Inhalt

Einleitung

Die Polarität der Arbeit

Abriss der Entwicklung der Neuen Arbeit

Kapitel I

Der Zustand nach dem Kalten Krieg

Der Tod des Sozialismus

Die andere Kultur

Die Kopplung von Business und Arbeitsplätzen

Das Ableben der Linken

Die Selbstverstümmelung geht weiter

Kapitel II

Das Lohnarbeitssystem

Die Pathologie des Lohnarbeitssystems

Arbeit ist unendlich

Arbeitsplätze sind knapp

Erste Schritte in Richtung Neue Arbeit

Kapitel III

Arbeit, die wir wirklich, wirklich wollen

Das Projekt in Flint

Die Armut der Begierde

Finanzen, Gewerkschaft und Management

Zwei Beispiele

Unser zentrales Anliegen

Arbeit, die Menschen, die im Elend leben, wirklich, wirklich wollen

1. Gärten auf den Dächern

2. Stümpfe im Schnee

3. Stöhnen vor Neid

Kapitel IV

Die Wirtschaftsform der Neuen Arbeit

Das System der Produktion in kleinen Werkstätten

Das Neue-Arbeit-Autoprojekt

High-Tech-Eigen-Produktion in der Dritten Welt

Die Wende im Gebrauch von Computern

Der „Personal Fabricator“

Das Produktportfolio der Neuen Arbeit

Die festen Kosten

1. Das Telefon

2. Die Miete

3. Das Automobil

4. Die Gesundheit

5. Die Altersvorsorge

Die Medien

Die Konzerne

Die Struktur der Ökonomie der Neuen Arbeit

1. Arbeit

2. Neue Arbeit und die im Elend Lebenden

3. Die Leichtigkeit der High-Tech-Eigen-Produktion

4. High-Tech-Eigen-Produktion für die „Laptop-Menschen“

5. Die Kraft der weltweit gebündelten Ideen

6. Der Niagarafall der menschlichen Energie

7. Der Reichtum, den die Neue Arbeit erzeugt

8. Der Staat und die Steuern

9. Der schärfste Kontrast

High-Tech-Eigen-Produktion als materielle Grundlage des Lebens

Kapitel V

Das Finden der Arbeit, die wir wirklich, wirklich wollen

Möglichkeiten vorstellen

Experimentieren

Die Selbstunkenntnis

Zurück zu der einfachen Frage

Sich der Tatsache stellen, dass wir nur halb lebendig sind

Die Umkehrung

Kapitel VI

Das Leben und die Arbeit, die wir wirklich, wirklich wollen

Endlose Ferien am Strand

Die Feinschmecker-Phantasie

Der „Werde Unternehmer!“-Rummel

Arbeit, die wir wirklich, wirklich wollen, und Therapie

Die säkulare Welt und die Arbeit, die wir wirklich, wirklich wollen

Feminismus

Die große romantische Liebe

Eine Zusammenfassung

Literatur

Einleitung

Die Neue Arbeit hat nicht mit einem flüsternden Wind hoch in den Bäumen angefangen, sondern mit einem Paukenschlag. Sie begann nicht mit zögernden, kleinen Schritten, sondern mit einem originären Vorschlag, über den gleich zu Beginn sehr viel geschrieben, in Radio und Fernsehen berichtet und auch sehr viel gestritten wurde. Es geschah während der Rezession der frühen achtziger Jahre, zu einer Zeit, als in den Fabriken überraschend schnell auf beiden Seiten des Fließbandes Computer auftauchten. Der Ort war Flint, die Automobilstadt in den Vereinigten Staaten, die etwa dem entspricht, was Wolfsburg für Deutschland bedeutet. Es gab keine eindeutige Ankündigung, aber Gerüchte machten die Runde, die sich immer weiter hochschaukelten: Es würde Entlassungen geben in einer Größenordnung, die alles bisher Gekannte überträfen. Als Antwort darauf gründeten „wir“ (das war zu diesem Zeitpunkt eine zusammengewürfelte Gruppe sehr unterschiedlicher Freunde – einige kamen aus der Gewerkschaftsbewegung, andere aus dem Management, einer war Priester, einige waren Unternehmer, einer war der stellvertretende Bürgermeister der Stadt) das erste Zentrum für Neue Arbeit.

Ich hatte bereits zuvor über das Thema Arbeit geschrieben, unter anderem in meinem Buch Die Freiheit leben. Außerdem hatte ich eine zehnteilige Fernsehserie mit dem Titel Culture after the Elimination of Labor („Kultur nach der Abschaffung der Arbeit“) geschrieben, produziert und gesendet. Ich war also nicht ganz unvorbereitet, aber die Dinge entwickelten sich sehr viel schneller, als ich es erwartet hatte. Basierend auf dem, was wir über Flint wussten – und das war eine Menge, da die meisten Mitglieder des Zentrums den größten Teil ihres Lebens in der Automobilbranche tätig gewesen waren –, und einer Ansammlung noch unreifer Ideen, formulierten wir einen ersten Vorschlag.

An diesem Vorschlag entzündete sich zu unserer eigenen Überraschung eine lebhafte Debatte, nicht nur in Flint, sondern darüber hinaus in Detroit, in Michigan und in der gesamten Automobilindustrie. Es gab Presseberichte, Radio- und Fernsehinterviews, und fast jeder in der Stadt beteiligte sich an der Diskussion.

Der Kern unseres Vorschlags lautete: „Es gibt eine Alternative zur Massenentlassung der Arbeiter.“ Wenn es zu diesen Entlassungen käme, so sagten wir, „würde halb Flint arbeitslos werden, und die andere Hälfte würde erdrückend viele Überstunden machen müssen“. Die Alternative bestand darin, die arbeitende Bevölkerung von Flint nicht derart vertikal in zwei Teile zu spalten, sondern mit einem horizontalen Schnitt eine sehr viel sinnvollere Teilung vorzunehmen: „Selbst nach der Einführung der Computer wird es noch genug Arbeit geben, so dass alle Arbeiter sechs Monate im Jahr in den Fabriken arbeiten können.“

Das Wichtigste sollten unserer Ansicht nach jedoch die verbleibenden sechs Monate sein. In dieser Zeit sollten die Arbeiter nämlich nicht einfach zu Hause sitzen und warten. Vielmehr sollte das neu gegründete Zentrum für Neue Arbeit zum Zug kommen. Dieses Zentrum sollte zwei Aufgaben erfüllen: Zum einen wollten wir unser Bestes tun, um die Talente, die verborgenen Fähigkeiten und brachliegenden Fertigkeiten, aber auch die Wert- und Wunschvorstellungen der Arbeiter ans Licht zu bringen. Wir wollten herausfinden, welche Arbeit sie „wirklich, wirklich“ tun wollten – das war der Ausdruck, der, bevor wir uns versahen, zu unserem Markenzeichen wurde. Zum anderen wollten wir alle Anstrengungen unternehmen, damit sie in diesen sechs Monaten tatsächlich diese sinnvollere und erfüllendere Arbeit tun konnten und darüber hinaus mit dieser Arbeit auch noch ein substantielles Einkommen erzielen würden.

In den seither vergangenen 25 Jahren sind insgesamt etwa 30 Zentren für Neue Arbeit gegründet worden, und das nicht nur in den Vereinigten Staaten und Kanada, sondern auch in Europa (hier besonders in Deutschland) sowie in Asien und Afrika.

Vom ersten Tag an vertraten wir den Standpunkt, dass das Lohnarbeitssystem nur eine Weise ist, die Arbeit zu organisieren und zu strukturieren, und eine problematische noch dazu. Wir betonten, dass der größte Teil der Menschheit Tausende von Jahren nicht in einem Lohnarbeitsverhältnis, sondern auf Bauernhöfen gearbeitet hatte. Die besondere Form der Arbeit, die wir „Lohnarbeit“ nennen, ist erst so alt wie die industrielle Revolution, also ungefähr 200 Jahre. Schon als dieses System eingeführt wurde, gab es warnende Stimmen, die ihm keine gute Zukunft voraussagten. Heute krankt das Lohnarbeitssystem an vielfältigen und schweren Mängeln. Deshalb ist es an der Zeit, die Arbeit von Grund auf neu zu organisieren. Das Lohnarbeitssystem ist dabei, zu sterben, und das nächste System, die Neue Arbeit, muss aufgebaut werden.

Was ist die „Neue Arbeit“? Dieses Buch ist eine lange und komplexe Antwort auf diese Frage. Zur Einführung hier eine kurze Antwort: Zentral für die Neue Arbeit ist eine Umkehrung. Das lässt sich am einfachsten mit den Begriffen von Zweck und Mitteln ausdrücken. In der Vergangenheit war die zu erledigende Aufgabe in vielen Fällen das Ziel oder der Zweck. Der Mensch wurde von anderen, aber auch von sich selbst als Werkzeug benutzt, als Mittel zur Verwirklichung dieses Zwecks. Wir, die menschlichen Wesen, unterwarfen uns diesem. Wir stellten uns selbst in den Dienst der Arbeit, die getan werden musste.

Die Neue Arbeit ist eine nun schon mehr als 20 Jahre andauernde Bemühung, diesen Zustand umzukehren. Nicht wir sollten der Arbeit dienen, sondern die Arbeit sollte uns dienen. Die Arbeit, die wir leisten, sollte nicht all unsere Kräfte aufzehren und uns erschöpfen. Sie sollte uns stattdessen mehr Kraft und Energie verleihen, sie sollte uns bei unserer Entwicklung unterstützen, lebendigere, vollständigere, stärkere Menschen zu werden.

„Umkehrung“ ist im Grunde noch ein viel zu milder, zu blasser, zu farbloser Ausdruck. Wenn wir uns ansehen, wie die Arbeit in einem Bergwerk, an einem Fließband, in einer Küche, auf einem Bauernhof oder in einer Autowerkstatt aussieht, dann stellt sich die Frage, was die Arbeit in der Vergangenheit mit dem Menschen gemacht hat. Sie hat die Menschen verunstaltet, und zwar jede Art von Arbeit auf eine ihr entsprechende Weise: Die Arbeit führte zum Bergmann mit Staublunge, zum aus schierer Überarbeitung abgestumpften Bauern, zum in seiner gespielten Jovialität festgefahrenen Vertreter, zum Priester in einer Soutane aus Scheinheiligkeit – lassen Sie ruhig noch weitere Beispiele vor Ihrem geistigen Auge Revue passieren.

Sieht man sich an, welch enormen Raum die Arbeit im gesamten Leben eines Menschen einnimmt, dann wird deutlich, dass die Belastung und der Druck, unter dem die meisten Menschen unablässig standen, sie auf ähnliche Weise eingeengt haben wie die Bandagen, mit denen im alten China die Füße der Chinesinnen verkrüppelt wurden. Man umwickelte die Füße bereits in jungen Jahren mit angefeuchteten Stoffstreifen, die sich noch weiter zusammenzogen, wenn sie trockneten, weil „kleine“ Füße als besonders attraktiv galten. Über lange Jahre derart „stranguliert“, blieben die Füße so klein wie die Fäuste eines Babys. Diese eingeschnürten Füße sind für mich ein Symbol für das, was die Arbeit mit der Masse der Menschen gemacht hat: Sie hat sie verkrüppelt.

Im Herzen der Neuen Arbeit steht also der Gedanke, diesen Zustand nicht nur abzuschaffen, sondern den Prozeß umzukehren. Die Neue Arbeit ist nicht nur ein Versuch, den Menschen diese Bürde abzunehmen, indem man die Arbeit leichter macht und ihnen mehr Freizeit einräumt. Unsere Absicht ist eine ganz andere. In 20 Jahren sehr vielseitiger Erfahrungen mit dem Phänomen Arbeit haben wir gesehen, dass eine Arbeit, die guten Gebrauch von den Veranlagungen und Talenten der Menschen macht, eine Arbeit, die ihren tiefsten Wünschen entspricht und an die sie glauben, die sie als Herausforderung und Berufung empfinden, die Menschen nicht auslaugt, sondern das genaue Gegenteil tut: Sie gibt den Menschen mehr Energie, stärkt sie und hebt sie auf eine höhere Ebene. Statt sie zum verkrüppelten Fuß einer Chinesin zu machen, ist sie ihnen eine Hilfe auf dem aufsteigenden Pfad der Entwicklung zu einem kräftigen, lebensfrohen menschlichen Wesen. Das Ziel der Neuen Arbeit besteht nicht darin, die Menschen von der Arbeit zu befreien, sondern die Arbeit so zu transformieren, damit sie freie, selbstbestimmte, menschliche Wesen hervorbringt.

Mehr Vitalität und mehr Spannkraft sind in unserer gegenwärtigen Kultur sehr gefragt. Wir führen deshalb oft einschlägige Vergleiche an, manche mit einem Augenzwinkern. Wir behaupten, dass die Neue Arbeit den Menschen mehr Kraft gibt als Ginseng, Vitamin E, das Wachstumshormon STH oder irgendein anderes der Nahrungsergänzungsmittel, die Sie vielleicht schon ausprobiert haben. Eine Arbeit zu tun, deren Sie sich nicht schämen, sondern die Sie interessant und aufregend finden, macht Sie selbstbewusster als Dang Quo, Taiji oder Seminare in Selbstverteidigung. Einer unserer oft verwendeten Sprüche sagt, dass Sex schon sehr gut sein muss, wenn es dem Vergleich mit dieser Art von Arbeit standhalten will. (Fragen Sie einmal jemanden, der die Situation kennt, allein im Bett auf einen Menschen zu warten, der gerade mit einer Arbeit beschäftigt ist, die er leidenschaftlich gern tut!)

Wir glauben, dass jeder dieser Vergleiche ganz buchstäblich wahr ist. Das können Sie selbst testen, beobachten und sehen. Doch gibt es in unserer Kultur eine tief verwurzelte Tradition, die uns daran hindert, Arbeit als etwas Köstliches und sogar Wunderbares anzusehen. In der Tat erfahren viele Menschen ihre Arbeit als eine Art milde Krankheit. Sie ist nicht so schlimm wie Krebs oder Hepatitis, eher so wie eine Erkältung. Diese Analogie ist tatsächlich sehr treffend: Über eine Erkältung sagt man, dass sie in zwei Tagen vorübergeht. Im Falle der Arbeit sagen wir: Es ist schon Mittwoch; bis Freitag halten wir das schon noch aus.

Weil es diese Tradition gibt und diese Art zu denken und zu reden so vorherrschend und tief eingeprägt ist, tun wir, das heißt die „Associates“ der Neuen Arbeit, alles nur Mögliche, um immer wieder die Polarität der Arbeit zu betonen. (Wir gebrauchen den Ausdruck Associates, weil wir die Bezeichnung Mitarbeiter, Partner oder gar Mitglieder für unpassend halten. Associates sind alle die, die in dem weit verbreiteten Netzwerk der Neuen Arbeit an ihrer weiteren Entwicklung beteiligt sind.)

Die Polarität der Arbeit

Mit diesem Begriff meinen wir zum einen, dass sehr viel Arbeit alles andere ist als eine nur milde Krankheit. Wie gesagt ist Arbeit oft eine den Menschen verkrüppelnde Krankheit. Und natürlich kann sie Menschen auch umbringen – ich denke dabei nicht nur an die berüchtigten Unfälle in Kohlenbergwerken oder auf See, sondern auch an die vielen Soldaten und Offiziere, die in den verschiedensten Armeen auf der Welt ihre Arbeit machen. Sie werden dafür eingestellt und bezahlt, und wenn man jene, die bei dieser Arbeit getötet werden, hinzuzählt, dann wäre die Zahl der Todesopfer, welche die Arbeit verursacht hat, nicht länger überschaubar.

Diese Tatsachen werden meist verschwiegen, weil man uns beigebracht hat, dass Arbeit immer ehrenwert ist, dass Faulheit eine Sünde ist und dass Menschen, die sich weigern zu arbeiten, verachtenswert sind. Und das, weil selbst die einfachste und niedrigste Arbeit auf magische Weise gut und ehrenwert wird, wenn man sie nur mit genügend Disziplin und Sorgfalt ausübt. Was für eine unglaubliche, zauberhafte Verwandlung! Sie geht weit hinaus über die Träume der Alchemisten, die ja nur aus Blei Gold machen wollten. Für jeden Chef und Vorgesetzten ist dies natürlich der beste Mythos, den er sich wünschen kann! Was könnte jemand, der Sklaven beaufsichtigt, die Eisenerz schleppen, weben oder Baumwolle pflücken, sich Besseres erträumen? Und die Ausgebeuteten und Schuftenden glauben ihre ehrenvolle Pflicht zu erfüllen.

Für die Neue Arbeit ist der andere Pol jedoch noch wichtiger. Wir haben bereits gesagt, dass Arbeit, welche die Menschen fasziniert und mitreißt, Arbeit, die sie lieben und der sie sich hingeben können, mehr Kräfte in den Menschen entfesselt, als sie zu besitzen glaubten. Diese Tatsache ist für die Neue Arbeit von solch großer Bedeutung, dass wir gern einige besonders eindrucksvolle Beispiele anführen. Sie sind für uns so etwas wie Leuchttürme, die uns den Kurs halten helfen, wenn wir Gefahr laufen, uns zu verirren.

Das erste Beispiel ist eine Begebenheit, die oft in Psychologielehrbüchern erwähnt wird. Eine Frau kommt aus einem Geschäft. Sie schaut hinüber zum Parkplatz, wo sie ihr Auto geparkt hat, einen altmodischen VW „Käfer“. Auf den ersten Blick erfasst sie zu ihrem Entsetzen, dass ihr fünfjähriger Sohn unter dem Auto liegt, das aus irgendeinem Grund nach vorn gerollt sein muss und ihr Kind überfahren hat. Das liegt jetzt unter einem Rad, mit der enormen Last des Wagens auf seiner Brust. Ohne einen Augenblick zu zögern, läuft sie hinüber, greift auf einer Seite mit beiden Händen unter das Auto, hebt es an und rettet so ihren Sohn. Der Bericht über diese Begebenheit betont auch, dass sie sich dabei weder das Kreuz verhoben noch sonst irgendwie verletzt hat.

Der wesentliche Punkt dieser Geschichte ist, wie ich glaube, ziemlich klar. Stünde man mit der Frau, deren Sohn sicher zu Hause spielt, auf einem Parkplatz und forderte sie auf: „Gehen Sie doch mal zu Ihrem Wagen rüber und heben Sie ihn hoch!“, dann wäre das nichts weiter als ein schlechter Scherz. Selbst wenn die Frau es versuchen würde, könnte sie den Wagen wahrscheinlich nicht einen Zentimeter hochheben. Es ist also der Kontext, der entscheidend ist. Der Kontext ist in diesem Fall die Situation, zu der sie selbst, ihr Sohn und das Auto gehören. Sie sind miteinander verknüpft, es ist plötzlich eine ganz bestimmte Verbindung zwischen ihnen entstanden. Man könnte auch sagen, dass die Lebensgefahr, in der ihr Sohn schwebt, sie unter enormen Druck stellt; das Ganze ist wie ein Kraftfeld, das sie umgibt. Dieses Kraftfeld bringt Kräfte in ihr zum Vorschein, die sie „normalerweise“ nicht besitzt. Deshalb vermag sie in dieser Situation etwas zu leisten, das wirklich außergewöhnlich und erstaunlich ist.

Nun werden viele von uns, wie ich glaube, mir zustimmen, dass dieser Fall zwar besonders spektakulär ist, es aber dennoch zahlreiche andere Fälle gibt, die sich in ihrer Grundstruktur ähneln. So gibt es fast in jeder Sportart legendäre Beispiele für derartige Begebenheiten. Das Wichtige für die Neue Arbeit ist, dass im Bereich der Arbeit so etwas ebenfalls geschehen kann. Etwas stellt sich als schwieriger heraus, als wir zuerst dachten. Aber wir sind engagiert; es ist uns wichtig. Die Situation ist vielleicht nicht so dramatisch wie im Fall mit der Mutter und dem Sohn unter dem Auto, aber wir finden uns darin dennoch in einem ganz besonderen Kraftfeld. Wir werden Teil einer größeren Situation, und diese Situation bringt unerkannte Energien in uns zum Vorschein.

Wenn man mich persönlich auffordert, das, was ich unter Arbeit verstehe, in ein oder zwei Sätzen zu formulieren, so lehne ich das stets strikt und entschieden ab. Solche Formel-Definitionen sind zwar schillernd, aber doch nur Seifenblasen. Ich antworte trotzdem oft auf die Frage, dann aber ausführlicher, indem ich sage, dass ich mich gegen die traditionelle moderate und lauwarme Sicht der Arbeit verwahre, und die Arbeit meiner Ansicht nach eher einem von zwei Extremen entspricht: Arbeit kann uns verunstalten, oft sogar umbringen, aber es gibt auch eine außerordentliche Art von Arbeit, die uns mehr Energie schenkt, als wir zuvor besaßen. Manchmal führe ich das noch weiter aus und füge hinzu, dass es ein integraler Bestandteil solcher Situationen ist, dass wir nicht im Voraus wissen, wie viel Energie wir wirklich besitzen. Das kann uns selbst überraschen, und oft nicht nur einmal, sondern einige Male hintereinander. Die Anforderungen wachsen, und wir haben mehr Energie als geglaubt. Dann wird die Latte noch höher gelegt, und zu unserer eigenen Überraschung können wir bei der nächsten Runde sogar noch mehr Energie mobilisieren.

Die Tatsache, dass Arbeit die seltene Fähigkeit besitzt, uns lebendiger zu machen, und uns deshalb von einer Ebene auf die nächste heben kann, nennen wir in den Neue-Arbeit-Gruppen oft den „Zug“ der Arbeit. Damit wollen wir sagen, dass Arbeit tatsächlich so etwas sein kann wie ein Seil, das uns nach oben zieht – etwa so wie bei einer Rettung aus Hochwasser oder wie beim Bergsteigen.

Diese physisch sehr wohl wahrnehmbare Zunahme der Energie durch die Arbeit spielt eine große Rolle, wenn Menschen die „Pensionierung“ erleben. Zu diesem Thema wurde sehr viel geforscht. Studiert man das gesammelte Material, kommen erstaunliche Fakten zum Vorschein. Sehr viele Menschen sind gänzlich von ihrer Arbeit abhängig. Sobald ihnen ihre Arbeit genommen wird, sind sie wie Marionetten, deren Fäden durchgeschnitten wurden, so dass sie zu einem kläglichen Häufchen zusammensacken.

Erfahrungen dieser Art habe ich auch viele Male mit Jugendlichen aus den Innenstädten gemacht. Wenn diese Jugendlichen eine Arbeit leisten können, die sie wirklich tun möchten, so führt das zu erstaunlichen körperlichen Veränderungen: Sie gehen anders, ihre ganze Haltung und ihr Gesichtsausdruck machen sie zu völlig neuen, anderen Menschen. Die Geistlichen, mit deren Kirchen ich in einigen Projekten zusammenarbeitete, übersetzten dies in eine religiöse Sprache: Sie sagten, die Tatsache, dass diese Jugendlichen tun konnten, was sie wirklich, wirklich tun wollten, habe bei ihnen zu einer Art Wiederauferstehung geführt. Das war ein großes Wort, aber es war nicht unangemessen. Es brachte die Leben schenkende und das Leben erneuernde Kraft zum Ausdruck, die eine solche Arbeit oftmals hat.

Ich möchte Ihnen ein zweites Beispiel geben, diesmal von den Ufern des Mississippi. Vor einigen Jahren stieg dort der Wasserspiegel im Frühjahr über jeden bisherigen Pegelstand, und der Wetterbericht sagte noch mehr Regen und zusätzliches Wasser durch die Schneeschmelze voraus. Nachdem die üblichen Maßnahmen ausgeschöpft waren, erging ein Aufruf an alle Bürger, zum Fluss zu kommen und beim Bau von Deichen zu helfen. Wie bei allen ähnlichen Fällen verfolgte das ganze Land die Fernsehberichterstattung. Was mich besonders beeindruckte, war der Gesichtsausdruck der Menschen, die die Sandsäcke schleppten. Ich erinnerte mich daran, dass Dostojewski über seine Zeit in den Lagern geschrieben hatte, man könne einen Menschen zur Verzweiflung und in den Nihilismus treiben, wenn man ihn zwinge, Sand zu schleppen, erst von hier nach dort und dann wieder von dort nach hier, an genau denselben Ort, und dann wieder nach dort. Hier im Fernsehen sah ich ein ganz anderes Bild: Ja, die Menschen schleppten Sand, aber sie verteidigten ihre eigenen Dörfer! Das Ganze war ein heroischer Kampf. Sie nahmen es mit dem Mississippi auf! Ihre Gesichter zeigten es unmissverständlich: Seit Jahren hatten sie nicht mehr etwas so Sinnvolles, so Leben Gebendes getan. Allein die Erinnerung daran würde ihnen noch Kraft geben, wenn sie viele Jahre später, im Alter, von diesem Erlebnis erzählten.

Dieses Beispiel zeigt wiederum, dass der Kontext, der Zweck, der Sinn entscheidend sind, wenn es um die Bestimmung der Qualität einer Arbeit geht. Eine physische Aktivität kann sich ständig wiederholen und, wie am Ufer des Mississippi, äußerst mühsam sein. Entscheidend ist, dass das, was man tut, einen Zweck und einen Sinn hat und man ein Ziel damit verfolgt. Diese Umstände bestimmen den Kern, das eigentliche Wesen, die Bedeutung, die eine Arbeit hat.

Wir alle kennen Menschen, die weit über 80 Jahre alt sind und die noch immer eine ungemein erstaunliche Vitalität, Energie und Kraft besitzen. Solch ein Mensch war Martha Graham, aber auch Linus Pauling, Arturo Toscanini und Albert Einstein gehörten dazu. Man erinnert sich besonders an Einsteins Foto, auf dem er auf einem Kinderdreirad fährt und die Zunge herausstreckt wie ein Sechsjähriger.

Ein Teil dieser Vitalität ist zweifellos genetisch bedingt, aber ein Teil ist sicherlich auch der Arbeit zu verdanken, die diese Menschen tun. Sie sind lebendige Beispiele für die Idee, die wir mit der Geschichte der Mutter, die das Auto stemmt, um ihren Sohn zu befreien, und den Dorfbewohnern im Kampf mit dem Mississippi vermitteln wollten. Ihre Arbeit schenkt ihnen Energie und zieht sie mit einer ungeheueren Kraft nach oben. Ihre Arbeit hat das über lange Zeit getan; es gab gelegentliche Pausen, aber dann setzte der Zug nach oben mit voller Kraft wieder ein. Das Resultat ist diese erstaunliche Vitalität, die Lebensfülle, von der wir gesprochen haben. Wir sollten dabei eines nicht übersehen: An diese Menschen erinnern wir uns, weil sie weltberühmt sind. Doch es gibt auch viele Namenlose mit vergleichbarer Vitalität. Ich habe einmal eine Zeit lang die Auswirkungen von Arbeit auf die Energie älterer Menschen untersucht. In diesem Zusammenhang bin ich Hunderten von Menschen begegnet, auf die Arbeit eine ähnliche Wirkung gehabt hatte. Sie waren erstaunlich lebendiger als ihre Altersgenossen, weil ihre Arbeit ihnen mit jedem Tun einen Löffel Lebenselixier einflößte.

Wir haben diese faszinierende, den Menschen aufbauende Kraft über 20 Jahre in verschiedenen Projekten der Neuen Arbeit erkundet, getestet und uns zunutze gemacht. Die Projekte, in denen wir das taten, erstreckten sich von einigen der größten und namhaftesten internationalen Konzerne bis hin zu einer Hand voll Dauerarbeitslose oder Obdachlose. Diese Spannweite war uns wichtig und wir sind stolz darauf. Im Verlauf des Buches werden wir Ihnen die Höhepunkte dieser Arbeit vorstellen und Ihnen mehr berichten über Zentren der Neuen Arbeit, die direkt mit Mega-Konzernen verbunden waren, aber auch über andere Projekte, in denen etwa Jugendliche von der Straße auf den Dächern von Hochhäusern in Vancouver Gärten anlegten, über ein Projekt, in dem Jugendliche in einem Hochsicherheitsgefängnis Motorräder zusammengebauten, und natürlich über viele andere Projekte, die auf konventionellere Weise mit Regierungsbeamten, Managern mittleren Alters, Rentnern, Depressiven, Schulen, Universitäten, Städten oder Regionen arbeiteten.

Die Vielfalt unserer Bemühungen stellt in unseren Augen einen Beweis, eine Demonstration dar. Im Laufe der Jahre sind wir zu der Überzeugung gelangt, dass wir zumindest nahe an einen vielversprechenden und Hoffnung machenden Weg herangekommen sind, und dafür gab es vor allem einen Grund: Wir konnten in jedem unserer Projekte beobachten, dass wir den Menschen nicht nur „Verbesserungen“ brachten und selbst im Falle der Elendsten der Elenden nicht nur Nahrung, Kleidung und Unterkunft zugänglich machen konnten. Wir verteilten keineswegs nur Almosen und schufen das, was wir selbst mit böser Zunge „Comfort Stations“ nannten, also Situationen, in denen sich die Menschen auf der sicheren, ja bequemen Seite wähnten. Nein, was die Menschen wirklich aufbaute, nicht nur materiell, sondern als menschliche Wesen, das war die Möglichkeit, eine Arbeit zu leisten, die sie schätzten, die sie interessant fanden und auf die sie stolz sein konnten. Es hob ihre Stimmung, gab ihnen Kraft, machte sie mutiger und ganz erstaunlich lebendiger.

Wir haben uns selbst bewiesen, dass sehr viele von denen, die im tiefsten Elend leben, diese Aufwärtsbewegung, diesen Aufstieg durch solche Arbeit „aus eigener Kraft“ angehen und verwirklichen können. Aber wir erlebten auch, und das war uns nicht weniger wichtig, dass auch mit Menschen, die in Bequemlichkeit, Wohlstand und Fülle lebten, dasselbe geschehen kann. Auch sie wurden stärker, fröhlicher und lebensvoller. Es war diese Breite, diese Annäherung an etwas, das Allgemeingültigkeit zu besitzen scheint, was uns Hoffnung gab und uns schließlich dazu brachte, eines der Ziele unserer Bemühungen zu formulieren: Es geht uns um die Schaffung einer Gesellschaft und Kultur, in der wirklich jeder, Mann oder Frau, die Chance bekommt, einen beträchtlichen Teil seiner Zeit mit einer Arbeit zu verbringen, die er oder sie erfüllend und faszinierend findet und die die Menschen aufbaut und ihnen mehr Kraft und mehr Vitalität gibt.

Dies möglich zu machen würde sehr viel mehr erreichen, als nur die Stimmung der Menschen zu heben und ihre Energie zu vermehren. Führungspersönlichkeiten aus dem Management waren von Anfang an von der Neuen Arbeit fasziniert, weil sie darin die Möglichkeit sahen, zwei Aspekte zu optimieren. Dass es gut für die Arbeiter sein würde, ihnen zu ermöglichen, eine Arbeit zu leisten, die sie ernsthaft tun möchten, war aus ihrer Sicht selbstverständlich und geradezu eine Binsenweisheit. Was sie mehr interessierte, war die andere Seite der Medaille, nämlich dass das auch für die Produktivität und damit für ihre Gewinne das Beste sein würde. Diese doppelte Optimierung war aus unserer Sicht von großer Wichtigkeit, denn sie bedeutet, dass eine Gruppe von Firmen, eine Stadt oder eine Region, welche die Neue Arbeit in größerem Maßstab einführt, sich sehr viel schneller entwickeln würde.

Es gab eine weitere und damit verbundene Dimension, die unserer Ansicht nach ebenfalls großes Gewicht hatte: Sie besteht in der Gesamtsumme dessen, was durch die verschiedenen „Zielsetzungen“ und „Berufungen“, die im Rahmen einer Gruppe zum Zuge kommen, erreicht wird. Wenn man Menschen fragt, was sie wirklich, wirklich tun möchten, stellt sich heraus, dass nicht sehr viele von ihnen Symphonien oder Gedichte schreiben wollen. Viele sagen, dass sie vor allem „etwas verändern“, einer Sache „ein anderes Gesicht geben“ wollen; sie wollen „etwas Sinnvolles tun“, und das ist oft nur eine andere Art zu sagen, dass sie etwas tun wollen, was anderen Menschen hilfreich ist.

Eine funktionierende Neue-Arbeit-Wirtschaft hätte deshalb zwei Vorteile: Wenn viele Menschen etwas tun könnten, was sie ernsthaft tun möchten, dann gäbe es in der Arbeitswelt sehr viel mehr Freude und Fröhlichkeit. Gleichzeitig gäbe es aber auch sehr viel mehr Kreativität und Erfindungsreichtum. Wir glauben, dass die Veränderung, die dadurch herbeigeführt werden könnte, so beträchtlich wäre, dass wir manchmal vom „Kraftstrom der Neuen Arbeit“ sprechen. Auch für den zweiten Vorteil haben wir einen Namen; halb im Scherz nennen wir ihn den „Niagarafall der Neuen-Arbeits-Energie“. Eine Gesellschaft, in der ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung einer „sinnvollen Beschäftigung“ nachgehen könnte, hätte Energieressourcen zur Verfügung, die wir gern mit dem Energiepotential dieser Wasserfälle vergleichen.

Abriss der Entwicklung der Neuen Arbeit

Trotz hoffnungsfroher und vielversprechender Anzeichen waren wir schon vor Beginn des frühen Projekts in Flint davon überzeugt, dass die Betonung des „Wirklich-wirklich-Wollens“ oder der „Berufung“ in der Neuen Arbeit an sich noch nicht ausreichen würde. Um den Wohlstand, aber auch die Fülle der Arbeit, die uns erstrebenswert schien, bereitstellen zu können – und wir glauben, dass Arbeit im Prinzip ganz buchstäblich un-endlich ist (wie das ja beispielhaft an der Arbeit einer Hausfrau oder eines Bauern deutlich wird) –, mussten wir noch etwas ganz anderes entwickeln: eine zweite, zusätzliche Art der Neuen Arbeit. Dem lag die Überlegung zugrunde, dass das Lohnarbeitssystem, unsere gegenwärtige Weise, die Arbeit zu organisieren, heute an solch gravierenden und lähmenden Mängeln leidet, dass es wohl nicht nur einer, sondern zweier Arten der Neuen Arbeit bedarf, um ein praktikables System der Neuen Arbeit für das 21. Jahrhundert zu schaffen.

Diese andere Art der Arbeit lässt sich am besten durch ein kurzes Beispiel aus meiner persönlichen Erfahrung erklären. Nachdem ich ein Jahr lang in Princeton Philosophie gelehrt hatte, habe ich in den Wäldern von New Hampshire gelebt. In der Nachfolge von Henry David Thoreau war ich entschlossen, nur das zu essen, was ich selbst angebaut hatte. Mais, Kohl, Kartoffeln und 20 andere Gemüse anzubauen war kein Problem. Das Problem waren die strengen Winter in New Hampshire. Ich besaß mit Absicht keine Ketten- oder Motorsäge, und deshalb verbrachte ich schließlich sehr viel Zeit damit, Stapel von Holz mit einer kleinen Bogensäge zu schneiden. Im April nach dem zweiten Winter kam ich zu dem Schluss, dass dies nicht etwa Freiheit, sondern eher Sklaverei ist. Ich verließ die Wälder wieder, aber aus dieser Erfahrung entwickelte sich ein umfangreiches Projekt, das ich seither verfolge.

Ich nenne es die „High-Tech-Eigen-Produktion“, der Kürze halber auch als HTEP bezeichnet. Sie basiert im Wesentlichen auf der Idee, unsere brillanten Technologien nicht nur dazu zu benutzen, aus unseren Flüssen Kloaken oder aus unserem Regen Säure zu machen, sondern auch noch für etwas ganz anderes. Wir könnten eine Reihe von Geräten, Apparaten, Materialien, Maschinen und Herstellungsarten entwickeln, die es uns oder einer nicht sehr großen Gruppe von Menschen ermöglichen würden, 60 bis 80 Prozent von dem, was wir zum Leben brauchen, selbst herzustellen. Dann könnten wir das fabelhafte, unabhängige Leben führen, von dem ich einen Vorgeschmack erhalten habe – ohne im Schweiße unseres Angesichts mit einer Bogensäge Holz schneiden zu müssen.

Die Idee der High-Tech-Eigen-Produktion brachten wir in all die verschiedenen Projekte ein, die wir seither initiiert haben, auch in das in Flint, und die Idee stieß überall auf enthusiastische Zustimmung. Die Menschen verstanden sofort, dass dies enorme materielle Vorteile haben und darüber hinaus ein aufregendes und großartiges Experimentierfeld darstellen würde, auf dem sie herausfinden könnten, welche Arbeit sie wirklich, wirklich leisten wollten. Wäre man von seiner frühen Kindheit an daran beteiligt, eine große Vielfalt von Gütern herzustellen, und entwickelte man auf diese Weise die Gewohnheit, sich praktisch jeden Morgen neu zu entscheiden, welches spezifische Ding man an diesem Tag herstellen möchte, dann würde das die Fähigkeit in uns entwickeln, die uns ganz entschieden fehlt. Was ich meine, ist – etwas provokativ und merkwürdig formuliert – die Fähigkeit, uns zu fragen, welcher von 500 mir offen stehenden Aktivitäten ich mich heute widmen möchte. Bei dem Leben, das wir gegenwärtig führen, wissen wir bereits in dem Moment, in dem wir am Morgen die Augen aufschlagen, was wir an diesem Tag tun müssen. Viele von uns machen sich in der Tat morgens zuerst einmal eine Liste der zu erledigenden Dinge. Hier würde die High-Tech-Eigen-Produktion uns darin unterstützen, uns in kleinem Rahmen jeden Tag erneut die Frage zu stellen, die ganz im Zentrum eines Lebens der Neuen Arbeit steht, nämlich: Wie möchte ich an diesem heutigen Morgen meine Arbeit und mein Leben in Ernst und vollem Bewusstsein gestalten?

Jedem der an den verschiedenen Projekten Beteiligten war klar, dass die ökonomische Freiheit, welche die High-Tech-Eigen-Produktion uns ermöglicht, auf lange Sicht eine unerlässliche Voraussetzung dafür ist, tatsächlich das tun zu können, was man wirklich, wirklich will. Das ist ohne den durch die HTEP erreichbaren Grad an materieller Unabhängigkeit nämlich nicht möglich. Wo diese nicht gegeben ist, wird der Druck der „Realität“ – oder dessen, was Bertolt Brecht „die Verhältnisse“ nannte – uns zu beschämenden Kompromissen zwingen.

Ich sagte, dass praktisch jedermann, der mit der Neuen Arbeit zu tun hatte, mit der Idee der HTEP einverstanden war. Deren Durchführung, die Praxis, war indes zwei Paar Stiefel. Widerstand gegen die Idee gab es nie, das Problem war ihre praktische Realisierbarkeit. Die Vision, Technologien zu entwickeln, die es einer kleinen Gruppe von Menschen erlauben würde, das, was sie selbst brauchte, in ihrer eigenen unmittelbaren Umgebung auch selbst herzustellen, war – inspirierend. Das stand außer Frage. Nur: Wo sind die Werkzeuge, die Maschinen und Apparate, die Herstellungsmethoden, die uns in die Lage versetzen, das zu tun?

Rückblickend lässt sich sagen, dass der Fortschritt auf diesem Gebiet während der ersten 20 Jahre der Neuen Arbeit zugegebenermaßen langsam war. Zu dem großen Sprung vorwärts kam es erst in den letzten acht Jahren. Natürlich begannen wir, wie praktisch jedermann, der an Selbstversorgung denkt, zuerst einmal mit dem Gartenbau. Allerdings möchte ich betonen, dass wir das überhaupt nicht wie „praktisch jedermann“ angingen. Wir benutzten vielmehr die fortschrittlichsten und am weitesten entwickelten Methoden der Permakultur, des Gartenbaus in Containern, und wir bauten in unseren Gewächshäusern sogar die exotischsten Nahrungsmittel an, bis hin zu Tee und Kaffee. Mit einem ironischen Unterton können wir von uns behaupten, dass wir selbst beim Anbau von Kohl und Tomaten „High-Tech“ waren.

Wir hatten auch gute Erfolge beim Hausbau: Während unserer langen Reise stolperten wir über eine Reihe verschiedener Bausysteme, die es Menschen ohne spezielle Fertigkeiten und Erfahrungen möglich machen, sich selbst ein Haus zu bauen. Eines dieser Systeme war eine spezielle Methode zur Errichtung von Kuppelbauten. Auf unserer Website findet sich an exponierter Stelle ein Foto eines solchen Kuppelhauses, denn es wurde zu einem der Embleme der Neuen Arbeit, einem unserer „Markenzeichen“: Zum einen, weil der Anblick dieser Kuppel schlichtweg beeindruckend ist, zum anderen, weil auch die Methode der Herstellung zur Neuen Arbeit passt. Man nimmt eine sehr reißfeste, etwa einen halben Zentimeter dicke „Haut“, die so zugeschnitten ist, dass sie die Form einer Kuppel hat, und bläst diese zu einem großen Ballon auf. Dann sprüht man entweder dünnen Leichtzement oder eine Lehmmischung auf dessen Oberfläche. Dann braucht man nur noch zu warten. Es dauert zwei bis vier Tage, bis die Kuppel getrocknet ist. Wenn es so weit ist, zieht man einfach nach Kinderart den Korken aus dem Ballon. Die Luft strömt heraus, der Ballon fällt zusammen, die Kuppel bleibt stehen, und man zieht die Haut zur Vordertür hinaus. Was diese Methode zu einer typischen Neue-Arbeit-Methode macht, sind die Einfachheit, die Intelligenz, die Ausschaltung unnötiger abstumpfender Arbeit und der dazu gehörende humorvolle Unterton.

Wir initiierten eine ganze Palette weiterer Projekte. Bei einigen davon wurden Computer benutzt, um Aufgaben zu erledigen, die Menschen, die ins Elend geraten sind, oft Schwierigkeiten bereiten – etwa das Vereinbaren eines Termins mit einem Sozialarbeiter oder einem Arzt –, aber die Erfahrungen mit der High-Tech-Eigen-Produktion blieben insgesamt eher entmutigend und schwer greifbar. Wir wollten jedoch nicht dilettantisch herumspielen, sondern mit entschlossenem Wagemut ein ernsthaftes wirtschaftliches Interesse umsetzen. Entscheidend war für uns die Reduzierung der Abhängigkeit von der Lohnarbeit, das Ausbrechen aus dieser Knechtschaft. Wir wollten hier eine Ebene erreichen, die in dieser Hinsicht eine deutliche Veränderung zeigt, die es einem Menschen also erlaubt, seine Lohnarbeit um ein Drittel oder die Hälfte zu reduzieren, indem er sie auf angenehme Weise mit einer selbstversorgenden oder eigenproduzierenden Arbeit ausbalanciert. In den ersten 20 Jahren machten wir dazu hier und dort Fortschritte, aber im Großen und Ganzen erreichten wir dieses Ziel nicht.

Das war der Stand bis zur zweiten Hälfte der neunziger Jahre. An diesem Punkt erhielten wir immer mehr und immer dringlichere Einladungen aus fernen Ländern, oft Ländern der Dritten Welt. Zuerst aus Indien, Russland und der Ukraine, bald danach von Haiti und einigen anderen pazifischen Inseln, dann aus China und Japan und in den letzten Jahren aus Marokko und weiteren afrikanischen Staaten, insbesondere aus Ghana und Südafrika. Die Einladungen sagten stets, die eine oder andere Gruppe habe (im Internet oder sonstwo) von unseren Bestrebungen gelesen, und man wolle sich mit einem oder mehreren von uns unterhalten. Jede dieser Einladungen war eine Überraschung.

Während der Jahre, in denen wir uns langsam den Berg hinaufschleppten, hatten wir eine Menge Ideen und Informationen angesammelt, die verschiedene „Möglichkeiten“ darstellten. Überall, wo wir hingingen, stellten wir zuerst klar, dass es nicht in unserer Absicht stand, stattliche Mengen Geld auszugeben, damit die großen Unternehmen ins Land kommen und dort Arbeitsplätze schaffen würden. Die Zahl von Arbeitsplätzen, die auf diese Weise geschaffen werden können, ist lächerlich klein, und deshalb ist diese Strategie unverantwortlich teuer. Wir schlugen stattdessen eine Palette kleiner, mobiler und preiswerter Technologien vor, mit denen die Menschen das, was sie brauchen, für sich selbst herstellen können.

In jedem dieser Fälle war entscheidend, dass wir keine „primitiven“ Apparate anboten – was unweigerlich als Beleidigung aufgefasst worden wäre –, sondern ganz im Gegenteil Maschinen vorschlugen, die meistens nicht nur „ultramodern“ waren, sondern darüber hinaus zur noch in der Entwicklung befindlichen „High-Tech-Eigen-Produktion“ gehörten. In jedem einzelnen Fall, ob es nun ein Mittagessen mit dem Minister für soziale und wirtschaftliche Entwicklung war oder ein Treffen mit einer kleineren, sich auf einer lokalen Ebene um Verbesserungen bemühenden Organisation, der Funke sprang augenblicklich über.

Wir legten dann Abbildungen auf den Tisch und erklärten, dass eine der deutschen Universitäten, die zu den Partnern der Neuen Arbeit gehört, die TU Chemnitz, zurzeit führend ist auf dem Gebiet der Entwicklung kleiner mobiler Fabriken – genauer gesagt: von High-Tech-Werkstätten, die in Containern untergebracht werden können. Eine Möglichkeit wäre deshalb eine kleine mobile Fabrik, die von Dorf zu Dorf reist und mit der die Bewohner ihre eigenen Elektrogeneratoren aus recyceltem Plastik und Aluminium – Flaschen und Büchsen – herstellen. Eine andere Möglichkeit wäre eine ähnliche kleine mobile Fabrik, mit der man Ziegel für Hausdächer herstellen könnte. (Die meisten Dächer in den Slums von Indien und Afrika sind aus verrostetem Metall gemacht. Im Winter ist es darunter kalt, im Sommer verwandeln sie das Haus in einen Ofen.) Eine dritte Möglichkeit wäre eine kleine mobile Fabrik, in der man leistungsfähige Wasserfilter herstellen kann, die ungenießbares Wasser in Trinkwasser umwandeln können. Eine vierte Möglichkeit wäre eine kleine mobile Fabrik zur Herstellung von Zement. Eine fünfte Möglichkeit …

Die Reaktion war überall stürmisch: Warum sind Sie nicht schon vor Jahren gekommen? Besteht die Möglichkeit, dass Sie bleiben? Haben Sie Leute, die an Ihrer Stelle herkommen können und ein Projekt in dieser Richtung initiieren können? Sagen Sie uns, wo wir anfangen können, und bitte, wenn irgend möglich schon heute.

Diese Reaktion darf nicht missverstanden werden. Was diesen Enthusiasmus auslöst, sind nicht nur die raffinierten und oft buchstäblich noch nicht da gewesenen technischen Neuentwicklungen, die wir vorstellen. Wir stellen diese Dinge nie und unter keinen Umständen als „Lösungen“ oder „Antworten“ dar, mit denen wir schlaue weiße Männer mit unseren schicken Aktenkoffern angereist kommen. Bevor wir irgendwelche Bilder zeigen oder irgendwelche technischen Maschinen oder Technologien vorstellen, beharren wir stets darauf, dass sie, die Menschen, mit denen wir arbeiten, am Steuer sitzen. Alle Entscheidungen werden sie selbst treffen müssen, und auch die Arbeit wird von ihnen kommen müssen: „Überhaupt nichts wird geschehen, kein Nagel wird eingeschlagen und kein einziger Schlüssel wird in irgendeinem Schloß umgedreht, bevor SIE sich in Ihrem Geist vollkommen klar darüber sind, dass es das ist, was SIE wirklich und ernsthaft wollen! In dieser Hinsicht werden wir nicht wanken und keine Kompromisse machen: Vom ersten Tag an wird dies nicht unser Projekt, sondern IHR Projekt sein. Wir kommen nur mit ‚Möglichkeiten‘, die wir Ihnen anbieten. Wenn daraufhin etwas geschieht, dann nur, weil SIE es so wollen!“

Wir denken und sprechen gern in Polaritäten, in entgegengesetzten Extremen, und auch das, was wir jetzt in der Dritten Welt tun, ist nur ein polares Extrem eines Gegensatzpaares, zu dem es einen entsprechenden Gegenpol gibt. Die andere Hälfte dessen, was kürzlich auf dem Gebiet der Neuen Arbeit geschehen ist, hat nichts mit den im Elend Lebenden – den Benachteiligten – zu tun, sondern mit den Begabtesten und den Erfolgreichsten. Nach einigen Schätzungen gehört heute etwa ein Viertel unserer arbeitenden Bevölkerung zu einer Gruppe von Menschen, deren Insignien das Handy und der Laptop sind. Ein großer Teil dieser Menschen empfindet seine Arbeit ganz und gar nicht wie eine „milde Krankheit“ – wie wir uns leicht vorstellen können.

Als die Blase der New Economy plötzlich platzte, verloren viele dieser Menschen über Nacht ihren Arbeitsplatz, aber zur allgemeinen Überraschung waren sie deswegen nicht unbedingt niedergeschlagen oder deprimiert. Ganz im Gegenteil: Viele schienen erleichtert zu sein. Viele hatten in der schon sprichwörtlichen „Garage“ ihr eigenes Unternehmen gegründet. Der Erfolg brach dann über sie herein und machte sie zu Gefangenen von erfolgs- und gewinnorientierten Unternehmen (wie etwa Microsoft), in denen sie arbeiten mussten wie Galeerensklaven. Darum die Erleichterung.

Viele dieser Menschen erleben ihre Arbeit ganz ähnlich, wie es Künstler und Intellektuelle tun. Vor dem Boom führten sie beinahe so etwas wie eine Boheme-Leben: Waren sie gerade inspiriert, dann konnten sie vier Tage und Nächte ohne Pause durcharbeiten; wenn sich ihr Gehirn unproduktiv und dumpf anfühlte, dann blieben sie auch einmal eine Woche lang im Bett. Die Software, die sie schrieben (oder was immer sonst es war), war ihre Arbeit, und wie bei Künstlern war ihre Arbeit beinahe das Wichtigste in ihrem Leben.

Verständlichweise brennen viele dieser Menschen vor Neugier beim Thema Neue Arbeit. Unsere Grundvorstellung davon, was Arbeit eigentlich sein sollte, verbindet uns mit ihnen – ebenso wie, natürlich, das Konzept der High-Tech-Eigen-Produktion. Vielen von ihnen lag nicht viel an einem opulenten und schicken Leben. In ihren Augen ist es eher ein Rummelplatz, ein zu sehr in die Länge gezogener Karneval. Dazu kommt, dass viele von ihnen einen finanziellen Absturz erlebt haben. Auch das macht das Konzept eines weniger teuren und weniger verschwenderischen Lebens für sie attraktiv.

Besonders wichtig ist, dass diese Menschen oft zu den einfallsreichsten und begabtesten Menschen gehören, natürlich nicht nur in den Vereinigten Staaten. Nicht wenige haben das Gefühl, dass ihnen ihre Ideen gestohlen und dann zu Zwecken missbraucht wurden, die ihren ursprünglichen Absichten völlig entgegengesetzt waren. Das hat sie erbost, man könnte auch sagen: Sie sind wütend. Nichts scheint deshalb natürlicher als ihr Wunsch, ihre fabelhaften Fertigkeiten und Talente auf die Entwicklung neuer Technologien zu verwenden, die es den Menschen erlauben werden, ein angenehmes Leben zu führen – das aber zu drastisch reduzierten Kosten. Für die Neue Arbeit bedeutet dies, dass wir unter dieser weit verbreiteten und erstaunlichen Gruppe von Menschen plötzlich viel Gehör und Interesse gefunden haben.

Dieses Buch ist – eine Einladung. Es beschreibt Bemühungen, an denen wir seit über 20 Jahren arbeiten. Wir sind uns aber ganz und gar darüber im Klaren, dass das Bisherige nur der Auftakt zu einem Vorspiel für eine Ouvertüre ist. Unsere nicht stille, sondern im Gegenteil eindringliche Hoffnung ist, dass eine immer größere Anzahl sehr unterschiedlicher Menschen in vielen Ländern diesen Anfang weiterentwickeln werden.