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Zu »Das grüne Seidentuch«

Diese Arbeit ist nicht eine geschichtliche Abhandlung im wissenschaftlichen Sinne – es ist »oral history«.

Es sind die Ereignisse, die mir meine Großmutter (1867  1957) von ihren Vorfahrinnen erzählt hat, das, was in ihrer Erinnerung lebte, und was ihr als Kind und junges Mädchen berichtet worden ist von ihrer Großmutter (1797  1877) und ihrer Mutter (1831  1913), von Frauen, die noch ganz der mündlichen Überlieferung verpflichtet waren. Das letzte Kapitel schildert das Schicksal meiner Mutter (1890  1975), teilweise ebenfalls aus ihren Berichten und dann aus meinen eigenen Erinnerungen. Es sind zunächst Geschichten, die ich für meine Kinder festhalten wollte, denn immer wieder haben sie mich bestürmt, all das aufzuschreiben. So kam Episode zu Episode, wie sie im Gedächtnis geblieben sind. Schließlich entschloss ich mich, diese Fragmente zusammenzustellen und das Umfeld zu beschreiben, in dem sich das Leben dieser vier Frauen abgespielt hat. Dieses Umfeld war mir einigermaßen bekannt aus Dokumenten, die ich in vielen Jahren gesammelt hatte über das Leben im Engadin und im Bergell in vergangener Zeit. Aus meinen Aufzeichnungen ist eine Erzählung geworden, die vielleicht auch andere Leute interessieren könnte.

Einige alte Fotos mögen diese Erinnerungen ergänzen.

Ein Stück Vergangenheit der Menschen unserer Berge ist damit wiedergegeben im Sinne der Erklärung, mit der Hans Saner die Autobiographie von Karl Jaspers eingeleitet hat: »Man erfährt nicht das Erlebte, sondern das Erleben des vergegenwärtigten Erlebten, und dies nur als Vorstellung, als Dichtung in einem anderen Sinn.«

ALMA 1797  1877

Der Priester war fort. Alma wusste es gleich, als sie am Morgen die Küche betrat. Obwohl alles war wie an jedem anderen Morgen in den vergangenen zwei Jahren – die beiden Wasserkessel waren gefüllt, und im Herd war das Holz so aufgeschichtet, dass sie das Feuer nur noch anzuzünden brauchte – und doch, irgendetwas sagte ihr: Don Gerolamo war nicht mehr da. Alma blieb stehen und schaute sich um. Was war es? Sie konnte es nicht erklären. Langsam ging sie in den zum Garten hin halb offenen Vorraum. Sie hatte sich nicht getäuscht. Das Bündel auf dem Wandbrett war verschwunden. Darin hatte Don Gerolamo, sorgfältig in ein schwarzes Tuch eingeschlagen, seine Messgeräte aufbewahrt.

In aller Frühe war er jeweils aufgestanden, hatte dem Bündel Weinkrug, Kelch und Tücher entnommen und auf dem Wandbrett aufgestellt. Dann feierte er für sich die Messe, ehe er durch den Garten zum Bach ging, Almas Wasserkessel auffüllte und in die Küche zurücktrug. Im Herd machte er das Feuer bereit. Zuerst wischte er die Asche zusammen und schüttete sie in den alten Kessel, den er ins Freie stellte. Dann legte er einige dürre Zweige zurecht, auf die er kreuzweise die dünnen Scheite legte, die er schon am Abend vorbereitet hatte. Darauf kamen die groben Scheite, und wenn man an diesen kunstvoll geschichteten Turm ein Zündholz legte, flackerte gleich ein lustiges Feuer im Herd. Mit einer Art von stiller Ehrerbietung, wie ein Ritual, verrichtete er diese Arbeit, obwohl Alma den Herd erst für die Zubereitung des Mittagessens anzündete.

Don Gerolamo verließ alsdann das Haus, sein Brevier in der Hand, ging den Bach entlang hinunter zum Steg und vom jenseitigen Ufer hinauf in den Wald, wo er eine Stunde betend verbrachte. Erst dann kam er zurück und setzte sich mit Alma an den sauber gescheuerten Holztisch in der Küche zum Frühstück.

Auch Alma war eine Frühaufsteherin, aber Don Gerolamo war stets lange vor Tagesanbruch auf den Beinen. Schweigend verzehrten sie ihr Roggenbrot, manchmal auch ein Stück harten Käse, und tranken einen Becher Ziegenmilch.

Alma stand noch eine Weile in Gedanken versunken im Vorraum, ehe sie das Haus wieder betrat. Die vertraute Küche kam ihr plötzlich fremd und leer vor. Sie öffnete die Tür zur daneben liegenden Vorratskammer. In der Ecke stand das Spinnrad, auf dessen Querhölzern lag ein Seidentuch und daneben ein Brief. Sie öffnete ihn und las die wenigen Zeilen, in denen sich Don Gerolamo dafür bedankte, dass sie ihm nun fast zwei Jahre lang Obdach gewährt hatte. Für ihn sei jetzt die Zeit gekommen, da er wieder zu den Menschen gehen müsse, die seiner Hilfe und seines Zuspruchs bedürften. Er schenke ihr hier sein Spinnrad und das Tuch seiner Mutter.

Alma nahm das Tuch in die Hand. Sie hatte es bisher nie gesehen. Ob er es wohl im Bündel mit den Messgeräten aufbewahrt hatte? Es war aus feinster Seide. In den grünen Grund waren goldfarbene Ornamente eingewoben, und eine zarte Fransenbordüre bildete den Saum. Langsam faltete Alma das Tuch auseinander, hielt das feine Gewebe an die Wange und legte es sich dann auf den Kopf. Sie ging in die Küche und betrachtete sich im kleinen, halbblinden Spiegel. Es sah tatsächlich gut aus auf ihrem vollen, kastanienbraunen Haar. Was würden wohl die Leute sagen, wenn sie es am Sonntag trug? Alma warf den Kopf zurück und lächelte mit leisem Spott. Getuschelt würde sicher. Sie wusste nur allzu genau, dass über sie geredet wurde – sie, die noch junge Witwe, die nun mit einem Mann im gleichen Hause lebte. Das allein erregte schon Aufsehen – dass dieser Mann aber ein katholischer Geistlicher war in diesem ausschließlich protestantischen Bergtal, das war unerhört und trug ihr spitze Bemerkungen und auch Ablehnung ein.

Beim Gedanken daran zuckte Alma die Achseln. So war es ja schon bei ihrer Mutter gewesen, seinerzeit als Don Gerolamo bei ihnen gelebt hatte. Als Flüchtling war er ins Bergell gekommen und hatte bei ihren Eltern Zuflucht gefunden. Damals hatte der Vater noch gelebt, aber die schlimmen Jahreunter den fremden Truppen hatten seine Gesundheit untergraben. Er war zu jenem Zeitpunkt schon sehr geschwächt und starb im darauf folgenden kalten Winter.

Die Leute hatten wohl erwartet, dass der Priester das Haus nun verlasse. Er blieb aber bis zum Frühling, was Stoff für viel Geschwätz lieferte. Wie er dies jetzt bei Alma getan hatte, war er dann unvermittelt nach Italien zurückgekehrt, um wenige Jahre später wieder auf der Flucht zu sein und nochmals für längere Zeit im Hause ihrer Mutter in Soglio zu leben.

Alma half, wie die anderen Kinder des Dorfes, daheim bei der Haus- und Feldarbeit, aber schon während der letzten Schuljahre ging sie im Sommer auf Taglohn zu anderen Familien, vor allem nach Bondo hinunter zu Signora Clementina. Diese lebte in kinderloser Ehe mit ihrem um etliche Jahre älteren Mann, Corrado, der in seiner Sattlerwerkstatt das Zaumzeug der vielen vorüberziehenden Pferde reparierte. Im Bergell, als Durchgangsland zu den viel begangenen Pässen Septimer, Maloja und Julier, herrschte reger Verkehr von Saumkolonnen und Pferdegespannen. Da geschah es oft, dass gerissene Riemen und Seile, Schlaufen und Schnallen ersetzt werden mussten, und dies so schnell wie möglich, damit am darauf folgenden Tag Mann und Pferd weiterziehen konnten. Das bedeutete, dass auch Clementina in der Werkstatt mithelfen musste. Sie war somit auf eine Hilfe für die Hausarbeit, aber auch für die Besorgung der kleinen Viehhabe und des großen Gartens angewiesen. Sie, die viele Jahre in Italien gelebt hatte, brachte Alma manches bei, so auch das Kochen feiner Gerichte, die recht verschieden waren von der einfachen Küche, die im Tal heimisch war.

Nach etlichen Jahren im Hause von Corrado und Clementina begegnete sie ihrem späteren Ehemann. Giovanni war als Sohn einer Emigrantenfamilie in Siena geboren. Er war ein gebildeter Mann und sprach das schöne Italienisch der Toskana. Obwohl er den Bergeller Dialekt verstand, konnte er sich darin nicht gut ausdrücken, was von einzelnen Dorfleuten als Hochmut ausgelegt wurde. Ins Bergell gekommen war er seiner schwachen Gesundheit wegen zu seiner Tante Clementina, einer Schwester seines Vaters. Giovanni besaß geschickte Hände, und er hatte sehr schnell gelernt, mit Ahle und Zwirn umzugehen. Corrado hatte in ihm alsbald einen tüchtigen Mitarbeiter. Neben dem von den Bauern und durchziehenden Händlern benötigten Lederzeug stellte Giovanni auch schön gearbeitete Taschen und Beutel her, die er zu guten Preisen verkaufen konnte. Allerdings machte ihm seine Gesundheit weiterhin zu schaffen, und er war häufig krank.

Alma war schon über dreißig Jahre alt, als sie Giovanni heiratete. Onkel und Tante überließen ihnen einen kleinen Anbau auf der Bergseite des Hauses. Er bestand aus der Küche mit der Feuerstelle und einer darüber liegenden Schlafkammer sowie dem Vorraum mit einem zusätzlichen kleinen Gelass und einem Holzverschlag, der als Stall diente.

Die Ehe mit Giovanni schenkte Alma unerwartetes Glück, denn er war ein gütiger und zartfühlender Gatte, der ihr die Schönheit seiner Sprache und die Welt der Bücher erschloss.

Nach zwei Jahren wurde ihnen ein Töchterchen geboren, das sie auf den Namen Lisabetta tauften. So waren sie nun eine kleine, zufriedene Familie. Giovanni aber hustete immer häufiger. Sein Atem ging schwer, er magerte ab, und zehn Monate nach Lisabettas Geburt starb er. Schwindsucht, sagte man.

Alma stand nun allein. Weiterhin arbeitete sie bei den Verwandten ihres Mannes, und dies mehr und mehr, da sich bei Corrado und Clementina altersbedingte Gebresten einzustellen begannen. Wenn diese Aufgaben noch Zeit übrig ließen, half sie auch anderen Frauen bei der Putzarbeit und vor allem bei der großen Wäsche am Brunnen im Freien.

Alma schob das Seidentuch, das sich zu einem winzigen Bündel zusammenfalten ließ, in die Tasche und wandte sich dem Spinnrad zu. Sie griff in die Speichen, ein leichter Stoß genügte, und das Rad surrte hurtig rundum. Es war ein besonders gutes Spinnrad, mit dem sich viel leichter arbeiten ließ als mit den schwerer gebauten Spinnrädern, die man im Tal benutzte. Im Gegensatz zu diesen war es auch besonders schön gearbeitet und mit Kerbschnitzereien verziert. Diese, rot ausgemalt, hoben sich sehr hübsch ab vom Dunkelgrün, mit dem das ganze Holzwerk gestrichen war.

Das schöne Spinnrad hatte Don Gerolamo bei sich gehabt, als er vor mehr als einem Jahr bei Alma um Obdach gebeten hatte. Vergeblich hatte er zuerst in Soglio oben bei Almas Mutter Unterkunft gesucht – sie war gestorben, und andere Leute bewohnten das Haus. Daraufhin hatte er nach Alma gefragt, und die Leute hatten ihn nach Bondo gewiesen. Wie früher ihre Mutter hatte auch Alma keine Umstände gemacht und ihm ihre Türe geöffnet, unbekümmert darum, was die Leute sagen würden. Er habe fliehen müssen, sagte er, ohne auf Einzelheiten einzugehen. Und Alma hatte nicht weiter gefragt.

Von Vorüberziehenden, die in Corrados Werkstatt kamen, hatte sie später vernommen, dass ihm vorgeworfen worden sei, er halte sich nicht an die Lehre der Kirche und auch nicht an die Entscheide der Kirchenoberen, sodass er aus seinem Amte und seiner priesterlichen Tätigkeit ausgeschlossen worden sei. Den gegen ihn ausgesprochenen Strafen habe er sich durch Flucht entzogen.

Sein Amt hatte er in abgelegenen Bergdörfern am Comersee ausgeübt, und für jene einfachen, hart arbeitenden Leute schien er immer noch der Seelenhirte zu sein, denn ab und zu verschwand er für einige Tage. Auf versteckten Pfaden ging er dann, wie gemunkelt wurde, in seine Gemeinden und las in kleinen, abseits liegenden Kapellen im Verborgenen eine Messe, zu der die Menschen in Scharen strömten. Auf geheimen Wegen kehrte er dann wieder ins Bergell zurück, beladen mit den Geschenken, die ihm die armen Bauern mitgaben: Trockenfleisch, Käse, Eier, Polenta.

Diese Nahrungsmittel halfen den kargen Verdienst von Alma aufzubessern. Für Don Gerolamo war es selbstverständlich, dass er der Witwe nicht zur Last fallen wollte, obwohl er ja kein Einkommen hatte. Aber er spann die Wolle von Almas Schafen zu einem so feinen und glatten Garn, wie es sonst niemand konnte. Dass ein Mann Wolle spann, war ungewöhnlich und wurde im Dorf bespöttelt, aber nicht ohne Neid mussten auch die besten Spinnerinnen zugeben, dass sie solch seidenweichen und dünnen Wollfaden nicht zustande brachten. Die fertigen Knäuel überließ er Alma, die sie zu einem guten Preis verkaufen konnte, denn die vom Priester gesponnene Wolle war gefragt, und manche Frau brachte ihm ihre Wolle zum Spinnen. Der Lohn für diese Arbeit floss ebenfalls in den Haushalt, sodass der Aufenthalt Don Gerolamos in ihrem Haus Alma nicht belastete.

Alma blickte auf das Wandgestell, das die eine Seite der Vorratskammer einnahm. Auf dem oberen Brett lagen fein säuberlich die Knäuel aus der Wolle ihrer Schafe, auf dem unteren jene, die von den Dorffrauen noch abzuholen waren.

Don Gerolamo hatte Alma gezeigt, wie es gelang, so feines Wollgarn zu spinnen, wie das Fußbrett gleichmäßig und nicht zu schnell getreten werden musste und wie das Wollbüschel zwischen den Fingern durchzugleiten hatte, sodass der Faden nicht zu hart und doch reißfest gezwirnt war. Sie hatte es auch gelernt und geübt, aber es dünkte sie, ganz so gut wie Don Gerolamo gelinge es ihr nicht.

Dennoch galt bei den Dorffrauen ihr Gespinst ebenso viel wie das des Priesters.

Auch bei anderen Arbeiten war Don Gerolamo behilflich, so bei der Besorgung ihrer Ziege und der Schafe. Von seinen Gängen im Wald brachte er Fallholz mit, sodass immer genügend Brennholz für den Herd bereit lag. Als Wohnung benutzte er die niedere, ungeheizte Kammer über dem offenen Vorraum, in die man nur über eine Außentreppe vom Garten her gelangen konnte. Wenn er im Haus war, saß er in der Küche am Spinnrad und arbeitete schweigend. Die kleine Lisabetta saß, wenn sie nicht schlief, bei ihm am Boden und spielte mit den Tieren, die Gerolamo aus Ästen und Zweigen für sie schnitt. Gemeinsam mit dem Kind nahmen sie die Mahlzeiten ein. Gesprochen wurde wenig. Jeder hing seinen Gedanken nach.

Von dem, was einige Böswillige ihr und dem Priester unterstellten, war nicht die Rede. So wie sich Don Gerolamo an seine täglichen priesterlichen Verpflichtungen hielt, befolgte er auch streng seine Gelübde. Und Alma hatte ihren Stolz. Dieser Mann war Gast in ihrem Hause, ein Geistlicher, den sie respektierte, obwohl er einer anderen Konfession angehörte, von der sie wenig wusste und verstand. Mochten die Leute sagen und denken, was sie wollten – sie hielt sich an die ihr anerzogenen Grundsätze und schenkte dem Gerede keine Beachtung.

Die klagende Stimme Lisabettas riss Alma aus ihren Gedanken, und sie stieg in die Kammer hinauf, um das Kind aufzunehmen und mit ihm zu frühstücken. Während es seine Milch trank, wies es plötzlich auf den leeren Stuhl und fragte: »Wo ist Lamo?« So nannte die Kleine den Priester, denn seinen schwierigen Namen konnte sie noch nicht aussprechen.

»Ja, wo mag er sein? Wohin ist er wohl gegangen?« Alma versuchte sich vorzustellen, welchen Weg er eingeschlagen haben mochte. Es war ja nicht das erste Mal, dass er für einige Zeit verschwand, aber immer war er nach kurzer Zeit wieder gekommen. Diesmal war es anders. Der Brief machte es deutlich. Ob er wohl an einem anderen Ort bei gut gesinnten Menschen Unterschlupf gefunden hatte? Oder ob er sich seinen Vorgesetzten gestellt und vielleicht trotzig auf seinem eigenen Standpunkt verharrt war? Hatte er sich damit in Gefahr begeben? Alma wurde sich bewusst, dass sie sich Sorgen um ihn machte. Er war ein guter Mensch, das hatte sie erfahren, aber wohl einer, der sich nicht leicht unter ein Joch beugte. Sie konnte nur hoffen, dass es ihm gelang, seinen Überzeugungen treu zu bleiben und gleichwohl das Pfarramt in seinen Gemeinden beizubehalten.

Der Winter nach dem Weggang des Priesters war schlimm. Wochenlang war es eisig kalt, und die Kälte war umso größer, als in Bondo die Sonne während zwei Monaten nicht über die hohen Bergrücken der Sciora- und Badilegipfel emporzusteigen vermag. Im frostigen Schatten der steilen Felswände kroch die Kälte in die Mauern und in die Häuser, und kein wärmendes Feuer vermochte sie ganz daraus zu vertreiben. Die Holzvorräte vieler Dorfbewohner waren auf diese große und lang dauernde Kälte nicht vorbereitet gewesen, und trotz sparsamster Verwendung reichten sie nicht aus. Dazu kam, dass die Kastanienernte im Herbst schlecht ausgefallen war, und Kastanien bildeten das Hauptnahrungsmittel der Talbevölkerung. Dieser Mangel machte sich in allen Häusern fühlbar, besonders aber bei Alma. Auch sie hatte zu wenig Holz sammeln können. Mit der inzwischen drei Jahre alten Lisabetta an der Hand war es nicht möglich, in den steilen Wäldern auf die Suche zu gehen, und ebenso wenig, größere Bürden heimzutragen.

Knapp waren auch die Nahrungsvorräte. Corrado war im Herbst gestorben, und seine Frau Clementina hatte ihn nur um wenige Monate überlebt. Dadurch verlor Alma ihre Arbeitsstelle. Mitten im Winter eine andere Tätigkeit zu finden erwies sich als unmöglich, ruhte ja alle Feldarbeit und weitgehend auch der Verkehr über die Pässe. Um Lisabetta nicht hungern zu lassen, verzichtete sie öfters auf das Abendessen und ging hungrig zu Bett. Wäre der Krämer in Promontogno drüben nicht ein gütiger Mann gewesen, hätte alles wohl noch viel schlimmer ausgesehen.

Der Krämerladen war seit Generationen in der gleichen Familie, die damit zu einem gewissen Wohlstand gekommen war. Der jetzige Besitzer, Gaudenzio, war im ganzen Tal bekannt für seine Großzügigkeit gegenüber Armen. Ihre bescheidenen Einkäufe schrieb er in ein Heft und wartete geduldig, bis sie in der Lage waren, die gestundeten Rechnungen zu begleichen. Kaum jemals erlitt er dabei einen Verlust, denn die einfachen Menschen setzten ihre ganze Ehre darein, ihre Schulden zurückzuzahlen. Alma brachte jeweils ihren Spinnlohn und die gesponnene Wolle ihrer Schafe zu ihm und bezahlte damit, was sie einkaufte. Nach dem Tode von Corrado und Clementina hatte sie in den Wintermonaten keine regelmäßige Arbeit gefunden, sodass auch sie gezwungen war, bei Gaudenzio anschreiben zu lassen. Das kam sie bitter an, und so drehten sich ihre Gedanken immer nur um eines: Auf diese Weise konnte es nicht weitergehen, einen solchen Winter wollte sie nicht noch einmal durchleben.

Beinahe so schlimm waren die vergangenen Monate gewesen, wie jener Winter, als sie vor den Franzosen – oder waren es die Österreicher oder die Russen? – geflohen waren. Nur schwach erinnerte sich Alma jener Zeit, von der aber nach Jahren noch voll Entsetzen gesprochen wurde. Fremde Truppen waren durch das Tal gezogen. Man sprach von den »Kaiserlichen« und von den »Franzosen« und sogar von solchen aus Russland. Schwer bewaffnet zogen Krieger talaufwärts und kamen nach kurzer Zeit wieder von Maloja herunter, verfolgt von Einheiten der feindlichen Armee. Die einen vertrieben jeweils die anderen. Je nach Kriegsglück kehrten die Vertriebenen wieder und verjagten die Vertreiber. Alle aber raubten, stahlen und nahmen den Leuten ihr Vieh, die Nahrungsmittel, Heu und Brennholz, aber auch Schuhe, Leder, und natürlich auch alles an Geld und Wertgegenständen.

Alma war damals noch sehr klein und hätte später nicht zu sagen gewusst, was persönliche Erinnerung an das Schlimme war und was aus den Gesprächen der Erwachsenen aufgenommen.

Gegenwärtig war ihr noch der Tag, als in Soglio große Aufregung geherrscht hatte. Die Leute waren auf die östlich des Dorfes gelegene Geländeterrasse hinausgeeilt und hatten von dort ins Tal hinuntergeschaut. Auf der Straße zogen Männer in farbigen Uniformen mit blitzenden Gewehren dahin,Pferdegespanne, die sonderbare zweirädrige Fahrzeuge aus Eisen mit merkwürdigen Rohren darauf zogen, Geschrei hallte herauf, barsche Befehle. In Bondo unten sah man keinen Menschen im Freien, kein Tier in den Feldern. Alle Türen und Fenster waren verriegelt. Aber die Soldaten stießen mit ihren Gewehren die Türen auf, und man konnte sehen, wie die Menschen aus den Hintertüren in den Wald hinaufflohen. Mehr als einmal war die Dorfbevölkerung von Soglio von ihrem hohen Standort aus Zeuge derartiger Geschehnisse, und jedes Mal zitterten alle beim Gedanken, die Krieger könnten auch in ihr glücklicherweise hoch über dem Talboden liegendes Dorf hinaufkommen und derart wüten.

Am stärksten in Erinnerung geblieben waren die Wochen, die sie mitten im Winter in einer Maiensässhütte verbracht hatten. Von Castasegna herauf waren viele Menschen, vorwiegend jedoch Frauen und Kinder, nach Soglio gekommen. Und sie berichteten Schreckliches. Alles werde gestohlen, »requiriert« nenne man das. Die Männer würden gezwungen, den Offizieren und Soldaten zu Diensten zu sein und ihr eigenes Vieh für die Militärküche zu schlachten, und keine Frau sei vor dieser zügellosen Soldateska sicher. In Panik drängten die verängstigten Leute weiter hinauf in die Wälder. Auch in Soglio würde man nicht mehr sicher sein, wenn unten im Tal alle Häuser ausgeraubt wären.

Da hatten auch die Männer von Soglio den Frauen befohlen, zusammen mit den Kindern in die Hütten weit oben am Berg zu fliehen. Nie hatte Alma jene Tage und Nächte vergessen, die furchtbare Kälte, die Dunkelheit. In einer Ecke der Alphütte hatte man den Kindern auf einem Strohhaufen ein Lager zurecht gemacht und sie mit allem, was zu finden war, mit alten Decken, Säcken und Heutüchern, bis über den Kopf zugedeckt. Eng aneinander gedrängt lagen sie im Finstern und fürchteten sich. Der Hunger plagte sie, denn die wenigen Nahrungsmittel, die man bei der überstürzten Flucht mitgenommen hat, waren bald aufgebraucht. Wohl kamen nachts einige ihrer Väter heimlich herauf und brachten zu essen mit, was sie irgendwie hatten auftreiben können, aber nicht immer gelang es ihnen, noch Lebensmittel zu finden und sich ungesehen damit in die Berge aufzumachen.

Jene Kriegs- und Hungerjahre hatten sich tief in das Andenken der Menschen eingegraben, und immer wieder wurde davon erzählt. In dem abgelaufenen, bitterkalten und langen Winter endeten solche Erinnerungen meist mit der Bemerkung, wohl gehe es jetzt allen schlecht, aber so schlimm wie in der Franzosenzeit sei es dennoch nicht.

Endlich war nun der Winter vorbei. Die Sonne stieg wieder über die hohen Felstürme und Grate und goss ihre Wärme indas enge Tal. Auf den Wiesen vor dem Dorf zeigte sich das erste Grün, und gegen Abend kamen Rehe aus dem Wald und weideten bei der Reihe kleiner Heuställe auf dem flachen Talboden westlich der Kirche.

Abbildung

Abb. 1:  Bondo mit Blick in Richtung Bondasca-Gletscher
Stahlstich von Ludwig Rohbock vor 1861

Es war ein unbeschreibliches Gefühl der Erleichterung und Hoffnung, das mit den hellen Sonnenstrahlen die Menschen durchdrang. Alma hatte die Fenster und Türen ihres Häuschens weit geöffnet, um Kälte und Feuchtigkeit daraus zu vertreiben. An einem solchen Tag, so fand sie, sollte man jedoch nicht im Hause bleiben. Sie packte alle Wollstrangen und Knäuel, die sie in den letzten Wochen gesponnen hatte, in ein Tuch und nahm Lisabetta bei der Hand, um nach Promontogno hinüberzugehen.

Mächtig toste der vom Schmelzwasser angeschwollene Bach, als sie über die Brücke gingen. Am Ufer hüpften die Bachstelzen von Stein zu Stein, in den Kastanienbäumen bei den Grotti schmetterten die Buchfinken ihre Frühlingsfreude in die laue Luft. Über den alten Tannen im Steilhang hinter dem Dorf flogen Eichelhäher ihre Hochzeitstänze. In schnellem Flug schraubten sie sich steil in die Höhe, um sich unvermittelt wie ein Stein niedersausen zu lassen. Wenig über dem Boden fingen sie sich ab, um dann wieder aufzusteigen.

Lisabetta trottete munter, eigene Melodien singend, neben ihr her und zeigte beglückt auf die ersten Blumen, die Huflattiche an den Bachböschungen, die Krokusse und Gänseblümchen in den Wiesen und das Fünffingerkraut am Wegrand. Am jenseitigen Talhang blühten zwischen den kahlen Buchenstämmen da und dort wilde Kirschbäume, und an den Mäuerchen, die den Weg talseitig begleiteten, hatte sich der Schwarzdorn mit seinen hellen Blüten geschmückt.

Im Garten von Gaudenzio, dem Krämer, stand wahrhaftig auch schon der Birnbaum in Blüte, und zwischen den Beeten nickten Märzenbecher und Schlüsselblumen im Frühlingswind.

Gaudenzio nahm ihr die verarbeitete Wolle ab und holte das kleine Heft aus der Schublade, in dem er eingetragen hatte, was Alma wintersüber für ihn gesponnen und was sie bei ihm an Lebensmitteln bezogen hatte. Sorgfältig trug er die Zahlen ein, rechnete dann aus – immer noch verblieb eine kleine Summe, die Alma ihm schuldete. Alma hatte so sehr gehofft, die aufgelaufenen Schulden vollständig tilgen zu können, und nun war sie enttäuscht, dass sie trotz allen Anstrengungen immer noch bei Gaudenzio in der Kreide stand.

Er spürte ihren Kummer. Indem er die Brille auf die Stirne schob, sagte er: »Mach dir keine Gedanken. Du bist nicht die einzige, die bei mir anschreiben lassen musste. Nach diesem Winter ist das ja kein Wunder. Ich weiß, dass du bezahlen wirst, sobald du kannst. Viel ist es ja nicht mehr, also lass dir jetzt nicht den schönen Tag verderben.«

»Ich danke dir. Ich weiß nicht, wie ich über die letzten Monate gekommen wäre, wenn du mir nicht Kredit gegeben hättest. Sicher hätte ich mein Kind hungern lassen müssen.«

»Du aber hast gehungert«, dachte der Krämer bei sich und musterte sie schweigend. Was für eine kräftige Frau war sie eigentlich, aber jetzt war sie mager und hohlwangig. Ohne zu fragen, packte er Mais und Gerste in ihr Tuch. Alma wehrte ab:

»Nein, ich will zuerst noch den Rest bezahlen, ehe ich wieder etwas kaufe, ich komme schon durch.«

»Lass mich machen«, brummte Gaudenzio und legte ein Stück Käse dazu, »wir werden schon einig werden.«

Alma ließ ihn machen – brauchen konnte sie das Getreide nur allzu gut, im Hause war praktisch nichts mehr vorhanden.

»Gaudenzio, ich habe noch ein Anliegen. Ich muss Arbeit finden. Du weißt, dass es nun nichts mehr ist im Hause von Corrado und Clementina, und das wenige, das sich sonst noch zeigt im Dorf, das reicht einfach nicht. Auch wenn wir beide« – sie wies auf Lisabetta – »ganz bescheiden leben. Wenn du etwas hörst, bitte denk an mich. Bei dir gehen ja viele Leute ein und aus, vielleicht kannst du diese oder jene fragen.«

»Ist gut. Ich werde daran denken. Etwas wird sich gewiss zeigen auf den Sommer hin, ja bestimmt werde ich etwas für dich finden.«

Dankbar und hoffnungsfroh verließ Alma den Laden. Anstatt auf dem kürzesten Weg heimzukehren, nahm sie den Weg den Fluss entlang und in einem großen Bogen über die Wiesen. Mit Lisabetta pflückte sie Gräser und Blumen, warf Steine in den Bach, dass es zum Vergnügen des Kindes hoch aufspritzte, und spielte mit ihm Verstecken bei den Hütten am Dorfeingang.

Eine Woche später, als Alma am Brunnen die Wäsche einer erkrankten Nachbarin wusch, ging Alberto, der die Dorfsäge betrieb, vorbei und sagte: »Gaudenzio hat mir aufgetragen, dir auszurichten, du sollest bei ihm vorbeikommen.«

Alma sah überrascht auf. »Sonst hat er nichts gesagt?«

»Nein, nichts.« Alberto war kein Mann vieler Worte.

Schnell spülte sie die Wäsche und trug sie hinter ihr Haus, wo zwischen dem Dachvorsprung und dem Nussbaum am Bach die Leine gespannt war. Eilig hing sie die Laken, die Küchen- und Leibwäsche auf.

Sie nahm sich nicht einmal Zeit, ein Mittagessen zu kochen, sondern setzte sich mit Lisabetta zu Brot, Käse und Milch zu Tisch, um gleich nachher zu Gaudenzio nach Promontogno zu gehen.

Als sie den Krämerladen betrat, blickte Gaudenzio von seiner Arbeit auf. Alma erkannte sofort, dass er gute Nachrichten für sie hatte. »Die Signora Anna im Palazzo in Soglio sucht eine Hilfe. Plinio, der Knecht, war gestern hier und hat davon gesprochen. Da habe ich gleich an dich gedacht.«

»Das wäre wunderbar – aber glaubst du, dass ich den Ansprüchen dieser Dame genügen würde?«

»Aber Alma – du bist tüchtig, das weißt du selbst, und fleißig bist du auch. Ich werde dich empfehlen. Wenn Plinio morgen kommt, gebe ich ihm ein paar Zeilen an die Signora mit. Im Übrigen – du sprichst die Schriftsprache, das wird sie schätzen. Geh so bald du kannst hinauf und stelle dich vor.«

»Gut, dann gehe ich übermorgen hinauf.«

In ihren besten Kleidern begab sich Alma zwei Tage später nach Soglio hinauf. An der Hand führte sie Lisabetta, die zunächst tapfer auf ihren kurzen Beinen marschierte, aber nach einer halben Stunde doch zu fragen begann, ob es noch weit sei. So machte Alma denn auf der Geländeterrasse von Plaz, wo unter den alten, mächtigen Kastanienbäumen die »cascine«, die Hütten für das Dörren und Aufbewahren der Kastanien, standen, eine Pause. Auf einem Stein sitzend, ruhten sie aus und aßen die letzten der gedörrten Kastanien, die Alma noch aufgespart hatte. Eine Weile musste man sie im Munde behalten, bis sie weich geworden waren, und dann konnte man sie zerkauen und ihren feinen, süßen Geschmack genießen.

Beglückt blickte Alma um sich. Ringsum grünte und blühte es, die Erde trieb neue Nahrung hervor für Mensch und Tier. Auf dem Heimweg würde sie Löwenzahnblätter stechen. Als Salat, zusammen mit einem Ei – die Hühner hatten glücklicherweise auch wieder zu legen begonnen –, ergab das eine gute Mahlzeit. Bei einigen Hütten trieb der wilde Spinat schon erste Blättchen. In einer Woche konnte sie herkommen und Spinat sammeln.

Sie atmete tief auf – das Schlimmste war nun gewiss vorüber. Und wenn es mit der Stelle bei Signora Anna klappte, dann sah auch die Zukunft heller aus.

Wieder nahmen die beiden den Weg, der in zahlreichen Kehren bergwärts führte, unter die Füße. Bald tauchte weiter oben zwischen zwei hohen Pappeln der weiße Kirchturm von Soglio auf, den sie nach kurzer Zeit erreichten. Alma blieb stehen und blickte auf die eng beieinander stehenden Häuser. Ihre schweren Steinplattendächer und die grauen gemauerten Fassaden waren vom schimmernden Licht der Frühlingssonne übergossen, das einen hellen Kontrast bildete zu den dunkelbraunen Balken der oberen Geschosse. Wie gut kannte sie jedes Haus, jeden Stall und jeden Garten. Es war das Dorf ihrer Kindheit. Auf den Bergen auf der anderen Talseite lag noch viel Schnee, gleißend wie Silber, aus dem die markanten Grate und Türme der Bondascagruppe in das Himmelsblau stiegen. Durch die Gasse am Dorfeingang mit den für die Fuhrwerke in die Rundkopfpflästerung eingelassenen Granitplatten schritt sie zum Dorfplatz.

Etwas zögernd betrat sie, nachdem sie kräftig die Außenklingel gezogen hatte, das Portal des Palazzo Battista, dieses großen, herrschaftlichen Gebäudes, dessen elegante Architektur mit den hellen Fenstern und den Nebengebäuden, die einen Hof umschlossen, von der Macht und dem Reichtum der Familie de Salis zeugte. Sie fand sich in einem hohen Flur mit gewölbter Decke, zu beiden Seiten Türen und im Hintergrund eine Treppe.

Eine alte Frau kam eilig die Stufen herab. Alma kannte sie. Es war Caterina, die schon bei der Signora im Palazzo gedient hatte, als Alma noch ein Kind war.

Als sie hörte, weswegen Alma gekommen war, wurde ihr Gesicht verschlossen, und eher widerwillig hieß sie Alma mitzukommen. Auf dem oberen Geschoss angekommen, blickte sich Alma verwundert in der über zwei Stockwerke reichenden Halle um. An den Wänden hingen Waffen, Rüstungen und Gemälde mit steifen Herren darauf.

Caterina verschwand durch eine schmale Tür, kam aber gleich wieder zurück und bedeutete Alma, ihr zu folgen, wobei sie Lisabetta einen argwöhnischen Blick zuwarf. Das Kind hatte still und mit großen Augen alles um sich her beobachtet und drückte sich nun scheu an die Mutter, als sie im hellen Zimmer vor Signora Anna standen. Diese, eine schlanke Dame, deren zartes, edles Gesicht von hellem, teilweise ergrautem Haar weich umrahmt war, saß in einem Lehnstuhl am Fenster und hielt ein Buch in der Hand.

»Du bist also die Alma, die mir von Gaudenzio empfohlen worden ist. Wie ich höre, bist du Witwe und hast bei Corrado und Clementina gearbeitet. Ich habe die beiden gut gekannt, brave Leute.«

Ihre Aufgabe, so erklärte Signora Anna, würde darin bestehen, Caterina bei allen Hausarbeiten zur Hand zu gehen. Diese sei nun alt geworden, und all die Arbeit in diesem großen Haus könne sie nicht mehr allein bewältigen. Es werde allerdings vielleicht Probleme geben, denn Caterina werde sich nicht so leicht daran gewöhnen können, dass sie nun nicht mehr allein für alles zuständig sei. Wie das bei alten Leuten oft so sei, falle es ihr schwer, etwas von ihren Aufgaben aus der Hand zu geben. Da müsse Alma wohl Geduld haben und sehen, dass die alte Magd nicht das Gefühl bekomme, sie werde ganz auf die Seite geschoben.

»Ich kenne Caterina seit meiner Kindheit, und ich werde gewiss mit ihr auskommen. Zudem habe ich es in den letzten Jahren immer mit alten Leuten zu tun gehabt«, erklärte Alma.

»Ist das dein Kind? Wie heißt du?«, wandte sich die Signora an Lisabetta. Die Kleine schwieg, und erst auf einen Stups der Mutter sagte sie leise ihren Namen.

»Lisabetta, so heiße auch ich, Anna Elisabeth. Wie alt bist du?«

Lisabetta streckte wortlos vier Finger in die Höhe, und die Signora lächelte. »Das weißt du also, vier Jahre alt bist du und gewiss ein braves Kind, das der Mutter Freude macht.« Dann zu Alma gewandt: »Wie ist das mit dem Kind? Kannst du es bei der Arbeit bei dir haben, oder wie hast du dir das vorgestellt?«

»Lisabetta ist ein ruhiges Kind, es kann glücklicherweise auch sehr gut allein spielen. Und dann, denke ich, ist es jetzt auch alt genug, dass es bei den andern Kindern im Dorf sein kann. Sollte ich aber doch einmal des Kindes wegen aufgehalten werden, so werde ich das am Abend nachholen. Meine Arbeit wird auf alle Fälle getan sein, darauf können Sie sich verlassen.«

In festem und bestimmtem Ton sagte Alma das, und die Signora lächelte: »Ich glaube dir. Du sprichst die Schriftsprache, wo hast du das gelernt?« Alma berichtete kurz von ihrem Mann und dass sie zusammen immer die »vera lingua« gesprochen hätten.

»Das macht mir Freude«, meinte die Signora und fügte bei: »Du kannst mit deiner Tochter ein Zimmer auf der Gartenseite beziehen, und was den Lohn anbelangt, werde ich ihn so ansetzen, wie es jetzt üblich ist – ich werde mich diesbezüglich erkundigen.«

Damit war Alma einverstanden, ebenso war es ihr recht, dass sie so bald als möglich eintreten sollte.

Nach wenigen Tagen zogen Alma und Lisabetta mit ihren wenigen Habseligkeiten im Palazzo ein, und Alma trat ihre Arbeit an. Zu tun gab es genug in dem weitläufigen, viergeschossigen Haus mit seinen Gängen und Treppen und den vielen Zimmern, von denen allerdings nur wenige benutzt wurden. Dennoch mussten auch diese von Zeit zu Zeit gelüftet und sauber gehalten werden.

Caterina, die sich zunächst Alma gegenüber sehr zurückhaltend zeigte, war aber doch froh über die Hilfe und überließ Alma die Haus- und Putzarbeiten immer mehr. Einzig die Bedienung von Signora Anna und die Instandhaltung ihres Zimmers gab sie nicht aus der Hand.