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Für Irene

Mit 62 Schwarz-Weiß-Abbildungen und 5 Karten

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen aktualisierten und erweiterten Taschenbuchausgabe (Die Kapitel »Berg der Zwietracht III« und »Fund, Film, Finale« wurden für diese Ausgabe neu verfasst)

1. Auflage Juli 2014

ISBN 978-3-492-96657-3

© Piper Verlag GmbH, München 2014

© Berlin Verlag, Berlin 2002

Covergestaltung: Dorkenwald Grafik-Design, München

Covermotiv: unter Verwendung des Gemäldes »Nanga Parbat« von Thomas Beecht (2001)

Karte im Kapitel »Berg der Zwietracht III«: Eckehard Radehose, Schliersee

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Karte der Achttausender des »Himalajapapstes« G. O. Dyhrenfurth aus den sechziger Jahren. Der Nanga Parbat liegt als Grenzberg zwischen Indien und Pakistan. Tatsächlich war er das nie, da das Fürstentum Kaschmir zwischen den beiden Staaten strittig ist. Die Waffenstillstandslinie von 1949 verläuft 50 Kilometer südlich des Berges, der sich heute auf pakistanischem Territorium befindet. [1]

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Ausschnitt aus der Nanga-Parbat-Karte von R. Finsterwalder (1934) mit Einzeichnungen K. M. Herrligkoffers (1971) [2]

Ich wollte einmal hoch hinaufsteigen, um tief in mich hineinsehen zu können.

Reinhold Messner

AUFSTIEG

Als ich nach fünf Wochen das Diamir-Tal verließ, konnte ich kein Geröll mehr sehen. Das ewige Braun und Grau der schottrigen Berge hing mir zum Hals heraus. Das Donnern der Lawinen nahm ich nicht mehr wahr. Das Weiß der Gipfel der Ganalo- und Mazeno-Kette brannte in meinen Augen. Am Beginn der Schlucht, durch die der schmale Pfad zum Indus hinunterführt, drehte ich mich noch einmal um: Von ungeheurer Massigkeit, hoch, steil, eisgepanzert, wuchtete die Westflanke des Nanga Parbat in einen stahlblauen Himmel. Der letzte Schein der untergehenden Sonne ließ das Gipfeltrapez golden aufflammen. Die tieferen Regionen versanken in abweisender Dunkelheit. Das Spiel des Lichtes, in den Alpen für eine Kitschpostkarte gut, hatte hier im Himalaja nichts Malerisches. Der Berg lockte und drohte zugleich. Wie ein spöttischer Gruß zum Abschied flackerte noch einmal Helligkeit um den höchsten Grat des »Königs der Berge«. Plötzlich wußte ich: Ich würde wiederkommen.

Zwei Träger hatten meine Bücher und eine alte mechanische Schreibmaschine ins Basislager geschleppt. Ich las bei strömendem Regen und bei brütender Hitze. Manchmal war es so kalt, daß ich meine Notizen mit Handschuhen tippte. Zurückgekehrt nach Europa, fesselte mich das Thema immer mehr.

Kein Berg hat eine so bewegte Geschichte wie der Nanga Parbat. Er war der erste Achttausender, den man zu besteigen versuchte. Man schrieb das Jahr 1895, und der beste Kletterer Englands, Albert Frederick Mummery, besaß die ungeheure Kühnheit, diesen Riesen mit Nagelschuhen, Hanfseilen und in einer Tweedjacke anzugehen.

In den dreißiger Jahren wurde der Berg für die Deutschen, was der Everest für die Engländer war. Beide Nationen wetteiferten darum, »ihren« Achttausender als erste zu »erobern«, aber nur die deutsche »Heldenrasse« verwandelte das Objekt ihrer Begierde in ein alpines Stalingrad, dem 26 Bergsteiger und Sherpas zum Opfer fielen. Bei der größten Katastrophe in der Geschichte des Alpinismus starben Willy Merkl, Willo Welzenbach und Karlo Wien. Durch ihren Tod avancierte der Nanga Parbat zum »Schicksalsberg der Deutschen«. Wie konnte es geschehen, daß sich die Elite der deutschen und österreichischen Bergsteiger so willfährig vor den Karren des Dritten Reiches spannen ließ?

In den fünfziger Jahren geriet der Berg zum Symbol des »Wir sind wieder wer« der jungen Bundesrepublik Deutschland, zum ersten Sieg nach dem Zusammenbruch 1945. Hermann Buhl, der Gipfelsieger von 1953, war der erste moderne Bergsteiger, unpolitisch, naiv und leistungsorientiert. Später, in den siebziger Jahren, ist der Nanga Parbat auch zum Schicksalsberg Reinhold Messners geworden, der hier seinen Bruder Günther verlor und mit der ersten Solobesteigung eines Achttausenders Alpingeschichte schrieb.

Aus den Büchern und Aufzeichnungen der Toten, aus Interviews mit den lebenden Akteuren habe ich Biographien, Motive und Expeditionen rekonstruiert. Ich verfolgte ihre Spuren durch die Archive und die zeitgenössische Presse überallhin, wo es nötig war: zum Nanga Parbat, Kangchendzönga und Everest, zum Eiger, Hidden Peak und zur Annapurna, zum englischen Alpine Club, dem Akademischen Alpenverein München und zur Deutschen Himalaja-Stiftung, zum Reichssportfest nach Breslau, in die NS-Ordensburg Sonthofen und in die Dokumentenschränke auf Messners Schloß Juval.

Nicht ausgewichen bin ich der »anderen« Geschichte des Berges, die sich in endlosen Streitereien, Prozessen und persönlichen Verunglimpfungen niederschlug. Vom »Ehrengericht« über die zwei »feigen« Österreicher Aschenbrenner und Schneider im Jahr 1935 bis zu den gerichtlichen Auseinandersetzungen, die Buhl 1953 und Messner 1970 mit dem Organisator des deutschen Expeditionsbergsteigens nach dem Zweiten Weltkrieg, Karl Maria Herrligkoffer, führten. Doch diese im Rückblick begrenzten Fehden verblassen vor dem ein Jahrzehnt geführten Streit zwischen den »Bergkameraden« der 1970er Expedition und Reinhold Messner, der sich zeitweise zu einem alpinistischen Glaubenskrieg entwickelte. Ich habe ihn von Beginn an persönlich miterlebt, und er sollte – zufällig und unbeabsichtigt – sowohl bei meinem ersten (2000) als auch bei meinem zweiten Besuch (2005) des Nanga Parbat eine entscheidende Rolle spielen.

Wie in einem Brennglas konzentriert sich in der Geschichte des Nanga Parbat die Geschichte des Achttausender-Bergsteigens überhaupt. Von Mummery bis Messner erlebte er sämtliche Stile und Taktiken des Höhenbergsteigens. Von vierzehn Tonnen Ausrüstung, die Merkl 1934 mit 600 Trägern ins Basislager schaffte, bis zu den zwanzig Kilo, die Messner für seinen Alleingang brauchte, reicht die Skala der Möglichkeiten. Von Mummerys »by fair means« mit Seil und Pickel bis zum Einsatz einer Ju 52 zur Versorgung der Hochlager probierte man an diesem Berg alles aus, und hier wurden die Fragen gestellt, die noch heute die Öffentlichkeit bewegen.

Wie »funktionieren« Extrembergsteiger, warum quälen sie sich durch hüfthohen Schnee und lawinengefährdete Eiswände, riskieren Erfrierungen und tödlichen Absturz? Was treibt sie auf die hohen Berge, und was haben sie davon? Geht es wirklich um die »Eroberung des Nutzlosen«, wie der französische Bergführer Lionel Terray einmal behauptet hat, oder ist das Achttausender-Bergsteigen nicht ein höchst einträgliches Geschäft, das für die Erfolgreichen Ruhm, Geld und Karrieren in Politik und Showgeschäft bereithält?

Sind Bergsteiger die besseren Menschen, machen sie intensivere Erfahrungen, ist man in den Bergen »freier« als anderswo und solidarischer, weil es die Bergkameradschaft gibt? Oder geht es auch in der »Todeszone« zu wie im richtigen Leben, einschließlich Neid, Eitelkeit und Konkurrenzdruck, Ehrgeiz und dem unbedingten Willen, nach oben zu kommen?

Was reizt den Bergsteiger am Berg? Warum riskiert der Kletterer sein Leben? Wer weiß die Antwort? Im Zweifel immer der Berg. Steigen wir auf.