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PROLOG

 

29. Juli 2010
Hamburg.

Andres Puri nimmt einen ersten gierigen Schluck aus dem Glas. Zu seiner Überraschung schmeckt der Rotwein widerlich. Seine Mundhöhle brennt, als hätte er Feuer geschluckt. Wütend wirft er das Glas von sich, sodass es an der Wand zerspringt. »Was hast du mir da reingetan?«, schreit er. Speichel sammelt sich in seinem Mund, als wolle der das Feuer löschen. Dann beginnt sein Körper unkontrolliert zu zittern. Er sackt auf die Knie, greift sich mit beiden Händen an den Hals. Er bekommt schwer Luft, ringt nach Atem, fällt um. Seine Augen sind panisch aufgerissen. Gift, denkt er, in dem Glas war Gift. Er will etwas sagen, er will um Hilfe rufen, er will schreien, doch kein Laut kommt mehr aus seiner Kehle. Das Zucken wird besser. Ein heißes Gefühl steigt von seinem Steißbein in der Wirbelsäule nach oben und breitet sich im ganzen Körper aus. Es geht schnell. Er will aufstehen und zum Telefon. Doch er kann sich nicht bewegen. Nicht einmal den kleinen Finger kann er bewegen. Ihm bricht Schweiß aus. Er spürt, wie die Tropfen über seinen Körper rinnen. Er kann alles spüren, aber er kann sich nicht rühren. Keinen Millimeter. Seine Lunge krampft, vor seinen Augen flimmert es.

Puri wird auf das Bett gewuchtet. Das Laken ist angenehm kühl. Er wird ausgezogen. Es dauert eine Weile: Schuhe, Socken, Hose, Hemd, Unterwäsche. Was soll das? Aus dem Augenwinkel sieht er ein Messer aufblitzen. Er hat Angst, schreckliche Angst. Sein Körper fühlt sich jetzt ganz kalt an. Das Messer nähert sich seiner Haut. Schlitzt sie auf. Nur ein kleiner Schnitt am Oberarm, dann noch einer und noch einer. Unterarm, Bein, Lenden, Oberkörper. Überall werden ihm kleine Schnitte zugefügt. Er wundert sich, denn es tut nicht sonderlich weh. Aber er kann kaum noch atmen. Er will den Kopf heben, um zu sehen, was mit ihm passiert, doch er kann nicht. Sein Blick ist auf die Zimmerdecke gerichtet. Da erscheint eine Hand vor seinen Augen. Zwischen den Fingern hält sie einen Wurm. Er kringelt sich um den Zeigefinger. Die Hand verschwindet und kommt wieder. Nun zeigt ihm die Hand einen Käfer. Die Beine des Käfers zappeln in der Luft.

Auf seiner Haut ist ein Kribbeln zu spüren. Es fühlt sich weit weg an. Aber er weiß, dass es der Käfer ist. Die Hand zeigt ihm Maden und noch mehr Würmer und noch mehr Käfer und Tausendfüßler und kleine Spinnen. Es kribbelt immer mehr. Die Schnitte brennen ein wenig. Es ist nicht schlimm, er nimmt alles nur dumpf wahr.

Aber er weiß, dass diese Tiere auf ihm herumkrabbeln und sich in seine Wunden bohren. Er weiß es, und es macht ihn schier wahnsinnig. Ekel steigt in ihm auf.

Puri weiß nicht, wie lange er da liegt. Lange. Sehr lange. Vielleicht auch nur ein paar Minuten. Es fühlt sich an wie die Ewigkeit, so muss sich Ewigkeit anfühlen, denkt er. Die ewige Verdammnis der Hölle. Er kann nichts tun. Kleine Lebewesen knabbern seinen Leib an, sie kriechen in ihn hinein und fressen ihn auf. Das Atmen wird immer schwerer. Er hat das Gefühl, dass seine Augen aus den Augenhöhlen heraustreten, so sehr strengt er sich an, etwas zu sagen. Er will um Gnade winseln. Er will, dass die Tiere weggenommen werden.

Da legt sich ein Metallseil um seinen Hals.

Etwa zehn Kilometer Luftlinie entfernt sucht Marianne Sund ihren Ehering. Sie stellt ihre ganze Wohnung auf den Kopf, denn sie hängt an dem Ring. In zwei Stunden kommt ihr Mann von der Arbeit nach Hause. Wenn er merkt, dass sie den Ehering verloren hat, wird er schimpfen. Marianne kommt ins Schwitzen. Bis es ihr plötzlich einfällt: Gestern, beim Putzen in Doktor Benedikts Haus, da hat sie die Küchenarbeitsplatte aus dänischer Walnuss eingeölt. Dabei war ihr der Ring vom Finger geglitten. Sie hat ihn neben das Waschbecken gelegt, sich die Hände gewaschen und dann vergessen, den Ring wieder anzuziehen, weil Benedikt nach Hause kam und sie nett begrüßte. Ihr Mann unterstellt ihr sowieso immer, ein wenig verschossen in Benedikt zu sein. Es wäre besser, den Ring schnell zu holen, statt ihrem Mann zu gestehen, dass sie ihn bei ihrem Arbeitgeber vergessen hat. Marianne zieht ihre Straßenschuhe und eine leichte Sommerjacke an, nimmt den Schlüssel zu Benedikts Haus aus dem Holzschälchen im Flur und fährt sich noch schnell mit der Bürste durch die Haare. Benedikt ist um die Uhrzeit zwar normalerweise noch nicht zu Hause, aber falls er es ausnahmsweise doch sein sollte, will Marianne nicht aussehen wie eine Putzfrau. Darauf achtet sie immer, auch beim Putzen.

In sieben Minuten ist sie mit dem Bus die paar Stationen gefahren, und nach weiteren zehn Minuten Fußweg betritt sie die Villa. Schnurstracks geht sie durch den Flur und will zur Küche, ihren Ring neben dem Waschbecken aufklauben und noch einen raschen zufriedenen Blick auf den Glanz der frisch eingeölten Arbeitsplatte werfen. Doch dann sieht sie verdutzt die Tür zu Benedikts Büro offenstehen. Dabei legt Benedikt allergrößten Wert auf geschlossene Türen. Er hasst es, wenn es zieht. Benedikt ist ein wenig hypochondrisch.

Marianne geht zur Tür und will sie schließen, als ihr Blick ins Büro fällt. Sie sieht Benedikts Füße in den für ihn typischen handgenähten Budapestern. Die Füße stehen nicht, sondern sie liegen auf dem Boden. Die Fußspitzen zeigen nach oben. Die Socken passen wie immer farblich zu den Hosen. Erschrocken öffnet Marianne die Tür ganz. Dann schreit sie laut auf.

Benedikt, ihr Arbeitgeber, in den sie in der Tat ein wenig verschossen ist, liegt auf dem Perserteppich. Tot. Sein Hemd ist geöffnet, der Brustkorb nackt und von kleinen Schnitten übersät. Auf und in seiner Haut krabbeln ekelhaft viele Insekten. Aus dem weit offenen Mund windet sich zappelnd ein Wurm heraus. Marianne wird schwindlig, sie kämpft gegen Übelkeit und Ohnmacht an. Ohne nochmals einen Blick auf die Leiche zu werfen, rennt sie in den Flur. Sie will nicht das Telefon in Benedikts Büro benutzen, dazu müsste sie direkt an der Leiche vorbei. Im Wohnzimmer ist noch ein Anschluss. Von da ruft sie die Polizei an.

Zuerst kommt die Schutzpolizei und sperrt das Gelände ab. Marianne darf noch nicht nach Hause. Sie spricht ihrem Mann aufs Band. Eine dreiviertel Stunde später trifft ein Hauptkommissar Herbert Meyerhoff von der Mordbereitschaft mit einem Kollegen ein und sieht sich alles an. Dann fragt er Marianne, wie und wann genau sie ihren Chef gefunden hat. Und was sie alles angefasst hat. Marianne wird sehr viel gefragt. Davon wird ihr wieder schwindlig, ihr ist nicht gut. Kommissar Meyerhoff erlaubt ihr schließlich, nach Hause zu gehen. Er lässt sie sogar mit einem Polizeiauto heimbringen. Als Marianne endlich durch den Flur hinausgeht, am Büro von Dr. Benedikt vorbei, hört sie den Kommissar telefonieren. Er sagt: »Hallo, Herr Wieckenberg, hier Meyerhoff. Ich bin im Haus von Dr. Benedikt … Ja, genau … Leider … eine total kranke Schweinerei …«

Marianne gibt ihm insgeheim recht. Sie ist froh, wenn sie endlich zu Hause bei ihrem Mann ist. Als sie im Streifenwagen sitzt, fällt ihr ein, dass ihr Ehering immer noch in Benedikts Küche neben dem Waschbecken liegt.

 

LARGHETTO AFFETTUOSO

Klar weiß ich noch, wie es angefangen hat. Es ist ein schleichender Prozess. Mit den Milben hat es angefangen. Zuerst waren es nur Milben. Milben sind harmlos. Sie sind in jeder Matratze. Millionen davon, Abermillionen. Haben Sie mal Makroaufnahmen gesehen? Eklige Viecher. Sie ernähren sich von unseren Hautschuppen. Aber das macht uns nichts. Die meisten Menschen wissen das nicht mal und schlafen jahrzehntelang auf ihrer verseuchten Matratze. So hat es angefangen. Mit Milben in alten Matratzen. Sie kommen irgendwann aus der Matratze heraus, wenn sie Hunger haben, und fressen die Hautschuppen direkt von deinem Körper runter, statt zu warten, bis die Schuppen in die Matratze rieseln. Das ist nicht schlimm, kitzelt nur ein bisschen. Falls man es überhaupt bemerkt. Man kann die Milben wegduschen. Vermute ich zumindest. Wenn man duscht. Natürlich will man regelmäßig duschen, aber manchmal kommt man nicht dazu. Dann vermehren sich die Milben und fressen noch mehr Schuppen, bis es anfängt zu jucken. Ist noch nicht schlimm, weil die sitzen ja auf der Haut, und man kann sie wegkratzen. Wie gesagt, die Milben sind recht harmlos. Aber sie sind ja erst der Anfang.

Weil, wenn man sich die Haut ein bisschen aufgekratzt hat wegen der widerlichen Milben, dann riechen die anderen das. Sie wittern das Blut. Die Feuchtigkeit. Sie kommen herbeigekrochen. Und finden die Löcher und Ritzen, sie finden diese Einfallstore. In der Haut. Die Haut ist eine Schutzschicht, die äußere Begrenzung des menschlichen Körpers. Eine Grenze, verstehen Sie? Die sollte keiner überschreiten! Was unter der Haut liegt, ist Privatsache. Die Haut hält alles zusammen. Wenn sie verletzt wird, gibt es keinen Schutz mehr, dann dringt die Welt mit Gewalt in den Menschen hinein.

Wussten Sie, dass die Haut flächenmäßig unser größtes Organ ist, und auch das schwerste? Das ist aber rein medizinisch betrachtet. Man darf dabei ja nicht vergessen, dass die Haut eine ganz empfindliche Schutzschicht ist. Wenn die löchrig wird, dann ist Polen offen. Verzeihen Sie bitte, wenn ich so direkt formuliere, aber was haben wir denn für Einfallstore? Da sind Mund und Nase und Ohren und, nun ja, dann sind da noch die geschlechtlichen Öffnungen, die aber ein normaler Mensch weitestgehend unter Verschluss hält.

Im Amazonasgebiet, da soll es Parasiten geben, die sich über die Harnröhre einschleichen, wenn man in den Fluss pinkelt. Kleine Fische oder so was. Die fressen einen dann von innen auf. Ekelhaft, oder? Wir sind nicht im Amazonasgebiet. Und trotzdem passieren hier auch solche widerlichen Dinge. Glaubt einem keiner. Ist aber so.

 

2. April 2010
Hamburg.

Der Winter ließ immer noch nicht richtig locker, doch die überraschend warme Sonne gab sich alle Mühe, die immensen Schneemassen wegzutauen. Christian Beyer, Chef der Soko Bund, einer vor wenigen Jahren eingerichteten Sondereinheit mit bundesweiten Kompetenzen und spezialisiert auf die Jagd nach Serienkillern, befand sich auf dem Weg von der Staatsanwaltschaft zurück in die Zentrale seiner kleinen, aber schlagkräftigen Truppe. Wie immer, wenn es nur irgend möglich war, ging er zu Fuß. Er genoss das annähernd frühlingshafte Wetter weitaus intensiver als das Lob, das er und seine Leute gerade vom Leitenden Oberstaatsanwalt bekommen hatten. Ein komplizierter Fall war schnell und gründlich abgeschlossen worden, der Mörder dreier junger Mädchen seit heute Morgen rechtskräftig verurteilt. Wieder einmal hatte der Oberstaatsanwalt Christian angeboten, mit seinen Leuten zurück ins moderne und komfortable Gebäude des Polizeipräsidiums zu ziehen. Und wieder einmal hatte Christian abgelehnt. Als die Soko als einzige ihrer Art in Deutschland auf Betreiben des BKAs gegründet und Christian die Leitung übertragen worden war, hatten einige Neider aus den obersten Hamburger Polizeirängen die Soko in schäbige Büroräume im Schanzenviertel ausgelagert, die früher als Beobachtungsposten von den Drogenfahndern genutzt worden waren. Christian und seine handverlesene Truppe fühlten sich dort sehr wohl, und auch wenn die Neider sich längst zurückhielten und inzwischen kollegialer Respekt vorherrschte, wollten Christian und seine Leute nicht zurück ins Präsidium.

Als Christian in aller Gemütsruhe den Park »Planten un Blomen« durchquert hatte und in der Zentrale ankam, herrschte dort ausgelassene Stimmung. Der abgeschlossene Fall wurde zur Mittagspause mit einer Runde Döner für alle gefeiert. Wie immer hatte Yvonne, Teilzeit-Sekretärin nach eigenem Gutdünken und Psychologiestudentin, das Futter nebst Getränken besorgt. Sie saß mit den anderen im Konferenzraum, dessen Möbel eher an Sperrmüll denken ließen denn an eine bundesweit agierende Kriminalabteilung.

Christian nahm sich eine Cola und setzte sich dazu. Sofort schob ihm Eberhard Koch, der Spuren- und Tatortspezialist der Truppe und wegen seines Nachnamens und seiner dazu passenden Leidenschaft nur Herd genannt, seinen Döner zu. Er aß dieses Zeugs nur aus Gruppenzwang, sein Gaumen wehrte sich jedes Mal. Christian griff zu, wusste er doch, dass er damit nicht nur sich, sondern auch Herds empfindsamen Geschmackspapillen einen Gefallen tat. Neben Herd saß Daniel Meyer-Grüne, der Rechercheur der Soko. Daniel war kein ausgebildeter Polizist und verweigerte jegliche Berührung mit dem real existierenden Verbrechen. Er näherte sich der Welt rein virtuell. Als ehemals berüchtigter Hacker arbeitete er im Dienst der Soko, seit Christian ihn aus einer misslichen juristischen Lage beim BKA befreit und ihm einige Jahre Knast wegen illegaler Aktivitäten im World Wide Web erspart hatte.

Volker Jung, der baumlange, glatzköpfige Verhörspezialist der Soko, privat Buddhist und Teilzeit-Vegetarier, fehlte am Tisch. Er hielt im Präsidium einen Vortrag über verschärfte Verhörtechniken und ethische Verantwortung und würde mit seinen theoretischen Überbauten vermutlich den Großteil seiner praxisorientierten Zuhörer schon in der ersten halben Stunde einschläfern.

»Und?«, fragte Herd, nachdem er sich den Mund mit Mineralwasser ausgespült hatte. »Wollte uns der Herr Oberstaatsanwalt wieder heim ins Reich holen?«

»Mit allem Brimborium«, antwortete Christian.

»Du hast ihm hoffentlich gesagt, dass ich ein Erdgeschossbüro mit Kleingarten will, wo ich ein Kräuterbeet anlegen kann!« Herd lächelte.

»Ich will ein riesiges Chefsekretärinnenzimmer mit einem nackten Nubier als Praktikanten!«, fügte Yvonne hinzu.

»Und ich will einen Tisch mit fünf Computern, um die immer eine Miniatur-Eisenbahn mit frisch zubereitetem Sushi auf den Containern läuft!«, ergänzte Daniel.

Christian hob abwehrend die Hände. »Ich habe ihm klargemacht, dass für solche Arschlöcher wie euch kein Platz im Präsidium ist. Wir bleiben in der Diaspora. Ein für allemal.«

»Oh, Mann, sag bloß, du hast schon wieder abgelehnt, dass wir schicke, klimatisierte Räume mit Cola-Automaten auf dem Flur und willigen Kolleginnen mit durchtrainierten Körpern im Nebenzimmer beziehen?« Pete Altmann war unbemerkt von draußen dazugekommen. Durch seinen teuren Designer-Anzug hatte er wie immer mehr Ähnlichkeit mit einem italienischen Dressman als mit einem Beamten der deutschen Kripo.

»Für einen sexistischen Macho wie dich ist erst recht kein Platz dort!«, entgegnete Christian ohne hochzublicken.

Pete grinste. Der Halb-Amerikaner, der vor wenigen Jahren als Profiler vom BKA zu der Truppe befohlen worden war, hatte am Anfang erhebliche Schwierigkeiten mit Christian gehabt. Die waren allerdings längst ausgeräumt. Der rüde Tonfall in der Truppe gehörte zum Alltag und stellte nichts als eine seltsame Form der Wertschätzung dar.

Pete setzte sich dazu und nahm sich ebenfalls eine Cola. »Habt ihr das Urteil gegen Andres Puri mitbekommen?«

»Den Baltenboss?«, fragte Herd. »Ich dachte, das ergeht erst nächsten Monat.«

Pete verneinte. »Sie haben ihn eben verknackt. Wegen Zuhälterei und sonst ein paar Kinkerlitzchen. Das Verfahren wegen des Auftragsmordes an dem Zuhälter ist schon auf Ermittlungsebene eingestellt worden. Sie konnten es ihm nicht nachweisen.«

»Weil er sich den Mega-Staranwalt Reile geleistet hat. Seltsam, dass der sich bei Puri reinhängt. Ist gar nicht sein Gebiet. Der vertritt sonst nur Medienfuzzis, die von ihrer Assistentin wegen Vergewaltigung belangt werden.« Christians Miene verfinsterte sich. Jeder Bulle wusste, dass Puri reichlich Dreck am Stecken hatte.

»Und wenn Reile sie ins Kreuzverhör nimmt, steht die Assistentin hinterher als Publicity-geiles Drecksstück da, das den armen unschuldigen Promi erpressen und abzocken wollte!« Yvonne las begeistert die Yellowpress.

»Wer ist dieser Puri?«, fragte Daniel. Seine Unwissenheit war einmal mehr Beweis dafür, wie wenig Polizist er war.

»Gebürtiger Este. Hat sich dort mit Drogenhandel und Rotlicht-Geschäften einen Namen gemacht. Dann die Schwester des führenden litauischen Milieu-Königs geheiratet und damit die beiden kriminellen Klein-Imperien zu einem größeren vereinigt.«

Daniel begann zu lachen: »Das nenne ich wertkonservativ. Die europäischen Königshäuser verwässern sich immer mehr mit Schlammblut. Da ist es doch echt schick, wenn wenigstens die Unterwelt am Erhalt des dynastischen Gedankens arbeitet!«

»Sehr witzig«, kommentierte Yvonne.

»Und was macht dieser Puri in Deutschland?«, fragte Daniel weiter.

Christian erklärte es ihm: »Seine Urgroßmutter war Deutsche. Nachdem er neben Litauen auch noch Lettland in seinen Einflussbereich eingegliedert hatte – deswegen der Name ›Baltenboss‹ –, besann er sich seiner Wurzeln, beantragte die deutsche Staatsbürgerschaft und kam her. Hier ist weitaus mehr zu holen als im Baltikum.«

»Die Kollegen von der Organisierten sind seit Jahren hinter ihm her. Sehr lustig, dass er sich jetzt beinahe selbst ins Bein geschossen hat!« Pete lachte verächtlich. »Liegt im Krankenhaus und baggert eine Schwester an, indem er mit seinen Machenschaften vor ihr angibt wie ein verliebter Trottel auf dem Schulhof … Was für ein Elend, dass sie ihn nicht drangekriegt haben!«

Christian konnte der allgemeinen Belustigung über die Dummheiten eines alternden Syndikatsbosses nicht länger zuhören, sein Handy klingelte. Er ging ran, bedeutete den anderen per Handzeichen, die Klappe zu halten. Sofort kehrte angespannte Stille ein. Christian sagte nicht viel. Fragte nur: »Wieso wir?« und dann: »Verstehe.« Seine konzentrierte Miene sprach Bände. Die Mittagspause war vorbei.

Eine Stunde später betraten Christian, Pete und Herd ein heruntergekommenes Gebäude in der Friedensallee im Stadtteil Ottensen. Im Treppenaufgang zur zweiten Etage musste Christian wegen seiner knapp ein Meter neunzig Körperlänge den Kopf einziehen. Vor der Wohnung wartete ein uniformierter Polizeibeamter, den Christian kannte. Mit käsiger Miene winkte er die drei durch. Ein zweiter Beamter, dem ebenfalls übel zu sein schien, wies auf ein Zimmer, das direkt rechts vom Flur abging. In der Küche, die sich nur einen Meter weiter geradeaus befand, saß ein völlig aufgelöster junger Mann, laut Aussage des Beamten der WG-Mitbewohner des Opfers, der die Leiche gefunden hatte. Christian schickte die beiden Schutzpolizisten auf Befragungstour zu den Nachbarn und Anwohnern in der Straße. Die Spurensicherung würde bald eintreffen. Bis dahin wollte er mit Herd allein am Fundort der Leiche sein, um möglichst wenig von der Spurenlage zu verändern. Pete fasste den jungen Mann aus der Küche unterm Arm und führte ihn behutsam nach draußen, um ihn dort zu befragen. Die Tür der Wohnung zog er mit einem Taschentuch vorsichtig hinter sich zu, denn aus dem Zimmer, in dem die Leiche lag, waberte ein intensiver Kotgeruch, der durch die Wohnung bis in den Hausflur drang.

Erst als Christian und Herd allein waren, betraten sie das Zimmer. Es war klein und unordentlich. Ein junger Mann, etwa Mitte zwanzig, lag auf dem Dielenboden neben einem verstreuten Haufen schmutziger Wäsche. Das Opfer war ziemlich groß, sein hellblondes Haar stoppelkurz, die Figur sportlich. Er trug Wollsocken, ausgewaschene Jeans und ein buntes Shirt. Vor ein paar Tagen noch würden die Frauen auf der Straße hinter ihm hergesehen haben. Ein Einschuss mitten in die Stirn jedoch hatte allem ein Ende bereitet. Herd und Christian zogen ihre Handschuhe an, den Plastikschutz für die Schuhe hatten sie schon vor der Tür übergestreift. Dann näherten sie sich der Leiche, gingen in die Hocke und betrachteten sich genauer, was sie auf den ersten flüchtigen Blick am Kopf des Opfers irritiert hatte.

»Was für eine fiese Scheiße«, flüsterte Herd.

Dem jungen Mann steckten seine beiden abgetrennten Zeigefinger tief in den Ohrmuscheln. Auf den vermutlich geschlossenen Augenlidern – man konnte sie kaum sehen – lagen dunkelbraune Fleischstücke, an denen Klumpen von geronnenem Blut klebten. Christian öffnete vorsichtig den Mund des Opfers. Er hatte richtig vermutet. Die vordere Hälfte der Zunge fehlte und war, zerlegt in zwei Einzelteile, zum Bedecken der Augen benutzt worden.

»Nichts sehen, nichts hören …« , sagte Herd.

»… und sprechen kann er auch nicht mehr«, vollendete Christian den Gedanken an die drei Affen.

Der Schuss in die Stirn war mit einem kleinen Kaliber aus nächster Nähe ausgeführt worden. Das Ganze sah nach einer Hinrichtung aus. Die Verteilung der Blutspritzer sprach eindeutig dafür, dass Fundort und Tatort identisch waren.

»Profis«, fand Herd.

Christian blickte sich im Zimmer um. Falls das Opfer nicht ein extrem unaufgeräumter Mensch gewesen war, ließ das Chaos nur auf eine gründliche Durchsuchung schließen. Christian ließ alles ein paar Minuten auf sich wirken, versuchte, sich jedes Detail einzuprägen, und nickte dann Herd zu. Er ging hinaus. Herd würde das Zimmer genauestens untersuchen und alles dokumentieren, bis die Spurensicherung eintraf, sie ihre Arbeit koordinierten und gemeinsam zu Ende brachten.

Pete saß mit dem Zeugen im Hausflur auf der Treppe. Als er Christian aus der Wohnung kommen sah, legte er kurz die Hand auf den von Schluchzen geschüttelten Rücken des jungen Mannes, erhob sich und wandte sich Christian zu.

»Personalien sind aufgenommen. Sebastian Dierhagen, Student. Er ist völlig fertig. Braucht dringend psychologische Betreuung. Im Moment ist nicht viel mehr aus ihm rauszukriegen.«

»Als was?« Christian wollte keine Zeit verlieren.

Pete sprach leise: »Unsere Leiche heißt Henning Petersen, 27 Jahre alt, Volontär bei der Hamburger Morgenpost. Dierhagen war für ein paar Tage bei seinen Eltern in Hohwacht. Als er zurückkam, hat er seinen Kumpel gefunden. Hat angeblich nichts in Petersens Zimmer angerührt. Ins Bad gerannt, gekotzt, Polizei gerufen. Das ist alles.«

»Okay. Du rufst den Polizeipsychologen für den Jungen und koordinierst die ersten Befragungen der Nachbarn. Ich fahre schon mal zurück. Daniel wird uns alle Daten über Petersen zusammenstellen. Wir treffen uns in der Zentrale, wenn ihr hier fertig seid. Dann legen wir los.«

Es war schon nach drei Uhr in der Nacht, als Sofias Handy klingelte. Sie schreckte hoch, brauchte wie so oft ein wenig, um sich zu orientieren, um zu wissen, wo sie sich befand. Hotel. Hamburg. Das Telefon schrillte weiter. Schlaftrunken hob sie ab. Sie hörte Lärm, laute Musik und eine ihr unbekannte Männerstimme, die regelrecht schrie, um den Lärm zu übertönen: »Hey, hier ist das ›Crazy Horst‹! Wir haben in unserer Bude einen jungen Mann, der dreht voll ab! Dani oder so ähnlich. Er hat uns Ihre Nummer gegeben, ich hoffe, das stimmt, denn er kann kaum noch lallen! Entweder Sie holen ihn jetzt sofort ab, oder die Bullen erledigen das!«

Schlagartig war Sofia wach und saß kerzengerade im Bett: »Geben Sie mir die Adresse, ich bin in ein paar Minuten da!«

Hastig sprang sie aus dem Bett, wusste nicht, ob sie eher verärgert oder besorgt sein sollte, und entschied sich, während sie ihre Klamotten überstreifte, definitiv für verärgert. Es war zwar schon länger her, dass Danylo solche Aktionen gebracht hatte, aber noch nicht lange genug. Das letzte Mal war vor zwei Jahren in Kopenhagen gewesen, als er volltrunken vor der Skulptur der »Kleinen Meerjungfrau« in den Hafen urinierte und laut auf Englisch pöbelte, er pisse auf Hans Christian Andersen, die »verlogene, alte Schwucke«. Daraufhin war er von drei dänischen Patrioten verprügelt worden, und sie hatte ihn mit gebrochenem Kiefer ins Krankenhaus gebracht. Glücklicherweise war seinen Händen nichts passiert.

Vor ihrem Hotel befand sich ein Taxistand. Wie versprochen war sie in wenigen Minuten auf dem Kiez in der für ihr Empfinden wenig Vertrauen erweckenden Bar mit dem noch weniger originellen Namen. Eindeutig eine Schwulenbar, Sofia wusste, wo Danylo abstürzte, wenn er denn abstürzte. Keiner achtete auf sie. Sofia war erleichtert, dass es sich um eine frauenfreundliche Schwulenkneipe zu handeln schien und nicht etwa um ein Etablissement für die Hardcore-Szene. Der Laden war gut besucht, die Stimmung aufgeheizt. Als sie am Tresen vorbeikam, warf ihr der Theker einen fragenden Blick zu, den sie erwiderte. Er winkte sie durch in den hinteren Teil der Kneipe, wo Danylo mit dem Kopf auf der Tischplatte in einer Nische halb saß, halb lag. Sie setzte sich zu ihm und rüttelte ihn. Danylo hob in Zeitlupe den Kopf an. Er sah furchtbar aus. Die Augen vom Weinen verquollen, die Pupillen erweitert. Ganz offensichtlich hatte er sich mit einer Mischung aus Alkohol und Drogen abgeschossen.

»Kannst du gehen?«, fragte Sofia kühl.

Er fiel ihr theatralisch in die Arme und begann zu schluchzen. »Sofia, Sofi, meine liebe Sofi, geh weg, lass mich allein!«

»Das kann ich tun. Dann holen dich gleich die Bullen ab und sperren dich in eine Ausnüchterungszelle. Willst du das?«

»Nein! … Ja! Ist doch egal, ist doch alles egal!« Danylo ließ den Kopf wieder auf die Tischplatte knallen. Morgen würde er eine Beule haben.

Sofia zog ihn an den Schultern wieder hoch. »Jetzt reiß dich mal zusammen! Wir gehen jetzt raus, ich rufe uns ein Taxi und bringe dich nach Hause.«

Danylo nickte schwerfällig, wobei sein Kopf wieder auf die Tischplatte schlug.

Der Theker kam an ihren Tisch: »Kommen Sie klar, oder brauchen Sie Hilfe?«

Sofia bat ihn um zwei Minuten, der Theker sah ostentativ auf die Uhr und ging zurück zum Tresen. Sofia hievte Danylo mühsam hoch, er war knapp zwei Kopf größer als sie, wenn auch sehr hager. Als sie ihn durch die Gäste zum Ausgang bugsierte, hing er an ihr wie ein Ertrinkender: »Nicht nach Hause, bitte nicht nach Hause!«

Sofia schwieg. Sie hatte Glück, ein freies Taxi bog gerade um die Ecke. Sie hielt es auf, schubste Danylo hinein und gab die Adresse seiner Wohnung im Stadtteil Winterhude an. Sofort randalierte Danylo: »Nicht nach Hause, auf keinen Fall!«

Der Taxifahrer, der offensichtlich schon eine harte Nacht hinter sich hatte, griff nach hinten und öffnete die Tür. Er warf Sofia einen müden, aber deutlich auffordernden Blick zu. Sofia schloss die Tür wieder, beruhigte Danylo und nannte die Adresse ihres Hotels.

Der Portier war wenig erfreut, als er sie mit einem volltrunkenen Mann im Schlepptau ankommen sah, doch er schwieg. Schweißgebadet zerrte sie Danylo die Treppe hoch zu ihrem Zimmer in der zweiten Etage, lud ihn auf dem Bett ab und zog ihre Jacke aus. Danylo stöhnte laut vor sich hin. Plötzlich sprang er auf und hielt sich panisch die Hand vor den Mund. Sofia wies auf die Badezimmertür. Eine ganze Viertelstunde lang musste sie mit anhören, wie Danylo sich wieder und wieder übergab. Es ekelte sie.

Als er vom Bad zurückkam, sah er noch elender aus als vorher, doch seine Augen waren etwas klarer. Danylo setzte sich auf den Boden, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und zog die Knie an. Er sah sich um. »Wieso haben sie dich so schäbig untergebracht? Das ist kein Hotel, das ist eine Absteige, das hast du nicht verdient! Du solltest in einem Palast wohnen! In einem Palast mit flauschigen Orientteppichen und einem riesigen weichen Bett und einer riesigen Badewanne mit heißem Wasser und voller Schaum!« Danylo begann plötzlich wieder zu schluchzen. Er dachte an das Hotel, in dem er im März gewesen war. An die Nacht, die alles ausgelöst hatte. Das Zimmer war schön und groß gewesen. Mit einem dicken, nachtblauen, mit goldenen Ornamenten durchwirkten Teppichboden ausgelegt. Und erst das Badezimmer! Weißer und grauer Marmor. Eine übergroße Wanne. Der breite Waschtisch an drei Seiten verspiegelt. Flauschige, vorgewärmte Handtücher.

»Leg dich hin und schlaf«, befahl Sofia. »Du musst morgen fit sein. Wir müssen beide morgen fit sein.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht schlafen«, sagte er leise. »Ich glaube, ich kann nie wieder schlafen.«

Sofia sah ihn prüfend an. Er war anders heute. Wenn er sich sonst abschoss, begann er zuerst fröhlich die ganze Welt zu umarmen, und wenn die Welt sich schließlich gegen seine allzu aufdringliche Umarmung wehrte, fühlte er sich zurückgestoßen und wurde aggressiv. Heute war er anders. Verzweifelt. Fast ängstlich.

Sofia setzte sich neben ihn auf den Boden und legte einen Arm um ihn. Er stank nach Alkohol und Erbrochenem. »Was ist denn los, mein kleiner Dany? Erzähl’s mir!«

Er klammerte sich an sie wie ein Kind. Nun klang er auch so. »Wenn ich es dir erzähle, wirst du mich hassen!«

Sie strich ihm beruhigend über den Kopf. »Nein, werde ich nicht.«

»Doch, wirst du!«

Sofia schwieg und streichelte weiter.

»Zu Recht wirst du mich hassen! Weil ich Dreck bin, der letzte Dreck! Du weißt ja nicht, was ich getan habe!«

»Erzähl’s mir.«

»Ich habe einen Menschen umgebracht!« Er schrie es fast.

Sofia wurde bleich. Sie wollte nicht glauben, was sie hörte, Danylo neigte zu theatralischen Übertreibungen.

»Erzähl’s mir.«

Er stockte kurz, dann begann er wirr zu reden. Von dem Luxushotel. Von dem heißen Bad, das er dort nahm. Weißer und grauer Marmor. Von seinen nackten Füßen, die sich wohlig in den Teppich gruben, als er Wodka aus der Minibar trank. Von den Männern, die in sein Zimmer kamen. Von dem Preis, den er zahlen musste. Und jetzt war jemand tot.

Sofia hielt ihn ganz fest. Obwohl nur zwei Jahre jünger als sie, war er ihr kleiner Dany. Das war er schon immer gewesen, seit sie ihn zum ersten Mal getroffen hatte, damals, als er fünf war und sie sieben und sie im Schnee »Himmel und Hölle« gespielt hatten auf dem Schulhof in Moskau. Sie musste ihn beschützen. Vor der Hölle, in der er sich gerade befand. Sie hielt ihn, so fest sie konnte. Sie ahnte nicht, dass die Hölle, die auf sie selbst wartete, eine viel schlimmere sein würde.

 

3. April 2010
Hamburg.

Gleich am nächsten Morgen trafen sich Christian und Volker mit Martin George, dem Chefredakteur der Hamburger Morgenpost, in seinem Büro. George war erschüttert, als er den Grund des Besuchs erfuhr – der gewaltsame Tod seines Volontärs Henning Petersen.

»Bitte, setzen Sie sich doch. Also, ich muss mich zumindest setzen … Ich fasse es nicht … Haben Sie die Eltern schon benachrichtigt?«

Volker bejahte: »Ein Kollege aus Itzehoe hat das freundlicherweise übernommen.« Volker und Christian setzten sich George gegenüber.

»Wie furchtbar für sie …« Über Georges Gesicht huschte ein kleines Lächeln. »Als Henning sein Vorstellungsgespräch hier hatte, saßen beide draußen auf dem Flur und haben ihm die Daumen gedrückt. Es war Henning ungeheuer peinlich.«

»Was für ein Typ war Henning Petersen?«, wollte Christian wissen.

»Fleißig. Aufgeweckt. Ehrgeizig. Mit einem guten Gespür für Themen. Natürlich muss er … musste er noch viel lernen, aber aus ihm hätte ein guter Journalist werden können. Darf ich fragen, wie er getötet worden ist? Und ob Sie schon etwas über den Täter wissen?«

»Zum gegenwärtigen Zeitpunkt geben wir keine Informationen an die Presse heraus«, antwortete Christian.

»Ich frage nicht als Journalist. Mir geht Hennings Tod sehr nahe. Glauben Sie mir, ich mochte ihn gerne.«

Volker schaltete sich wieder ein. Wie immer fand er Christians Art der Gesprächsführung zu ungeschickt. »Sobald wir Ihnen Genaueres sagen können, was jetzt aus ermittlungstechnischen Gründen keinen Sinn macht, werden wir Sie benachrichtigen. War Henning auch bei seinen Kollegen beliebt? Wissen Sie etwas über Freunde, möglicherweise eine Freundin?«

»Privat hatte ich nichts mit ihm zu tun. Allein schon der Altersunterschied … Und ich war sein Chef. Aber alle hier mochten ihn. Er hat nie gemeckert, auch wenn er Arbeiten erledigen musste, auf die meine Redakteure keinen Bock haben. Er wollte lernen, hat alles in sich aufgesogen. Am besten hat ihn wohl Walter Ramsauer gekannt, unser Ressortleiter Entertainment. Henning hat ihn zum großen Vorbild erkoren und sich an ihn rangehängt. Ramsauer ist noch einer von der alten Schule, war früher sogar mal beim Spiegel.«

»Können wir Herrn Ramsauer bitte kurz sprechen?«

»Bedaure. Der ist für ein halbes Jahr in Elternzeit. Und soweit ich weiß, im Moment mit Frau und Kind verreist.«

George vergewisserte sich bei seiner Sekretärin, dass er recht hatte. Ramsauer war irgendwo in Österreich, bei seinen Eltern. Auf einer Alm, wo es nicht mal Handyempfang gab, wie Ramsauer vor seiner Abreise fröhlich verkündet hatte. Auch keiner der Kollegen wusste, wo genau Ramsauer herkam. Für sie war Österreich ein schwarzes Loch, das Mozartkugeln und Medienschaffende ausspuckte und ein paar passable Skipisten bot.

»Hatte Henning hier einen eigenen Arbeitsplatz?«, fragte Christian weiter.

»Natürlich. Unsere Volontäre schreiben, die sind nicht zum Kaffeekochen da.«

Volker erhob sich. »Ich würde mir gerne seine Dateien auf einen Stick kopieren, wenn das möglich ist.«

George rief seine Sekretärin, damit sie Volker zu Hennings Computer brachte.

»Gibt es ein Passwort?«, wollte Volker wissen.

George lächelte: »Wir sind eine Tageszeitung, keine Polizeibehörde. Bei uns braucht jeder jederzeit Zugang zu allem. Wir lüften Geheimnisse, wir hüten sie nicht.«

Volker ging mit der Sekretärin hinaus.

»Wissen Sie, an was Henning in letzter Zeit gearbeitet hat?«, fragte Christian.

»Leserbriefe beantworten, Kurzmeldungen aus den Stadtteilen … Warum fragen Sie?«

»Wir haben Grund zu der Annahme, dass er etwas wusste. Oder etwas gehört oder gesehen hat, was er nicht sollte. Sein Zimmer ist durchwühlt worden, der Laptop ist weg.«

Georges Aufmerksamkeit war geweckt, sicher auch aus beruflicher Neugier. Doch er bedauerte: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es etwas mit seiner Arbeit hier bei der Morgenpost zu tun haben kann. An investigativen Themen sind unsere Volos selten beteiligt.«

»Haben Sie denn zurzeit ein heißes Eisen im Feuer?«

»Ein brandheißes!« George grinste. »Eine fünfköpfige Bürger-Ini kämpft um eine alte Eiche, die wegen eines Bauprojekts gefällt werden soll.«

Christian erhob sich und reichte George die Hand. »Dennoch vielen Dank für Ihre Zeit.«

Auch George erhob sich: »Sie halten mich auf dem Laufenden?«

»Soweit das möglich ist.«

 

Appen.

Anna Maybach, Psychologie-Dozentin an der Hamburger Universität und Lebensgefährtin des Kommissars Christian Beyer, gab ihren Mantel an der Garderobe ab, strich sich die neue Bluse glatt und schaute ins Beiheft. Es standen Stücke für Klavier und Violine von Antonín Dvořák, Edvard Grieg und Anton Webern auf dem Programm. Anna freute sich auf das Konzert, sie bedauerte nur, dass Christian nicht hatte mitkommen können. Er steckte mitten im Fall des jungen, ermordeten Journalisten, und wie sie wusste, waren die ersten achtundvierzig Stunden häufig entscheidend für den Ermittlungserfolg. Aber Christian benutzte die Arbeit auch gern als willkommene Ausrede: Er war eher der Rolling-Stones-Typ, hörte zwar gelegentlich klassische Musik, verabscheute jedoch das steife Gebaren der Klassik-Konzert-Besucher mit ihren ernsten Mienen und verhaltenem Gehüstel.

Anna sah sich im Saal des Appener Bürgerhauses um. Er war schon fast komplett besetzt, sodass auch sie zügig auf ihren Platz ging. Die in schwarze Spitze gehüllte alte Dame neben ihr war in die Biografien der Künstler vertieft, die im Programm abgedruckt waren. Anna musste sie nicht lesen, sie hatte Sofia Suworow und Danylo Savchenko schon einmal zusammen spielen sehen und wusste einiges über die Musiker: Sofia Suworow war Mitte zwanzig und kam aus Moldawien. Sie und der etwas jüngere Savchenko hatten sich an der staatlichen Musikschule Moskau kennengelernt. Als Wunderkinder gefeiert waren sie früh international erfolgreich als Duo aufgetreten, spielten sogar vor dem Papst und gekrönten Häuptern. Als sie älter wurden und neue Wunderkinder nachwuchsen, war es etwas stiller um sie geworden. Beide gingen schließlich nach Deutschland, Suworow studierte Geige in Bremen, Savchenko Klavier in Hamburg. In die Weltspitze hatten sie es bislang nicht geschafft, aber seit ihren Abschlüssen konzertierten sie auf einem guten Niveau, meist als Solisten, häufig aber auch gemeinsam.

Anna sah auf die Uhr. Sie waren schon fünfzehn Minuten über die Zeit. Im Saal wurde leise mit den Füßen gescharrt und verhalten gehüstelt. Anna grinste in sich hinein: Unerhörte fünfzehn Minuten Verspätung bei den Klassikern entsprachen mindestens einer Stunde bei einem Rockkonzert. Bei den Stones jedoch würden nun vermutlich die ersten Bierflaschen auf die Bühne fliegen.

Ein Mann mittleren Alters betrat das Podium, auf dem bislang nur ein einsamer Flügel und ein leerer Klavierstuhl gewartet hatten. »Einen wunderschönen guten Abend, meine Damen und Herren. Mein Name ist Karl Jensen, ich bin der Künstlerische Leiter der ›Norddeutschen Musikabende‹ und heiße Sie herzlich willkommen zum zweiten Konzert in unserer diesjährigen Spielzeit.«

Kurzer Pflichtapplaus.

»Leider muss ich Ihnen eine kurzfristige Programmänderung mitteilen. Zu unserem allergrößten Bedauern kann Danylo Savchenko aus gesundheitlichen Gründen heute nicht auftreten. Statt das Konzert ausfallen zu lassen, hat sich Sofia Suworow freundlicherweise bereiterklärt, uns einen fantastischen Soloabend zu bereiten. Wer seine Karten zurückgeben will, kann dies selbstverständlich tun …« Jensen lächelte jovial. »Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, dass Connaisseure wie Sie auf die seltene Gelegenheit verzichten wollen, die Ausnahmegeigerin Sofia Suworow mit einem exzeptionellen Solo-Programm zu bewundern.« Jensen nahm einen Zettel und warf einen kurzen Blick darauf. »Sie spielt für uns die sechs Sonaten und Partiten von Johann Sebastian Bach sowie die Sonate für Violine opus 27 von Eugène Ysaÿe. Vielen Dank.«

Jensen ging unter verhaltenem Applaus ab. Nur ein Pärchen erhob sich und verließ den Raum, um die Karten zurückzugeben. Alle anderen blieben. Anna bedauerte Savchenkos Ausfall, denn er war nicht nur ein hervorragender Pianist, sondern sah auch noch verdammt gut aus mit seinen dunklen Augen und den schwarzen Locken, die ihm beim Allegretto in die Stirn fielen. Doch sie war über eine halbe Stunde aus Hamburg hergefahren, da wollte sie wenigstens die Suworow sehen. Außerdem mochte sie die Sonate von Ysaÿe.

Sofia Suworow betrat unter Applaus die Bühne und verbeugte sich. Die zierliche junge Frau trug ein nachtblaues Abendkleid im Empire-Stil. Ihre aschblonden, langen Haare hatte sie zu einem Knoten hochgesteckt. Sie nahm die Geige hoch, legte sich ihr Läppchen unter die linke Kinnhälfte, atmete tief durch und begann.

Sie spielte schlecht. Sie spielte geradezu erbärmlich. Unkonzentriert, technisch weit unter ihrem Niveau, von Ausdruck keine Spur. Im Saal wurde es unruhig, der Beifall geriet spärlich. Sie kam kein zweites Mal auf die Bühne zurück, um sich zu verbeugen. Der Saal war schnell geleert. An der Garderobe tuschelte und raunte das enttäuschte Publikum. Die meisten gingen nach Hause, einige wenige tranken noch ein Glas Sekt oder Orangensaft und ereiferten sich in Spekulationen.

Anna schlängelte sich auf dem Weg zur Garderobe zu dicht an wild gestikulierenden Kritikern vorbei und bekam dabei versehentlich ein Glas Orangensaft auf ihre neue Bluse gekippt. Die verantwortliche Frau entschuldigte sich vielmals und wollte Anna ihre Adresse für die Rechnung der Reinigung geben. Anna wiegelte ab und ging zur Damentoilette, wo sie kurzerhand den Fleck herauswusch und die Bluse unter den Händetrockner hielt. Draußen wurde es allmählich ruhig, auch die Letzten schienen sich nach ausgiebiger Tratscherei auf den Nachhauseweg gemacht zu haben.

Anna streifte ihre halbwegs trockene Bluse über, als sie etwas entfernt laute und aufgeregte Stimmen hörte. Sie öffnete die Tür des Waschraums und ging zurück auf den Flur. Nun waren die Stimmen deutlicher. Sie kamen aus der nur angelehnten Tür, die hinter den Bühnenraum führte. Eine Frau mit osteuropäischem Akzent schrie: »Wo ist er? Was habt ihr mit ihm gemacht?« Sie klang hysterisch.

Eine Männerstimme, die Anna als die Stimme von Karl Jensen identifizierte, antwortete: »Frau Suworow, ich bitte Sie! Was sollen wir mit ihm gemacht haben? Herr Savchenko sagt nicht ab, er taucht nicht auf, er meldet sich nicht … Die Geschädigten sind eindeutig wir! Und dann spielen Sie auch noch dermaßen unter Niveau, dass ich mich als Künstlerischer Leiter geradezu schämen …«

Jensens Beschwerde wurde unterbrochen von einem lauten Klatschen. Anscheinend hatte die Suworow ihm eine gescheuert. Jensen verlor nun ebenfalls die Beherrschung und begann zu schreien, doch außer wüsten Schimpfwörtern konnte Anna nichts mehr verstehen, denn ein Mann kam in den Flur, sah Anna abweisend an und schloss die Tür zum Bühnenaufgang mit einer deutlichen Geste.

Anna ging zur Garderobe, wo ihr Mantel einsam und von keiner Garderobiere mehr beaufsichtigt auf einem Haken hing. Sie nahm ihn und verließ das Gebäude.

Als sie nach Hause kam, schlief Christian schon. Anna kleidete sich aus und legte sich dazu. Was für ein blöder Abend, dachte sie. Es dauerte eine Weile, bis auch sie einschlief.

 

4. April 2010
Hamburg.

Christian stand um sieben Uhr auf. Anna lag im Tiefschlaf, er weckte sie nicht, duschte, nahm ein karges Frühstück im Stehen zu sich und ging ins Büro. Der Spaziergang vom Generalsviertel, wo er seit einigen Jahren mit Anna ihre kleine Stadtvilla bewohnte, entlang des Kaifu-Ufers bis zum Schanzenviertel tat ihm gut. Die klare frühmorgendliche Luft und die Monotonie des Schritt-vor-Schritt-Setzens halfen ihm, seine Gedanken zu sortieren. Der Mord an Henning Petersen warf bislang nur Rätsel auf. Die Art und Weise der Durchführung ähnelte Racheakten oder Strafaktionen aus dem Milieu krimineller Banden. Das Opfer jedoch passte nach bisherigen Erkenntnissen weder in das Umfeld, noch gab es eine ersichtliche Verbindung dazu. Sie waren noch weit von der Lösung entfernt.

Wie immer bei einem aktuellen Fall trafen sich die Mitglieder der Soko am Morgen zur Konferenz. Christian legte allergrößten Wert auf diese Gesprächsrunden, auch wenn es keine Neuigkeiten gab. Möglicherweise war einer von ihnen über Nacht auf eine Idee gekommen, hatte einen Aspekt gesehen oder eine Version entwickelt, die auf den ersten Blick absurd schien, vielleicht aber in eine neue Denkrichtung führte und irgendeinen Schleier lüftete.

Wie immer eröffnete er die Konferenz mit der Frage: »Was haben wir?« Während Yvonne frischen Kaffee einschenkte und Croissants für alle verteilte – außer für ihren speziellen Liebling Daniel, der bekam zwei frische Brötchen mit Metzgermarmelade, also Mett mit Zwiebeln – sortierten alle ihre Notizen.

»Eine Leiche, männlich, 27 Jahre. Name Henning Petersen. Wohnhaft in einer Zweier-WG in Ottensen. Beruf: Volontär bei der Hamburger Morgenpost«, begann Herd mit den bekannten Fakten.

Volker übernahm: »Todeszeitpunkt vorgestern zwischen 15 und 16 Uhr. Todesursache laut Karens Bericht der Kopfschuss. Kaliber 32, aus einer Entfernung von unter einem Meter abgefeuert. Zwei vor dem Tod abgetrennte Finger, vermutlich mit einer Art Gartenschere oder Bolzenschneider. Post mortem abgetrennte und zerteilte Zunge, gleiches Werkzeug. Das Opfer war zu Lebzeiten kerngesund, seinem Alter entsprechend. Keine Drogen nachweisbar. Keine an der Leiche ersichtlichen Kampfspuren. Das Opfer wurde entweder überrascht, war in Schockstarre, oder kannte den Täter.«

Karen Kretschmer, die den von Volker zitierten Bericht abgeliefert hatte, war eine Hamburger Rechtsmedizinerin, die seit Jahren mit der Soko zusammenarbeitete. Christian verließ sich absolut auf ihre Fachkenntnis und auf ihr Gespür für die physiologischen und psychologischen Besonderheiten von Tötungsarten, soweit sie sich am Körper des Opfers manifestierten. Im Gegensatz zu ihren Kollegen beschränkte sie ihre Arbeit nicht auf den Seziertisch, sondern kam, wenn es ihre Zeit zuließ, auch zum Tat- oder Fundort, um sich ein Bild von der Auffindesituation zu machen. Christian schätzte sowohl ihren anderen Blickwinkel als auch ihre schon fast beängstigende Intelligenz.

»Henning Petersen wurde in Itzehoe als einziger Sohn einer Arbeiterfamilie geboren.« Nun kam Daniels Part. »Grundschule, Gymnasium in Itzehoe, alles ohne Auffälligkeiten, es sei denn, man will ein Mal Autofahren mit 19 unter Drogeneinfluss, wir reden hier von Gras, als Auffälligkeit verbuchen. Wollen wir nicht. Gutes Abi, dann Zivildienst, dann Studium von Germanistik und BWL. Nach dem Studium Volontariat bei der Mopo. War bei Facebook, hat aber auch dort nur die übliche Langeweile verbreitet: Partyfotos, Bemerkungen über das Wetter, die Deutsche Bahn, den letzten Urlaub auf Malle und den letzten Rave in was weiß ich wo. Öder Scheiß. Auffallend ist nur, dass in seinem Freundeskreis fast nur Männer sind. Bekennende Schwule und solche, die es werden wollen. Meine Meinung.«

»Womit wir bei der Zeugenaussage von Petersens WG-Mitbewohner Sebastian Dierhagen wären.« Pete schaltete sich ein. »Nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte, habe ich noch mal mit ihm geredet. Das war höchst aufschlussreich. Daniels Einschätzung ist richtig. Unser Henning war schwul. Und bei Weitem nicht so brav und sanft und auf Job und Karriere fixiert, wie sein Chefredakteur und auch seine Eltern vermuten. Henning hat ganz schön rumgevögelt. Laut Dierhagens Aussage war er Stammgast bei ›GayRomeo‹, einem Internetportal für schwule Sexkontakte. Er hat sich die Lover ins Haus bestellt oder ist zu ihnen hin, das war ihm egal. Dierhagen war oft ganz schön genervt, weil andauernd fremde, nackte Männer am Morgen durch die Wohnung hüpften. Allerdings erzählt er, dass Petersen der Vielvögelei abschwören wollte, weil er sich verliebt hatte.« Pete machte eine kleine Kunstpause und genoss die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer.

»Willst du einen Orden für diese wertvolle Info, oder können wir weitermachen?«, fragte Christian.

»Leider geht es nicht viel weiter«, gestand Pete. »Das Objekt von Petersens obskurer Begierde bleibt weitgehend im Dunkeln. Dierhagen hat ihn nur ein einziges Mal in der WG gesehen. Groß, schlank, dunkelhaarig und mit einem osteuropäischen Akzent sprechend.«

»Wie lange ging das mit den beiden?«, wollte Christian wissen.

»Erst ein paar Wochen. Aber heftig. Dierhagen sagt aus, dass Petersen völlig von der Rolle war. Was immer das heißen mag. Jedenfalls hat er laut Dierhagen die ganze Zeit vom großen Durchbruch gelabert. Dierhagen wollte es so genau nicht wissen. Er hat wohl Angst gehabt, dass Petersen irgendwas Sexuelles meint. Die beiden, also Petersen und sein Lover, haben sich übrigens nicht über ›GayRomeo‹ kennengelernt, sondern in irgendeiner Hamburger Schwulenbar. Mehr wusste Dierhagen nicht.«

»Na toll«, stöhnte Herd. »Das heißt, wir touren die nächsten Tage durch Schwuckencountry!«

»Was dagegen?«, fragte Christian angekratzt. Seit er sich mühsam damit versöhnt hatte, dass sein erwachsener, in Los Angeles lebender Sohn schwul war, zeigte er sich empfindlich bei jeder Form von noch so versteckter Homophobie.

»Kein Problem, Chef«, antwortete Herd. Insgeheim wunderte er sich über Christians Sensibilität diesem Thema gegenüber, war Christian doch wahrlich nicht für Sensibilitäten irgendeiner Art berühmt. Aber Herd legte nicht jedes Wort auf die Goldwaage. Er kannte Christian seit Jahren und zuckte zu vielen Eigenheiten seines Chefs und Freundes nur mit den Schultern.

»Dann ist ja gut.« Christian hob die Sitzung auf.

 

5. April 2010
Bremen.