sommer vorbei, aber sie stellt sich mir in den Weg.

»Soll ich euch einen schönen warmen Kakao machen?«, fragt sie. »Mit Sahne? Und dazu ein paar leckere Plätzchen?«

Sie sind doch alle gleich. Mütter! Als ob Milch und Kohlenhydrate irgendwas ausrichten könnten. Kapieren sie nicht, dass Essen jetzt das Letzte ist, an das ich denken kann? Dass mein Magen seit heute Morgen definitiv keinerlei Aufnahmebereitschaft mehr zeigt? Dass das Einzige, was jetzt zählt, ist, irgendwas zu tun? Dagegen zu tun.

»Ja, danke«, sage ich trotzdem, in der Hoffnung, sie lässt mich endlich durch.

Sie lässt mich. Ich nehme zwei Stufen auf einmal und stürze in Miras Zimmer.

»Wie oft muss ich noch sagen, dass du anklopfen sollst, Mama«, knurrt sie, den Rücken zur Tür, über irgendwas gebeugt.

»Ich bin’s!«

»Ella!« Sie springt auf und legt das Smartphone weg, auf dem sie offensichtlich gerade noch irgendetwas sehr Interessantes angestarrt hat. »Komm schnell her!« Sie grapscht mich und drückt feste zu.

Bei ihr ist es viel besser als bei Mama. Ich lasse mich hängen wie ein nasser Sack. Wir plumpsen aufs Bett. Ich kralle mich an ihrer Taille fest, lege meinen Kopf in ihren Schoß und heule los. »Ich komme einfach nicht dahinter. Und wenn ich nicht dahinterkomme, kann ich nichts dagegen tun.« Meine Worte kommen nur unverständlich aus mir raus.

»Ich hab dir ungefähr tausend Nachrichten geschrieben«, ruft sie gegen mein Gestammel an.

Ich gebe mir Mühe, mich vernünftig zu artikulieren. »Ich weiß. Aber ich musste noch etwas erledigen.«

»Bist du zu ihm und hast ihm kräftig eine gescheuert?«

»Nein! Bist du irre?« Ich rapple mich hoch.

»Wieso irre?«

»Ich liebe ihn doch.« Ich heule wieder. Aufrecht sitzend ist es noch lauter. So laut, dass das Gespräch für einen Moment unterbrochen werden muss.

»Aber er liebt dich doch nicht mehr«, sagt Mira vorsichtig, als ich nach Luft schnappen muss.

»Natürlich liebt er mich noch!«

Sie runzelt die Stirn.

»Irgendwas muss passiert sein, das ihn durcheinandergebracht hat. Keine Ahnung, vielleicht haben seine Eltern ihm gesagt, dass er sich nicht so früh festlegen darf. Vielleicht haben sie ihm sogar gedroht. Mit Taschengeldentzug oder sonst was.«

Sie sieht nicht überzeugt aus, traut sich aber nichts zu sagen.

»Das ist doch alles total schräg«, rede ich deshalb weiter. »Da passt doch nichts zusammen. Ich meine, so ist er doch nicht. Er macht das doch nicht am Telefon!«

Nicht so! Nicht mit mir!

image   »Ella?«

»Hanno, warte kurz, ich muss nur noch den kleinen Zeh lackieren. Ich leg dich kurz ab.«

»In Ordnung.«

»So. Jetzt kannst du loslegen.«

»Ja, also …«

»Was ist denn? Ist irgendwas wegen heute Abend? Wenn deine Eltern uns nicht abholen können, dann frag ich meine.«

»Nein, das ist es nicht.«

»Was dann? Weißt du nicht, was du anziehen sollst? Ich mag dich ja am liebsten in der neuen Jeans und dem Shirt mit V-Ausschnitt. Das grüne.«

»Ella! Halt doch mal … Ich meine, bitte sei mal …«

»Was ist denn bloß los mit dir? Ist was passiert?«

»Nein … also … doch.«

»Oh Gott. Was Schlimmes?«

»Nein … also … doch … na ja.«

»Hanno! Jetzt lass dir doch nicht jeden Wurm einzeln aus der Nase ziehen.«

»Ich …«

»Ja?«

»Ich wollte …«

»Ja?«

»Ich wollte Schluss machen.«

»Womit?«

»Mit …«

»Fußball? Für mich? Damit ich am Wochenende nicht immer auf dem Platz abhängen muss?«

»Nein, nicht mit Fußball. Mit … mit dir.«

»Wie jetzt?«

»Also, Schluss machen. Mit dir.«

»Wieso, was denn?«

»Na, die Beziehung. Schluss machen. So sagt man das doch.«

»Schluss machen?«

»Jetzt stell dich doch nicht … du verstehst schon. Oder?«

»Nein, gar nicht.«

»Ich will nicht mehr mit dir zusammen sein. Es ist aus. Ich liebe dich nicht mehr.«

»Natürlich liebst du mich.«

»Nein, Ella. Nicht mehr so. Nicht mehr als das.«

»Als was?«

»Als Frau. Verstehst du?«

»Nein.«

»Ich leg jetzt auf.«

»Nein!«

»Doch, Ella. Wir sehen uns am Montag in der Schule. Ich hoffe, du bist nicht sauer. Tschüss.«   image

»Vielleicht hat er sich den Magen verdorben. So richtig giftig. Mit irgendwas, das solche Symptome hervorruft. Geistige Verwirrung. Oder es ist ein Hirntumor. Mein Gott, Mira, bestimmt ist es ein Hirntumor, der auf irgendwas drückt, das …«

»Ella!«

»Was?«

»Das ist kein Hirntumor.«

»Aber was ist es dann?«

Sie guckt komisch. Als müsste sie dringend mal aufs Klo. Irgendwie unentschlossen und total unter Druck.

»Ella. Ich muss dir was zeigen. Aber du darfst nicht ausflippen.«

»Was denn?«

»Versprich mir, dass du nicht durchdrehst.«

»Ich bin schon durchgedreht!«

»Aber nicht noch mehr, ja? Versprochen?«

»Versprochen.« Ich wüsste wirklich nicht, was es noch Schlimmeres geben könnte als einen Hirntumor.

Sie greift nach ihrem Smartphone, tippt darauf herum, holt tief Atem, stößt ihn seufzend aus und hält mir das Display vor die Nase. »Das hat mir Pauline eben geschickt. Sie meinte, ich soll den richtigen Zeitpunkt aussuchen, um es dir zu zeigen. Aber ich schätze, den richtigen Zeitpunkt gibt es nicht.«

Es ist ein Foto. Etwas verwackelt. Aber deutlich zu erkennen.

»Was ist das?«, frage ich, obwohl ich es doch sehe.

»Das ist Hanno«, sagt Mira. »Und er küsst eine andere.«

»Ella? Ella!«

Miras Hand wedelt vor meinen Augen herum. Schon eine ganze Weile. Ich sehe das. Und ich höre auch, dass sie meinen Namen ruft. Aber ich kann jetzt einfach mit keiner Wimper zucken. Ich brauche alle, wirklich alle Energie, um die Neuronen in meinem Kopf zu steuern. Bild-Info-Bild-Info. Ich muss das entschlüsseln!

»Ella! Du machst mir Angst. Ich geb dir gleich eine Ohrfeige, hörst du? So wie die das in Filmen machen, wenn einer unter Schock steht. Aber du darfst nicht zurückschlagen!«

Sie holt aus. Zögert. Holt noch mal aus.

Zack! Mein Arm ist hochgefahren und fängt ihre Hand ab. »Ich hab’s!«

Sie sieht erleichtert aus, windet ihre Hand aus meinem eiserenen Griff und fragt: »Was hast du?«

»Ich hab verstanden, was los ist.«

Sie runzelt die Stirn.

»Sie ist das …«, sage ich und deute auf Miras Smartphone.

»Was?«

»Der Hirntumor.«

Mira versteht nur Bahnhof.

»Sie ist der Grund, wieso er sich so seltsam verhält.«

»Ja, offensichtlich.« Jetzt spricht sie mit mir wie mit einer Geisteskranken.

»Sie hat ihn vergiftet.«

»Ella?«

»Sie hat ihn …«

»Was?«

»Oh, Mann, jetzt wird mir alles klar!« Ich springe auf und klatsche in die Hände. »Wie in dem Film letztens. Aber dieses Mal ist es echt.«

»Was denn?«

»Sie hat ihn verhext, Mira. Verzaubert. Einen Bann ausgesprochen. Abrakadabra!« Ich bin jetzt total aus dem Häuschen. Mir wird heiß, ich schwitze. »Das ist doch augenscheinlich.«

»Ja?«, fragt Mira schwach.

»Schau doch die Fakten an. Ich liebe Hanno. Hanno liebt mich. Da kommt sie. Sie hat ihn verhext. Und nun: Hanno weiß nicht mehr, dass er mich liebt. Aber …«, ich drohe mit dem Zeigefinger Richtung Fenster, »der werde ich das Handwerk legen. Nicht mit mir! Ich werde sie enttarnen. Ich werde ihn von dem Zauber befreien. Und dann wird alles wieder gut!« Ich atme tief ein und aus. »Ja, alles wird wieder gut.«

»Ella?«, fragt Mira und zieht die Augenbrauen so hoch, dass sie fast den Haaransatz berühren. »Du bist irre!«

»Ich weiß, meine Liebe! Irre klug!«

COOL, SUPERCOOL

»Da ist er.« Mira fasst meinen Arm.

Als ob ich umkippe, nur weil ich ihn sehe!

»Sollen wir schon mal reingehen?«, fragt sie.

»Nein, wir warten hier auf ihn. Wie immer.«

»Willst du etwa mit ihm sprechen?«

»Sicher!« Sie hat es noch immer nicht kapiert.

Aber ich bin mir sicher. Ich habe die ganze Nacht im Bett gelegen, auf meine Hanno-Tapete gestarrt und eins, zwei, drei, vier … eintausend zusammengezählt. Ich bin jeden einzelnen Tag unserer Liebe durchgegangen. Sie waren alle perfekt. Ganz sicher. Das war die perfekte Liebe. Und ich werde jeden einzelnen perfekten Moment in Erinnerung behalten, vom ersten Tag an. Bis der Zauber vorbei ist.

image   »Hallo. Kannst du mir sagen, wo die Biologieräume sind?«

»Komm einfach mit, ich muss auch hin.«

»Bist du in der 9a?«

»Ja.«

»Ich bin neu. Also, heute erster Tag. Ich schätze, ich komme zu euch in die Klasse.«

»Aha.«

»Wie ist es denn hier so?«

»Was meinst du?«

»Na ja, die Lehrer. Die Schüler. Gibt es einen Fußballklub?«

»Mit Fußball hab ich so gar nichts am Hut.«

»Nein?«

»Aber ich weiß, dass unser Schulklub ziemlich oft gewinnt. Scheinen gut zu sein.«

»Ich bin Außenverteidiger.«

»Soso.«

»Das sind die, die …«

»Verschone mich. Ich kann einfach nicht verstehen, wieso es so spannend ist, diesem runden Ding nachzurennen, bis man es ins Netz gepfeffert hat.«

»Die halbe Welt ist verrückt nach Fußball.«

»Ich nicht. Eher würde ich stricken, als einen Nachmittag beim Fußball zuzuschauen.«

»Und wenn du eine Spielerfrau wärst?«

»Sehe ich so aus, als könnte ich eine sein?«

»Du siehst gut aus. So viel steht schon mal fest.«   image

Es war Liebe auf den ersten Blick. Auch wenn ich am Anfang auf kalte Schulter gemacht habe. Und es ist immer Liebe geblieben. Bis zum letzten Tag war alles in Ordnung, in Butter, im siebten Himmel. Die Hexe muss ihn eiskalt erwischt haben. Er wusste nicht, wie ihm geschah. Sie hat ihn vom Fleck weg verzaubert. Aber ich werde ihr das Handwerk legen!

Mira stößt mich in die Seite. Hanno hat sich in Bewegung gesetzt, kommt über den Schulhof gelaufen. Irgendwie schnell. Den Kopf hat er gesenkt und doch schaut er sich dauernd nach links und rechts um. Sie kann er nicht suchen. Dass sie nicht auf unsere Schule geht, ist klar. Ich habe jedem, den ich kenne, das Bild geschickt, und alle sind sich sicher, sie noch nie gesehen zu haben. Sie wäre mir auch aufgefallen. Hexenhaft wie sie aussieht. Strähnige Haare, zottelig lang. Diese Adlernase. Und wenn ich das richtig erkannt habe, war auf ihrer Wange eine fette Warze. Sicher mit langen Haaren dran. Wenn er also nicht nach ihr Ausschau hält, dann hält er nach mir Ausschau.

»Sollen wir nicht doch …?«, fragt Mira und deutet zur Tür.

Aber ich trete aus dem Schatten der Getränkeautomaten heraus und baue mich auf wie eine Erscheinung. Er sieht mich sofort. Kein Wunder. Ich habe mein rotes Kleid an. Das Kurze. Das, das er so gerne mag. Das, das ich noch nie zur Schule anhatte. Ich leuchte wie ein Verkehrsschild.

Er bremst, für einen Moment sieht es aus, als wollte er Richtung Turnhalle abdrehen, dann strafft er die Schultern und kommt auf mich zu.

»Hallo, Ella.«

»Hallo, Hanno.«

Ich möchte ihn umarmen, küssen. So wie jeden Morgen. Den Duft in seinem Nacken riechen. Die Wärme seiner Haut spüren. Weil es das Normalste der Welt ist. Aber das geht jetzt nicht. Er ist verhext. Er würde es nicht verstehen.

»Bist du okay?«, fragt er, schaut auf den Boden und kratzt mit der Schuhsohle ein festgeklebtes Kaugummi vom Pflaster.

»Sicher.«

Er schaut hoch. »Ja?«

»Klar!« Ich strahle ihn an.

Das hat er nicht erwartet. Sein Mund verzieht sich zu einem schiefen Grinsen. »Cool.«

Ja, ich bin cool. So was von cool.

»Ich geh dann mal«, sagt er. »Muss noch die Hausaufgaben abschreiben. Wir sehen uns in der Klasse.«

»Ja. Bis gleich.«

Cool. Sehr cool.

Ich spüre im Rücken, wie er sich entfernt. Wie Mira näher kommt. Als ich ihre Wärme abkriege, lasse ich mich nach hinten kippen. Sie fängt mich auf.

»Alles in Ordnung?«

»Ich bin nur unterzuckert«, erkläre ich.

Alles dreht sich. Mir sackt das Blut in die Füße.

»Du musst was essen.«

»Ich hab keine Zeit zu essen. Ich muss denken. Einen Plan schmieden.«

Mira lehnt mich gegen den Getränkeautomat, kramt nach Kleingeld und zieht mir eine Limo. »Hier! Sind auch Kalorien.«

Ich trinke und denke über meine Strategie nach. Ich muss mich neutral verhalten. Ich muss Zeit gewinnen. »War ich gut?«

»Du warst … erstaunlich«, sagt Mira mit undefinierbarem Gesichtsausdruck.

Ich drücke ihr den leeren Becher in die Hand. »Als Nächstes müssen wir rausbekommen, wer sie ist.«

»Wer wer ist?«

»Die Hexe!« Ich klopfe ihr an den Kopf. »Niemand zu Hause?«

»Ella!«

»Ist doch logo. Wenn ich den Kampf mit ihr aufnehmen will, ist es nützlich zu wissen, wer sie ist.«

»Mira seufzt. »Und wie willst du das rausfinden?«

»Du musst ihn fragen!«

»Ich?« Sie sieht nicht erfreut aus.

»Ja, du. Beste-Freundinnen-Job.«

»Als ob er mir …«

»Du musst es versuchen.«

Ich schiebe sie Richtung Tür.

Sie stoppt. »Ella?«

»Ja?«

»Ich habe irgendwie das Gefühl, du verrennst dich da in was.«

Ich stelle mich dicht vor sie. So dicht, dass sie mir durch die Pupillen bis ins Innere meiner Seele schauen kann, und zitiere ihr einen Satz von Romeo an den Kopf: »Und Liebe wagt, was irgend Liebe kann!«

Ich schiebe Mira vor mir her und gebe ihr einen Stoß. Sie stolpert in die Klasse und steuert unwillig auf Hanno zu. Er hat sich schon einen neuen Platz organisiert. Neben meiner Linken sitzt jetzt der stumme Ben, Hanno auf seinem Stuhl auf der anderen Seite des Us. Alle starren mich an. Jeder weiß es. Und jeder will wissen, wie ich drauf bin.

Ich bin cool. Supercool.

»Heißer Fummel«, meint Peter und pfeift durch die Zähne. »Wenn ihr euch alle so aufbrezelt, wenn ihr sitzen ge…« Weiter kommt er nicht. Sabrinas Ellbogen in seiner Rippe nimmt ihm die Luft. Dann kommt sie auf mich zu, stellvertretend für alle Starrenden. Sie sagt nichts, aber ihre Augen sprechen Bände. Du armes, armes Ding. Ich funkle zurück. Nix armes Ding. Ich bin cool. Supercool.

»Ich fand ihn schon immer irgendwie falsch«, flüstert Sabrina mit Seitenblick auf Hanno. Sie will sich mit mir solidarisieren. Aber der Plan geht nach hinten los.

»Sprich nicht so über ihn«, zische ich zurück.

»Aber …?«

»Lass es einfach!«

Sabrina zieht mit eingezogenem Schwanz ab. Endlich ist die Sicht wieder frei. Hanno steht allein an seinem Tisch und kramt sinnlos in seinem Rucksack herum. Mira ist schon nicht mehr bei ihm. Sie sitzt mit verdrossener Miene auf ihrem Platz. Ich setze mich neben sie.

»Gar nichts?«, frage ich.

»Nada. Ich sag doch, mit mir wird er sicher nicht darüber sprechen. Er will es nicht verraten.«

»Und wieso nicht?«, frage ich.

Es ist eine rhetorische Frage, weil ich die Antwort kenne, aber Mira checkt wieder nichts. »Ella, aus hundert Gründen. Mir fallen spontan drei ein. Damit du dich nicht noch mehr verrückt machst. Damit du sie nicht aufsuchst und ihr eine reindonnerst. Damit er seine Ruhe hat.«

Ich lache. »Nein, das ist es nicht! Es ist, weil sie es ihm verboten hat. Das gehört mit zum Zauber.«

»Ella!«

»Was?«

Sie sagt nichts, schaut mich nur an wie einen Vogel, der gerade vor die Fensterscheibe geflogen ist und nur noch wenige Sekunden zu leben hat. Aber ich bin eine von der Sorte, die kurz geschockt ist, dann das Gefieder aufschüttelt und weiterfliegt.

»Dann müssen wir es anders herausbekommen«, erkläre ich.

Sie seufzt. »Und wie?«

»Wenn die Schule vorbei ist, folgen wir ihm. Er hat Fußball, wenn wir Theater haben. Zum Training geht er, Zauber hin oder her. Danach trifft er sie. Garantiert.«

»Ella?«

»Ja, was denn?«

»Diese ganze Sache …«

»Habe ich im Griff. Lass alles meine Sorge sein. Du musst mir nur helfen. Wie im Theaterstück. Ich bin Julia und du meine Zofe. Okay?«

Sie sieht alles andere als überzeugt aus. »Aber Kaffee hole ich dir nicht, Herrin!«, sagt sie dann und brummt. »Okay.«

Er schreibt eifrig. Ich nicht. Ich stehe in Erdkunde auf einer Zwei, da kann ich mir eine Sechs im Test erlauben. Ich hab anderes zu tun, als mich mit den Ausbrüchen irgendwelcher Vulkane rumzuschlagen. Ich bin selber einer. Noch schlafe ich. Aber ich werde siedend heiße Lava spucken, die alles unter sich begräbt, was mir im Weg ist! Ich nutze die Zeit besser. Ich beobachte Hanno ganz genau. Alles an ihm. Jede Bewegung. Jede Regung in seinem Gesicht. Ich muss feststellen, wie weit sie ihn manipuliert hat. Was der Zauber schon angerichtet hat.

Er starrt auf sein Blatt. Hält den Stift mit der rechten Hand. So weit, so gut. Aber was ist das da auf seiner Stirn? Diese steile Falte über dem Nasenbein. Die habe ich noch nie gesehen. Und an seinem Hals? Was ist das? Eine Wunde? Ein Mal? Hat ihn der Zauber dort getroffen? Harry Potter hatte doch auch so ein Ding auf der Stirn. Wer weiß, vielleicht …

»Ella, möchtest du nicht langsam mal anfangen?« Frau Senden steht neben mir und starrt auf mein leeres Blatt.

»Jaja.« Ich kritzle ein paarmal KKK, damit sie denkt, ich sei beschäftigt, aber meine Gedanken schweifen ab. Mitten hinein in die Vergangenheit, wieder zurück zu unserem ersten Tag.

image   »Ist hier noch frei?«

»Na ja, eigentlich sitzt hier Mira.«

»Und uneigentlich?«

»Ist sie heute krank.«

»Teilst du dir dann mit mir ein Mikroskop?«

»Wieso nicht.«

»Und? Hast du schon wen gefunden?«

»Wieso willst du das wissen?«

»Na, muss ich doch wissen, wenn ich mir mit dir ein Mikroskop teile.«

»Nein, also, ähm, ich hab noch niemanden gefunden. Aber ich suche auch nicht.«

»Du suchst nicht?«

»Ich komm auch ohne Freund gut zurecht. Problem damit? … Wieso lachst du? Ist das komisch?«

»Ja, irgendwie schon. Ich meinte ein Bakterium. Ob du davon hier im Mikroskop schon eins gefunden hast. Aber danke für die Info.«

»Sehr witzig.«

»Dann suche ich dir mal einen.«

»Einen was?«

»Einen Mutierten. Was dachtest du denn?«

»Nichts.«   image

Ich muss grinsen. Nein, ich habe gelacht. Frau Sendens Blick ist eindeutig. Ich beuge mich tief über den Test und kritzle ein, zwei echte Antworten hin.

Hanno ist fertig, geht nach vorne, gibt seinen Test ab, redet irgendwas mit Frau Senden. Ich spitze die Ohren.

»Mir ist nicht so gut. Kann ich mich eine Weile ins Krankenzimmer legen?«, fragt er.

»Was hast du denn?«, will Frau Senden wissen.

Er ist vergiftet! Verhext! Die Nebenwirkungen!

»Irgendwas mit dem Magen.«

»Brauchst du einen Arzt?«

Einen Gegenzauber!

»Nee, nur ein bisschen Schlaf.«

»Ihr wisst schon, dass ihr zu Hause schlafen sollt? Nachts.« Frau Senden schüttelt den Kopf, deutet aber doch zur Tür. »Du musst dich nach der Pause im Lehrerzimmer zurückmelden und sagen, ob du den Rest des Tages wieder mitmachen kannst.«

Das kann er. Noch nie hat er ein Training ausfallen lassen. Nicht mal, als er am Tag zuvor beim Versuch, mir den schönsten Apfel zu holen, vom Baum gefallen und mit völlig verdrehtem Knie liegen geblieben war.

»Der geht!« Mira hat es auch gecheckt.

»Es bekommt ihm nicht. Es schwächt ihn. Es höhlt ihn von innen aus«, seufze ich.

»Der hält dein Gestarre nicht aus!«, wispert Ella.

Sie hat immer noch nicht das Geringste kapiert.