Über dieses Buch

Sie machten Furore, die Reportagen Meienbergs, erregten Aufsehen, wurden viel gelesen und diskutiert. Sie waren genau recherchiert, dramaturgisch sorgfältig gebaut und brillant geschrieben, ihr streitlustiges Engagement fuhr wie ein frischer Wind in den prätentiös-bildungsbürgerlichen Mief der Feuilletons, und bis heute haben sie ihre Frische bewahrt.

Die Neuzusammenstellung der bisher verstreuten Texte bringt Überraschendes zum Vorschein, über die aktuellen Anlässen hinaus ergeben sich Zusammenhänge: Ob zur Geschichte der Schweiz, ihrem Verhalten im Zweiten Weltkrieg, ob zum Schreiben oder zur Politik, es gilt einen virtuosen Schriftsteller und einen ausserordentlich wachen Zeitzeugen neu kennen zu lernen. Auch persönlich: Erstmals liegen die autobiografischen Texte gesammelt und chronologisch.

Niklaus Meienberg

Foto Roland Gretler

Niklaus Meienberg (1940–1993), Historiker, Schriftsteller und Journalist. Er erfand die Reportage neu und dichtete ungeniert mit dem überlieferten Material europäischer Lyrik. Mit seinen Texten zur Zeitgeschichte war er ein grosser Streiter, dessen «Sprachgewalt» auch seine Feinde bewunderten. Wie kein zweiter hat sich Niklaus Meienberg der Öffentlichkeit ausgesetzt, seine ganze Person hat er in seine Texte eingebracht, und mit seiner ganzen Person ist er für sie eingestanden.

Niklaus Meienberg

Reportagen

Ausgewählt und zusammengestellt von Marianne Fehr, Erwin Künzli und Jürg Zimmerli

Limmat Verlag

Zürich

Schreiben

Wer will unter die Journalisten?

Eine Berufsberatung 1972

Da ist einer jung, kann zuhören, kann das Gehörte umsetzen in Geschriebenes, kann auch formulieren, das heisst denken, und denkt also, er möchte unter die Journalisten. Er hat Mut, hängt nicht am Geld und möchte vor allem schreiben.

Er meldet sich auf einer Redaktion. Erste Frage: Haben Sie studiert? (Nicht: Können Sie schreiben?) Unter Studieren versteht man auf den Redaktionen den Besuch einer Universität, wenn möglich mit sogenanntem Abschluss, oder doch einige Semester, welche den akademischen Jargon garantieren. Hat der Kandidat nicht «studiert», aber doch schon geschrieben, so wird ihm der abgeschlossene Akademiker vorgezogen, der noch nicht geschrieben hat. Eine normale Redaktion zieht den unbeschriebenen Akademling schon deshalb vor, weil er sich durch eigenes und eigensinniges Schreiben noch keine besondere Persönlichkeit schaffen konnte. Er ist unbeschränkt formbar und verwurstbar. Er hat auf der Uni gelernt, wie man den Mund hält und die Wut hinunterschluckt, wenn man dem Abschluss zustrebt. Er ist besser dressiert als einer, der sofort nach der Matura oder Lehre schreibt. Er hat die herrschende Kultur inhaliert, der Stempel «lic. phil.» oder «Dr.» wird ihm aufgedruckt wie dem Schlachtvieh. Er ist brauchbar. (Damit soll nicht behauptet werden, dass die Autodidakten in jedem Fall weniger integriert oder integrierbar sind. Oft schielen sie gierig nach den bürgerlichen Kulturinstrumenten und haben nichts Dringenderes zu tun, als das Bestehende zu äffen.)

Nehmen wir an, der junge Mann hält jetzt Einzug auf einer Redaktion. In grossen Zeitungen wird er zuerst durch die einzelnen Abteilungen geschleust, damit er einen Begriff vom Betrieb hat. Bald darf er redigieren, das heisst nicht schreiben, sondern das Geschriebene verwalten. Er wird mit dem Hausgeist vertraut. Er lernt die Tabus kennen und das Alphabet der Zeitungssprache. Er sieht, dass die Bombardierung der nordvietnamischen Zivilbevölkerung nicht «verbrecherisch», sondern «bedenklich» genannt wird. Er merkt, dass der Stadtpräsident nicht eine «Hetzrede» gegen die APO* * So wurden in den sech­ziger Jah­ren die Leute genannt, welche offen demons­trierten, was andere inwendig fühlten. Die Abkürzung bedeutet: Ausser­par­lamen­tari­sche Op­po­si­tion. hielt, obwohl es eine Hetzrede war, sondern, dass er «zur Besinnung» aufrief. Er lernt, dass Arbeiter nicht «auf die Strasse gestellt wurden», sondern «im Zuge der Rationalisierung eine Kompression des Personalbestandes» vorgenommen werden muss. Auch beobachtet er, wie aus den eingegangenen Meldungen einige gedruckt werden und andere nicht. Ein ganz natürlicher Vorgang, denn alles kann ja wirklich nicht gedruckt werden.

Der Neuling sagt sich: zuerst lernen, nicht aufmucken, jedes Handwerk hat seine Regeln usw. (Die Zensur wird ihm stets mit dem Hinweis aufs Handwerk und seine unabänderlichen Regeln erklärt.) Und er hofft auf die Zukunft, wie schon im Gymnasium und auf der Uni. Er gelobt sich auch, es später besser zu machen, wenn er zum Schreiben kommt, nicht mit den ganzen Politikern verhängt zu sein und nicht mit jedem Stadt-, National- und Bundesrat auf du zu stehen, die Dinge beim Namen zu nennen. Nach zwei, drei Jahren ist es soweit, er darf kommentieren, etwas Wichtiges.

Es trifft sich (nehmen wir an), dass er einen Kommentar zur Wahl des neuen Bundesrats X abgeben soll, der allgemein als verklemmter Streber bekannt ist und ausser seinem Machthunger nichts anzubieten hat. Unser Redaktor geht also hin, rekonstruiert den Aufstieg des X und schält die grossen Linien heraus. Manipulation der eigenen Partei durch X, Hervorkehrung des Biedersinns in den öffentlichen Ansprachen, hinterlistiges Abmeucheln von Konkurrenten, Abwesenheit von grossen Ideen, Bereicherung in Verwaltungsräten, Opportunismus in der Kommissionsarbeit, Verhinderung demokratischer Kontrolle in der eigenen Partei. Er geht hin und schreibt: «Bundesratskandidat X, der in seinem Heimatkanton allgemein als verklemmter Streber bekannt ist und ausser seinem Machthunger nichts anzubieten hat.» Er liest den Satz noch einmal, und da fällt ihm auf, dass der Ressort-Chef so etwas nicht durchgehen lässt. Also korrigiert er sich: «Bundesratskandidat X, dem allgemein eine etwas zu grosse Eilfertigkeit bei der Erklimmung der politischen Leitersprossen nachgesagt wird und ein etwas prononcierter Machtappetit –.» Und in dem Stil schreibt er weiter, nicht ohne Erwähnung der durchaus auch vorhandenen positiven Eigenschaften des X. Das Manuskript passiert knapp die Zensur des stirnrunzelnden Ressort-Chefs. Der Artikel erscheint, X liest ihn, telefoniert sofort dem Chefredaktor, seinem alten Kegelbruder und Jassfreund, und sagt: «Das hätte ich von dir nicht gedacht.» Der Chefredaktor zitiert den Jungredaktor, putzt ihm die Kutteln, und bei der nächsten Redaktionssitzung spricht er von Berücksichtigung aller Standpunkte, von nuanciertem Schreiben und ausgewogenem Journalismus, schwärmt von Objektivität und publizistischer Grundhaltung.

Nachdem ihm derart auf den Schwanz getrampt wurde, geht der lädierte Jungmann in sich. Zwar durfte er anlässlich des Zusammenstosses viel Teilnahme erfahren, ein Teil der jüngeren Kollegen hat ihn unterstützt, auch einige von den älteren, er hat aufmunternde Telefonanrufe und Briefe erhalten (nebst einigen andern). Aber die Spontaneität ist angeschlagen, besser gesagt der Restbestand an Spontaneität, welcher nach seinen Lehrjahren übrigblieb. Er zieht sich ins Redigieren zurück, das wenige, was er schreibt, überprüft er auf seine Gefährlichkeit. Bald langweilt ihn seine Verwaltungsarbeit, er ist nicht zum Funktionär geboren und schliesslich Journalist geworden, weil er etwas zu sagen hat, und nicht, weil er etwas unterdrücken will. Er bittet um Versetzung in ein anderes Ressort. Man entschliesst sich, ihn als Reporter «einzusetzen», da kann er beobachten und muss nicht immer Stellung nehmen. Er beobachtet also sehr scharf die Gesichter der Polizisten, welche die Demonstration Y auflösen, und schreibt von diesen Gesichtern: «wutverzerrt». Nach genauer Befragung von 10 Demonstranten verschiedenen Alters stellt sich heraus, dass der Polizeivorstand die Keilerei geschickt provoziert hat. Der Reporter schreibt: «provoziert». Befriedigt lächelnd gibt der Polizeivorstand sogar zu, dass die Provokation gelungen ist. Der Reporter schreibt, er kann nicht anders: «Befriedigt lächelnd.» Da der Chef vom Dienst grad ein wenig schläfrig war, geht die Reportage durch. Anschliessend wird unser Reporter vom Lokalredaktor kräftig zusammengeschissen, da dieser ein Spezi des Polizeivorstands ist, und deshalb weiss der Lokalredaktor, dass der Polizeivorstand so etwas einfach nicht gemacht und gesagt haben kann, es liegt nicht in seiner Natur, er kennt ihn seit Studienzeiten. Fortan wird unser Reporter nur noch an Festakte und Einweihungen geschickt. Zwar hat er auch hier noch Lust, vom «langweiligen Gesumse einer stadtpräsidentlichen Rede» zu schreiben oder die Jahresversammlung des Rotary-Clubs ein «Symposium der regierenden Extremisten» zu nennen, aber er tut's nicht, seine Frau hat eben das zweite Kind bekommen, und seine Zeitung, die nette Firma, hat ihm einen Kredit gewährt, damit er ein Haus kaufen kann und damit er noch ein bisschen mehr von ihr abhängig ist.

Nach einigem Vegetieren bittet er um Versetzung ins Feuilleton. Er hat nämlich beobachtet, dass im Feuilleton mit Abstand die kräftigste Sprache geführt werden kann. Nun darf er über Ausstellungen, Filme, Happenings und Bücher schreiben, darf die jungen Künstler fördern oder behindern. Er blüht auf. Er wird gedruckt. Meeresstille und glückliche Fahrt. Es wird so still um ihn, er wird für seine zuverlässige, wenn auch zupackende Art so allgemein gerühmt, sogar vom Chefredaktor, dass ihm unheimlich wird. Es kann nicht an seiner Methode liegen, denn er schreibt so, wie er es immer erträumt hat, so kritisch und unbestechlich-unbarmherzig. Also muss es am Gegenstand liegen. Langsam dämmert ihm, dass die Kultur nicht ernst genommen wird, weil sie nur von wenigen esoterischen Wesen goutiert werden kann, und ausserdem sind die Künstler keine Pressuregroup, welche so auf die Zeitung einwirken könnte wie ein Stadt- oder Bankpräsident. Auch entdeckt er ihre Ventilfunktion: die oppositionellen Energien, welche im Wirtschafts- oder politischen Teil nicht ausgetobt werden können, dürfen gefahrlos im Feuilleton verpuffen. Man lässt ihn also machen, unsern begabten Hofnarr, welchem aber die Lust am Schreiben entweicht, nachdem er seine Funktion entdeckt hat. Eines Tages hat er dann die Idee, den Begriff Kultur auch auf die Stadtplanung auszudehnen. Nach einigem Zögern, und da er nicht Grossgrundbesitzer ist und nur seine Arbeitskraft zu verkaufen hat, schlägt er sich auf die Seite der Allgemeinheit und schreibt im Namen der vorausblickenden Vernunft gegen die Partikularinteressen, welche die Stadt verstümmeln und ihre Umgebung unwirtlich machen. Nun hat er plötzlich wieder Echo, die Kollegen vom Wirtschaftsteil warnen vor gefährlichen Utopien, die Notabilitäten und Spektabilitäten schneiden bedenkliche Gesichter. Da er genau weiss, was kommt, wenn er weitermacht, und da sich auf der Redaktion nie eine Mehrheit für intelligente Stadtplanung ergeben wird und da er jetzt neben Frau und Kind auch noch eine recht teure Freundin hat, zieht er den Schwanz wieder ein und schreibt in seiner kühnen Art wieder über Filme, welche die Verhunzung der Städte zum Thema haben, oder über Bücher, die von korrupten Politikern berichten. Bücher und Filme beschreiben Zustände im Ausland. Dort ist alles viel schlimmer.

Nun sitzt er still hinter seinem Pültchen und redigiert. Gestriegelt und geputzt. Heruntergeputzt. Brauchbar. Gereift. Ein angesehenes Mitglied der Redaktion, mit seinem launigen Stil. Er hat gemerkt, dass zwischen Denken und Schreiben ein Unterschied ist, und so abgestumpft ist er noch nicht, dass er glaubt, was er schreibt. Aber er sieht jetzt ein, dass Journalismus eine Möglichkeit ist, sein Leben zu verdienen, so wie Erdnüsschenverkaufen oder Marronirösten. An Veränderung innerhalb der angestammten Zeitung ist nicht mehr zu denken, in den Wirtschaftsteil kann er nicht, es ist ihm nicht gegeben, so unverständlich zu schreiben und so konstant an den Dingen vorbei. Für den Sport kommt er nicht in Frage, da ist er zu wenig rasant, es fehlt ihm der Dampf und die immerwährende Fröhlichkeit, auch die gewisse Trottelhaftigkeit, welche ihn an den Sport glauben liesse. Aber vielleicht ins Ausland, als Korrespondent, ein hübscher Posten in Paris oder London? Da hockt er an der Peripherie und hat noch weniger Einfluss. Vielleicht Mitarbeit bei «Roter Gallus», «Agitation», «Focus» oder «zürcher student»? Davon kann er nicht leben, und er will nicht nur für die Eingeweihten schreiben, will unter die Leute kommen mit seinen Artikeln. Bleibt noch ein Umsteigen in andere Zeitungen, Radio und/oder Fernsehen. Mit seinen Freunden, welche dort arbeiten, hat er das Problem am Stammtisch in der «Stadt Madrid» besprochen. Sie raten ihm ab: er würde genau dieselben oder noch viel ärgere Verhältnisse treffen als bei der angestammten Zeitung.

Also bleibt er, wie schon gesagt, hinter seinem Pültchen sitzen, mit fünfunddreissig resigniert, charakterlich gefestigt und bekannt für seinen geistreichen Stil. Seine Widerborstigkeit schwindet, immer weniger geht ihm gegen den Strich. Einige Zeit noch beobachtet er bitter den Zerfall seiner Berufskultur, später nennt er diesen Zerfall: Realismus. Er gilt jetzt nicht mehr als Querulant und Psychopath, er wird normal im Sinn der journalistischen Norm. Das Leben ist kurz, er möchte noch etwas davon haben, bevor seine Genussfähigkeit abnimmt. Und überhaupt, was soll der Einzelkampf, er kann sich mit keiner Gruppe solidarisieren. Kein Journalistenverein, auch keine Fraktion, kämpft für diesen Journalismus, der ihm vorschwebte.

An Sonn- und allgemeinen Feiertagen hat er manchmal noch eine Vision. Er träumt von einer brauchbaren Zeitung. Mit Redaktoren, die nicht immer von Lesern (die sie nicht kennen) schwatzen, denen man dies und das nicht zutrauen könne. Sondern welche gemerkt haben, dass sich auch der Leser ändern kann. Eine Zeitung, welche ihre Mitarbeiter nach den Kriterien der Intelligenz und Unbestechlichkeit und Schreibfähigkeit aussucht und nicht nach ihrer Willfährigkeit gegenüber der wirtschaftlichen und politischen Macht. Eine bewusste Zeitung, aus einem Guss und mit Konzept. Die sich von ein paar wütenden Anrufen und Abbestellungen nicht aus dem Konzept bringen lässt. Geleitet von einem demokratisch gewählten Chefredaktor oder Redaktionskollegium und im Besitz der Mitarbeiter. Eine Zeitung ungefähr wie «Le Monde», welche die Herrschenden einmal so sehr gestört hat, dass sie durch einen speziell gegründeten «Anti-Le Monde» liquidiert werden sollte. (Was dank der redaktionellen Solidarität von «Le Monde» misslang.) Oder eine Zeitung wenigstens, wo alle Mitarbeiter sofort streiken und den Betrieb besetzen, wenn der Verleger einen guten Mann entfernen will. Oder ein Organ, wo Leute wie Karl Kraus und Kurt Tucholsky ständig schreiben könnten. Oder ein Blatt, wo einer wenigstens nicht bestraft wird, wenn er gründlich recherchiert und brillant formuliert …

Nachdem er einmal besonders schön geträumt hatte, nahm er einen Strick und, in einem letzten Aufwallen beruflichen Stolzes, hängte sich auf. Im Lokalteil kam ein Nachruf: «… und werden wir den allseits geschätzten, pflichtbewusst-treuen Mitarbeiter nicht so schnell vergessen, der, von einer Depression heimgesucht, FREIWILLIG aus dem Leben geschieden ist.» Pfarrer Vogelsanger hielt die Abdankung, der gemischte Chor Fraumünster sang: «So nimm denn meine Hände und führe mich.» Der Verschiedene wurde versenkt und verfaulte sofort.

Leichenrede für den Journalisten Peter Frey

oder Plädoyer für ein verschollenes Métier

Der geht mir nicht klanglos zum Orkus hinab! Nicht der.

«Eines Morgens Ende April 1945 sahen die Anwohner des kleinen Halensees in Berlin unzählige weisse Flecken auf der Oberfläche des schwarzen Wassers. Bei genauerem Hinsehen erkannten sie Gipsmodelle, wie sie Bildhauer anfertigen, bevor sie eine Skulptur in Metall giessen. Diese Gipsmodelle hatten die Sonderbarkeit, dass sie die Gesichtszüge von Würdenträgern des Naziregimes trugen. Dass sie jetzt wie Schwäne auf dem See herumschwammen, hatte seine Ursache in der Panik ihres Schöpfers. Beim Herannahen der sowjetischen Truppen wollte der Bildhauer Schimmelpfennig, der am Seeufer ein Atelier hatte, jede Spur seiner nazifreundlichen Tätigkeit zum Verschwinden bringen, und da die Gipsköpfe eindeutige Beweise seiner Arbeit zur künstlerischen Verherrlichung von Leuten wie Hitler, Göring, Goebbels und anderen darstellten, versuchte er, sie zu versenken. In seiner Aufbruchstimmung vergass er aber, dass die Köpfe hohl waren und Gips zudem leichter ist als Wasser. Die Modelle schwammen.

Als die ukrainischen Grenadiere der 3. sowjetischen Gardepanzerarmee des Generalobersten P.S. Rybalko auf der nahen Chaussee vorbeimarschierten, wunderten sie sich über die sonderbaren Wasservögel. Sie veranstalteten ein improvisiertes Tontaubenschiessen, zielten auf die Gipsfiguren (sie hatten seit 24 Stunden keinen kämpfenden deutschen Soldaten gesehen), und die Hohlköpfe explodierten einer nach dem anderen in tausend Gipssplitter. Die Sowjets hatten keine Ahnung, welche Hinrichtung in effigie sie hier vollzogen.

Nur die Bewohner der Etage über dem Bildhaueratelier, ein antifaschistischer Architekt und seine Frau, eine Journalistin, konnten die sinnbildliche Tragweite der Exekution ermessen und sich daran erfreuen. Sie waren es, die mir das Ereignis erzählten, in einer verschneiten und von Feuerwerk erhellten Silvesternacht.»

Diese Passage stammt aus einem unveröffentlichten Text von Peter Frey, den er vor wenigen Wochen verfasst hat. Wenn ich ihn mir zu Gemüte führe, sehe ich den Redaktor, wie er so dasass in seinem relativ bescheidenen Büro der siebziger Jahre, die Arme meist verschränkt beim Zuhören, konzentriert zuhörend, gespannt, aber unverkrampft, und immer ein bisschen gierig, aber höflich gierig auf die neusten Nachrichten aus Frankreich, und wie er einem dann mit gescheiten Fragen auf die Sprünge helfen konnte, weil er halt sehr viel wusste über Frankreich, aber auch über die übrige Welt –

so wird er mir im Gedächtnis bleiben.

Wie er dann lachte, wenn man gemeinsam der Lächerlichkeit der Macht auf die Schliche gekommen war, wie es ihn manchmal richtig schüttelte von innen heraus und er dann jeweils sagte: Isch scho verruckt! Und wie er also immer wieder staunen konnte über die Verrückten, welche ihre Verrücktheit als Normalität deklarieren oder gar zur Norm erheben, weil ihre Machtfülle ihnen das gestattet, und wie er dann fragte, ob man nicht einmal etwas mit diesem Foucault machen könne, der etwas von der Macht verstand, und wie er dann das Interview auch wirklich druckte, ein langes, fast ungekürztes Gespräch zu einer Zeit, vor zwanzig Jahren, als das universitäre Milieu der Schweiz Foucault noch kaum registriert hatte, und wie es dann ins Blatt kam, ohne Schnickschnack in der Aufmachung, sondern mit einem Layout, welches dem Text angemessen war – nämlich so, dass die Leserinnen und Leser eine redaktionelle Seite ohne weiteres von einer Inserateseite unterscheiden konnten –

ja, das wird man nicht vergessen.

Immer wieder staunen konnte er. Staunen als Subversion, und nach dreissig Jahren Journalismus noch nicht ausgestaunt und abgebrüht. Arbeitete ohne Autotelefon, ohne Laptop und Modem, aber mit Bibliothek. Hat sich seine demokratische Seele nicht verbrühen lassen in der Lauge des Managertums und der organisationellen Gschaftlhuberei. Vom Text-Management hielt er nichts, er nannte sich Redaktor, war auch kein Bereichsleiter. Kein Freund von redaktionellen Organigrammen und anderen Machtinstrumenten, und hat seine Meinung geschrieben, bevor eine Marktforschung oder eine Meinungsumfrage geklärt hatte, was die Mehrheit lesen wollte. Er war mehr am Gedankenfluss als am cash flow interessiert. Nur waren seine Meinungen halt derart solid verwurzelt, dass die Motsch-Köpfe und Sirup-Fröschli, welche Journalismus und Beruhigungstherapie miteinander verwechseln oder Denken mit Design, ihm nicht am Zeug flicken konnten, denn sie wussten immer weniger als er, und das war genierlich, aber nicht für ihn. Und doch ist er auf seine nette Art immer ein bisschen verlegen geworden, wenn man ihn wieder dabei ertappte, dass er über die Ming-Dynastie oder Mao Tse-tung besser orientiert war als seine Gesprächspartner, oder über Ho Tschi Minh oder Merleau-Ponty oder de Gaulle oder Helder Camara oder Louis Althusser oder Pablo Neruda oder Gracchus Babeuf oder Furgler oder Robespierre oder Fouqier-Tinville oder Bartolomé de las Casas oder Juan Gines Sepúlveda oder Jacques Monod und die neuesten Erkenntnisse der Biochemie, denn ach, auch auf naturwissenschaftlichem Gebiet war er uns über, und vermutlich hat ihn sein Studium als ingénieur agronome gegen alle Ideologien geimpft und gegen die Versuchungen des Totalitarismus, dem die sogenannten Geisteswissenschaftler manchmal hurtig aufgesessen sind, bis sie wieder davon herunterkamen und aus Beschämung zu rabiaten Antikommunisten wurden, in Frankreich zum Beispiel. Er musste also nie gegen die Sünden seiner Jugend anschreiben. Sein Zweitstudium, die Soziologie, hat ihn aber auch nicht zum Positivisten und, obwohl er trefflich über das Wesen der Statistik schreiben konnte, nicht zum Fliegenbeinzähler gemacht. Übrigens war er natürlich viel zu höflich, um die weniger hellen Kollegen als «Sirup-Fröschli» oder «Motsch-Köpfe» zu bezeichnen, nicht einmal «Sängerknaben» hat er sie genannt, wie sein Magazin-Kollege Hugo Leber das zu tun pflegte, doch freute er sich immerhin, wenn ein anderer in seiner Anwesenheit diese Nomenklaturen benützte. Dann schüttelte ihn das Lachen so schön von innen heraus. Wie er es fertigbrachte, bei all seinem Wissen kein Museum zu werden, aber ebensowenig simplizistisch, alles Geschraubte zu vermeiden und mit seiner clarté latine die verschiedensten Stoffe durchsichtig zu machen auf den springenden Punkt hin – das war sein Geheimnis und seine jetzt mit ihm untergegangene Kunst. Vermutlich hatte er einfach die Leute gern, wenn ich es so simpel sagen darf, und wollte ihnen ein Licht aufstecken, als Aufklärer, damit sie über die eigene Nase hinaussehen konnten. Jedes Bildungsprivileg empfand er als Greuel, auch sein eigenes; was er hatte, wollte er weitergeben. «Je ne veux pas mourir idiot», dieser Slogan aus dem Mai 68 hat ihm gefallen, und wenn die allgemeine Idiotie ein paar Millimeter zurückgedrängt werden konnte, wohlte es ihm jeweils.

Alles Militärische war ihm zuwider, und so konnte er denn die argentinischen, aber auch die schweizerischen Generäle mit der gebührenden Abneigung darstellen und hinstellen. So deutlich wie er hat's niemand in der grossen Presse gesagt. Das Befehl-und-Gehorsam-System habe, so glaubte er, im Journalismus nichts zu suchen, er betrieb management by conviction und hat immer wieder darüber gestaunt, der grosse Stauner, wie viele höhere Feldgraue an den Schaltstellen seiner Firma sassen, die dann auch feldgrau schrieben. (Während er eher das Cézanne-Blau bevorzugte.) Vor dem Militärdienst hatte ihn sein lädierter Fuss bewahrt und vor dem militärischen Denken sein intakter Intellekt. Er freute sich, wenn man ihn darauf hinwies, dass auch der Teufel ein hinkender Bote sei und auf ungleichen Füssen daherkomme wie er selbst, und sagte zu diesem Thema: «Besser ein Bocksfuss als zwei Engelsfüsse» und fügte noch bei, dass er leider kein Schwefelgerüchlein zu verströmen vermöge wie der oder jener und das Dämonische sei bei ihm auf diesen struppierten Fuss beschränkt, leider. Mit solcher Behinderung kommt man weniger gleitig durchs Leben als die Langstreckenläufer des Managertums, und auch beim Erklimmen der Karriereleiter ist so was abträglich, und wenn man dazu auch noch von den Ellenbogen keinen richtigen Gebrauch zu machen weiss und nach der Maxime lebt, dass ein Journalist so viel wert ist wie seine Produktion und nicht so viel wie seine Büroorganisation – ja, dann ist einer selber schuld, wenn er nicht Chef wird. Führen wollte er nur durch die Qualität seiner Ideen und Texte, «der Laden läuft ja von selbst», pflegte er zu sagen, und die formale Hierarchie könnte das Denken nicht herstellen, sondern nur behindern. Da war er schon sehr platonisch eingestellt. In seinem unveröffentlichten Text hat er geschrieben: «Nein, ich habe keine gute Beziehung zur Macht, weder zur aktiven noch zur passiven. Ich übe nicht gern Macht aus, ich ertrage es auch nicht, wenn man auf mich Macht ausübt. In der Chefredaktion, in Vorständen und Exekutivräten nationaler und internationaler Organisationen fühlte ich mich nie wohl. Ich war zwar legitimiert, aber das half mir nichts, wenn ich an einer Redaktionskonferenz, die ich leitete, Kollegen anhalten musste, das oder jenes zu tun. Ich vergass die Legitimation und litt an der verqueren Situation: ein Mensch, der einen andern dazu bringt, etwas zu vollbringen. Grotesk.»

Das könnte von Orwell sein, den er bewunderte, der auch nie Chefredaktor geworden ist, und mit dieser Einstellung hätte man sich in Barcelona zu Durrutis Zeiten das Leben denken können oder zu Bakunins Zeiten im Jura; aber weniger gut im Zürich der kontrollierten Kontrolleure. Hier wird anders gefuhrwerkt. Ganz im stillen muss auch der bescheidene Peter Frey darunter gelitten haben, dass seine bürokratische Macht sich nie auf der Höhe seines ausgedehnten Wissens und Könnens befand, und manchmal wünschte er sich eine Zeitung, die im Besitz der Produzenten ist wie «Le Monde», wo die unumstrittene journalistische und politische Autorität des Gründers Hubert Beuve-Méry organisch in die administrative Autorität mündete. Peter Frey wurde demgegenüber nur stellvertretender Chefredaktor und dann Mitglied der Chefredaktion, die Weichen konnte er nicht stellen. Gegen den gesellschaftlichen Komfort und die verführerischen Privilegien, welche ihm dieser Posten trotz seiner Machtlosigkeit verschaffte, war er nicht immer gefeit. Wer wäre das? Man wird es sagen dürfen, ohne sein Andenken zu beschädigen.

*

Wie hätte Peter Frey diese Abdankungsrede gern gehabt? Ein bisschen sentimental? Oder religiös? Heulen musste ich bei seinem Anblick, einen Tag bevor er starb, der Krebs hatte ihn verwüstet, röchelnd lag er auf dem Sterbebett, schreien hätte ich mögen vor Wut, dass der bescheidene grosse Mann so elend aus der Welt gehen musste und wir jetzt nie mehr etwas von ihm lesen werden, das ist so unerträglich ungerecht. Sein Kopf hat bis vor kurzem gearbeitet wie immer, er hätte doch wohl noch gute zehn Schreib- und Lebensjahre vor sich gehabt. Warum verschwindet er, so kurz nach der Pensionierung? War da nicht vieles noch in seinem Kopf, das heraus wollte? Und das jetzt von seinem Körper sabotiert wurde? Oder war er ausgeschrieben? Seine Art von Schreiben muss mit einer ungeheuren, zehrenden Anstrengung verbunden gewesen sein, wir hatten sein Leben auf dem Papier vor uns, er hatte die Erschöpfung. Noch an der kleinsten Glosse hat er geschuftet wie ein Schriftsteller an einem ganzen Romankapitel. Seine stilistische Eleganz war ein Produkt von Schwerarbeit.

Also, wie hätte er die Abdankung gern gehabt? Vielleicht kommt er gern nochmal zu Wort? Es gibt da einen unveröffentlichten Text von ihm, der handelt von der Macht. Also z.B. von einem befreundeten Bundesrat, der ihn zum Botschafter in Madrid machen wollte und der dann aus seltsamen Gründen jeden Kontakt mit ihm abgebrochen hat. (Es ist nicht Bundesrat Ogi.) Auch der ehemalige Arbeitsplatz kommt vor, zutreffender hat wohl niemand über die Entwicklung des «Tages-Anzeigers» in den letzten zwanzig Jahren geschrieben. Und da ihm diese Zeitung am Herzen lag, er dieses Segment der Gesellschaft am besten kannte, darf man evtl. ein paar unsentimentale Passagen zitieren:

«In den 70er Jahren leitete die Redaktion des ‹Tages-Anzeigers›, in der ich zunächst stellvertretender Chefredaktor und dann Mitglied der Chefredaktion war, mit der Genehmigung der Geschäftsleitung einen Demokratisierungsprozess ein. Die Geschäftsleitung war damals in den Händen von Dr. Otto Coninx, dem Chef der Familie dieses Namens. Ich vergleiche ihn gern mit dem französischen König Ludwig XVI.: ein wenig liberal, ein wenig absolutistisch. Seine liberale Seite erlaubte es der Redaktion, ein fortschrittliches, wenn auch begrenztes Mitbestimmungsmodell zu erarbeiten und in einem Redaktionsstatut festzuschreiben. Um beim Vergleich mit der französischen Geschichte zu bleiben: Es war die revolutionäre Ära der Konstituante und der Legislative. Die absolutistische Seite des Dr. Coninx offenbarte sich aber im statutwidrigen Schreibverbot für den Journalisten N.M. Die Redaktion reagierte nicht gerade mit einer Revolution, es gab auch keine Diktatur der Kommune wie im revolutionären Frankreich. Dr. Coninx wurde nicht enthauptet, aber er nahm bald einmal seinen Rücktritt und überliess die Regierung einer zuerst fünf-, dann vierköpfigen Geschäftsleitung. Diesen Vorgang kann man mit dem Revolutionsstopp des 9. Thermidor in Frankreich vergleichen, der die Bildung eines fünfköpfigen Direktoriums und vier Jahre später eines Konsulats mit beinah diktatorialer Machtfülle zur Folge hatte.

Im ‹Tages-Anzeiger› schwang sich einer der ‹Konsuln›, Rico Hächler, dank seinen Führungsqualitäten geradezu napoleonischen Zuschnitts, zum Ersten Konsul und zum ungekrönten Kaiser des Unternehmens auf. Einer seiner Generale verstand sich nicht mit dem Kaiser: Wie Jean-Baptiste Bernadotte, der sich von Napoleon trennte und zum König von Schweden wurde, trat Peter Studer aus der Geschäftsleitung aus und wurde Chefredaktor beim Fernsehen drs.»

Diesen letzten Artikel seines Lebens hat er als Vorwort für ein Buch konzipiert, das eine Kollektion seiner ausgewählten Arbeiten einleiten soll. Am Schluss des Vorworts nimmt er die Anekdote von den schwimmenden politischen Gipsköpfen im Halensee wieder auf, die ich anfangs zitiert habe. Nochmals P.F.:

«Gamma due: Im Zivilschutz signalisiert dieser griechisch-italienische Ausdruck das Ende eines Alarms. Für mich ist Ende Alarm, deshalb gab ich diesem Buch den Titel Gamma due. Ich bin aus dem Bannkreis der Macht getreten. Die Texte, die hier versammelt sind, verweisen auf eine Welt, die von Macht durchdrungen ist. Sie wurden geschrieben zu einer Zeit, da ich Macht erduldete und (widerwillig) ausübte. Diese Zeit ist vorüber. Ich bringe die hohlen Gipsköpfe meines Lebens zur Explosion.»

Von unserem Pariser Korrespondenten

(statt eines Vorworts)

Wer in Frankreich lebt und liest, was Frankreich-Korrespondenten der deutschsprachigen Zeitungen über Frankreich schreiben, der staunt. Der fragt sich, wie so viele Korrespondenten so regelmässig so gouvernemental über ein Land schreiben können, das so unablässig so subversive Themen anbietet. Und er fragt sich: Wie kommt das?

So kommt das:

Der Korrespondent erwacht knapp vor sieben Uhr. Mit täglich neuer Zielstrebigkeit treibt es ihn zum nächsten Kiosk, wo die Zeitungsfrau ihm schon alle Morgenzeitungen entgegenstreckt (oder fast alle, denn auf «Libération» und «Humanité» verzichten viele). Das macht also immerhin drei Morgenzeitungen, welche der Korrespondent nun in seiner Gewissenhaftigkeit studiert. Mit einem Ohr hört er dabei die Morgennachrichten. Nachdem er die frischen Zeitungen ausgeweidet hat, welche ideologisch alle ungefähr zwischen dem «Bayernkurier» und der «Frankfurter Allgemeinen» liegen, wenn nicht sogar rechts vom «Bayernkurier», konsultiert er noch die Abendzeitungen vom Vortag: «Le Monde», «La Croix» und «France-Soir». Nun hat er also sein beruhigend breites Meinungsspektrum vor sich: vom rassistisch geifernden «Parisien libéré» über den neokolonialistischen «Aurore», den stockkonservativen «Figaro», den gaullistischen «France-Soir», die katholische «La Croix» bis hin zum linksbürgerlichen «Le Monde» sind alle Schattierungen innerhalb des bürgerlichen Schattens vorhanden. Da unser Korrespondent der Objektivität verpflichtet ist, berücksichtigt er in seiner Bouillabaisse alle Ingredienzen, an manchen Tagen sogar die «Humanité». Unter kräftigem Umrühren mischt er die Zutaten zu einem völlig neuen Brei, so dass die ursprünglichen Brocken nicht mehr erkennbar sind und sein Eintopfgericht riecht, als ob es eine originale Schöpfung wäre.

Dieser Originaleffekt wird mit geheimnisvollen Andeutungen erzielt, im Stil von «Aus Regierungskreisen verlautet», oder «Aus Oppositionskreisen verlautet», oder «Im Elysée denkt man», oder «In Gewerkschaftskreisen ist man der Ansicht». So dass der Leser daheim sich über den direkten Draht freut, welcher den tüchtigen Korrespondenten mit Giscards braintrust oder mit Mitterrands Politdenkern verbindet.

Um zehn oder halb zehn Uhr hat unser Mixer dann seine Mixtur parat, die paar Schreibmaschinenseiten, welche ausschliesslich aus schon Geschriebenem zusammengestoppelt sind (wobei in den meisten Fällen die Quellen nicht zitiert werden), zusammengestoppelt aus Tageszeitungen, die in ihrer Mehrheit gouvernemental sind oder noch reaktionärer als die Gaullisten, zusammengebraut aus Nachrichten des reaktionären Radios und Fernsehens und des «freien» Kommerzradios («Luxembourg» und «Europe 1»). Etwa um halb elf also ist der Prozess des Wiederkäuens abgeschlossen, der Artikel kann nach Hause telefoniert oder telexiert werden. So geht das jeden zweiten oder dritten Tag, manchmal auch täglich, je nach «Aktualität». Nun kann der Korrespondent sich ausruhen, manche allerdings erst, nachdem sie denselben Artikel noch zwei oder drei anderen Zeitungen durchgegeben haben (es gibt einige, die bis zu sieben Zeitungen mit demselben Artikel beliefern: Im Gegensatz zu den Krämern kaufen die Korrespondenten «en détail» ein und verkaufen «en gros»). Bestenfalls ein Halbtags-Job, wenn einer mal ein bisschen Routine hat. Dazu sehr flott honoriert: unter viertausend Francs verdient keiner. Damit gehören sie in Frankreich zu den Privilegierten.

Die Korrespondenten der deutschsprachigen Tageszeitungen könnten sich zu einem «pool» zusammenschliessen, und zwar so, dass einer von ihnen periodisch alle Zeitungen mit den Routineberichten beliefert, damit die andern frei werden für Recherchen und Reportagen, Erlebnisberichte, Analysen, Glossen, Interviews. Oder die Redaktionen könnten Agenturberichte abdrucken und damit ihre Korrespondenten für kreativen Journalismus freimachen. Denn was die Haupt- und Staatsaktionen betrifft, die sogenannte grosse Politik, auf die sich unsere Korrespondenten fast immer beschränken, so orientieren die Agenturen ja doch umfassender, schneller und besser als so ein Korrespondent-Kopist, dem nicht ein Viertel der Quellen eines Agence-France-Presse-Mitarbeiters offensteht. Aber die meisten Tageszeitungen wollen auf «unseren Pariser Korrespondenten» nicht verzichten, jedes rechte Blatt ist sich diesen Mythos schuldig, auch wenn es seinen Korrespondenten mit vier andern Blättern teilen muss. Der Mythos überlebt nur deshalb, weil der Durchschnittsleser in der Heimat keine französischen Zeitungen liest und also nicht weiss, welch abgeschmackter Aufguss oder Absud ihm serviert wird. Die Korrespondenten in ihrer unermüdlichen Faulheit (faul hinsichtlich des Denkens, unermüdlich in bezug auf ihre ständig ratternden Kopiermaschinen) sind einfach zu bequem oder zu schüchtern, um in die Fabriken, zu den Bauern, in die Provinz zu gehen, in die politischen Versammlungen, in die Gerichtssäle, wo ihnen jeden Tag Anschauungsunterricht geboten wird; zu bequem sogar, sich in den Ministerien selbst zu erkundigen. (Bei den Veranstaltungen der grotesken Ausländerkolonien in Paris hingegen, da sind sie, bei den teuren Banketten und Ministervisiten.) Manche sind schon jahrelang in Paris und haben noch nie mit einem Arbeiter gesprochen. Ihre Kontaktschwierigkeiten sind allerdings begreiflich, wenn man weiss, wie schlecht sie französisch sprechen: sie wollen sich nicht blamieren und lernen die Sprache also lieber überhaupt nicht. Wenigstens nicht so, dass sie ein Interview oder Gespräch ohne Hemmungen führen könnten. Ihr Wortschatz datiert noch aus der Schulzeit. Ihr Verhältnis zu Frankreich ist gespannt, falls überhaupt von einem Verhältnis gesprochen werden kann. Sie leben weder in Frankreich noch in der Heimat, sondern in einem geheimnisvollen Zwischenbereich, im Ausguck der neutralen Beobachter, weit oben, wo sie nichts mehr erschüttern kann ausser der Erhöhung des Hypothekenzinses ihres Häusleins. Ihre politischen Oberflächenkenntnisse stossen nicht zu einer kohärenten Analyse vor. Alles wird aufgefasert in Tagesneuigkeiten, ohne geschichtliche Tiefe. Zum Herz der Dinge, zur Ökonomie, zur Arbeitswelt, haben sie keinen Zugang. Darüber schreiben die Wirtschaftskorrespondenten, die spezialisierten Volkswirte, welche dafür von der Politik abstrahieren. Die kulturelle Dimension der Politik entgeht ihnen, ebenso die politische Dimension der Kultur. Denn für Kultur, oder was man sich so unter Pariser Kultur auf den Redaktionen vorstellt, sind die Kulturkorrespondenten zuständig, die kultivierten Theaterrezensenten und Besprecher von Ausstellungen …

Und die konkreten Probleme der leibhaftigen Franzosen? Wer schreibt Berichte über das trostlose Leben in der Pariser Agglomeration? Nicht jene Korrespondenten, die bequem im Grünen wohnen und dort ihr Gärtchen pflegen. Wer produziert einen Artikel über Willkür und Allmacht der französischen Polizei, dazu einen politischen Erklärungsversuch der Polizeistaatlichkeit? Nicht jene gepflegten Herren, welche noch nie erlebten, wie man nach einer friedlichen Demonstration zusammengedroschen wurde und wie man auf den Kommissariaten behandelt wird. Polizeiwillkür gibt es für unsere Korrespondenten erst, wenn auch die grossen Zeitungen wie «Figaro» die Methoden etwas zu brutal finden. Wer hat, in Ermangelung eigener Erlebnisse, wenigstens das Buch von Denis Langlois über die Foltermethoden der Polizei besprochen? Wer von den wackeren Greisen liest überhaupt Bücher, einen Bruchteil wenigstens aus der historischen, politwissenschaftlichen und soziologischen Jahresproduktion? Dabei haben sie die Bücher gratis, mit ihrem Presseausweis. Wer liest die sogenannt linksextremen Zeitungen, Zeitschriften und Revuen, von «Politique Hebdo» bis zu «Partisans»? Oder doch hin und wieder «Esprit»? Wer ist auf die verlässliche, wenn auch linke «Libération» abonniert, die immer wieder vom Los der Fremdarbeiter, von der Misere auf dem Land, von unbekannten Streiks und aus den Bidonvilles berichtet? Sicher nicht jene selbstzufriedenen Idylliker, die noch nicht bemerkt haben, dass ihr Koordinatensystem die wichtigsten Fakten eliminiert, die auch nicht spüren, wie sehr das etablierte Informationssystem sich selbst reproduziert, wie schlecht es unmittelbar bevorstehende Erdbeben vorausspüren kann (ein berühmter Artikel von Viansson-Ponté in «Le Monde», unmittelbar vor dem Mai 1968, unter dem Titel: «La France s'ennuie»).

Es geht ihnen einfach zu gut, unsern dickhäutigen Schreibkräften, sie haben ein für allemal ihren objektiven und gepolsterten Standpunkt, oberhalb aller Standpunkte (meinen sie), und betrachten von hoher Warte die hohe Politik, freuen sich über den atlantisch gesinnten Giscard, welch ein Aufschnaufen nach de Gaulle, haben Mitleid mit Jean-Paul Sartre, der wie Sokrates die Jugend verführt, kennen ihn und seine Schriften aber nicht, finden die Sozialpolitik des Chirac eine fortschrittliche Sache, haben aber nicht darunter zu leiden, bei ihrem beinahe diplomatischen Status, bewundern die neuen Quartiere rund um Paris und die lebhafte Bautätigkeit allenthalben und die Renovierung der alten Quartiere, Sanierung überall: entzückend die neuen Fassaden, Notre-Dame im neuen Kleid. Gewiss, von der dynamischen Modeschnüfflerin, die das Büro eines grossen Verlages am Quai Voltaire leitet, kann man eine kritische Berichterstattung nicht erwarten, die beschäftigt sich mit Mireille Mathieu und Johnny Halliday, zu diesem Zweck wurde das Mädchen nach Paris geschickt; aber von den seriösen Korrespondenten könnte man doch hoffen, dass sie nicht nur über die Johnny Hallidays der Politik berichten, dass sie ihre Augen öffnen, ihre Ohren, eventuell mal ihren Kopf zu einer persönlichen Reflexion benützen, bevor ihnen die bürgerliche Presse den Artikel vorgedacht hat. Oder man erwartet, dass sie mal in die unterentwickelte und kolonisierte Provinz reisen oder in die französischen Kolonien, die zum Schein selbständig geworden sind. Man hofft auf einen Bericht über das Leben in den Kohlebergwerken, über die Verhältnisse bei Citroën, einen Blick auf die Pariser Stadtplanung, auf die unerhörte diktatorische Machtkonzentration in den Händen Giscards, auf die Beschreibung eines Regionalpräfekten, der seine Provinz wie ein Vogt regiert.

Vielleicht, wenn die Korrespondenten wirklich mit dem Volk korrespondierten und ins Leben tauchten, würde ihnen der Zusammenhang zwischen Alltag und Agitation aufgehen. Sie würden bemerken, dass Millionen von Franzosen nur die Wahl haben zwischen Lethargie und Revolte, zwischen Spiessbürgerlichkeit und Barrikade und dass der radikale Zynismus der Besitzenden die radikale Wut der Unterdrückten ständig neu produziert.

Aber ach, von all dem werden die Korrespondenten unserer Tageszeitungen nichts schreiben. Es wird auch nicht von ihnen verlangt. Die Redaktionen wollen Artikel über den letzten Brandt-Besuch, über die Pressekonferenz des Präsidenten – welche der Korrespondent am Fernsehen verfolgt. Warum sollten Zeitungen, die einen Helmut Kohl im Inlandteil mit Samthandschuhen anfassen, im Ausland einen Bericht über die wahre Natur des Giscard d'Estaing abdrucken, das heisst über die Natur seines Herrschaftssystems? Oder etwa eine Aufklärung über die Machenschaften der «Compagnie Général Electrique (CGE)» oder der «Banque de Paris et des Pays-Bas», da sie ja auch über die Deutsche Bank oder Siemens nicht allgemeinverständlich orientieren, sondern nur im Latein ihrer undeutlich murmelnden Volkswirte? Ausserdem fühlen sich die Korrespondenten in Frankreich zu Gast, allzu deutlich darf man sich gegenüber dem Gastgeber nicht räuspern (sind sie bei der Regierung oder beim Volk zu Gast?). Und schliesslich, so jammern unsere Korrespondenten, haben unsere Artikel ja doch keine Konsequenzen; in Frankreich werden sie nicht gelesen und in der Heimat fast nicht (kein Wunder, bei dem Stil).

Man sieht also, dass die Pariser Korrespondenten in ihrer jetzigen Form abgeschafft werden können. Am besten beruft man sie in die Heimat zurück, welche sie mental nie verlassen haben. Dort reserviert man ihnen auf den entsprechenden Redaktionen einen gemütlichen Raum, darin ein Fernsehgerät mit Spezialantenne, ein gutes Radio und ein Abonnement auf alle Pariser Zeitungen, mit Express-Luftpost-Zustellung. Also präzis dieselbe Umwelt wie in Paris. Ausserdem eine Sekretärin, deren Parfum ihnen Pariser Atmosphäre garantiert. Nun dürfen sie in Zürich, Frankfurt oder Hamburg ihre Kopistenarbeit verrichten anstatt in Paris, das sie bei dieser Arbeit nur stören kann. Auch können sie an ihren freien Nachmittagen noch für redaktionelle Arbeiten herangezogen werden, Umbruch und so. Das bedeutet eine gewisse Ersparnis für die meisten Zeitungen, weil ja die Spesen und Auslandsentschädigungen wegfallen.

Eine andere Möglichkeit: Die Korrespondenten verlassen, turnusgemäss, ihre feinen Wohnungen, lassen sich eine ganz andere Luft um die Nasen streichen.

Der Korrespondent der «Neuen Zürcher Zeitung» arbeitet einen Monat bei Renault als «O. S.» (ouvrier spécialisé), der Mann vom «Echo der Zeit» geht als Landarbeiter in die Bretagne, der FAZ-Berichterstatter geht auf den Bau und wohnt mit Portugiesen im Bidonville, der von der «Welt» verdingt sich auf der Werft von Dünkirchen.

Die Überlebenden schreiben einen Erlebnisbericht.

NB: Herr W. I., Korrespondent einer grossen Zürcher Zeitung, der diesen kleinen Aufsatz hatte, rief mich an; er beglückwünschte mich (zu meinem Erstaunen) und sagte, im wesentlichen sei die Lage richtig analysiert, auch er leide unter den sterilen Bedingungen des Journalistendaseins in Paris. Was hatte ich falsch gemacht, dachte ich, dass mich ein Vertreter der konservativen Presse beglückwünschte.

Auf einem fremden STERN, 1983

«Ich persönlich gestehe, dass ich schwer über solche Zusammenstösse mit dem landläufig Menschlichen, dem naiven Missbrauch der Macht, der Ungerechtigkeit, der kriecherischen Korruption hinwegkomme.»

Thomas Mann, «Mario und der Zauberer»

Man kann die 206 Seiten von Erich Kuby – «Der Fall STERN und seine Folgen» –, der 15 Jahre lang beim STERN tätig gewesen ist, nicht ohne Emotion lesen, auch wenn man nur neun Monate bei der Illustrierten als Pariser Korrespondent angestellt war. Alle paar Seiten denkt man, mit einem Gefühl der Befreiung: «Genau so!» – zum Beispiel, wenn Kuby über den weiland Chefredakteur Peter Koch, der das Hitler-Tagebuch-Schlamassel mit angerichtet hat und dann mit drei Millionen Mark Abfindung (Schweigegeld?) gefeuert worden ist, schreibt: «Peter Koch, der mit dem Auftreten eines Kompaniefeldwebels aus Journalisten Befehlsempfänger machen wollte, was ihm zum Teil auch gelungen ist.» Kann man wohl sagen; kann wohl jeder sagen, der Koch und die Redaktionskonferenzen und die demütigenden Abbürstungen erlebt hat, die sich kein Primarschüler von seinem Lehrer, aber fast alle STERN-Leute von ihrem Koch haben bieten lassen, oder auch von Felix Schmidt, dem anderen Chefredakteur und Drei-Millionen-Empfänger. Man fragt sich nur: Warum hat es Kuby in diesem Betrieb so lange ausgehalten? Da war also eine Redaktion mit zahlreichen brillanten (aber auch einigen andern) Köpfen, die oft für Demokratie, gegen Militarismus, Folter, Rüstungswahnsinn kämpfte – nach aussen, das heisst im Blatt sichtbar; und die innerlich-unsichtbar organisiert war wie eine Kaserne, eine luxuriöse allerdings, mit prima Psycho-Folter.

Das Hitler-Tagebuch-Schlamassel ist von diesem Organisationsmodell des STERN nicht zu trennen. Eine halbwegs demokratisch funktionierende Journalistengruppe wäre trotz allen Abschottungsmechanismen von Chefredaktion und Verlag den kriminellen Tagebuch-Veröffentlichungsplänen beizeiten auf die Schliche gekommen und nicht erst nach der Enttarnung dieser doofsten aller Fälschungen. Aber Rebellion, das heisst demokratische Debatte, war der Redaktion von ihren Chefen mit dem eisernen Besen der Chefarroganz abgewöhnt worden, als einfacher Schweizer möchte ich beinahe sagen: mit deutscher Grosshans-Arroganz. Und erst im Mai 1983 wurde dann doch rebelliert, zum erstenmal seit dem Hinauswurf Bissingers (1978), und es durfte eine Woche lang gegen zwei ehemalige Chefen, Koch & Schmidt, die nicht mehr regierten, und gegen zwei zukünftige, Scholl-Latour & Gross, die noch nicht regierten, gemotzt werden.

Von Toten nur Gutes, und auf Ambulanzen soll man nicht schiessen; ich weiss.

*

Ist es hämisch, sich über die Methoden dieser Chefredaktion jetzt, nachdem Schmidt und Koch abgesetzt sind, zu äussern? Schwieriger war es damals während der sogenannten Heftkritik an einem Freitag im letzten November (immer am Freitag ist Heftkritik beim STERN, das neu erschienene Heft wird von einem Mitglied der Redaktion oder von einem speziell eingeflogenen Prominenten, Lothar Späth z.B. oder Intendant Stolte vom zdf, kritisiert). An jenem Freitag war ich mit der Heftkritik betraut und gedachte, nicht aus heroischen Motiven, sondern, weil ich aus meinem Magen keine Geschwürgrube machen wollte, als einfacher Schweizer meine Eindrücke mitzuteilen (Heidi bei Fam. Sesemann). Im betreffenden Heft war u.a. ein Interview mit dem spanischen Ministerpräsidenten, an dem Koch, der Redakteur Bindernagel, Fotograf Lebeck, eine Dolmetscherin und ich mitgewirkt hatten. Ich erzählte der sehr zahlreich erschienenen Redaktion, etwa 100 Leute, Koch & Schmidt inklusive, dass wir mit einem Lear-Jet, Kosten 18'000 Mark, nach Madrid geflogen waren (Unruhe bei den weniger gut bezahlten, zum Sparen angehaltenen Kollegen). Das Interview war von Willy, wie Koch sagte, ANGELEIERTXY