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Titel

Impressum

Descartes provisorische Moral

Romantische Phantasie

Langeweile

Valerys Faust Fragment

Habermas Lebenswelt

Jaspers Existentielle Freiheit

Vertrauen

Zum Autor

Nachweise

Fussnoten

Rationalität und Lebenswelt.

Zur Idee einer kommunikativen Vernunft bei Habermas


Philosophische Studien

Klaus Peter Müller


Rationalität und Lebenswelt. 

Zur Idee einer kommunikativen Vernunft bei Habermas. 

Philosophische Studien


©  Klaus Peter Müller

Coverbild:    ©   Klaus Peter Müller

 epubli Verlag, Berlin 2016 



Reflexion und Entschlossenheit. Descartes provisorische Moral



Ein Gleichnis der Moderne 


Wer den Weg auf einer Wanderung verloren hat, ist froh einen Steinmann zu sehen. Ein solcher Steinhaufen, häufig hat er die Form einer Pyramide, setzt dem Verirren ein Ende. Die Unruhe legt sich. Andere Wegweiser sind: ein Schild, in Norwegen ein rotes T, ein weißer Balken an einem Baum, ein Leuchtturm usw..

Was jedoch ist, wenn es keinerlei Anhaltspunkte für eine Orientierung gibt?

Es ist Descartes, der in seinem Buch „Von der Methode“ eine solche ungewisse Situation beschreibt und zugleich einen Ausweg anbietet. Seine Geschichte von Reisenden, die auf ihrem Weg die Orientierung verloren haben, wird in philosophischer Hinsicht zum Bild einer vorläufigen Moral, das Blumenberg später ein Urgleichnis der Neuzeit nennen wird.1

Nach Descartes soll man in einer solchen Situation in seinen Handlungen fest und so entschlossen wie möglich sein und auch den zweifelhaftesten Ansichten beharrlich folgen und so tun als ob sie ganz gewiss wären. Man soll es wie jemand machen, der sich im Wald verirrt hat und nicht ziellos herum läuft oder an einer Stelle bleibt, sondern so geradewegs wie möglich in eine Richtung geht. Von dieser Richtung soll nicht aus unbedeutenden Gründen abgewichen werden. Am Ende wird man so vermutlich irgendeine Gegend erreichen. Mit einem Wort: wer nicht in der Lage ist, die wahrsten Ansichten zu erkennen, soll nach Descartes den wahrscheinlichsten folgen.2 

Was Descartes beschreibt, ist die Situation einer ungewissen Orientierung, in der die Reflexion nicht weiter hilft, weil die Gründe fehlen. Die Folge ist, formale Entschlossenheit wird für das Handeln zum Wert. 

Was nicht ausschließt, das aus der Entschlossenheit auch eine blinde Entschlossenheit werden kann. Beschrieben wird eine Situation in der die Reflexion ihre Bedeutung verliert und von der Idee eines formalen Könnens, einer technischen Idee, einer Art Mechanismus abgelöst wird. Nicht mehr selbstverständlich gilt in diesem Gleichnis die platonische Vorstellung, wonach alles Können im Horizont des Erkennens zu belassen sei. Alle Geschicklichkeit sollte sich bei Sokrates noch auf eine begründete Einsicht zurückführen lassen.3 

Aber der Entwurf einer provisorischen Moral geht von einer Situation aus, in der eine wahre Erkenntnis für den Moment nicht möglich ist, wobei allerdings bei Descartes offen bleibt, wie das Ziel einer endgültigen Moral überhaupt zu verwirklichen sei. 

Descartes Verirrte haben sich durch ihr Handeln, durch eine Bewegung in ihre Situation gebracht und nur durch Handeln können sie auch einen Ausweg finden.  

Erscheint diese Situation, sich durch Handeln, durch eine Bewegung in einer ungewissen Situation zu befinden wie bei Descartes, nicht auch wie ein Vorgriff für das Problem der Orientierung, für die Suche nach dem richtigen Maßstab der Orientierung in der modernen Gesellschaft, wobei sich das ungelöste Spannungsfeld von Reflexion und Entschlossenheit zunehmend aufdrängt? 

Das Problem gilt wohl ebenso für die Entwicklung der modernen Wissenschaft, die das, was schon Descartes im Ansatz zum Programm erhoben hat, nämlich, dass es darauf ankommt mit Hilfe des Wissens sich in der Welt mit Sicherheit zu bewegen, als Aufgabe weiterführt. Wobei Descartes mit seinem Methodenbegriff entscheidend die Anfänge der Moderne mit bestimmt hat, durch das, was man nach Valéry die „Quantifizierung des Lebens“ nennen könnte.4 

Die Aufgabe, sich in dieser Welt mit Sicherheit zu bewegen, ist jedoch in der Moderne alles andere als gelöst anzusehen. So weist z.B. Habermas darauf hin, dass sich in der Gegenwart zunehmend nicht nur in der Politik eine besondere Form der Ratlosigkeit entwickelt, die er kurz die „neue Unübersichtlichkeit“ nennt.5

Die moderne Gesellschaft wird nämlich durch stetigen Wandel, d.h. durch Bewegung bestimmt, nicht zuletzt dominiert durch den technischen Fortschritt, aber auch durch eine Umwertung der Werte.  Jedoch, diese Veränderungen in der Gesellschaft sind nicht nur stetig, sondern sie beschleunigen sich auch exponentiell. Die Bedingungen knapper Zeit und begrenzter Informationen werden zu ständigen Begleitern in diesem Prozess. In einer solchen Situation wird man den Weltgeist von Hegel nicht entdecken, wohl aber einen Geist mit Flügel aber ohne Kopf oder einen seiner Verwandten, den Hans Dampf ohne Ideen.6 

Man kann sich also nicht nur in einem Wald wie bei Descartes verirren, sondern in der Moderne auch in einer Welt des ständigen Übergangs, in der man befürchten muss, ständig den Boden unter den Füssen zu verlieren.

Im Zeitalter der Beschleunigung, d.h. in einem Zeitalter vor allem des technischen Fortschritts wird daher Entschlossenheit leicht zu einem Wert an sich , zu einer Einstellung, die u.U. sogar nicht nur in der Praxis zu einem eigenständigen Merkmal von Autorität wird.

Es ist Marquard, der in kritischer Intention darauf hinweist, dass unter den Beschleunigungsbedingungen der modernen Gesellschaft z.B. die Änderung der Daten häufig ignoriert werden muss, da man sonst nicht handeln kann. Man braucht daher nach Marquard Konstanzfiktionen, d.h. wenn alles fließt wie in der modernen Gesellschaft, braucht das Durchhalten einer Handlungslinie eine Fiktion.7 Von einer solchen Konstanzfiktion mit der möglichen Folge einer sträflichen Vernachlässigung der Reflexion wird im Ansatz schon in der Geschichte des Descartes erzählt, auch wenn diese wohl noch nicht auf dem Hintergrund des Problems eines beschleunigten Wandels in der Gesellschaft erzählt wird.



Zögern und Zaudern


Die Verirrten von Descartes sollen nicht zögern oder zaudern, sondern sie sollen entschlossen handeln. Es geht darum, geradeaus in eine Richtung zu gehen, auch wenn die Wahl der Richtung am Anfang durch den Zufall bestimmt sein sollte.8 Für denjenigen, der sich verirrt hat, ist es besser irgend etwas zu tun, als in der Ratlosigkeit zu verharren. 

Die Gerade ist die kürzeste Verbindung von Punkt zu Punkt. So scheint sie das geeignete abstrakte Mittel für ein konkretes Problem, denn die Verirrten haben es eilig den Ausweg aus dem Wald zu finden. Wer auf diese Art, d.h. unter Zeitnot dem Schein der Wahrheit folgt, kann dem Zweifel und dem Denken nur wenig Raum schenken. In der Situation, die Descartes anführt, muss unter der Bedingung knapper Zeit gehandelt werden. Blinde Entschlossenheit wird daher leicht unter solchen Umständen zu einem Merkmal der reinen Selbsterhaltung.

Es ist eine bedenkliche Situation, die Descartes an den Anfang seines Gleichnisses stellt, ist doch gerade das, was das Menschliche ausmacht, eine Kultur des Zögerns, eine Kultur der Umwege. Es ist ein Unterschied, ob man auf eine Situation nur reagieren oder die Reaktion verzögern kann, um Zeit für eine Reflexion zu gewinnen. Überträgt man einmal das Gleichnis von Descartes auf ungewisse Situationen in der Gesellschaft, so ist durchaus fraglich, ob die Idee einer Abkürzung das geeignete Mittel ist und vor allem das ist, was man als einen humanen Weg bezeichnen kann. Blumenberg hat nicht von ungefähr auf die Bedeutung von kulturellen Anstrengungen des Menschen hingewiesen, die gerade Momente der Verzögerung sind.9  

Oder da ist Adorno, der auf auf eine besondere Form der Gewalt im Denken der Moderne aufmerksam gemacht hat. Worin besteht diese Form der Gewalt?  Nach ihm wird das Denken zu einem Ausdruck von Gewalt, wenn es zunehmend auf einer „Abkürzung des Wegs“ im Prozess des Erkennens beharrt.  Wahrheit ist nach Adorno vor allem auch von der Möglichkeit der Geduld und des Verweilens beim Einzelnen abhängig. Vorausgesetzt wird hier allerdings, dass man auch das Erkennen als ein Handeln versteht, das sich in seiner Intention nach Wahrheit überhaupt noch auf auf ein Einzelnes bezieht.10

Aus der Perspektive von Descartes ist die Welt des Handelns und der Erfahrung eine Irrwelt, d.h. eine Scheinwelt. Für eine Moral des Handelns bedeutet das nach ihm, dass man nur dem Schein der Wahrheit folgen kann. In einer solchen Welt findet nach Blumenberg das statt, was man auch Fortschritt nennt. Für ihn ist eine solche Welt des Fortschritts im Prinzip nichts anderes ist als jene auf Dauer gestellte Lebensform eines permanenten Übergangs, für dass schon die provisorische Moral gedacht war.11

Descartes Moral für das Handeln ist eine vorläufige Moral, eine provisorische Moral; sie steht allerdings unter dem Anspruch, dass eine endgültige Moral möglich ist. 

Die Frage wird bei Descartes allerdings nicht thematisiert, wie man mit der Enttäuschung umgehen kann, wenn aus der provisorischen Moral keine endgültige wird, wenn der Jüngste Tag der Vollendung der Moral auf sich warten lässt. Es versteht sich nicht von selbst, dass der Einzelne in einem dauernden Stadium der Vorläufigkeit auch leben kann, auch wenn dieses Stadium in der modernen Gesellschaft zum Dauerzustand geworden ist. Die Idee der Geraden in dem Gleichnis des Descartes kann man als eine eine Ideallinie interpretieren, die lediglich für die Erfahrung Erfüllung suggeriert. 



Vertrauen


Nicht alles Handeln kann durch sichere Voraussicht seiner Wirkungen geleitet werden, schreibt Luhmann in seinem Buch über das Vertrauen.12 Er bezieht sich dabei auf eine Situation, in der trotz mangelnder Erkenntnisse gehandelt werden muss. Ob man Erfolg mit seinem Handeln hatte, steht daher erst im nach hinein fest. Es ist das Vertrauen, dass nach Luhmann dieses Zeitproblem überbrückt. Vertrauen ist danach eine riskante Vorleistung.13 

Auch die Reisenden in Descartes Gleichnis, die sich verirrt haben, besitzen keine sichere Voraussicht für ihr Handeln. Sie vertrauen darauf, dass die Entscheidung immer gerade in eine Richtung zu gehen, sie irgendwann aus dem Wald herausführt. Man kann also auch das Problem, das Descartes in seinem Gleichnis beschreibt, als ein Problem des Vertrauens betrachten. 

Wenn man so will, reduzieren auch die Reisenden des Descartes in gewisser Weise mithilfe ihrer Vorstellung die Komplexität der Welt, wobei diese Leistung allerdings natürlich noch nicht speziell im Kontext einer System-Umwelt Differenz verstanden wird, wie in der Systemtheorie. 

Das Vertrauen der Reisenden ist bedingt durch die für sie scheinbar selbstverständliche Vorstellung, dass die Gerade den Ausweg garantiert. Folgt man Habermas, so kann man die Vorstellung der Lösung bei Descartes schon als eine Art Idealisierung der Lebenswelt betrachten, als eine Art Bürgschaft, die durch die Erfahrung gebildet wird und als eine Bedingung des Vertrauens dient.14 Wobei unter Lebenswelt von Habermas ein Bereich ursprünglicher Leistungen verstanden wird, die sozusagen den Idealisierungen entgegengesetzt sind, die durch das naturwissenschaftliche Denken erbracht werden, also z.B. durch das Berechnen von Ereignissen. 

Ähnlich argumentiert Luhmann: Vertrauen ist danach nur in Situationen notwendig, in denen ohne zureichende Erkenntnis gehandelt werden muss. Für ihn ist es daher ein Vorurteil, wenn man meint, dass Vertrauen nur da richtig ist, wo es sachlich gerechtfertigt ist.15 

Anders ausgedrückt: Die Rationalität des Vertrauens, so wie sie Luhmann versteht, definiert zugleich den Bereich, in dem Vertrauen nicht nötig ist. Nicht nötig ist Vertrauen demnach in Bereichen der instrumentellen Ereignisbeherrschung.16 Eine messbare Erscheinung besitzt in Bezug auf das Vertrauen demnach einen Mehr-Wert gegenüber z.B. qualitativen Erfahrungen. Auf die Naturwissenschaften und ihre technische Anwendung ist Verlass, so könnte man diese Behauptung von Luhmann interpretieren. Damit wird allerdings die instrumentelle Naturbeherrschung selbst als unabhängig vom Problem des Vertrauens erklärt, als wären nicht gerade der menschliche Umgang mit der Natur auch ein Grund für ein sinkendes Vertrauen gegenüber der Technik und ihrer Folgen. 

Das Problem des Vertrauens in Bezug auf die technische Evolution wird hingegen im Denken von Luhmann per Definition ausgeblendet, d.h. auch, es ist kein Thema.

Ist nicht gerade die Beschleunigung des rücksichtslosen technischen Fortschritts - so wie das Blumenberg ausgedrückt hat - nicht auch ein Ausdruck der Selbstüberforderung des Menschen und der Erschöpfung der Natur?17 Ist nicht die zunehmende, exponentielle Beschleunigung des technischen Wandels auch ein Grund für wachsende Unübersichtlichkeit der gesellschaftlichen Entwicklung?




Jenseits der Gewissheit


Ist das Gleichnis des Descartes nicht ein Ausdruck für die Frage, wie man eine ausreichende Orientierung für sein Handeln finden kann, auch wenn es für diese Orientierung keine letzte Gewissheit geben kann?  Anders ausgedrückt, wie man sich in einer Welt moralisch orientieren kann, die eine Welt des Wandels und der Erscheinungen ist? 

Was nicht heißt, dass dieser Anspruch auf Gewissheit bei Descartes nicht noch bestehen bleibt, allerdings in seiner Subjektphilosophie nur für die reine Erkenntnis. 

Der Anspruch auf Gewissheit selbst wird daher von ihm nicht in Frage gestellt. Auch Descartes geht noch von der Voraussetzung aus, dass Rationalität und Sinnlichkeit getrennt sind; eine Trennung die seit der griechischen Philosophie ein Produkt der Suche nach Sicherheit, d.h. Gewissheit war und in Folge in der Geschichte der Philosophie zu einer Bevorzugung des reinen Erkennens führte.18

Descartes Welt der Erscheinungen ist keine Welt, der man deshalb letztlich vertrauen kann, weil sie einen möglichen Übergang in eine höhere Welt in Aussicht stellte, so wie das noch in der Philosophie von Plato der Fall war und in dem Höhlengleichnis anschaulich zur Geltung kommt. 

Der ontologische Komparativ des Plato hat bei Descartes seine Gültigkeit verloren. Die Welt ist bei Descartes nicht mehr der griechische Kosmos, das Bild einer Natur, die in ihren Seins-Möglichkeiten immer schon begrenzt ist. Der Kosmos der Antike ist verschwunden und damit auch die Möglichkeit, jederzeit mit der Realität eines schon Vollendeten konfrontiert zu werden; eine Vorstellung, die übrigens Nietzsche später als ein Glaube bezeichnen wird, der Hand und Vernunft in der Kulturgeschichte beispiellos gelähmt hat.19 

Es gibt in Descartes Welt der Erscheinungen keine Garantie mehr für eine Einheit in der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen.20 Eher ist das Gegenteil der Fall. In seiner Philosophie wird sogar der Verdacht ausgesprochen, das die Welt der Erscheinungen eine bewusste Täuschung sein könnte, die Konstruktion eines genius malignus, d.h. das es eine Macht gibt, der es womöglich sogar auf eine Irreführung des Menschen ankommt.21  

Blumenberg hat das Gleichnis von Descartes mit dem Höhlengleichnis des Plato verglichen und behauptet, dass bei Descartes die Welt im Ganzen eine Art von Höhle sei, ein abgeschirmter Ort, der eine mögliche Irreführung des Menschen durch eine höhere Macht erst möglich macht.22  Wenn man davon ausgeht, dass die Welt der Erscheinungen uns den Eindruck der Realität vermittelt, so ist auch der mögliche Verdacht nicht fern, dass die Welt das Produkt eines bösartigen Dämons ist.23

Der Gedanke, dass die Welt womöglich in Wirklichkeit eine Welt der Verwirrung ist, erinnert auch an einen Text von Gracian, ein Zeitgenosse von Descartes. So leben die Menschen in „Criticon“ in einem Labyrinth der Unwahrheiten und haben die Orientierung verloren.24 In einer solchen Welt herrscht die Maxime: Nichts sollst du glauben!25 Diese Welt der Verwirrung ist bei Gracian ein „Scheinkönigreich“. Das Werk von Gracian liest sich wie eine einzige Klage über den Verlust einer möglichen Orientierung des Erkennens und Handelns, die ehemals durch die platonisch-traditionelle Metaphysik garantiert wurde.

Auf dem Hintergrund eines Umbruchs der kulturellen Werte, vor der Erfahrung einer Welt, die zunehmend als eine reine Welt des Scheins wahrgenommen wird, kann man das Gleichnis der „Verirrten im Wald“ als einen ersten Versuch verstehen, ein Modell der Rationalität für eine Welt des Scheins zu entwerfen.  Auch in einer solchen Welt, die eine Welt des Übergangs ist, gilt es, einen Maßstab für die Orientierung des Handelns zu finden, eine Art Rationalität zu entwickeln, die sich auf die Situation bezieht. Wenn in dem Gleichnis des Descartes der Vorschlag ausgedrückt wird, in eine Richtung zu gehen und nicht aus unbedeutenden Gründen abzuweichen, so heißt das auch, dass die Entscheidung eine vorläufige ist. Die Entscheidung über die Richtung der Orientierung wird daher potentiell zu einem Prozess. 

In Descartes Gleichnis drückt sich daher - wohlgemerkt  im Ansatz  - schon das Modell einer Rationalität aus, die später in der Moderne eine Rationalität durch Verfahren heißen wird, so etwa bei Habermas in seiner Kommunikationstheorie.26 Es kommt zur Vorherrschaft der Methodenidee in der Philosophie, wenn nicht gar zur Gleichsetzung von Philosophie und Methode wie im Pragmatismus. 

War ehemals in der traditionellen Metaphysik nur ein Erkennen wirklich rational, das sich am Unveränderlichen orientierte, so soll sich nunmehr das Erkennen auf das Veränderliche, auf die Praxis beziehen, d.h. auf das Handeln. Mit anderen Worten, in der Moderne wird Rationalität zu einem Bewegungsbegriff, zu einer Rationalität in nachmetaphysischer Zeit.  Wobei die Vorstellung, dass wir schon in einer nachmetaphysischen Zeit leben, allerdings von der Unterstellung ausgeht, dass die Metaphysik generell überwunden ist. Die Frage ist allerdings, ob es nicht noch eine andere Form der Metaphysik gibt als die traditionelle Metaphysik des Bleibenden, die in der Tat im Laufe philosophische Geschichte ihre Geltung eingebüsst hat? Dann gäbe es keine „nachmetaphysische Zeit“, sondern womöglich nur eine neue Form der Metaphysik in der Moderne. Eine Kritik, die davon ausgeht, dass mit der Überwindung der traditionellen Metaphysik des Bleibenden das Thema Metaphysik überhaupt erledigt wäre, wäre dann unzureichend, so wie das etwa in der Philosophie des Pragmatismus geschieht.



Vorrang der Methode


In einem Aufsatz von Dewey „Der Supremat der Methode“ wird versucht, auf das Problem, eine sichere Orientierung für das Handeln zu finden, eine Antwort zu finden. Ähnlich wie in dem Gleichnis von Descartes wird eine ungewisse Situation zum Ausgangspunkt der Suche nach einer geeigneten moralischen Methode.27

Allerdings möchte Dewey ein Problem lösen, das nach ihm das moderne Leben bestimmt und die Moral eines vorwissenschaftlichen Zeitalters widerspiegelt und die nicht mit den Verfahrensweisen einer Welt zu vereinbaren ist, die sich plötzlich mit immenser Beschleunigung und durchgreifend von der Wissenschaft bestimmt findet.28 

Eine Entwicklung, die allerdings nach James auch berechtigte Zweifel hervorruft, denn das naturwissenschaftliche Wissen wächst mit einer solchen Geschwindigkeit, dass niemand seine Grenzen zu bestimmen vermag: Es ist nach ihm noch eine offene Frage, ob der Mensch den damit verbundenen Problemen auch gewachsen ist. Wer weiss daher nach ihm, ob der Organismus des Menschen „dem Ansturm der zu beängstigender Größe emporwachsenden Kräfte stand zu halten vermag, ob dieser Organismus der geradezu göttlichen Schöpferkraft gewachsen ist, die sein eigener Intellekt in seine Hände legt. Er ertrinkt vielleicht in seinem eigenen Reichtum, wie ein Kind in einer Badewanne ertrinken kann, wenn es die Wasserleitung aufgedreht hat und nicht wieder abzudrehen vermag.29 

Die Instrumente der Naturbeherrschung gewinnen in der pragmatischen Vorstellung den Schein des Absoluten, den Schein der eigenen Unabhängigkeit, weil sie sich der Reichweite der menschlichen Beherrschung zu entziehen scheinen. Schon Hegel entwickelt die Idee der Entfremdung, die sich darauf bezieht, dass es – wie es Helmut Plessner ausdrückt - dem Eigensinn unserer Taten eigentümlich ist, Produkte hervorzubringen, die sich der Verfügungsgewalt der Menschen entziehen und sich gegen sie wenden.30 

Aber ist es wirklich der Eigensinn unserer Taten oder enthüllt sich in dieser Entwicklung nicht vielmehr der Grundzug der technischen Sphäre als Autonomie? Hinzuweisen ist auf die übliche Metapher von der Dämonie der Technik und ihrer Verführung, als gäbe es eine unumgehbare Notwendigkeit.31

Für das pragmatische Denken beruht die traditionelle Moral auf unwandelbaren außerzeitlichen Prinzipien, was der modernen Naturwissenschaft widerspricht. Die Werte der traditionellen Moral sind daher aus dieser Sicht keine geeigneten Mittel mehr, um sich in der Moderne zurecht zu finden. Aus diesem Grund kann es für das pragmatische Denken auch keine vorläufige Moral wie bei Descartes geben, die noch den Anspruch auf Endgültigkeit voraussetzt. 

Der Status der Vorläufigkeit ist aus pragmatischer Sicht im Unterschied zu Descartes für die Moral nicht aufzuheben. Kennt Descartes für den Bereich der Erkenntnis noch den Anspruch einer letzten Gewissheit, so gehört dieser Anspruch nach dem Pragmatismus zu einem ontologischen Erbe des Denkens, das es zu überwinden gilt.

Aus der Perspektive pragmatischer Moral kann Descartes moralische Regel für den Reisenden, der sich verirrt hat, nur als eine Art Notlösung erscheinen, als ein letztes Mittel, das in Situationen eingesetzt wird, in denen es an der notwendigen Zeit fehlt, um überlegen zu können. Das entschlossene Handeln des Descartes widerspricht nämlich dem pragmatischen Anspruch, dass, bevor gehandelt wird, die Situation zu reflektieren und nach einer der Situation angemessenen Lösung zu suchen ist. Was hier allerdings voraussetzt, dass die Ressourcen Zeit und Information für die Reflexion ausreichend zur Verfügung stehen und nicht wie es in der modernen Wirklichkeit der Fall ist, in einem Zeitalter der Beschleunigung zunehmend begrenzt werden.

Auch nach Dewey kommt es darauf an, wenn wir keinen intelligenten Hinweis haben, wie wir handeln sollen, entschlossen zu sein. Was aber heißt hier Entschlossenheit im Unterschied zu Descartes?

Entschlossenheit wird zu einer Aufgabe  des Willens; „das heißt unter Anleitung des Denkens die Unbestimmtheit ungewisser Situationen zu lösen.“32 Intelligenz ist nach Dewey eine Methode des Handelns, in der es nicht darum geht, irgendetwas in der Sache zu tun, sondern etwas über die Hindernisse und Hilfsmittel herauszufinden. 

Wobei zu ergänzen ist, dass die experimentelle Methode des Pragmatismus noch weiter geht, indem sie als Mittel der Erkenntnis auch die bewusste Veränderungen der Dinge anstrebt. Die Dinge sollen nach der pragmatischen Vorstellung nicht nur hingenommen und anerkannt werden, wie sie sind, sondern zum Ziele der Kontrolle auch verändert werden.33 

Aus der Suche nach Gewissheit des Descartes wird die Suche nach Methoden der Kontrolle. Nicht auf das Disputieren kommt es nunmehr an, wie schon Bacon in „Novum Organum“ hervorgehoben hat, sondern dass die Natur durch die Tat unterworfen wird. Das „Buch der Natur“ soll nicht nur gelesen werden. Auch der Text der Natur selbst soll im Interesse einer Herrschaft über die Natur neu verfasst werden.

Die neue pragmatische Moral soll effektiv sein, sich an den Methoden der Wissenschaft orientieren, an einer Erkenntnis, die sich selbst korrigieren kann, die sich systematisch – wie Dewey es ausdrückt – mit menschlichen Prozessen befasst.34 Die Moral wird zu einer Sache der Verfahrensrationaliät. Zum primären moralischen Brennpunkt wird die konkrete Situation, die Frage, welche Handlung für eine bestimmte Situation richtig ist: „Eine moralische Situation ist eine, in der Urteil und Wahl vor der eigentlichen Handlung erfordert sind.“35 Aus diesem Grunde bedarf es nach Dewey der Untersuchung, der Aufklärung, der methodischen Erkenntnis. Die Moral soll zu einer Frage der Situation werden, d.h. auch berücksichtigen, dass jede Situation ihre einzigartigen Ziele hat. 

Das Instrumentelle Denken versteht sich selbst vorzugsweise als permanentes Arbeiten an einer Baustelle. Wenn Dewey daher von einzigartigen Zielen spricht, so sind damit natürlich keine letzten Ziele gemeint. Ein Ausdruck dieser Verzeitlichung der Moral ist, dass die Ziele durch die einzelnen Situationen bestimmt werden. In diesem Sinne ist das „möglich Bessere“ das einzig Gute jeder Situation. 

Der Bezug auf den Begriff der Situation, als Ausdruck einer Verzeitlichung der Moral, verwandelt dabei den traditionellen metaphysischen Gegensatz Zeit und Ewigkeit in den Gegensatz Zukunft und Vergangenheit. Aus der Moral wird ein Bewegungsbegriff, die der stetigen Lebensform des Übergangs im beschleunigten gesellschaftlichen Wandel angepasst ist. Anschaulich lässt sich die damit verbundene weltimmanente Zeit als ein Weg in eine offene Zukunft darstellen. Zur Vorstellung der idealen Bewegung in der Moderne gehört kein konkretes Ziel, das erkennbar wäre oder anders ausgedrückt, die Bewegung erscheint selbst als einziges Ziel. 

Eine solche Veränderung des Moralbegriffs findet man auch im pragmatischen Denken. So gilt das pragmatische Interesse vorrangig der Frage, welche Mittel und Zwecke dem vorgegebenen Ziel angemessen sind, weniger geht es darum, auch das Ziel zu hinterfragen. 

Horkheimer hat kritisch darauf hingewiesen, dass dem instrumentellen Denken der Gedanke, dass ein Ziel um seiner selbst willen vernünftig sein kann, im Grunde fremd ist.36 Für das pragmatische Denken gibt es keine Klasse selbstlosen Verhaltens mehr, die z.B. nach Jonas noch für die Ethik entscheidend ist. Das Gute der Ethik ist aus der Sicht des Pragmatismus mit dem Begriff des Wertes identisch, allerdings als ein Wert für jemanden oder etwas und kein Wert „an sich“.37 

Das Problem ist, dass in einer solchen Perspektive allerdings auch die Frage nach einer Natur „an sich“ entfällt, die Frage nach einem eigenständigen Wert der Natur, die sich vor allem aufgrund der ökologischen Probleme in der modernen Welt zunehmend aufdrängt. Es sind zwei verschiedene Dinge, die objektivierte Natur und die Natur „an sich“.38 Ohne diese Trennung kann allerdings wohl kaum eine Moral gedacht werden, die auch die Natur als solche in den Kontext der menschlichen Verantwortung einbezieht. Auch wenn dieses „an-sich“ der Natur sich positiv nicht bestimmen lässt, so heißt das nicht selbstverständlich, dass es auch ohne Bedeutung ist.

Eine solche Trennung ist allerdings dem pragmatischen Denken fremd. Im Anschluss an Bacon, für den Wissen die Macht ist, die Welt zu verändern, ist für Dewey klar, dass die Welt nur als Material für Veränderungen akzeptiert oder hingenommen wird. Das bedeutet nach Dewey, das die Dinge nur insoweit für das pragmatische Denken akzeptiert werden, wie sie dem instrumentellen Interesse dienen. So wird nach Dewey ein Zimmermann erst dann zum Handwerker, wenn er die Dinge nicht als Objekte an sich wahrnimmt, sondern unter dem Gesichtspunkt, was er mit ihnen machen kann und tun will.39



Rationalität durch Verfahren


Descartes hebt in seinem Gleichnis die Notwendigkeit einer Entscheidung hervor, auch wenn wir die wahrsten Ansichten nicht erkennen können, wie das nach seiner Meinung in der Situation der Verirrten im Wald gegeben ist. In diesem Fall sollen wir der „wahrscheinlichsten Ansicht“ folgen. Es ist eine Entscheidung, die nicht mehr in Frage gestellt werden soll, soweit sie - wie es heißt - für die Praxis Bedeutung hat, d.h. sie solle als nicht zweifelhaft und ganz sicher angesehen werden, vorausgesetzt der Grund für die Entscheidung trifft zu.40 

Wer aber trifft in dem Gleichnis des Descartes die Entscheidung über die Richtung, die eingeschlagen werden soll? Wer ist für die Rationalität dieser Entscheidung zuständig? Descartes spricht davon, dass er es den Reisenden nach macht; mit anderen Worten, er unterstellt den anderen, dass sie so wie er entscheiden würden. Der Standard für die Rationalität seiner Entscheidung steht für ihn fest, für sie spricht der gesunde Menschenverstand, aber auch die Logik und sie sei daher auch als allgemein verbindlich anzusehen.

Nun ist es allerdings alles andere als selbstverständlich, dass in einer Gruppe, die sich verirrt hat, sofort Einigkeit über eine solche Lösung herrscht. Die Entscheidung, d.h. ihre Geltung hängt auch von den anderen ab. 

Es ist das Problem der intersubjektiven Anerkennung von Geltungsansprüchen, das in dem Gleichnis von Descartes noch kein Thema ist und sich später in der Moderne aufdrängen wird.41 Für Descartes Subjektphilosophie ist die sprachliche Verständigung noch kein Problem, d.h. auch nicht die gegenseitige Anerkennung in Bezug auf moralische Normen. Die Frage der Geltung von moralischen Ansprüchen ist noch eine reine Frage der Subjektivität selbst.

Anders etwa bei Habermas, der davon ausgeht, dass Verständnisleistungen eine rational motivierende Kraft haben, und der daher versucht, die Bedeutung der moralischen Dimension bei Verständnisprozessen hervor zu heben, d.h. durch kommunikatives Handeln. Um diesen Ansatz einer Kommunikationstheorie einmal mit dem Gleichnis von Descartes zu vergleichen, so könnte man sagen, das Habermas von der Annahme ausgeht, das es neben einer gemeinsamen Lösung für die Situation, die sich rein auf eine Rationalität des praktischen Zwecks zurückführen lässt - so wie bei Descartes -, es auch auf die Rationalität von Verständnisleistungen selbst ankommt.  Wobei die Diskursethik voraussetzt, dass nur dann eine Norm Geltung beanspruchen kann, wenn alle Teilnehmer des Gesprächs sich darüber im Moment oder in Zukunft verständigen können, dass diese Norm gilt, wenn also ein Konsens erzielt werden kann.42 Setzt die Autorität einer moralischen Norm von sich aus den Anspruch einer allgemeinen Geltung voraus, so wird in der Diskursethik die Entstehung dieser Geltung als Prozess und als Aufgabe verstanden.



Endlicher Irrtum 


Die Lösung, die Descartes für die Verirrten im Walde anbietet, ist allerdings von einer Voraussetzung abhängig: Irrtümer sind endlich. Die Ideallinie, die Gerade, die einen Ausweg verspricht, ist dabei jedoch nichts anderes als der Ausdruck für einen Erfüllungsanspruch, der dem Wunsch nach Sicherheit in dieser Situation zu genügen scheint. Die Gerade ist somit eine Fiktion, auch wenn sie zur Lösung des Problems als notwendig erscheint. Die Reisenden sollen nach Descartes so handeln „als ob“ sie mit dieser Ideallinie ihr Ziel, einen Ausweg erreichen.

Irrtümer sind endlich, das bedeutet in der Subjektphilosophie von Descartes auch, Irrtümer sind eine Frage des Endlichen, sie treten im Endlichen auf. 

Setzt man einmal voraus, dass das Denken von Descartes von dem Anspruch geleitet wird, den Irrtum auszuschließen, Gewissheit und Sicherheit zu erreichen, so kann dieser Anspruch daher nach ihm nicht im Endlichen, im Praktischen verwirklicht werden.  Die letzte Gewissheit wird zu einer Sache des reinen Selbstbewusstseins.

Der philosophische Anspruch, den Irrtum letztlich auszuschließen, entpuppt sich jedoch zunehmend in der Moderne nicht ohne Grund als Irrweg, zumindest in Philosophien, die die traditionelle platonische Metaphysik, diese Lehre von den Zwei-Welten radikal in Zweifel ziehen und die Bedeutung der Welt der Erscheinungen, die Welt der Erfahrung hervorheben möchten.  Gab es ehemals in der platonischen Vorstellung Zwei-Welten, eine scheinbare und wahre Welt so gibt es nunmehr nur noch eine Welt und sonst nichts. Die „wirkliche“ und einzige Welt wird nunmehr eine Welt der Zukunft, eine Welt, verstanden als ein Horizont unendlicher Erfahrung. 

Sie ist keine Welt im Sinne Platos mehr, für den die Welt ein vernunftbegabtes Lebewesen war, ein Abbild des Äon. 

Es gibt in dieser modernen Welt keine „Heimat“ mehr, die man verloren hat und zu der man zurück möchte, eine Heimat jenseits der sinnlichen Erfahrung, wie sie sich noch in der Bedeutung der „Erinnerung“ in der  griechischen Philosophie ausgedrückt hat. Nunmehr gibt es, wie in der Philosophie des Pragmatismus keine anderes Heim mehr als in der endlichen Erfahrung: „aber die endliche Erfahrung als solche, die hat kein Heim.“43