Cover

Inhaltsverzeichnis

Titel

Informationen zum Buch

Impressum

Widmung

Der erste Part

Kapitel 1 - Leaf

Kapitel 2 - Autumn

Kapitel 3 - Leaf

Kapitel 4 - Autumn

Kapitel 5 - Leaf

Kapitel 6 - Autumn

Kapitel 7 - Leaf

Kapitel 8 - Autumn

Kapitel 9 - Leaf

Der zweite Part

Kapitel 10 - Autumn

Kapitel 11 - Leaf

Kapitel 12 - Autumn

Kapitel 13 - Leaf

Kapitel 14 - Autumn

Kapitel 15 - Leaf

Kapitel 16 - Autumn

Kapitel 17 - Leaf

Kapitel 18 - Autumn

Kapitel 19 - Leaf

Kapitel 20 - Autumn

Kapitel 21 - Leaf

Kapitel 22 - Autumn

Kapitel 23 - Leaf

Kapitel 24 - Autumn

Kapitel 25 - Leaf

Kapitel 26 - Autumn

Kapitel 27 - Leaf

Kapitel 28 - Autumn

Kapitel 29 - Leaf

Kapitel 30 - Autumn

Kapitel 31 - Leaf

Kapitel 32 - Autumn

Kapitel 33 - Leaf

Kapitel 34 - Autumn

Kapitel 35 - Die schüchterne Blossom

Kapitel 36 - Autumn

Kapitel 37 - Leaf

Kapitel 38 - Autumn

Kapitel 39 - Leaf

Der letzte Part

Kapitel 40 - Leaf

Dank

 

J. K. BLOOM

 

 

AUTUMN & LEAF

 

 

 

Fantasy

 

Autumn & Leaf

551 und 556. Das sind ihre Produktnummern, denn sie wurden von einer Maschine erschaffen und in einem Institut großgezogen, wo sie darauf warten, verkauft zu werden. Sie sehen aus wie Menschen, besitzen jedoch keinerlei Rechte, dürfen keine Gefühle haben und schon gar keinen Umgang miteinander pflegen. Doch Autumn und Leaf geben sich Namen, lieben sich in aller Heimlichkeit und planen, zu fliehen. Als Leaf ausgerechnet an einen grausamen Mann verkauft werden soll, muss alles schnell gehen und die Flucht steht kurz bevor. Doch da erfährt Leaf, dass sich Autumn allein davongestohlen hat, ohne sie mitzunehmen. Ihr bleibt nur, sich ihrem Schicksal zu ergeben, denn ohne ihn ist sie eben nur 556. Ein Produkt, dazu verdammt, für die perversen Fantasien ihres neuen Besitzers herzuhalten. Sie ahnt nicht, dass die wahre Grausamkeit ihr noch bevorsteht, denn Autumn hat das Institut nicht freiwillig verlassen …

 

Die Autorin

J. K. Bloom schreibt schon, seit sie elf Jahre alt ist. Das Erschaffen neuer Welten ist ihre Leidenschaft, seitdem sie das erste Mal ein Gefühl für ihre Geschichten bekam. Sie ist selbst abenteuerlustig und reist sehr gern. Wenn sie ihre Nase nicht gerade zwischen die Seiten eines Buches steckt, schreibt sie, beschäftigt sich mit ihren zwei Katzen oder plant schon die nächste Reise an einen unbekannten Ort.

 

www.sternensand-verlag.ch

info@sternensand-verlag.ch

 

1. Auflage, Januar 2020

© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2020

Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski

Lektorat / Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH | Natalie Röllig

Korrektorat 2: Sternensand Verlag GmbH | Jennifer Papendick

Illustration Kapitel 40: Laura Battisti |The Artsy Fox

Satz: Sternensand Verlag GmbH

 

ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-109-3

ISBN (epub): 978-3-03896-110-9

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

Für Kurt,

weil Liebe die stärkste Macht der Welt ist

 

Der erste Part

 

Wie alles begann …

Kapitel 1 - Leaf

 

Ein warmer Sonnenstrahl kitzelt meine Nase, als sich dieser einen Weg durch die Schlitze der zugezogenen Vorhänge bahnt. Ich blinzle und drehe dem Licht den Rücken zu, als ich dabei auf einen weiteren Körper stoße, dessen Arme sich geborgen um mich legen.

Mir entfährt ein zufriedener Seufzer und ich schließe wieder die Augen. »Guten Morgen.«

Nackte Haut schmiegt sich an meine und ich genieße die intensive Berührung, bevor der Moment bald wieder vorbei sein wird.

»Morgen«, raunt die melodisch schöne Stimme in mein Ohr. »Heute ist ein freier Tag.«

Für einen Augenblick halte ich die Luft an und lasse mir nicht anmerken, dass mir bei seinen Worten das Herz unruhig in der Brust schlägt.

Womöglich mein letzter, denke ich. »Ja, richtig.«

Seine Lippen streifen meine Schläfe und hinterlassen an der Stelle ein sanftes Kribbeln. Von seiner Zärtlichkeit eingenommen, schlinge ich die Arme um seinen Hals und presse meinen Oberkörper an seine Brust.

So viel Wärme … Ich werde sie vermissen.

Sehnsüchtig vergrabe ich meinen Kopf an seiner Schulter und gebe einen glücklichen Laut von mir. Dabei atme ich seinen Lavendel-Honig-Duft ein, fahre mit den Fingern durch seine stufigen schwarzen Haare und gleite anschließend von seinem Nacken bis zu seinen Schulterblättern hinunter.

»Leaf?«, flüstert er meinen Spitznamen, den nur er und ich kennen.

Wunschkinder besitzen keine Namen, nur eine Zahl, damit sie dem großen Register zugeordnet werden können. Wie die Produkte einer Firma.

Ich öffne die Lider und blicke in seine kastanienbraunen Augen, die mich an die herabfallenden Blätter im Herbst erinnern. Genau aus dem Grund ist er für mich ›Autumn‹ und keine Zahl. »Ja?«

Seine Hand wandert zu meiner Wange, auf der sie zum Erliegen kommt. »Du verschweigst mir etwas und das macht mir Sorgen.«

Ich halte inne und versuche mir meine Unsicherheit, die mich überkommt, nicht anmerken zu lassen.

Woher weiß er, dass ich vor ihm etwas verberge? In den letzten Tagen habe ich mein Wissen mit niemandem geteilt – niemandem erzählt, dass heute unser letzter gemeinsamer Morgen sein könnte.

Auch wenn ich weiß, dass es längst zu spät ist, um ihm etwas vorzuspielen, darf ich mein Geheimnis niemals preisgeben. Also lächle ich unbesorgt und schüttle den Kopf. »Ich verschweige dir nichts.«

Autumns Kummer vergeht nicht. »Wieso lügst du mich an?«

Ich rücke näher zu ihm und fahre mit dem Daumen über seine glatt rasierte Wange. »Ich verheimliche dir nichts. Wirklich.«

Sein Blick wandert unruhig über meine Gesichtszüge, als könnte er dadurch die Wahrheit herausfinden. Doch meine Maske bleibt eisern, undurchdringbar.

Nach einer langen Pause werden seine Lippen zu einer schmalen Linie, er löst sich von mir und bringt einen geringen Abstand zwischen uns. Die Wärme, nach der ich mich so verzehre, verschwindet im nächsten Moment und weicht einer Kälte, die mich frösteln lässt. »Du hast im Schlaf geweint und gesagt, dass es dir leidtut.«

Ich reiße erschrocken die Augen auf und beiße mir auf die Unterlippe. »Du weißt doch, dass ich immer seltsame Dinge träume.«

Er nickt. »Nur wenn dich etwas quält.«

Ich kann es ihm nicht sagen. Er würde sich in Gefahr bringen und alles Erdenkliche tun, damit ich morgen nicht zur ›Auswertung‹ gehe. Es ist der gefürchtetste Ort im ganzen Institut – zumindest für diejenigen, die sich nach Freiheit sehnen.

Mit eisernem Willen kämpfe ich gegen den Drang an, zu meiner Hose zu blicken, die über dem Stuhl neben uns hängt und in der sich der Brief befindet, den ich vom Institut erhalten habe. Eine Einladung als Kandidatin für die Auswertung.

Wenn Autumn ihn entdeckt, wird er wissen, was mir bevorsteht.

»Du musst mir glauben, es ist nichts«, beruhige ich ihn.

Wir sehen uns eine Weile lang an. Seine Augen suchen zwar noch immer nach Antworten, doch je länger er mich betrachtet, desto weicher wird sein Blick.

Als er endlich die Distanz zwischen uns überbrückt, indem er seine Hand in meine legt, entweicht mir ein kaum merklicher Seufzer.

Er zieht mich zu sich, streicht durch mein honigfarbenes Haar und legt seine Lippen sehnsuchtsvoll auf meine. Ich schmecke Minze, da er wohl heute Morgen schon im Badezimmer war, um sich die Zähne zu putzen, und atme dabei sein süßliches Aftershave ein. Unsere Küsse werden verlangender, wilder. Mit seinen Händen streicht er über meine Haut, fährt dabei mit den Fingern von meiner Wange über meine Brüste bis zu meinem Becken.

Ich gebe einen genussvollen Laut von mir und lasse mich erneut von seiner Leidenschaft fesseln.

Wir haben nur diese Momente miteinander, in denen wir uns lieben können, während wir außerhalb dieses Zimmers zwei Fremde sein müssen. Produkte dürfen sich nicht lieben, sie sind nicht einmal Menschen. Zumindest reden sie uns das seit Jahren ein.

Doch Autumn und ich teilen etwas Besonderes. Wir haben uns nicht umsonst heimlich Namen gegeben, um unserer Liebe eine stärkere Bedeutung zu verleihen.

Vor einem Jahr drückte er heimlich tröstend meine Hand, als wir nebeneinanderstanden, während unser Mentor verkündete, wer in seinem Wert als Wunschkind gestiegen war. Vier Tage danach wechselten wir zum ersten Mal Worte miteinander, obwohl das Reden zwischen einem Mädchen und einem Jungen streng verboten ist. Nach weiteren zwei Wochen stand er vor meiner Tür und übernachtete trotz des Risikos in meinem Zimmer. In dieser Nacht küsste er mich zum ersten Mal und gab mir den Namen ›Leaf‹.

›Leaf, deren Augen so grün leuchten wie die Ahornblätter im Sommer, angestrahlt von der warmen Sonne an einem hellblauen Himmel.‹

Seitdem wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dass wir beide unser achtzehntes Lebensjahr vollenden, um gemeinsam in Freiheit zu leben. Denn Wunschkinder, die bis zu diesem Alter bei keiner Auswertung gekauft werden, dürfen ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Ihnen steht es frei, das Institut zu verlassen. Viele Käufer möchten junge Produkte, von denen sie noch lange etwas haben, bevor sie sterben. Deshalb hat das Institut eine Grenze gesetzt und beschlossen, nur Minderjährige zu verkaufen.

Doch seit dem Brief schwindet diese Hoffnung und damit auch die Vorstellung, mit Autumn ein gemeinsames Leben aufzubauen.

In meiner Brust spüre ich einen heftigen Stich, den ich jedoch versuche zu ignorieren, während Autumn und ich uns ein weiteres Mal lieben.

 

Als wir erneut Arm in Arm im Bett liegen, hört sich mein ruhiger Herzschlag wie das unerträgliche Ticken einer Uhr an. Die Zeit läuft und mir bleiben weniger als ein Tag und zwei Stunden, bis ich mich bei der Auswertung vorstellen muss.

Vielleicht ist es wirklich unser letzter gemeinsamer Morgen. Ein letztes Mal, dass ich Leaf und nicht 556 sein darf.

Autumn löst sich sanft von mir, drückt seine Lippen auf meine, bevor er das Bett verlässt und im Badezimmer verschwindet.

Unsere Zimmer sind alle gleich. Möbel, Wände und sogar Kleidung sind in einem sterilen Weiß gehalten, als würden Farben unsere perfekt kreierten Körper beeinträchtigen. Wir wurden in einem Reagenzglas hergestellt, mit einer Menge Chemie ergänzt und anschließend in einer Maschine, die einer Gebärmutter gleichkommt, entwickelt. Wir haben keine Eltern, keine Familie, keine Freunde. Unser Leben besteht darin, ein Produkt zu sein, das auf dem Markt verkauft wird.

Autumn und ich gehören zu einer ›Special Edition‹. Unsere Augen leuchten im Dunkeln wie schillernde Edelsteine im Sonnenlicht. Außerdem bewegen sich über tausend unterschiedliche Nuancen in unseren Strähnen, die beeindruckende Farbreflexe wiedergeben wie die Wellen auf dem Meer. Dadurch wirkt das Haar, als würde es leben. Unser Körper ist gegen die meisten Krankheiten resistent und der durchschnittlich gewünschten Größennorm angepasst. Die Haut ist sehr weich und weist keinerlei Makel oder Unreinheiten auf. Haare besitzen wir nur auf dem Kopf und an den Brauen – die Männer zusätzlich noch einen Bart, außer sie rasieren sich wie Autumn.

Unsere Modellreihe ist sehr hochwertig, besonders jedoch die Special Edition, von der nur eine begrenzte Anzahl hergestellt wurde. Steigt man noch zusätzlich durch sein individuelles Äußeres im Wert, ist das Produkt gefragter und auch teurer, sodass man das Glück hat, von jemand Reichem gekauft zu werden. Doch damit schwindet auch die Hoffnung auf Freiheit.

Ich steige langsam aus dem Bett und ziehe mir wieder mein weißes Baumwollshirt, die passende lange Hose und Turnschuhe an. Anschließend trete ich vorsichtig zum Fenster und spähe durch den kleinen Spalt des zugezogenen Vorhanges. Niemand darf mich dabei erwischen, wie ich jeden Morgen Autumns Zimmer verlasse und es tief in der Nacht wieder aufsuche.

Doch heute haben wir beide frei. Zumindest scheint Autumn sich so zu fühlen, doch ich habe das Gefühl, in einem Käfig erdrückt zu werden. Morgen schon könnte ich nicht mehr hier sein, nie wieder einen Blick auf den riesigen Park des Instituts werfen und den kleinen Kindern dabei zusehen, wie sie sich gemeinsam auf der Wiese austoben.

Obwohl wir Produkte sind, werden wir menschlich erzogen, erhalten eine Schulbildung, da wir auch später von einer Familie adoptiert werden könnten – was leider recht selten vorkommt. Meistens sind wir nur Objekte oder Sklaven – Produkte eben, mit denen man anstellen kann, was man will.

Durch unsere chemische Entstehung sieht die Regierung uns nicht als Mensch an, sondern als Sache. Wir haben keine Rechte und können auch auf den Straßen von Menschen aufgegriffen und benutzt werden. Doch alles ist besser, als verkauft zu werden. Denn dann kann man noch nicht einmal selbst Entscheidungen treffen.

Nur durch einen Menschentest ist es uns möglich, als dieser auch anerkannt zu werden. Doch dafür braucht man Geld und einen Menschen, der für einen bürgt.

Als sich die Badezimmertür wieder öffnet, schaue ich über meine Schulter zu Autumn. Er hat sich weiße Boxershorts angezogen und offensichtlich in Windeseile geduscht. Mein Blick gleitet über seinen muskulösen gebräunten Oberkörper.

Mit einem einnehmenden Lächeln kommt er auf mich zu und legt seine Hände an meine Wangen. »Du musst gehen, Leaf. Unser Mentor wird uns gleich besuchen kommen.«

Ich schließe für einen Moment die Augen und verdränge den Gedanken an morgen. »Ist gut.«

Er drückt mir einen sehnsuchtsvollen Kuss auf die Lippen und streicht mir anschließend eine Strähne hinters Ohr. »Bis wir in Freiheit sind.«

Unser Satz, mit dem wir uns jedes Mal daran erinnern, was wir uns vor einem Jahr geschworen haben. Wir würden gemeinsam dieses Institut verlassen, unserer Herkunft den Rücken kehren, Hand in Hand einen Schritt nach dem anderen tun, bis wir uns sicher sind, dass wir nie wieder zurückkommen müssen.

Und obwohl ich diesen Satz, ohne zu zögern, erwidern sollte, stecken mir die Worte nun im Hals. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich das Versprechen halten kann. Das letzte Mal habe ich vor über zwei Jahren an einer Auswertung teilgenommen und war bereits in die engere Auswahl gekommen. Doch letztendlich hat sich der Käufer für ein anderes Produkt entschieden.

In Autumns Augen spiegelt sich eine Mischung aus Enttäuschung und Angst wider. Seine Arme fallen neben seinem Körper herab und er blickt zur Seite. »Wusste ich es doch.«

Der Schmerz in meiner Brust wird größer. »Was ist, wenn ich unser Versprechen eines Tages nicht halten kann?«

Autumn wendet sich mir abrupt wieder zu und sieht mich entsetzt an. »Wir schaffen das. Ehe du dichs versiehst, haben wir die zwei Jahre hinter uns gebracht.«

Tränen treten in meine Augen, und Wut staut sich in mir. Wie kann er so blind sein? Unsere Produktreihe wird gerne gekauft, wir beide sind keine qualitativ schlechten Objekte, sondern werden bei einer ›Besichtigung‹ des Öfteren ins Auge gefasst. Ich spüre jedes Mal die neugierigen Blicke, die auf mir liegen, wenn wir zur Schau gestellt werden.

Das Einzige, was uns rettet, ist der hohe Preis. Selbst die Reichen überlegen es sich zweimal, ob wir es auch wert sind. Deshalb haben wir das Glück, noch nicht gekauft worden zu sein.

Doch wir können uns nicht zwei Jahre lang verstecken.

Ich gehe auf die Tür zu, weil ich den Drang verspüre, das Zimmer zu verlassen. Der Gedanke, Autumn für immer zu verlieren, macht mich krank, bringt mich beinahe um den Verstand. Bevor er in Erfahrung bringen kann, was mir wirklich auf der Seele lastet, verschwinde ich durch die Tür und höre noch, wie er nach mir ruft.

Doch ich drehe mich nicht zu ihm, bringe schnellen Schrittes sein Zimmer hinter mich und laufe eilend in meines, das nur zwei Korridore weiter liegt.

Als ich in meinen sicheren vier Wänden ankomme, sind meine Wangen feucht und warm. Ich gleite mit dem Rücken an der Tür hinab, drücke mir die Handinnenflächen auf die Lider und weine leise.

Ich kann das nicht.

Ich kann ihn nicht allein zurücklassen.

Warum tut es so verdammt weh?

Ich rede mir ein, dass in der Auswertung mindestens neun weitere Mädchen sind, die auserwählt werden könnten, doch das hilft mir nicht. Der Gedanke, dass sich morgen mein komplettes Leben ändern könnte, beängstigt mich so sehr, dass mir schlecht wird.

Ich laufe auf die Toilette und übergebe mich.

Ich bin in diesem Institut entstanden, aufgewachsen und habe Autumn kennengelernt. Der erste echte Mensch, den ich nicht als Produkt ansehe, sondern als ein Teil meines Lebens.

Mir wäre nicht so furchtbar angst und bange, wenn ich nicht ahnte, zu welcher Auswertung ich eingeladen wurde. Denn ich habe eine leise Vermutung, wer dieser Käufer sein könnte, da ich ihm einmal in die Augen gesehen habe, während er mich auf der Besichtigung ausgiebig beobachtete. Selbst als ich ihm den Rücken zukehrte, konnte ich die gierigen Blicke auf mir spüren.

Wenn es sich bei der Auswertung tatsächlich um diesen einen älteren Mann handelt, dessen Anblick mir eine Gänsehaut verpasst, bin ich verloren.

Ich werde Autumn nie wiedersehen. Nie wieder seine Wärme fühlen. Ihn nie wieder küssen können.

Eine unsichtbare Schnur zieht mir den Hals zu. Ich lasse mich keuchend neben die Toilette sinken, krümme mich auf dem Boden und zittere am ganzen Körper.

Ich darf Autumn heute Abend nicht besuchen.

Es würde ihm viel mehr das Herz brechen, wenn er von der Auswertung wüsste und davon, dass ich gekauft werden könnte. Besser, ich bin diejenige, die es ihm bricht und nicht der unerträgliche Gedanke, mich vielleicht heute ein letztes Mal gesehen zu haben.

Kapitel 2 - Autumn

 

Als ich schweren Herzens auf die Tür starre, durch die Leaf verschwunden ist, bricht in mir Stück für Stück etwas zusammen. Warum ist sie so distanziert gewesen? Was hat sie in den letzten Tagen erfahren? Weshalb verschweigt sie mir etwas?

Ich gehe auf die Tür zu und umklammere den weißen Griff. Jede Faser in mir will zu ihr und sie in den Arm nehmen, um sie zur Rede zu stellen.

Doch ich zögere.

Haben sich ihre Gefühle mir gegenüber geändert? Wie konnte es nur dazu kommen, dass sich unsere Liebe von einer Sekunde auf die andere in Zweifel verwandelte? Wir haben uns bisher immer alles gesagt.

Meine Gedanken werden von Schritten auf dem Flur unterbrochen und bevor ich glaube, dass es Leaf sein könnte, die zu mir zurückkehrt, erkenne ich das schwere Stampfen meines stämmigen Mentors.

Ich lasse den Griff los und stelle mich an das Bett, warte darauf, dass mein Mentor eintritt. Als die Tür aufgerissen wird, stellt sich der glatzköpfige Riese in mein Zimmer und mustert mich mit hochgezogener Augenbraue. »551, wieso bist du halb nackt? Zieh dir gefälligst etwas an!«, keift er und ich schnappe mir das T-Shirt vom Boden, das ich von mir gestreift habe, während Leafs Lippen über meinen Hals glitten.

Ein warmes Gefühl umfängt mich für einen kurzen Moment. Ich muss heute Abend unbedingt mit ihr reden.

»Es gibt trotz deines freien Tages eine Besichtigung. Mach dich also fertig«, murrt er, macht auf dem Absatz kehrt und verschwindet mit einer laut zuschlagenden Tür aus dem Zimmer.

Ich stoße erleichtert die Luft aus. Wenn man merkt, dass ein Produkt gewisse Regeln nicht befolgt, wird es eliminiert – anders gesagt, getötet. Sie glauben, dass das Produkt nach dem Kauf nicht mehr funktionieren würde, und schlechte Bewertungen kann sich das Institut nicht leisten.

Aber denken sie allen Ernstes, dass menschliche Gefühle keine Rolle spielen würden? Wenn sich ein Produkt misshandelt fühlt, wird es sich wehren oder sogar davonlaufen. Wir sind immer noch irgendwo Menschen, auch wenn wir nicht durch diese auf die Welt kamen. Doch viele Produkte sehen sich nicht als solche. Sie gehorchen lieber und tun das, was man ihnen sagt.

Natürlich gibt es Käufer, die gerne Produkte erwerben, um ihren sadistischen, kranken Fantasien freien Lauf zu lassen. Meistens sind das reiche Personen, die sich einen solchen Massenkauf leisten können. Viele der Produkte sterben dabei, müssen die unvorstellbarsten Qualen und Ängste durchstehen, bis der Tod sie erlöst. Jedenfalls besagen das unsere Gerüchte, denn gekaufte Produkte kehren nie wieder ins Institut zurück. Wenn wir von Käufern näher betrachtet werden, kommt uns die ein oder andere grauenvolle Geschichte zu Ohren, da die Menschen unglaublich gerne reden.

Ich hoffe inständig, dass Leaf einem solchen Grauen niemals zum Opfer fallen wird. Allein der Gedanke, sie in den Händen eines solchen Käufers zu sehen … es würde mir den Verstand rauben.

Nachdem ich mich vollständig für die Besichtigung eingekleidet habe, warte ich, bis ein Aufseher an meinem Zimmer vorbeischaut, um mich mitzunehmen.

Der schlaksige Kerl namens Liam, der mich meistens von einem Raum zum anderen begleitet, führt mich zu einem der mir bekannten Besichtigungsräume.

Allerdings lässt mich das Thema zusammenzucken. Es hat wieder viele Anfragen gegeben für Escort-Produkte. Männer und Frauen, die die Menschen zu Partys oder Veranstaltungen begleiten sollen. Neben dem Kaufen ist es natürlich auch möglich, ein Produkt zu leasen, doch das passiert nur in den allerwenigsten Fällen.

»Los, alle da rein«, scheucht Liam unsere Gruppe, bestehend aus fünfzehn Produkten, in den aus Glas kreierten Raum hinein.

Grelle Lampen erhellen den Kasten und ich kann einige Hände erkennen, die von außerhalb die Scheibe berühren. Uns ist es durch eine Verspiegelung nur beim näheren Herangehen möglich, die Gesichter unserer Käufer anzuschauen.

Doch ich bleibe, im Gegensatz zu den anderen Produkten, desinteressiert am Rande des Raumes stehen. Die anderen wollen sogar gekauft werden, da der Escort Spaß zu machen scheint und es eine Chance ist, vor dem achtzehnten Lebensjahr das Institut zu verlassen.

Einige der Produkte akzeptieren ihr Schicksal und versuchen das Beste daraus zu machen. Sie hegen nicht die Hoffnung, in Freiheit leben zu können, da sie der Meinung sind, dass man diese auch nicht nach dem achtzehnten Lebensjahr erhält.

Mein Blick gleitet unauffällig zu 359, ein männliches, durchschnittliches Produkt, das einen sehr muskulösen, braun gebrannten Körper besitzt. Es ist einfacher, den Körper eines Produktes zu verkaufen als den eines Menschen, da man damit schnelles Geld machen kann, ohne sich groß um die Bedürfnisse der Wunschkinder kümmern zu müssen. Den Käufern ist nur wichtig, dass die Produkte ihren Zweck erfüllen.

Die weiblichen Produkte präsentieren ihre Kurven, von denen sie allesamt reichlich haben. Obwohl sie dieselbe Kleidung wie ich tragen, krempeln sie das Shirt hoch oder ziehen es sogar ganz aus, um mehr von ihrer Haut zu zeigen. Für sie ist das Ziel erreicht, wenn sie gekauft werden.

Weshalb mein Mentor mich immer wieder in das Escort-Thema hineinzieht, weiß ich nicht.

Das Wissen, dass uns dort draußen Käufer mit bohrenden Blicken betrachten, lässt mich jedes Mal meinen Körper anspannen. Die Angst ist einfach zu groß, einen Interessenten auf mich aufmerksam zu machen, sodass man beim nächsten Mal in einer Auswertung landet.

Wie viele dieser Prozesse Leaf wohl schon hinter sich hat? Seit wir uns nähergekommen sind, hat sie nur an Besichtigungen teilnehmen müssen, wurde jedoch zu keiner Auswertung zugelassen – was mich jedes Mal erfreute, wenn ich davon hörte.

Während die anderen den Käufern anzügliche Worte zusprechen und sich mit ihrem schönsten Lächeln verkaufen, höre ich, wie jemand in meiner Nähe gegen die Scheibe klopft. Das Geräusch zieht unwillkürlich meine Aufmerksamkeit auf sich, sodass ich den dummen Fehler begehe und zu der klopfenden Hand hinstarre.

Wie naiv von mir.

Ich richte den Blick wieder gen Boden und ignoriere das penetrante Klopfzeichen.

Allerdings lässt mein Interessent nur schwer von mir los. Irgendwann verstummt das Geräusch und ich glaube voller Hoffnung, den nervigen Kauflustigen losgeworden zu sein.

Wenn ich mich da mal nicht irre …

Die Tür springt auf und mein Mentor steht im Glaskasten. »551, komm zu mir.«

Das Herz schlägt mir angstvoll gegen den Brustkorb. Ungläubig starre ich ihn an, doch seine stechend blauen Augen sind ungeduldig auf mich gerichtet.

Die Produkte um mich herum werfen mir neugierige Blicke zu.

Ich seufze und gehe mit zitternden Beinen zu meinem Mentor. Als er die Tür hinter mir schließt, deutet er mit der Hand auf eine kleine zierliche Frau, die nicht viel älter als ich sein kann.

»Fünf Minuten, Miss Deel«, informiert mein Mentor die Dame freundlich. Wenn er seine Mundwinkel in die Höhe streckt, wirkt er wie ein breit grinsender Grizzly. Es passt nicht zu ihm.

Ich richte meine Augen wieder auf die Frau und präge mir ihr Aussehen ein. An Interessenten sollte man sich besser immer erinnern, um sie beim nächsten Mal noch besser ignorieren zu können.

Die schmale Dame hat Sommersprossen auf ihrer Nase und den Wangen. Ihre Haare sind pink, die Fingernägel lang und künstlich. Sie trägt eine bunt gestreifte Leggins und schwarze Springerstiefel, die ihre Beine lang wirken lassen. Ein rotes Korsett betont ihre Hüfte und die Brüste.

Eine seltsame Gestalt, denke ich mir.

»Hallo, 551«, begrüßt sie mich freudestrahlend. Ich ringe mich zu einem Lächeln durch. »Wie geht es dir?«

Welcher Interessent fragt ein Produkt, wie es ihm geht? Soll ich antworten ›Technisch gesehen einwandfrei‹? »Gut.«

Sie grinst über beide Ohren. »Mein Name ist Majha Deel. Ich bin Fotografin und suche das perfekte Model für meine Modeagentur. Hättest du Lust, mir zu helfen?«

Ich schlucke und spüre dabei einen Tritt in die Magengrube. Sie will mich kaufen? Jetzt schon? Im Glaskasten sind noch so viele andere Produkte, die dafür viel geeigneter wären.

Außerdem würde ich Leaf verlassen, wenn ich gekauft würde. Das muss ich um jeden Preis verhindern. »Ich bin eine Special Edition.«

Ihr Lächeln vergeht und sie legt den Kopf schief. »Und?«

»Nun, damit bin ich um ein Vierfaches teurer als die anderen Produkte im Glaskasten. Ich finde, darüber sollten Sie unbedingt nachdenken«, gebe ich mit monotoner Stimme von mir.

Sie soll glauben, dass ich ein gefühlloses, dummes Objekt bin, mit dem sie vielleicht sogar einige Schwierigkeiten bekäme, wenn ich auf ihren Fotografien keine Emotionen zeige. Vielleicht überdenkt sie dann ihr Vorhaben noch einmal.

Jedenfalls scheint sie über meine Worte zu grübeln. »Sogar um ein Vierfaches? Das wusste ich gar nicht. Die Preise sind ja leider nie an den Tafeln angebracht.« Sie geht einmal um mich herum wie ein Löwe um seine Beute. »Aber du hast eine so tolle Figur und diese beeindruckend leuchtenden Augen. Einfach fantastisch!«

Nein! Such dir ein anderes Produkt, hätte ich am liebsten geschrien, doch das würde mir nur Probleme einhandeln. Mein Mentor behält mich ganz genau im Auge und das weiß ich, ohne ihn anzusehen. Ich muss bleiben. Für Leaf. Für unsere gemeinsame Freiheit.

Als sie wieder vor mir stehen bleibt, schaue ich sie nicht an, sondern starre konzentriert in die Ferne. »Aber du hast recht. Ich werde noch darüber nachdenken müssen, ob du das Geld auch wert bist.«

Beinahe wäre mir ein erleichterter Seufzer entglitten.

Kein Kauf. Aber vielleicht eine Auswertung und das beunruhigt mich.

Wie soll ich das nur Leaf beibringen?

Mein Mentor kommt auf uns zu und meine Interessentin sieht ihn unsicher an. »Ich kann mich noch nicht entscheiden. Könnten Sie ihn bitte auf die Liste der Auswertung schreiben?« Mist! »Ich würde dann nächste Woche wiederkommen, um mir die paar Produkte erneut anzusehen.«

Mein Mentor setzt wieder sein Grizzly-Grinsen auf. »Aber sehr gerne doch, verehrte Miss Deel. Ich schreibe 551 gleich auf Ihre Liste.«

Sie nickt dankbar. »Dann bis nächste Woche!«

Mein Mentor wirkt sehr zufrieden und schaut mich stolz an. »Vielleicht hast du endlich Glück, 551.«

Glück?

Am liebsten hätte ich ihm ins Gesicht geschlagen, doch ich muss mich beherrschen. Wenn mein Mentor merkt, dass ich nicht verkauft werden will, wird er mich auf noch mehr Besichtigungen mitbringen.

Er schickt mich zurück in den Glaskasten, in dem ich regungslos am Rande stehen bleibe und auf den Boden starre.

Als die Besichtigung nach einer halben Stunde vorbei ist, scheint Miss Deel die einzige Interessentin zu sein, die mich auf ihre Liste schreiben ließ. Das Ergebnis beruhigt mich nur bedingt.

In meinem Zimmer setze ich mich nachdenklich aufs Bett und versuche, meine Gedanken zu sortieren. Leafs abweisende Reaktion von heute Morgen bereitet mir noch immer Sorgen, während ich mir passende Sätze ausdenke, um ihr zu erklären, dass ich an einer Auswertung teilnehmen muss. Seit über eineinhalb Jahren habe ich es geschafft, für Käufer uninteressant zu sein, doch nun scheine ich eine wahre Verehrerin gefunden zu haben.

Als ich es in meinem Zimmer nicht mehr aushalte, bitte ich Liam durch meine Sprechanlage, mich zum Gemeinschaftsraum zu bringen, in dem Produkte unter Aufsicht zusammen sein dürfen. Allerdings wird man äußerst streng überwacht und Emotionen sind ungern gesehen. Man befürchtet, dass man eine Sympathie füreinander empfindet, so wie ich eine Liebe für Leaf entwickelt habe.

Dabei hoffe ich inständig, sie dort anzutreffen. Doch im weißen, sterilen Raum angekommen, kann ich Leaf nirgends ausfindig machen. Sie scheint auf ihrem Zimmer geblieben zu sein.

Wenn ich nur wüsste, was in ihrem Kopf vorgeht.

In der Mitte spielen fünf Produkte wortlos Karten. Ab und an geben sie ein Grunzen oder einen undefinierbaren Laut von sich, ansonsten bleibt es zwischen ihnen still. Im hinteren Teil des riesigen Saales stehen sechs Bücherregale, in deren Nähe sich Leaf ebenfalls gerne aufhält. Doch auf dem Sessel oder dem langen Sofa kann ich sie nicht entdecken.

Es sind nicht besonders viele hier, doch der Raum ist in Schweigen gehüllt. Manchmal höre ich, wie die Dartpfeile die batteriebetriebene Zielscheibe an der Wand treffen und eine Roboterstimme ein ›Treffer‹ von sich gibt. In der Gymnastik-Abteilung befindet sich ein Fitness-Produkt, das sogar dazu gezwungen wird, seinen Körper fit zu halten, damit sein Wert nicht verloren geht.

Zwei Frauen sitzen vor einem Kosmetiktisch, tuschen sich die Wimpern, färben sich die Lippen mit knalligen Farben und lackieren sich gegenseitig die Nägel.

Ich blicke zu einer weiteren Tür, hinter der sich das Kino befindet. Sieben Tage die Woche laufen dort einige Dokumentationen ab, doch von der Politik oder der Wirtschaft bekommen wir kaum etwas mit. Sie zeigen uns nur das, was wir wissen dürfen. Vom Rest schotten sie uns ab.

Ich flüchte zur Buchabteilung und schnappe mir einen dünnen Einband. Es handelt sich dabei um die berühmte Geschichte von ›Moby Dick‹. Ich kenne das Buch bereits in- und auswendig, doch ich lese es immer wieder gerne.

Ein Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen, als das Buch Erinnerungen in mir wachruft. Ich verbinde mit ihm ein ganz besonderes Erlebnis, das ich nie wieder in meinem Leben vergessen werde.

Nach wenigen Seiten höre ich ein »Psst« in unmittelbarer Nähe und blicke in die hellblauen Augen eines Produktes. Die Frau scheint aus unserer Modellreihe zu stammen, da sie dieselben auffälligen Besonderheiten besitzt wie Leaf und ich. Ihr Gesicht ist mir bekannt, doch wir haben noch nie heimlich miteinander gesprochen.

»Wusstest du, dass wir morgen Besuch von einem besonderen Käufer bekommen?« Statt Freude schwingt in ihrer Stimme Furcht mit.

Wer das wohl sein könnte?

Mein Blick wandert unauffällig zu den Aufsehern, von denen noch keiner bemerkt hat, dass wir uns unterhalten. Ich fixiere wieder mein Buch und tue so, als würde ich lesen. »Von wem denn?«

»Ein ziemlich reicher, alter Sack. Sagt dir der Name Adam Malone etwas?«, flüstert sie und tut dabei ebenfalls so, als wäre sie weiter in ihr Buch vertieft.

»Nein, der Name sagt mir nichts.«

Sie seufzt und klingt frustriert. »Den Gerüchten zufolge kommt er einmal im Jahr, um sich ein paar hübsche Produkte auszusuchen, die er bei sich zu Hause so lange misshandelt, bis sie sterben.«

Eine eiskalte Gänsehaut legt sich über meinen Körper. »Er will Frauen?«

Sie atmet lange aus und ihre Lippen beben dabei hörbar. »Ja. Ausschließlich. Man sagt, bisher habe noch kein Produkt überlebt.«

Angst überkommt mich, denn ich denke dabei an Leaf. »Ist morgen die Besichtigung?«

Sie lacht freudlos. »Schön wäre es. Nein, eine Auswertung.«

Im ersten Moment überkommt mich Erleichterung, doch dann beginne ich langsam zu zweifeln. Ob Leaf mir eine Auswertung verschweigen würde? Vor ein paar Tagen ist sie noch bei einer Besichtigung gewesen, doch daraufhin meinte sie, niemand habe sich für sie interessiert.

Oh bitte, lass mich recht haben. Ich ertrage es nicht, wenn dieses Schwein sie kaufen würde.

Ich atme nervös aus. »Glaubst du den Gerüchten?«, hake ich nach.

Das Mädchen wirkt betroffen und ihre Lippen werden zu einer schmalen Linie. »Ja. Ich bin bei der Auswertung dabei. 452, 322 und 105 auch. Wie viele letztendlich ausgewählt wurden, weiß ich leider nicht. Sie alle sind blondhaarig und zwischen vierzehn und siebzehn Jahre. Er scheint eine bestimmte Vorliebe zu haben.«

Mir wird schlecht. Leaf ist genau sein Typ.

Doch vielleicht haben sie sie übersehen und sie war noch nicht einmal bei der Besichtigung dabei. Aber was ist, wenn ich mich irre?

Ohne vorher die Wahrheit zu kennen, kann ich keinen klaren Gedanken fassen.

Panik wallt in mir auf und mich überkommt das Bedürfnis, sie sofort aufzusuchen. Ich muss wissen, ob sie morgen an einer Auswertung teilnimmt.

Da ich nicht mehr ruhig sitzen kann, stehe ich auf, verabschiede mich von dem Produkt und bitte Liam mich zurückzubringen.

Als wir am Flur vorbeigehen, in dem sich die Mädchenabteilung und damit auch Leafs Zimmer befindet, werfe ich einen kurzen Blick in diese Richtung.

Liam scheint das zu bemerken und lacht. »Ich verstehe das, Kumpel. Auch ihr Produkte seid irgendwo Männer und euer Trieb muss ab und zu gestillt werden.«

Ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe. »Wir brauchen das nicht«, erwidere ich und klinge dabei nur zur Hälfte überzeugt.

Wir fühlen, wir empfinden, wir haben dieselben Eigenschaften wie ein Mensch. Was sollte diese überflüssige Feststellung?

Aber manchmal verhält sich Liam eben so, als wären wir Tiere oder Maschinen.

Er lacht. »Jaja. Das sagen sie alle.«

Ich gehe einfach nicht mehr auf das Thema ein und warte, bis ich in meinem Zimmer allein bin.

Die Worte des Mädchens gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. »Sie alle sind blondhaarig und zwischen vierzehn und siebzehn Jahre. Er scheint eine bestimmte Vorliebe zu haben«, höre ich sie in meinem Kopf sagen.

Mit zitternden Händen reibe ich mir über die Augen und versuche die quälenden Gedanken zu vertreiben. Ich muss heute Abend unbedingt mit ihr sprechen.

»Den Gerüchten zufolge kommt er einmal im Jahr, um sich ein paar hübsche Produkte auszusuchen, die er bei sich zu Hause so lange misshandelt, bis sie sterben.«

Mir bleibt die Luft weg und ich wage es nicht einmal, daran zu denken, wie der sadistische Käufer Leaf quälen könnte.

»Man sagt, bisher habe noch kein Produkt überlebt.«

Vielleicht hat das Mädchen auch übertrieben oder die Gerüchte sind falsch. Möglicherweise ist es nur ein ruppiger Käufer, der etwas temperamentvoller gegenüber seinen Produkten ist.

Und wie oft habe ich schon von Produkten gehört, die ermordet, verstümmelt oder über etliche Monate oder Jahre gequält wurden, bevor man sie erlöste?

Ich schüttle heftig den Kopf und lege die Hände an meine Schläfen. Ich muss aufhören, mir solche naiven Gedanken einzubläuen. Leaf ist möglicherweise dabei, an einen Käufer zu geraten, der ihr das Leben zur Hölle machen wird.

Allein die Vorstellung, wie er ihr wehtun könnte, sie an Stellen berührt, an denen sie nicht angefasst werden will, oder sie sogar vergewalt…

Mit geballten Händen schlage ich auf die Matratze ein und gebe einen zornigen Schrei von mir. Ich mache mich selbst wahnsinnig und bevor ich wirklich meinen Verstand verliere, muss ich mit ihr sprechen.

Heute Abend.

Ich muss sie sehen, wissen, dass es stimmt, dass sie morgen an keiner Auswertung teilnimmt.

Doch was tue ich, wenn doch?

Kapitel 3 - Leaf

 

Bis zum Abend habe ich mich in meinem Badezimmer verkrochen und leise vor mich hin geweint. Kurz nachdem ich Autumn verlassen hatte, suchte ich eine Ablenkung im Gemeinschaftsraum. Ein Mädchen hat mir anschließend erzählt, dass es ebenfalls bei der morgigen Auswertung dabei ist. Es kannte diesen Mann sogar, er ist als Adam Malone bekannt, der sich jedes Jahr ein teures Produkt gönnt, das er auf eine grauenvolle Art misshandeln soll.

Da mich die Angst beinahe erdrückt hat, ging ich zurück auf mein Zimmer und blieb seither im Badezimmer sitzen. Deshalb erzählen uns die Mentoren nie etwas über die Käufer, aus Furcht, das Produkt könnte kalte Füße bekommen.

Ich weine, weil ich weiß, dass ich morgen gewählt werde. Meine Gedanken haben bereits um einen Ausbruch gekreist, doch dieses Institut ist eine unüberwindbare Festung. An jedem Eingang stehen Security-Leute, die mich im Handumdrehen einfangen können. Ein Entkommen ist also unmöglich.

Abgesehen von meiner Angst vor diesem Sadisten bringe ich es nicht übers Herz, in diesem Zustand zu Autumn zu gehen, der bereits auf mich wartet. Er würde wissen wollen, was mich so aus der Fassung gebracht hat und was mein Verhalten von heute Morgen zu bedeuten hatte. Ich könnte ihm nicht in die Augen sehen, ohne dabei zu schluchzen oder Tränen der Enttäuschung zu vergießen.

Wieso musste ich diesen alten Mann auch ansehen? Lag es an seinen gierigen Blicken? Diesem süffisanten Grinsen auf seinen Lippen, als er meinen Körper von oben bis unten betrachtete …

Ich zittere so sehr, dass sich bereits all meine Muskeln verkrampfen. Schmerz zieht sich von meinen Schulterblättern bis zur Hüfte, und meine Wangen brennen, da ich den ganzen Tag nur geweint habe.

Vielleicht verliere ich nicht nur mein Leben, sondern auch meine Freiheit, meine Träume, meine Wünsche und meinen Verstand. Womöglich auch mich selbst, bevor dieser Mr. Malone mir Erlösung schenken wird.

Ich schluchze gegen meine Knie, die ich nah an mich herangezogen habe. Wie kann man einem Produkt nur so etwas antun? Warum werden wir so menschlich erzogen, wenn ihnen unsere Gefühle letztendlich egal sind? Interessiert es sie nicht, wie die Kunden mit ihrer Ware umgehen?

Plötzlich reißt mich ein unerwartetes Klopfen aus meinen Gedanken. Zuerst glaube ich, es mir nur eingebildet zu haben, doch als es erneut ertönt, erhebe ich mich und gehe auf die Tür zu.

»Wer ist da?«, rufe ich und lege die Hand an den Griff.

»Autumn«, kommt es dumpf zurück und für einen kurzen Wimpernschlag zieht sich mein Herz zusammen. »Du bist nicht aufgetaucht, da wollte ich nach dir sehen.«

Ich wische mir die Tränen von den Wangen, laufe ins Badezimmer und werfe einen Blick in den Spiegel. »Einen Moment!«

Mein Gesicht ist so rot und wund gerieben, dass ich meine Emotionen nicht verbergen kann. Allerdings kann ich ihn nicht abwimmeln, wie ich es vorgehabt habe. Mir fehlt dazu einfach die Kraft.

Ich schnappe mir aus dem kleinen Kosmetikbeutel das Make-up, das gerne in unserem Gesicht gesehen ist, wenn wir Besichtigungen oder Auswertungen haben. Allerdings wird dies den Produkten selbst überlassen.

Mit einem kleinen Schwamm reibe ich mir so viel auf die Haut, dass man die dicke Schicht mit Leichtigkeit erkennt. Doch dafür habe ich die rot geriebenen Wangen abgedeckt.

»Leaf?«, ertönt Autumns Stimme unsicher und ich laufe erneut an die Tür. »Die Aufseher sind gleich wieder da.«

Ich setze mein schönstes Lächeln auf, bevor ich die Tür öffne und ihn hereinlasse. »Tut mir leid, ich … äh … war nackt«, lüge ich.

Er zieht verwirrt eine Augenbraue in die Höhe und kommt auf leisen Sohlen hereingeschlichen. »Seit wann macht dir das etwas aus?«, scherzt er und schließt hinter sich die Tür. Meine Lippen beben, als ich zu reden ansetze, belasse es jedoch bei einem Schweigen, denn Autumns Miene wird ernst. »Leaf, wieso bist du heute nicht gekommen?«

Ich kann ihm schlecht erzählen, dass es wegen der Aufseher nicht möglich gewesen ist, zu ihm zu gelangen, da er es ja ungesehen zu mir geschafft hat. Ich muss mir eine andere Ausrede einfallen lassen. »Ich fühlte mich nicht so gut.«

Autumn sieht mich abschätzend an, geht dann zu meinem Fenster hinüber und blickt zum rotorangenen Himmel, an dessen Horizont gerade die Sonne hinter den Baumkronen verschwindet. Sein ernster Ausdruck verpasst mir einen eisigen Schauer. »Leaf, ich will die Wahrheit wissen. Bitte lüg mich nicht an.« Seine Gesichtszüge sind weicher, als er über seine Schulter zu mir blickt. »Nimmst du morgen an einer Auswertung teil?«

Ein Zucken durchfährt mich und ich bleibe regungslos im Raum stehen. Wie hat er das herausgefunden? Wie kann er davon wissen? Ich habe ihm nichts verraten.

Mir schnürt sich die Kehle zu. »Also, ich …« Ihm eine weitere Lüge aufzutischen, würde nichts bringen, da er ganz genau weiß, dass es eine wäre. Allerdings stauen sich Tränen in meinen Augen und die Trauer überschäumt mich erneut.

In Autumns Gesicht erkenne ich nackte Angst. »Leaf?«

Ich schließe die Lider und schlinge die Arme um meine Mitte. Tränen rinnen mir über die Wangen hinab und laufen an meinem Kinn zusammen. »Ich hatte keine Wahl.«

Ich höre, wie er auf mich zukommt. Als ich die Augen wieder öffne, liege ich in seinen Armen und lasse den Kopf gegen seine Schulter fallen.

»Es tut mir leid«, schluchze ich. »Ich konnte es dir nicht sagen, weil ich den Gedanken nicht ertrug, dich vielleicht nie wiederzusehen.«

Seine Hand streicht sanft über mein Haar, und sein ganzer Körper zittert. »Das lasse ich nicht zu. Du wirst morgen nicht zu dieser Auswertung gehen«, flüstert er und küsst eine Träne von meiner Wange. »Wir werden fliehen.«

Ich reiße mich von ihm los und blicke ihn voller Entsetzen an. »Was? Wie willst du das anstellen? Das ist unmöglich!«

Er schüttelt den Kopf. »Wir werden es versuchen.«

»Dann würden sie uns beide eliminieren«, hauche ich.

Er legt wieder die Arme um mich. »Aber dieses Monster … ich kann das nicht zulassen.«

Ich umklammere seinen Körper fester, als wäre er mein letzter Anker, meine letzte Hoffnung. Tatsächlich erwäge ich den Gedanken, den Tod zu bevorzugen. Was ist, wenn die Gerüchte stimmen und dieser Mann das Grauen in Person ist? Vermutlich würde er mich einsperren, mir noch nicht einmal die Möglichkeit geben, den Tod zu wählen.

»Bisher ist noch niemand dem Institut entkommen, Autumn. Wie sollen wir da überhaupt eine Chance haben?« Ich wische die Tränen von meiner Wange. »Wir werden getötet.«

Ich spüre, wie sich sein Kopf bewegt. »Nicht, wenn wir in der Nacht verschwinden. Sie kontrollieren abends ja noch nicht einmal die Flure richtig.«

»Ich kann nicht zulassen, dass du die Chance auf Freiheit damit aufs Spiel setzt«, schluchze ich und schaue zu ihm auf. »Vielleicht kann wenigstens einer von uns das achtzehnte Lebensjahr vollenden, ohne gekauft zu werden.«

Autumn schüttelt heftig den Kopf. »Heute hatte ich trotz meines freien Tages eine Besichtigung. Ein Käufer ließ mich auf seine Auswertungsliste schreiben. Nächste Woche könnte ich ebenfalls gekauft werden.«

Was? Ich sehe ihn mit großen Augen an. »War er wenigstens … nett?«, entfährt es mir schwach, während vor meinem geistigen Auge das süffisante Grinsen von Adam Malone erscheint.

Autumn umfasst meine Schultern. »Das spielt keine Rolle. Ich werde heute Nacht fliehen.«

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Entweder wir riskieren alles oder wir müssen unserem Schicksal entgegentreten. »Du würdest mit mir fliehen?«, kommt es kaum hörbar über meine Lippen.

Die Gerüchte bereiten mir eine solche Furcht, dass ich mich freiwillig für eine Eliminierung entscheiden würde. Ich weiß, was es bedeutet, Schmerzen zu empfinden, die der Körper nicht auszuhalten vermag. Mit dem zwölften Lebensjahr muss man als Produkt einen Resistenztest bestehen, um die Qualität der Ware zu gewährleisten. An diesem Tag wurden uns auch unsere Registernummern auf die Schulterblätter tätowiert wie bei einem Stück Vieh. Das waren die schlimmsten Stunden meines Lebens. Noch einmal werde ich das nicht überleben.

Autumns Hände gleiten von meinen Schultern zu meinen Wangen. »Wenn es verhindert, dass du gekauft wirst, dann ja.«

»Und du glaubst, wir könnten es schaffen?«, hake ich nach und schaue dabei hilflos in seine Kastanienaugen.

Er nickt. »Wenn wir im Park sind, müssen wir nur noch eine einzelne Mauer überwinden, um in Freiheit zu leben.«

Seine Worte geben mir Hoffnung. Irgendetwas regt sich in meinem Unterbewusstsein und schürt den Glauben, gemeinsam mit Autumn für immer fliehen zu können. Vielleicht schaffen wir es wirklich.

Mir wird klar, dass diese Nacht vielleicht unsere einzige Chance ist, aus dem Institut zu flüchten. Der Gedanke daran, alles hinter mir zu lassen und dabei mein Leben zu riskieren, bringt mein Herz laut zum Schlagen. Ich verspüre dabei Angst und Unbehagen, doch mit Autumn an meiner Seite weiß ich, dass es das Risiko wert ist. Er ist es wert.

Ich schlinge meine Finger um seine Hand und hauche einen Kuss auf seine weiche Haut. »Dann lass es uns wagen.«

Ein hoffnungsvolles Lächeln legt sich auf seine Lippen und er wendet sich anschließend meinem Zimmer zu. »Nimm alles mit, was dir wichtig ist. Schließlich werden wir hierhin nie wieder zurückkehren.«

Ich nicke und suche ein paar Sachen zusammen. Da wir keine Taschen besitzen, nehme ich das Laken meiner Decke und knote es zu einer Art Sack, in den ich alle Kleidungsstücke stopfe, die ich besitze.

Aus meinem Badezimmer entnehme ich eine Zahnbürste und meinen Kamm. Als ich so weit alles gepackt habe, läuft Autumn zur Zimmertür, bereit, den Raum zu verlassen. Er wirft mir einen ermutigenden Blick zu. »Warte auf mich. Ich werde dich um Mitternacht abholen kommen.«

Doch bevor er aus dem Zimmer verschwinden will, laufe ich auf ihn zu, umschlinge mit den Armen seinen Nacken und presse meine Lippen auf seine. »Ich werde warten.«

Mit einem weiteren flüchtigen Kuss verschwindet er aus der Tür und ich höre, wie seine Schritte leise auf dem Korridor verstummen.

Kapitel 4 - Autumn

 

Breit grinsend laufe ich auf leisen Sohlen über den Linoleumboden. Dabei achte ich darauf, keinem Aufseher über den Weg zu laufen, die in einem regelmäßigen Zyklus durch die Gänge streifen. Mittlerweile kenne ich ihre Routen, die Sekunden und Minuten, wann und wo sie auftauchen.

Als ich in meinem schmalen Flur lande, dessen Deckenleuchten am Abend gedämmtes Licht von sich geben, öffne ich geräuschlos meine Zimmertür. Doch während des Eintretens nehme ich einen vertrauten Parfümduft wahr, den ich bereits mein ganzes Leben kenne. Mein Blick fällt zu meinem Fenster, dort steht mein glatzköpfiger Mentor.

Für den Moment setzt mein Herzschlag in der Brust aus. »Sir?«

Er hat die Hände hinter dem Rücken verschränkt und blickt aus dem Fenster, dessen Vorhänge er zur Seite gezogen hat. Ich gehe mit schlotternden Knien auf ihn zu. Hoffentlich hat er nicht bemerkt, bei wem ich gewesen bin. Jede andere Strafe würde ich akzeptieren, wenn er dafür Leaf aus dem Spiel ließe.

»Ich habe euch immer auf eine gewisse Weise bewundert und eure Modellreihe sogar beneidet. Ihr seid bisher nicht nur das hochwertigste Produkt unserer Firma, sondern auch das erfolgreichste Projekt der letzten fünfzig Jahre. Es macht mich stolz, euer Mentor sein zu dürfen«, beginnt er und ich schlucke.

Er weiß etwas. Aber was, das ist mir noch nicht klar.

Der Glatzkopf dreht sich zu mir um und beäugt mich mit einem finsteren Blick. Ein Schauer läuft mir den Rücken hinunter und die Angst droht mich zu übermannen. Er ist aus einem bestimmten Grund hier.

Ausdruckslos kommt er auf mich zu und legt seinen Finger auf einen beigen Fleck an meiner Schulter, der von Leafs Make-up stammen muss. Als sie sich an mich geschmiegt hat, muss sie ihn dabei hinterlassen haben.

Er rümpft die Nase und lässt wieder von mir ab. »Eigentlich dachte ich auch, dass euch Produkten bereits klar geworden ist, wer ihr seid, wem ihr euer Leben zu verdanken habt und dass ihr sogar die Chance bekommt, nach eurer Volljährigkeit das Institut in Freiheit zu verlassen. Wir geben euch ein Zuhause, Essen, Kleidung und die Möglichkeit, euch weiterzubilden.« Ein freudloses Lächeln breitet sich in seinem Gesicht aus. »Doch dann werde ich Zeuge, wie meine Produkte 551 und 556 miteinander verkehren wie wilde Tiere in einem Stall.«

Ich ziehe die Augenbrauen zusammen und balle eine Hand zur Faust. Wie kann er es wagen, von Leaf so herablassend zu reden, als wären wir auf einer Schweinezucht. Sie ist so viel mehr für mich. Mehr als ein Produkt, mehr als mein eigenes Leben. »Ich liebe sie«, entfährt es mir zwischen zusammengebissenen Zähnen.

Mein Mentor beginnt spottend zu lachen. »Lieben? Du bist kein Mensch, 551. Nur ein aus reiner Chemie erzeugtes Lebewesen, geschaffen, um Menschen glücklich zu machen und keine Produkte

Wut keimt in mir auf. »Wir empfinden genau dasselbe wie Menschen. Nur weil wir anders hergestellt werden, heißt es noch lange nicht, dass man uns als eine Sache bezeichnen kann.«

Sein Lächeln wird finster. »Aber wir sind eure Schöpfer. Ihr habt nicht das Recht, solche unverschämten Behauptungen aufzustellen.« Er seufzt. »Dich erwartet die kommenden Tage noch eine Strafe, 551. Genau wie 556.«

Ich mache einen Schritt auf ihn zu. »Sir, 556 ist unschuldig. Ich habe ihr diese Liebe aufgezwungen. Ich bin der Grund. Bitte bestraft sie nicht.«