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Gabor Laczko

Der Berg, der nie bestiegen wurde

Roman

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Die meisten Ereignisse in diesem Buch beruhen auf wahren Begebenheiten.

Die Namen der Personen wurden allerdings geändert.

November 2018

© 2018 Buch&media GmbH, München

Umschlaggestaltung: Franziska Gumpp

Satz: Johanna Conrad

Gesetzt aus der Sabon und der Meta

Printed in Germany

ISBN print 978-3-95780-130-2

ISBN epub 978-3-95780-145-6

ISBN epub 978-3-95780-151-7

Buch&media GmbH

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Meinen Eltern gewidmet

Ein alter Mann schritt, tiefgebückt, am Wanderstab; Bis auf die Knie wallte ihm sein Bart herab. Ich fragte ihn: Weshalb denn neigst du dich so tief? Da hob er seine Hände zu mir auf und rief: Im Staub liegt meine Jugend, ach, sie wich von mir Nun schreite ich gebückt und suche nur nach ihr.

Die Erzählungen aus 1001 Nächten 254. Nacht

Béla begann damit, dass er ohne eigenes Zutun zur Welt kam. (Dies gilt im Grunde genommen für alle, die Anspruch darauf erheben, in diesem Buch erwähnt zu werden.) Er kam sich übertölpelt vor, denn niemand hatte ihn dabei um seine Zustim-mung gebeten.

Sein Erscheinen auf der Welt fiel auf einen Sonntag, zu einer Zeit, als ein Weltkrieg tobte, der zweite, um genau zu sein. Ein Sonntagskind also? Nein, denn damals fühlten sich auch die Sonntage wie Karfreitag an. Als er sich zum ersten Mal in seinem Leben umsah, wirkte die Welt sehr unfreundlich auf ihn. Wie konnte es auch anders sein, da sein erster Kontakt mit ihr ein schmerzhafter Schlag auf seinen Hintern gewesen war? »Scheiße!«, wollte er rufen, doch es bedurfte noch ein wenig Entwicklung, um etwas zu sagen. Der kleine Zwick, den er auch verspürte, als etwas in seiner Bauchgegend abgeschnitten wurde, war zwar weniger demütigend, ließ ihn jedoch erkennen, dass er sich bei der Fortsetzung dieser Begrüßungszeremonie auf weitere Hiebe und Stiche vorzubereiten hatte. Als er in der Folge eine leckere Flüssigkeit aus einer gefälligen Quelle saugen durfte, begann Béla allerdings Hoffnung auf Besserung zu schöpfen. Er wusste nicht, dass sich die kurze Versöhnungsgeste des Lebens als Teufelswerk entpuppen sollte, denn in der Geschenkkonfektion der Zukunft sollten noch viele Widrigkeiten auf den Jungen warten.

Nun stattete sein Sternzeichen ihn mit edlen Tugenden aus, doch waren diese im Dschungel des Lebens eher nachteilig. Eine der Esoterik frönende Nachbarin hatte bereits sein Horoskop erstellt, noch bevor die Hebamme das Spitalzimmer aufgeräumt hatte. Als unter dem Zeichen der Jungfrau Geborener hätte er ein natürliches Streben nach Reinheit und Perfektion, er wäre präzise, fleißig, rücksichtsvoll, pünktlich und zuverlässig, immer auf der Suche nach neuen Wegen. Zwar glaubte er Zeit seines Lebens nicht an solchen astrologischen Klimbim, doch er musste anerkennen, dass diese Einschätzung seiner Persönlichkeit in groben Zügen zutraf. Die Welt, die ihn empfing, teilte diese tadellos ehrenhaften Eigenschaften hingegen nicht mit ihm. Wieder einmal spielte sie verrückt. Wie schon so oft in der Geschichte hatten einige Alphatiere der Menschheit beschlossen, ihren Hierarchiekampf auszuführen. Im Gegensatz zu Tieren, die ihre Auseinandersetzung im Zweikampf austrugen, geschah der Revierkampf der modernen Menschen auf Kosten der schuldlosen Bevölkerung. Millionen von Männern, Frauen, Jungen und Alten mussten sterben, weil sich einige Geisteskranke in den Kopf setzen, allen ihre Muskeln zu zeigen. Sie wollten zur Schau tragen, wer unter ihnen der Stärkste sei. Deshalb wurde Bélas Geburt vom krachenden Lärm explodierender Granaten, Bomben und Kanonenkugeln begleitet. Zuerst hörte man das Donnern dieser Waffen aus der Ferne. Doch es sollte sich bedrohlich an Bélas Lebensraum nähern und ihn in Kürze erreichen. Und dieser unsinnige Kampf zwischen unsinnigen Staatschefs sollte sein Leben für immer prägen. Die Weichen führten in eine Richtung, die bei Bélas Eintritt in diese Welt niemand vorsehen konnte. Leichtgläubige meinten, es würden in jedem Leben Weichen gestellt, oft sehe man schon aus weiter Ferne das Ziel, das am Ende des eingeschlagenen Weges steht. Nicht so bei Béla, der auch mit gestellten Weichen sein Ziel nicht einfach ansteuerte, sondern im Zickzackkurs voranstürmte und bis ins hohe Alter stets mit überraschenden Wendungen fertig werden musste. Doch wir wollen den Ereignissen nicht vorgreifen. Seine Geschichte soll hier von Anfang an erzählt werden.

Noch bevor Béla sich bewusst werden konnte, was ein Vater war, wurde er bereits von seinem getrennt. Nicht etwa durch ein Missgeschick, nicht durch Zerwürfnis seiner Eltern, sondern wegen der Machtgier einiger Volksverführer und des dadurch ausgelösten Krieges.

Sein Vater war Offizier der ungarischen Armee und wurde abkommandiert, zunächst an die ungarische Grenze, später dann an die russische Front. Das Schicksal erweiterte die Familie, denn irgendwann wurde sein Vater für einen kurzen Urlaub nach Hause geschickt, was zur Folge hatte, dass die kleine Familie bestehend aus Béla, seiner Mutter und dem wieder fernen Vater durch die Geburt von Istvàn, beglückt wurde. Béla war auf diesen Neuankömmling eifersüchtig und riet der Mutter, ihn in die Donau zu werfen, versuchte sogar, den Bruder mit einer Schere zu verstümmeln.

Als dann der Vater wieder einrücken musste, vermisste ihn Béla. Er war noch zu klein, um zu begreifen, was »Krieg« bedeutete, und warum diese freundliche Person wieder aus seinem Alltag verschwunden war.

Ungarn hatte infolge des Ersten Weltkrieges viele Randgebiete mit einheimischer Bevölkerung an die Nachbarländer verloren und litt selbst nach 20 Jahren unter dieser Amputation. Als Hitler dann Europa neu einteilen wollte, sah die nostalgische Regierung in Budapest ihre Chance gekommen, mithilfe der Deutschen die alte Ordnung zumindest teilweise wiederherstellen zu können. Ein schreckliches Fehlkalkül, das dem Land noch teuer zu stehen kommen sollte und für das Volk arge Konsequenzen brachte. Ungarn schlug sich auf die Seite Deutschlands, zog in den Krieg gegen Russland und Bélas Vater wurde an die russische Front verlegt.

Béla trank zwar nicht mehr von der Mutterbrust, doch kümmerte er sich noch nicht um den Krieg. Bewusst mitbekommen hatte er von all dem noch nichts: nichts vom Krieg, nichts von der bedrückenden Sorge der Mutter, nichts vom Hitler-Stalin-Pakt, nichts von der Welt, die aus den Fugen geraten war.

Im Lauf der Zeit hatte Béla zu seiner großen Überraschung festgestellt, dass es außer Mamas Lächeln auch andere Dinge um ihn gab. Er begann, diese systematisch abzuspeichern, und konnte sie nach Belieben jederzeit wieder vor seinen Augen vergegenwärtigen. Fortan schleppte er Bilder mit sich umher. Etwa jene Bilder von Männern, die erschienen waren und alle die gleichen Kleider trugen. Béla wusste nicht, dass diese Kleidung

»Uniformen« genannt wurden. Die Mutter nahm Bélas Bruder auf den Arm und ihn an die Hand und ging mit den Männern aus dem Haus. Einer von ihnen hievte Béla auf die Ladefläche eines Lastwagens. Dann kauerte Béla mit der Mutter und diesen Fremden auf den Planken. Dort klapperte, schepperte und rüttelte es lange, sehr lange und Béla wollte es nicht in den Kopf, warum er all das über sich ergehen lassen musste, statt mit den farbigen Holzbauklötzen zu spielen, die so lustig glänzten. Einige Male hatte er gegen seine Lage protestiert, doch man hatte ihn nur beschwichtigt, er könne jetzt eben nicht spielen. Und wie so oft in seinem späteren Leben hatte er sich gefügt.

Das enge Zusammensein in dem Lastwagen empfanden alle als beschwerlich. Musste jemand sein Wasser abschlagen, so stellte er sich hinten hin und ließ es in die Natur laufen. Auch Béla, den immer einer dieser Männer festhielt, damit er während der Fahrt nicht über die Planke hinausstürzte. Nur für die Mutter, der einzigen Frau im Konvoi, machte man einen Halt. Sie stieg dann vom Wagen ab, und Béla fürchtete sich, sie würde weggehen. Erleichtert sah er zu, dass kurz darauf die Männer ihr halfen, das Lastauto wieder zu besteigen.

Béla sah durch die offene Plane, wie sich die Landschaft veränderte und wie ihnen andere, ähnliche Lastwagen folgten. Das andauernd garstige Wetter drückte auf die Gemüter aller. Diese Reise war nicht nur langweilig, sondern auch unangenehm. Alle mussten auf dem nackten Boden sitzen. In dieser unbequemen Position litt Béla unter den Erschütterungen der Schlaglöcher und wurde in den Kurven und beim Bremsen hilflos herumgeschleudert. Vergeblich versuchte er, sich festzuklammern, er konnte keine Stelle finden, um sich zu sichern. Eine Plane in Tarnfarben war über die Ladefläche gespannt, die den Reisenden Schutz vor Regen und neugierigen Blicken bot und nur auf der Hinterseite offen war. Die Männer, die bei der offenen Seite des Lastwagens saßen, versuchten so gut es ging, sich gegen den Regen zu schützen. Die anderen im Innern stellten sich schlafend und sicherten dadurch ihren Platz im Trockenen. Béla saß mit seiner Mutter und seinem Bruder ganz im Inneren, wo die Plane den hinteren Teil der Führerkabine berührte. Dort konnte der Regen nicht hinschlagen. Doch die feuchte Luft und die Kälte drangen auch hier zu ihnen vor. Die Mutter versuchte, die Kinder mit einer mitgebrachten Wolldecke zu schützen. Gelegentlich schlief Béla ein und als er erwachte, gab ihm die Mutter etwas von dem zu essen, was sie von den Männern erhalten hatte.

Von Zeit zu Zeit stoppten die Lastwagen, das Schütteln und Klappern hörte auf und die Reisenden, die bisher meist geschwiegen hatten, begannen zu sprechen. Es dauerte meistens lange, bis sich die Kolonne nach einem solchen Halt wieder in Bewegung setzte. Doch auch daran konnte Béla nichts ändern, wenn es ihm auch deutlich missfiel, auf diesem Lastwagen eingeschlossen zu sein, wo es allmählich unangenehm stank.

Am Nachmittag des zweiten Tages fuhren sie nicht mehr wie bisher die Straße geradeaus, sondern bogen auf einen großen Hof ein. Alle streckten ihre Köpfe aus dem Lkw und flüsterten nervös miteinander. Da wurde Béla von der Neugier gepackt. Er bahnte sich einen Weg zwischen den Stiefeln und ging nach hinten. Als er hinausschaute, sah er einen Hof mit vielen Leuten, die laut redeten, manche brüllten zornerfüllt andere an. Er nahm auch eine Karre mit zwei großen Rädern wahr, die von einigen spärlich bekleideten, fast nackten Männern gezogen wurde. Auf der Karre lagen nackte Menschen, ganz blass, ganz dürr, mit Armen und Beinen, die wie dünne Stecken aussahen. Sie bewegten sich nicht. Béla kannte den Unterschied zwischen Mann und Frau noch nicht, für ihn waren diese Wesen alle gleich. Er blickte mit Unverständnis auf die Szene und wollte seine Mutter um eine Erklärung für dieses Bild bitten, als sie ihn in diesem Moment bemerkte. Mit einem lauten Schrei rief sie seinen Namen und zog ihn ungewohnt heftig am Arm wieder nach hinten.

Die Bedeutung dessen, was er gesehen hatte, wollte sich ihm nicht erschließen. Noch nicht. In diesem Moment verspürte er bereits ein dunkles Gefühl der Bedrückung, eine schattenhafte Bedrohung. Er spürte, dass sich hier etwas abspielte, was die Grenzen aller Erlebnisse, die er in seiner Erinnerung bis dahin gehortet hatte, gesprengt hatte. Erst viel später, als er seine Mutter einmal danach fragte, erfuhr er, dass er Zeuge eines schrecklichen Verbrechens geworden war. Der Name der Ortschaft war Mauthausen.

Die darauffolgende Nacht auf dem Lastwagen schien nie enden zu wollen. Béla wurde oft geweckt, weil jemand ihn beiseiteschob oder weil vom Hof laute Stimmen ertönten. Béla hatte nachts noch nie zuvor so lange wach gelegen. Jetzt fürchtete er sich vor der Dunkelheit, wenn auch um ihn herum stets Leute waren, die er nun schon ein wenig kannte.

Am nächsten Tag bestieg ein Mann den Lastwagen und umarmte lange Bélas Mutter. Dann nahm er Béla in den Arm und küsste ihn, anschließend drückte er Istvàn an seine Brust. »Schön, dich kennenzulernen, junger Mann«, sagte er lächelnd. Verunsichert schaute Béla zu seiner Mutter, die ihn zu beruhigen versuchte und erklärte: »Das ist Papa.«

Papa? Béla wusste nicht, was oder wer »Papa« war, und blickte den Mann mit fragenden Augen an.

»Ich konnte nicht vorher kommen, die Deutschen haben mich festgehalten. Aber von jetzt an reise ich im Führerstand.«

Dann stieg er wieder ab.

Das Rattern und Schütteln begann von Neuem, die Wagenkolonne zog wieder los. Inzwischen war Béla die beschwerliche Reise zum Alltag geworden. Zunehmend gelassen nahm er die Mühsal hin. Zwar verstand er immer noch nicht, warum er eine derart zermürbende Monotonie erdulden musste, doch da seine anfänglichen Proteste nichts gefruchtet hatten, ergab er sich dem Unvermeidlichen. Gelegentlich hielten die Lastautos und dann kam der Mann, der sich »Papa« nannte. Stets verhielt er sich sehr nett zu ihm, zu seinem Bruder und zur Mutter. Wie alles in Bélas Leben wurde eine Sache, die lange genug anhielt, zu einem unverrückbaren Bestandteil des Seins. So gehörte auch das öde, aufreibende Scheppern bald zur unausweichlichen Alltäglichkeit, dieses Rütteln und Klappern auf der Ladefläche des Lastautos. Doch irgendwann gab es plötzlich eine unerwartete Abwechslung. Abrupt wurde die Wagenkolonne angehalten, die Männer sprangen vom Deck, schrien laut, packten Béla und seinen Bruder und steckten sie unter den Lastwagen. Mit den Armen fuchtelnd und schreiend sprang die Mutter nach vorne.

»Holt die Kinder wieder heraus!«

Sie drückte die beiden Jungen fest an sich und legte sie dann neben sich an die Böschung am Straßenrand.

»Dort sieht man euch!«, rief einer der Männer nervös.

»Aber wenn der Wagen einen Einschuss bekommt, explodiert er, brennt aus und wir brennen mit«, meinte die Mutter Bélas. Die Soldaten schüttelten den Kopf. Béla erblickte seinen Vater vor der Wagenkolonne, der den Leuten Anweisungen erteilte. Auf einigen der Lkws wurden Waffen gegen den Himmel gerichtet.

Béla hörte Lärm, der sich immer weiter steigerte, bis große Vögel am Himmel erschienen. »Feuer!«, rief Papa und die Rohre begannen zu knallen. Laut ratternd flogen die Maschinen über die Wagenkolonne. In einer geraden Linie waren Staubwölkchen auf der Straße zu sehen. Einige der Windschutzscheiben gingen in Brüche. Der Spuk dauerte nur wenige Minuten, doch Béla spürte, dass sich hier etwas Gefährliches abgespielt hatte. Die schützende Umarmung der Mutter bekräftigte dieses Gefühl und Béla wurde von Angst überwältigt. Das Weinen schüttelte seinen ganzen Körper.

»Es ist nichts, es ist vorbei«, versuchte die Mutter ihn zu beruhigen. Doch Béla war zu aufgeregt, um beruhigt werden zu können. So dauerte es noch eine Weile, bis er sich beschwichtigen ließ. Erst langsam übermannte ihn die Müdigkeit. Schließlich schlief er ein.

Wie kam es aber, dass ein ungarischer Offizier mit seiner Einheit und mit seiner Familie in Mauthausen gelandet war? Béla bemühte sich viel später, als junger Erwachsener, um eine Erklärung. Er sprach seinen Vater darauf an, doch der blieb verschlossen. Bei einer anderen Gelegenheit bohrte er deshalb bei seiner Mutter nach. Sie zeigte mehr Bereitschaft, die Zusammenhänge zu erläutern.

Als sich die Front in Russland auflöste und sich die deutsche Wehrmacht zum Rückzug gerüstet hatte, hatte ein deutscher General von Bélas Vater verlangt, er möge seine Lastwagen und Geschütze an die Truppe abgeben. Bélas Vater hatte entgegnet, dass weder er noch seine Einheit sowie das dazugehörige Kriegsmaterial dem deutschen Kommando unterstellt seien und entschlossen abgelehnt, die Lkws abzutreten. Schließlich sei sein Auftrag gewesen, seine Einheit nach Ungarn zurückzuführen und dazu habe er die Transportmittel nötig.

Der deutsche General nahm diese Weigerung jedoch schlecht auf. Das Oberkommando liege in deutschen Händen und so habe sich Bélas Vater dem Befehl zu fügen. Die Befehlsmacht beziehe sich auf Kriegshandlungen, entgegnete der Vater, der Rückzug falle nicht darunter.

In ähnlichen Fällen hatte die Wehrmacht ihre »Verbündeten« stets als minderwertig behandelt und mit ihnen kurzen Prozess gemacht. Die widerspenstigen Einheiten wurden wie Feinde vernichtet. Diesmal ging sie nicht so weit, doch der deutsche Kommandant erklärte die ungarische Hundertschaft zu Geiseln. Der General teilte Bélas Vater mit, dass er sich für sein Verhalten beim deutschen Oberkommando zu verantworten hätte.

Béla konnte später nie herausfinden, warum die Vergeltung des Deutschen in diesem Fall nicht dem gewohnten Schema gefolgt war, ob das auf einen weniger barbarischen Kommandanten zurückzuführen war oder aber die Götterdämmerung der deutschen Offensive die Arroganz zurückgebunden hatte. So folgte die Einheit von Bélas Vater den Geiselnehmern inmitten des deutschen Rückzugs nach Mauthausen, wo der zuständige Kommandant einquartiert war.

Bélas Vater war in Sorge um seine Familie. Die russischen Einheiten rückten vor und es war nur eine Sache der Zeit, dass sie in Budapest einmarschierten. Als seine Einheit durch Budapest gezogen war, hatte Bélas Vater seine Familie sichern wollen und sie auf die lange Reise mitgenommen. Das deutsche Kommando hatte mit der zwischenzeitlich veränderten Lage im Krieg Wichtigeres zu tun, als sich mit Bélas Vater zu beschäftigen. So kam es, dass die Beschwerde des beleidigten Generals mit einer Handbewegung abgetan wurde. Bélas Vater konnte seine Lastwagen wieder Richtung Budapest führen. Doch nicht nur die Soldaten, nicht nur die Mutter schleppten eine furchtbare Erinnerung mit sich nach Hause. Auch Béla war gebrandmarkt. Die Bilder, die er durch die Plane des Lastwagens gesehen hatte, konnte er sein ganzes Leben nicht vergessen. Als Kind empfand er nur das Unnatürliche am Gesehenen, als ihm dann später die Zusammenhänge einleuchteten, erhielten diese KZ-Bilder ihre tragische, empörende Dimension.

Béla wurde auf der Reise müde und schlief in der Umarmung seiner Mutter ein. Erst der Klang von lauten Stimmen holte ihn wieder in die Wirklichkeit zurück. Die Lastwagenkolonne stand still, bei der Heckplanke gruppierten sich Soldaten in Uniformen, die Béla bisher noch nie gesehen hatte, und in einer fremden Sprache mit entschlossenen Handbewegungen alle aufforderten, hinunterzusteigen. Verunsichert bemühte sich die Mutter, mit ihren Kindern von der Ladefläche zu klettern. Einer der Soldaten streckte ihr die Hände entgegen, sie aber reichte ihm zuerst Béla und seinen Bruder und stieg dann alleine ab.

Der Soldat strich mit der Hand über Bélas Haare. Dann griff er in seine Tasche und reichte ihm ein Stück Schokolade.

»Thank you«, sagte Bélas Mutter und lächelte dankbar.

Kurz darauf kam der Mann zu ihnen, den die Mutter »Papa« nannte. Er teilte ihnen mit, diese amerikanische Einheit habe ihn und seine Leute zu Kriegsgefangenen erklärt. Am Gesichtsausdruck seiner Mutter erkannte Béla, wie sie das Entsetzen packte. Doch der Vater beschwichtigte: »Keine Sorge. Es ist besser, als wenn uns die Russen gefangen nehmen. Hier lassen sie euch mit den Verletzten und Kranken weiterfahren. Geht also nach Hause, ich werde kommen, wenn dieses Theater zu Ende ist.«

So bestieg die Familie erneut einen Lastwagen, in dem schon verbundene, verstümmelte und schwer atmende Menschen lagen. Die Reise ging weiter, der Lastwagen wurde noch dreimal angehalten und kontrolliert, kam aber am nächsten Tag endlich in Budapest an. Die Verletzten wurden in ein Spital eingeliefert, das ganz in der Nähe der Wohnung von Bélas Familie lag. Der Fahrer erklärte sich bereit, den kleinen Umweg zu nehmen und sie vor ihrer Behausung abzusetzen. Die Odyssee schien endlich ein Ende zu nehmen.

Doch der Schein trog. Als die Mutter sich anschickte, die Türe zu öffnen, wollte der Schlüssel nicht passen. Nach einigen erfolglosen Versuchen riss jemand unerwartet den Eingang von innen auf. Eine ungepflegte Frau mit mehreren Zahnlücken stand im Türrahmen. Die beiden blickten einander verwundert an. Als Erste fasste sich die fremde Person.

»Was wollen Sie hier?«, fuhr sie Bélas Mutter an.

»Ich wohne in dem Haus.«

»Nein«, wehrte die andere schnippisch ab, »jetzt nicht mehr, hier wohnen jetzt wir.«

Erbost trat Bélas Mutter einen Schritt nach vorne und hob die Hände. »Wie kommen Sie dazu, sich solche Frechheiten zu erlauben?«

»Frechheiten?«, echote die ungepflegte Frau. »Wenn Sie nicht sofort verschwinden, werde ich Ihnen zeigen, wer hier unverschämt ist.«

»Aber sehen Sie doch, da stehen alle meine Möbel!« Verärgert zeigte Bélas Mutter durch die offene Türe in die Wohnung.

Die andere schnaubte. »Ja, die haben vielleicht einmal Ihnen gehört. Jetzt sind es meine.«

Eine heftige Diskussion entstand, bis plötzlich ein ebenfalls ungepflegter Mann in der Türe erschien.

»Was ist hier los, Teri?«, fragte er gereizt.

»Diese Schlampe will in unsere Wohnung eindringen!« Mit einer heftigen Geste deutete sie auf Bélas Mutter.

Der Mann trat einen Schritt nach vorn und erhob drohend eine Hand. »Weg mit euch, bevor es Prügel gibt!«

Verzweifelt versuchte Bélas Mutter noch einmal, ihr Recht um ihren Besitz zu verteidigen. Vergeblich. Abrupt knallte der Hausbesetzer die Tür vor ihrer Nase zu.

Bélas Mutter nahm ihren Koffer, mit dem anderen Arm hob sie den jüngeren Sohn auf und bat Béla, fest ihren Mantel zu halten. Sie begab sich auf die nächste Polizeistelle. Dort hörte sich ein älterer Beamte ihre Klage an. Als sie geendet hatte, wollte er wissen: »Wie heißen die Leute in Ihrer Wohnung?«

Bélas Mutter wusste darauf keine Antwort. Sie konnte sich nicht erinnern, ob am Eingang ein Namensschild angebracht war.

»Den Namen brauchen wir aber«, meinte der Polizist, »denn wir können nicht ausrücken, wenn wir vorher nicht die Identität dieser Menschen kontrolliert haben.«

Deshalb riet er der Mutter, beim Einwohnermeldeamt vorbeizugehen und die Sache dort zu klären. So ging die Wanderung weiter. Die Familie suchte das Amt auf. Anhand der genauen Adressangabe konnte der Beamte den Namen der Wohnungsbesetzer ausfindig machen.

»Es ist das Ehepaar Maikowski, das jetzt dort wohnt. Die provisorische Stadtverwaltung hat ihnen die Wohnung zugewiesen, denn sie galt als verlassen.«

»Verlassen? Wir haben nur für einige Tage meine Schwester auf dem Land besucht«, erfand die Mutter eine Ausrede. Béla ahnte, dass sie das Abenteuer Mauthausen nicht erzählen wollte.

Der Polizist zuckte nur die Schultern. »Sie können eine amtliche Eingabe machen, dann wird Ihr Anliegen geprüft und gegebenenfalls können Sie wieder in Ihre Wohnung zurück.«

»Und wo soll ich mit diesen zwei kleinen Kindern solange wohnen?«

Den Gesetzeshüter schien das nicht zu interessieren. Lapidar entgegnete er: »Sie werden wohl irgendwelche Verwandte haben, die Sie inzwischen beherbergen können.«

Ja, Angehörige hätten sie schon, aber sie lebten alle auf dem Land. Diese Nacht könnten sie nicht mehr hinfahren.

»Versuchen Sie es im Obdachlosenheim,« empfahl ihr der Beamte.

Die Mutter Bélas musste schließlich aufgeben. So schleppte sie sich mit den beiden Jungen zu einer Notunterkunft, die eigentlich nur Stadtstreichern Schutz bot. Als sie an einer Postfiliale vorbeigingen, schickte sie ein Telegramm an ihre Schwester und bat um Hilfe. Danach beeilte sie sich, zur Notunterkunft zu gelangen.

Der Eingang lag im Innenhof eines baufälligen Mietshauses. Als sich die Mutter bei der Aufseherin meldete, blickte diese verdutzt auf die Neuankömmlinge herab. Offensichtlich passten sie nicht zu den anderen Bewohnern. In wenigen Worten schilderte die Mutter ihre Situation. Die Aufseherin nickte, dann winkte sie die Familie hinein. Bélas Mutter ließ einen lauten Seufzer der Erleichterung hören und streichelte über die Köpfe ihrer Kinder. Die drei wurden in einen großen, fensterlosen Raum geführt. An den Wänden waren Strohsäcke aufgereiht. Ein starker Uringeruch erfüllte den Saal. Die Schlafstelle war mit Frauen und Männern besetzt, die verwahrlost aussahen. Die Wachfrau wies der Familie zwei freie Säcke in der Mitte des Kellers zu. Den Tränen nahe sank die Mutter auf einen Strohsack. Sie schob ihren Koffer unter die Kopfstelle ihrer Liege.

»So kann er uns während des Schlafs nicht gestohlen werden«, flüsterte sie leise. Béla hätte weinen können, als er sah, wie ihre Unterlippe zitterte. Sie schniefte, weinte aber nicht, sondern strich erneut liebevoll über die Köpfe ihrer Kinder.

Doch kaum hatte sie sich einigermaßen eingerichtet und die zwei schmuddeligen Decken ausgebreitet, schleppte sich schwankend ein struppiger, schlecht riechender Mann zu ihr und setzte sich neben sie auf den Strohsack.

»Na, Schätzchen? Wollen wir Freunde werden?«, biederte er sich an.

»Verschwinden Sie sofort! Lassen Sie uns in Ruhe!« Ihr Gesichtsausdruck spiegelte Abscheu und Angst, was den Kerl jedoch nicht abschreckte.

»Aber, aber, ich meine es mit dir nur gut. Ein wenig Freundschaft kann dir auch nicht schaden.«

»Ich sage es Ihnen nochmals: Verschwinden Sie. Und zwar sofort!«

Weil Béla die Panik seiner Mutter spürte, ballte er seine kleinen Fäuste und begann auf den Eindringling einzuhämmern. Doch der schubste ihn zur Seite.

»Weg da, du kleine Ratte!«

Außer sich schrie die Mutter: »Rühren Sie mein Kind nicht an, Sie Schuft!« Die Aufdringlichkeit und die Ruchlosigkeit dieser Person provozierten und ließen sie ihre sonst gewohnte Contenance verlieren.

Das höhnische Grinsen des Mannes erstarrte auf seinem Gesicht.

Da trat eine sichtlich betrunkene Frau dazu und schrie ihn an.

»Hau du nur ab, du Scheusal, sonst kriegst du wieder Prügel!«, drohte sie ihm. »Wehe dir, wenn du dich noch einmal dieser Frau näherst!«

Plötzlich eilte die Aufseherin hinzu. Durch die Auseinandersetzung aufmerksam geworden, wie Béla glaubte. Schnell erfasste sie die Situation, ergriff einen Besen, der arbeitslos in der Ecke stand und stellte sich vor den Belästiger.

»Du Nichtsnutz, soll ich dich auf die Straße werfen? Eigentlich verdienst du es gar nicht, dass wir dich hier aufgenommen haben. Warte du nur, bis mein Mann kommt, der wird dir dann das Leder gerben.«

Kleinlaut schlich sich der Gescholtene davon. Daraufhin scheuchte die Aufseherin zwei alte Obdachlose auf, die neben der Türe geruht hatten. Ihre Plätze wies sie der neuangekommenen Familie zu, damit diese näher bei ihrem Alkoven liegen konnte. Die Alten beklagten sich, sie wären jetzt zu weit vom Abort entfernt, doch die Frau ließ sich nicht beirren und hielt an ihrer Entscheidung fest.

Als sie den Raum wieder verlassen hatte, quengelte Béla: »Ich möchte hier weg.«

»Auch ich bin hier nicht glücklich«, gab die Mutter zu. »Gerne würde ich mit euch woanders hingehen. Doch wir haben keine Wahl. Immerhin können wir hier schlafen und bekommen eine Suppe und einen Apfel«.

Wieder einmal ergab sich Béla in sein Schicksal und legte sich hin. Dabei kuschelte er sich eng an seine Mutter, sein Bruder tat es ihm gleich.

Zwei endlos scheinende Nächte verbrachten sie hier unter verlotterten, gestrandeten und glücklosen Menschen. Dann traf von Bélas Tante, der Schwester seiner Mutter, die telegrafische Antwort ein, sie sollten doch vorübergehend zu deren Familie aufs Land ziehen. Inzwischen hatte sich Bélas Mutter an einen befreundeten Anwalt gewandt. Er sollte die Eingabe für die Rückerstattung ihrer Wohnung und ihrer Möbel vorbereiten. Überdies riet er eindringlich von der Reise ab. Jede Zugfahrt sei heutzutage unsicher, nur Gesindel reise gegenwärtig umher: Diebe, die auf günstige Gelegenheiten warteten, um die Fahrgäste zu bestehlen, Gewalttäter, die sich an wehrlosen Frauen vergingen, sowie Betrüger und Unholde. Noch wären die Unsitten des Krieges nicht vertrieben, weshalb die Reise eine große Gefahr bedeuten würde. »Ich würde euch gerne bei uns aufnehmen, doch die Stadtverwaltung hat bei uns acht Fremde einquartiert, die auf die Zuweisung einer Wohngelegenheit warten.«

Aber die Mutter ließ sich nicht umstimmen. »Ich muss meine Söhne in Sicherheit bringen. Du siehst doch selbst, welche Gefahren in der Stadt lauern. Die drei Stunden Zugreise werden wir gewiss problemlos schaffen.«

Budapest lag in Trümmern, die sich überall auftürmten wie ungeordnete Steinhaufen. Die Straßen waren unbefahrbar, denn Schritt für Schritt gähnten große Krater, von den Bomben in den Lebensraum geschlagen. An vielen Stellen waren die Tramschienen herausgerissen. Diese eigneten sich gut, um die Barrikaden zu verstärken. Die Schäden blieben als Erinnerung an die Kampfhandlungen. Nur wenige Straßenbahnlinien konnten noch bedient werden, wobei die Frequenz sehr unter-schiedlich ausfiel. Keiner konnte sagen, wann die nächste Tram vorbeikommen oder wie weit sie fahren würde. Daher blieb keine Wahl: Béla, seine Mutter und sein Bruder mussten den Weg zu Fuß bewältigen.

In einer Hand trug die tapfere Frau einen kleinen Koffer und ein kleines Einkaufsnetz mit den spärlichen Lebensmitteln, die ihr noch zur Verfügung standen. Am anderen, freien Arm hing ihr kleinerer Sohn. Béla ergriff mit seinen kleinen Händen ihren Rock und stolperte hinter der Mutter über die Trümmer.

Plötzlich näherte sich von hinten ein russischer Soldat. Als er sie einholte, ergriff er Béla und trug ihn voran. Die Mutter erstarrte vor Schrecken, selbst der Schrei blieb in ihrem Halse stecken. Béla hatte große Angst. Gleichzeitig war er froh, dass er nicht mehr laufen musste. Die Füße taten ihm weh. Im Zurückblicken sah der kurz den Gesichtsausdruck seiner Mutter.

»Sie Barbar! Lassen Sie meinen Sohn!« Béla verstand das Wort

»Barbar« nicht, aber es klang böse. Der Soldat überquerte die beschädigte Straße und stellte Béla mit einem breiten Lächeln auf den Gehsteig. Erst da merkte die Mutter, dass er ihr helfen wollte. Sie konnte ihre Tränen nicht zurückhalten. »Gab es in dieser Hölle auch Menschen?«, fuhr ihr durch den Kopf. Der Russe sah ihre Rührung, wartete, bis sie mit dem zweiten Jungen herangehumpelt war, und trocknete mit dem Handrücken ihre Tränen. Verstört stammelte sie einige Dankesworte.

Als sie nach mühevollem Marsch den Bahnhof erreichten, bot sich ihnen auch hier ein Bild der Zerstörung. Er befand sich in einem erbärmlichen Zustand, das Hauptgebäude war ausgebombt, einige Schienen waren auch hier herausgerissen, eine kleine Holzbaracke diente als provisorischer Schalterraum. Eine lärmende, stinkende, tumultuöse Menge belagerte die Bahngleise. Niemand konnte über Zeit und Ziel der nächsten Züge Auskunft geben. Wenigstens versuchte ein uniformierter Bahnangestellter, die Meute zu beruhigen. Er würde durch ein Megafon bekannt geben, wann der nächste Zug fahren sollte.

Béla fand das Chaos unbeschreiblich. Die Ungeduld der Menschen drohte in Gewalt auszuarten. Verängstigt schaute Béla der ungewohnten Szene zu. Ohne zu ahnen, dass dieser Bahnhof noch einmal eine ähnliche Rolle in seinem Leben spielen würde.

Irgendjemand hetzte durch die Menge. Sobald ihm Wartende im Weg standen, schob er sie beiseite. Grob stieß er Béla in den Rücken, sodass er auf die Hände fiel und sie aufschürfte. Weinend zeigte er seine blutenden Handflächen der Mutter. Liebevoll strich sie ihm über den Kopf. Sie führte ihn zu einem Brunnen in der Nähe. Dort benetzte sie ihr Taschentuch, um die Hand Bélas zu reinigen.

»Ich habe Hunger«, beklagte sich Béla. Doch die letzte Nahrung war inzwischen aufgebraucht, sie hatten nichts mehr zum Essen. »Wir werden bald bei Tante Paula eintreffen, dann werdet ihr essen können. Ich rechne damit, bis Mittag anzukommen, den Proviant, den ich noch zur Verfügung hatte, hat jemand im Obdachlosenheim gestohlen.« Sie versprach Béla, bald ein wenig Brot zu besorgen. Doch als sie sich nach einer Möglichkeit umsah, wo sie hätte einkaufen können, fuhr gerade der Zug ein. Mit starkem Qualm der Dampflokomotive, wie Béla vergnügt bemerkte, erinnerte es ihn an Gepupse.

Die wenigen Personenwagen, die am Schluss einer Komposition aus Güterwagen folgten, boten kaum freie Plätze. Hilflos stand die Mutter mit den Kindern am Perron, als ein junger Mann sich ihrer Notlage bewusst wurde, und sie alle in den Zug hievte. Dann erhoben sich zwei Reisende von ihren Sitzen und überließen ihren Platz der Familie.

Langsam setzte sich die Bahn in Bewegung. Durch den Fahrtwind entstand im Innern eine starke Zugluft. Die klirrende Kälte war beinahe unerträglich, zumal ein Fenster des Waggons herausgeschlagen und bloß notdürftig mit Zeitungen verklebt worden war.

Den stark beizenden Geruch ungewaschener Körper und Kleider, der das Abteil erfüllte, mochte der Durchzug nicht verdrängen. Doch die Kälte ließ es nicht zu, die Fenster zu öffnen, um frische Luft hineinzulassen.

Eine sehr dicke, ungepflegte Frau drängte sich schnaufend durch die stehenden Reisenden. Als sie sah, dass Béla und sein Bruder einen Sitzplatz teilten, begann sie sofort die Mutter zu beschimpfen.

»Was meint wohl die Gnädige, wenn sie diese Gören, die wohl ohnehin keine Fahrkarten haben, auf einen Sitz lädt? Machen Sie sofort den Platz frei und lassen Sie mich hinsetzen.«

Ohne Widerrede nahm Bélas Mutter ein Kind in den Schoß und lud das andere auf ihren Koffer. So quetschte sich die Dicke, ihr Gesäß hin und her schwenkend auf den Sitz. Dabei drückte sie Bélas Mutter weg. Bei einigen Reisenden löste die Dame Kopfschütteln aus, doch niemand wollte sich in diesen Revierkampf einmischen.

Dem Fahrplan gemäß hätte der Zug schon seinen Bestimmungsort erreicht. Doch er bummelte mit entnervender Langsamkeit durch die Gegend. Das lange Warten am Bahnhof, dann die endlose Geduldsprobe bis die Bahn endlich losfuhr, auch die Reise im schleppenden Trott drückten auf Bélas Gemüt. Einige Personen schimpften, andere saßen resigniert herum. Als die fettleibige Passagierin einschlief, schnarchte sie wie ein Sägewerk. Aber Béla hörte, wie sein Magen fast noch lauter knurrte. Zugleich bemerkte er dort ein starkes Ziehen. Ein Gefühl, das ihm seit Langem vertraut war, woran er sich aber trotzdem niemals gewöhnen würde. Unangenehm war es allemal. Er begann laut zu klagen. »Ich habe Hunger.«

Da öffnete die Schlafende die Augen. Eine Tirade von Beschimpfungen folgte. »Ich kann wegen dieses Bengels nicht in Ruhe schlafen. Wenn du nicht still bist, werde ich dir eine Lektion erteilen, die deine Mutter dir hätte beibringen sollen.«

Bösartig kniff die Frau Béla in den Arm. Mehr aus Angst und aus Frustration als wegen des Schmerzes begann Béla zu weinen.

»He! Was erlauben Sie sich?«, schrie seine Mutter.

»Seien Sie bloß still, sonst rufe ich den Schaffner und lasse Sie aus dem Zug schmeißen.«

Der Streit drohte auszuufern, bis ein Mann mittleren Alters die ausfällige Reisende mit harten Worten zurechtwies. »Meinen Sie eigentlich, Sie wären allein in diesem Abteil? Sollte jemand hier rausgeschmissen werden, dann sind es Sie.«

»Halten Sie Ihre Schnauze, das geht Sie nichts an«, brüllte sie den Mann an. Dann stemmte sie sich hoch, um polternd und sich gegen dieses bürgerliche Pack empörend ihren Platz zu verlassen. Sie blieb im Gang stehen und gab schnaubend ihre Verachtung kund.

»Der Krieg hat die Menschen verroht«, flüsterte Bélas Mutter leise vor sich hin. »Oder war diese Hexe schon vorher so vulgär?« Es kam jedenfalls nicht überraschend, dass sie sich einen kurzen Moment später wieder ins Geschehen einmischte. Als nämlich die Kinder weiter über ihren Hunger klagten und die Mutter sie auf später vertrösten musste, holte eine ältere Dame einen Apfel aus ihrer Tasche und reichte ihn Béla. Die Augen der Kinder leuchteten auf, die Mutter bedankte sich gerührt, während die Alte zufrieden lächelte.

Prompt schaltete sich die Dicke wieder ein. »Da sieht man’s wieder! Diese Parasiten haben ihr ganzes Leben auf dem Buckel der arbeitenden Klasse schmarotzt. Jetzt bilden sie sich ein, dass ihre morsche Welt ewig weiterlebt. Gnädigste, ihr solltet euch lieber eine Arbeit suchen, statt eure Kinder zum Betteln zu erziehen.«

Béla guckte seine Mutter an. Zwar verstand er nicht, warum sich diese hässliche Person so aufregte. Aber er spürte doch, wie das seine Mutter irritierte. Hilflos verwirrt blickte sie sich um. Einige Reisenden begannen empört zu murren, was die Dicke nur zu neuen Hasstiraden anspornte. Schließlich spuckte sie auf den Boden und zeterte weiter.

Der Mutter standen Tränen in den Augen. Als Béla ihren Blick suchte, drehte sie sich weg. Er sah aber, wie sie mit dem Handrücken über die Augen fuhr.

Wegen der Bosheit der Dicken fühlte sich Béla verletzt. Er konnte seine Verachtung nur dadurch ausdrücken, dass er ihr die Zunge ausstreckte. Natürlich erzeugte diese Geste einen neuerlichen Schwall grober Beschimpfungen, die Frau wollte sogar gegen das Kind tätlich werden, doch ein Mann hinderte sie daran, den Buben zu packen.