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Toten Dichtern folgt man nicht

Am Anfang stand das Beobachten von Natur, Menschen und Ereignissen in den Kriegs- und Nachkriegsjahren im Fokus von Heinrich Labentsch (alias Hego Laben).

Nach Berufsausbildung, Seefahrt und Studium (Dipl.- Ing.) deutete sich im Laufe der Jahre ein analytisches Denken an, das in einer nicht endenden Skepsis verharrt. Der Mensch, um den sich doch alles drehen muss, stellt sich lediglich als leicht manipulierbare und immer knetbare Masse dar. Die Erkenntnis darüber mündet schließlich in fröhliche, ironische und mehr oder weniger sarkastische Aufzeichnungen, Bücher und Manuskripte.

Vom Autor erschienene Publikationen:

Merkwürdige Geschichten eines Reihenhäuslers (2000; Neuauflage geplant)

Wasser an Deck (2001)

Verse, die man … (2003)

Der unsichtbare Faden (2004)

Worte im Kreis (2009)

Heinrich Labentsch

Toten Dichtern
folgt man nicht

… es sei denn, man hat Tucholskys
»Schloss Gripsholm« gelesen

Eine frühlingshafte Erzählung

Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm:
www.buchmedia-publishing.de

Originalausgabe
August 2018
Buch&media Publishing, München
© 2018 Buch&media GmbH, München
Umschlaggestaltung: Franszika Gumpp
unter Verwendung eines Bilds von © flickr.com/Allie_Caulfield
ISBN print: 978-3-95780-138-8
ISBN epub: 978-3-95780-139-5
ISBN pdf: 978-3-95780-140-1

INHALT

Man traf sich zufällig

Zum Norden, den Vögeln nach

Im Regionalexpress kennt man die Eile nicht

Mecklenburg grüßt sehr sparsam

Im Kleingarten

In der alten Schwedenstadt

Am alten Hafen

Im Vereinslokal

Aus der Enge in die Weite

Der Ersatz

Backsteingotik

Karlchen ist da

Eine im Boot, einer im Supermarkt

Frau wird versetzt – Mann bandelt an

Ostseewellen

Geständnisse

Unter Beobachtung

Rekonvaleszenz

Ein Königreich für ein Pferd

Nachlese von unterwegs

Zu guter Letzt

Ich widme dieses Buch meiner lieben Frau Ursel, die in diesem Jahr in Frieden von uns ging. Ohne sie wäre die Erzählung nicht entstanden.

Heinrich Labentsch,

St. Blasien,
Im August 2018

MAN TRAF SICH ZUFÄLLIG

Welten explodieren, verschmelzen zu schwarzen Löchern, Universen verschwinden in den ungeahnten Weiten des Raumes ohne Spuren zu hinterlassen, Landmassen versinken im Meer, Vulkane speien glühende Lava, verlöschen in grünen Höllen, Völker bringen sich um oder richten sich auf, Menschen aber begegnen sich, überall auf unserer Erde, sie haben keine andere Wahl, es gibt zu viele.

Zwei davon wollten sich auf dem Bahnsteig am Gleis 18 im Düsseldorfer Hauptbahnhof treffen. Dort, wo die Züge nördliche Richtungen einschlagen. So war es abgemacht.

Er, der Mann, stand am großen gelben Fahrplan und studierte die Abfahrtszeiten. Die randlose Brille mit den nahtlosen Gläsern lässig in der Hand, näherte er sich mit dem Gesicht mal mehr, mal weniger der aluminiumgefassten leicht erblindeten Glasscheibe, die zu eifrige Reisende daran hindern sollte, sich den für sie interessanten Teil des Fahrplans abzupflücken und einzustecken.

›Er testet seine Weitsichtigkeit, der Eitle‹, konstatierte sie vergnügt, als die bekannte Statur in ihr Blickfeld geriet. Elegant wirkte er in seinem hellen Trenchcoat, der jugendliche Herr in den Fünfzigern, ihr Partner im neuen, spannenden Spiel der Geschlechter.

Der frühlingshafte Wind, in Bahnhöfen immer sehr zugig, hatte die flatternden Mantelschöße gekonnt um die Beine des Herrn gewickelt, sodass es von der Seite aussah, als sei er mit altmodischen Knickerbockern angetan. ›Tucholsky trug bestimmt auch diese englischen Klassiker der damaligen Herrenmode, als er in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit seiner Prinzessin nach Schweden fuhr‹, dachte sie und eine unbändige Freude, eine unerklärliche Abenteuerlust überkam sie. Wild stürzte die Dame auf den eingewickelten Herrn zu und warf sich ihm an den Hals. Leider nur theoretisch, denn er suchte mit ehrgeiziger Intensität den brillenentbehrlichen Leseabstand zum Fahrplan und trat einen ganzen Schritt zurück. So sauste das schwarzhaarige Energiebündel im schicken kaschmirwollenen Reisekostüm hart an seiner Nase vorbei und wurde nur von dem unhandlichen Lederkoffer aufgehalten, der sie zwang, eine tiefe Verbeugung zu machen und der sie unsanft auf den harten Steinboden geworfen hätte, wenn der Herr nicht – ganz Gentleman – im letzten Moment doch noch zugegriffen hätte. Es bot sich ihm nämlich eine schlanke Taille dar und so etwas verfehlte er nie.

»Hoppla, junge Frau, wohin so eilig?«, und schon verschloss ihm ein blassrot-dunkelvioletter Mund die Lippen. »Schon wieder eine neue Lippenstiftfarbnuance«, konnte er noch feststellen, dann blieb ihm die Luft weg.

Schnell griff er noch einmal um die schon bekannte Taille und stellte das anhängliche Wesen zunächst einmal in einen sicheren Abstand von einem halben Meter vor ihm auf. »Bist du verrückt«, zischte er sie gar nicht mehr gentlemanlike an: »Wir sind noch in Düsseldorf, ich bin hier zu Hause, wenn uns jemand erkennt?«

Sie tat zerknirscht und versteckte ihren Wuschelkopf unter den schlappigen Revers seines Mantels. »Ich bin ja auch von hier«, pflichtete sie ihm kleinlaut bei.

»Du entstammst immerhin dem schönen Düsseldorfer Ortsteil Himmelgeist, die Leute von dort dürfen ohnehin nur in höheren Sphären schweben und haben somit auf dem profanen Boden eines erdgebundenen Bahnhofes auch gar nichts zu suchen«, tröstete er und drückte sie umso fester an sich.

Die besondere Situation zwang ihn dennoch, eine leichte Rüge in die duftende Frisur der lockenden Region ihres zierlichen Ohres zu flüstern: »Dass du es nur weißt, ich befinde mich ganz allein, mutterseelenallein auf dem Wege in eine längst überfällige Kur, bin mitten im Sprung in eine erquickliche Regenerierungsphase von sage und schreibe vier Wochen Dauer, die unter anderem strengste Ruhe vorschreibt und außerdem durch keinerlei Störung von außen beeinträchtigt werden darf. Nur bei meinem Tode erlaubt sich die Klinikleitung, die Familie zu benachrichtigen. Selbst das Handy habe ich auf Anraten meiner fürsorglichen lieben Frau bereitwillig zu Hause gelassen …«

»Was ist das denn hier in deinem Jackett?«

»Ach, wie dumm, das ist die Reserve aus dem Büro, habe ich völlig übersehen, na lassen wir das. Und was hast du deiner Familie hinterlassen?« Er sprach leise, flüsterte fast, auf dem lauten Bahnsteig eigentlich völlig überflüssig, aber das Geheimnis der beiden musste ihre Angelegenheit bleiben, durfte vom neugierigen Wind nicht verbreitet werden, schon gar nicht in ihrer rheinischen Heimatstadt, obwohl diese für Verschwiegenheit weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannt ist. Sie ging noch nicht darauf ein und fragte:

»In welcher Klinik bist du in den nächsten vier Wochen zu erreichen – im Notfall? Deine Frau könnte doch auch sehr plötzlich sterben, – hypothetisch – meine ich.«

»Meine Frau und sterben.« Er heulte verzweifelt auf. »Die überlebt mich um Jahrzehnte, die ist zäh …«

»Du hast ihr also keine Adresse genannt?«

»Nein, ich habe ihr weisgemacht, dass die Geheimhaltung des Standortes nach den neuesten psychologischen Erkenntnissen der Mediziner zu einer erfolgreichen Therapie gehört und sich dadurch ungeahnte Heilerfolge erzielen lassen.«

»Und das hat sie dir abgenommen?« Die Skepsis in ihrer Frage tropfte wie Regen auf den kaugummigedämpften Bahnsteig.

»Ja, selbstverständlich«, entgegnete er überheblich, von den eben genannten Tropfen keineswegs benetzt, »sie glaubt mir alles!«

»Ah, ja?« Der Tonfall in ihrer Stimme machte selbst den lungernden Tauben klar, dass sie seine Auffassung keineswegs teilte. Aber Männer sind so von sich eingenommen, dass sie unablässig glauben, mit plumpen Lügen alle Ehefrauen der Welt übertölpeln zu können. Sie hatte auch so einen Selbstgefälligen im Haus.

»Nun sag schon, wie hast du den Gatten und die Kinder überzeugt?«

»Ich habe dir ja erzählt, dass mein Mann ebenfalls kuren will. Wir hören seit Wochen nichts anderes mehr. Wie nervig der Kerl sein kann, das glaubst du ja gar nicht.«

»Du Arme.« Tröstend tätschelte er ihren Arm.

»Ja, und so nutze ich die günstige Gelegenheit, mich einem supergesunden Wellness-Event in einer speziellen Anti-Aging-Herberge zu unterziehen. Damit sie mich auch wirklich um zehn Jahre jünger macht, gleich für volle vier Wochen. Die Nachbarn schauen abwechselnd nach dem Haus.«

»Schön clever, und dein Mann, hat der nicht nach der Adresse des Hotels gefragt?«, unterbrach er sie hastig.

»Nein, der Gute ist mit seiner lädierten Gesundheit voll beschäftigt, den hat meine Schönheitsunternehmung überhaupt nicht interessiert.«

Der Mantelmann schüttelte verständnislos den Kopf. »Überhaupt nicht interessiert«, wiederholte er gedehnt, »das wäre mir nicht passiert. Als Ehemann muss man doch wissen, was die eigene Frau so treibt. Stell dir das einmal vor: Im Luxushotel mit schickem Bademantel und nichts darunter an, dauernd ein Glas Sekt in den prickelnden Fingern und angeregt wandert sie von einer Masseurshand in die andere. Abends in der schummrigen Bar umgibt sie sich mit jungen, gut gebauten Kellnern vom Balkan oder dem Vorderen Orient, und das sind beileibe keine Eunuchen. Um Himmelswillen. Und dann erst die fürstlichen Trinkgelder, die sie ausgeben wird!« Erregt schüttelte er sie.

Lächelnd wehrte sie ihn ab. »Eifersüchtig? Sei froh, dass er so dämlich ist. Jetzt reden wir aber nicht mehr über die Bremsklötze, jetzt beginnt unser ersehntes Wagnis, unser ganz eigenes Abenteuer …« Sie unterbrach sich selbst und schaute ihn von unten herauf prüfend an. »Es wird doch eins, oder denkst du auch bei meiner bescheidenen Person an sündhafte Trinkgelder?«

Er grinste. »Sündhaft denke ich schon, aber nicht in Bezug auf Trinkgelder. Die werden sich ohnehin in Grenzen halten. So, und nun reduziere bitte den intensiven Körperkontakt. Man könnte uns glatt für ein Liebespaar halten. Bitte Abstand! Wir haben uns rein zufällig getroffen, benutzen ungewollt den gleichen Zug und werden – Schicksal nimm deinen Lauf – an ein- und derselben Station aussteigen.«

Sie dachte gar nicht daran, sich von ihm zu lösen. Im Gegenteil, die Dame umklammerte den Mann noch fester und ihre kurze Rede glich einem Manifest. »Es beginnt hier, mein Lieber, hier auf diesem Bahnsteig. Auf einem solchen stiegen Tucholsky und seine Prinzessin, seine Lydia, in einen Zug der Deutschen Reichsbahn, und sie landeten in Schweden im Schloss Gripsholm. Und so will ich auch mit dir in das Land der Birken schweben und den intensiven Duft des skandinavischen Frühlings schnuppern und noch einmal die Liebe genießen. Anderes bleibt zurück. Ich will wieder, wenn auch nur für wenige Wochen, das Glück pachten. Sollte selbst das Gras in diesem Monat noch sehr kühl sein, und sollte der Wiesenboden uns den Popo anfeuchten, so werden wir dennoch unsere Seelen baumeln lassen, genauso wie es uns der gute Kurt Tucholsky in seiner Erzählung ›Schloss Gripsholm‹ überliefert hat. Und wenn uns jetzt in diesem Moment irgendeine fiese Möpp erkennt und die Hölle, die geifernden Weiber und den Klatsch darin in Bewegung setzt, es ist mir egal. Für dich, Geliebter, bin ich frei, frei, frei!«

Temperamentvoll fuchtelte sie mit ihrer rechten Hand unter seiner Nase herum und wies auf den Ringfinger, der tatsächlich vom Ehering befreit war. Nur ein schmaler blasser Streifen Haut verriet die Stelle, wo das goldene Relikt einer überholten Generation normalerweise angeordnet ist.

»Demnach handelt es sich bei uns um ein jungfräuliches Paar. Tut mir leid, meine Liebe, so genau habe ich meine Rollen noch nicht studiert. Doch dein Wille ist mir Befehl. Außerdem bist du die belesene Literatin, du führst die Regie!«

»Die Jungfräulichkeit nimmt uns wohl niemand mehr ab. Von dieser anatomischen Einrichtung hatten sich Tucholsky und seine Prinzessin vermutlich auch damals schon verabschiedet, aber sie und wir, die heutigen Protagonisten, fühlten und fühlen uns nicht gesetzlich verbunden. Wir verhalten uns zwar wie ein Paar, Peter, aber wähnen uns unabhängig in unseren Rollen, sind also auch frei in unseren Entscheidungen. Diese vermeintliche Freiheit lockt hinter einem unsichtbaren Zaun. Springt einer von uns hinüber, hält er es nicht mehr in der Umzäunung aus, ist das Spiel aus, fällt der Vorhang und alles Vergangene ist nur noch eine Episode.« Lydia sprach mit vollem Ernst, sie hatte sich abgewandt und deklamierte in einen nicht vorhandenen aber zeugnisbereiten Zuschauerraum hinein.

Peter ließ sich nicht von der Situation einfangen. Zärtlich nahm er ihre Hand und küsste den ungepanzerten Finger. »Da fällt mir der Schulaufsatz eines kleinen Mädchens ein«, sprach er leise und fummelte seinerseits mit der rechten Hand in der Manteltasche. »Es sollte über die Nibelungensage berichten und schrieb: Kriemhild verriet dem bösen Hagen, dass Siegfried eine ›wunderbare Stelle‹ an seinem Körper besitzen würde. Sie meinte aber ›verwundbare Stelle‹. Intelligentes Mädchen, was? – Die blasse Stelle an dem sichtbaren Glied deiner Hand, bietet allerdings auch eine gefährliche Blöße, könnte dich verraten, muss getarnt werden.« Plötzlich lag ein klitzekleines Kästchen in seiner offenen Hand.

»Auf Gleis achtzehn hat Einfahrt der Intercity zweiundfünfzignullzwei über Rhabarber, Rhabarber, Rhabarber; Hamburg, Rhabarber, Rhabarber, Ostseebad Binz, planmäßige Abfahrt siebenuhrzweiunddreißig. Bitte von der Bahnsteigkante zurücktreten

Das nicht öffentliche Paar wurde bei dieser blechern schallenden Ansage nun doch leicht nervös. Er ließ die geschachtelte Tarnung wieder in die Manteltasche verschwinden, knöpfte den flatternden Mantel zu, nahm seinen und ihren Koffer in die Hände und war zum Einsteigen bereit. Sie trug als Last lediglich eine mittelgroße Handtasche, strich sich mit der anderen Hand noch mal kurz eine vorwitzige Haarsträhne aus der Stirn und fieberte dem nun beginnenden Abenteuer entgegen. Es stand sehr viel auf dem Spiel und die Gefahr, wieder in die angestammten Rollen zu verfallen, war jederzeit vorhanden. Würde es passieren, können sie eine ernste Auseinandersetzung nicht vermeiden, dann hätten sie beide verloren, dann schlüge das Schicksal, das einem russischen Roulette gleichende Spiel, erbarmungslos zu. Eine Trennung –, aber soweit wollte sie jetzt nicht denken. Der Auftakt zur Ouvertüre jedenfalls war gelungen.

ZUM NORDEN, DEN VÖGELN NACH

Während Tucholsky und seine Prinzessin damals das Glück hatten, in einem fast leeren Zugabteil von Berlin gen Norden zu fliegen, so bietet die Bahn AG heute ihren reisenden Kunden kein solches Kunststück mehr, sondern versucht selbst ein ökonomisches Wunder zu erhaschen, den in ganz, ganz weiter Ferne lockenden Profit. Also stopfen die gestressten Manager der privatisierten Bahn die Züge mit Fahrgästen voll. Optimierte Auslastung nennen sie das. Der deutsche Bahnreisende ist darüber informiert und beschafft sich mindestens eine oder mehrere Platzkarten. Die Bahn AG weiß selbstverständlich auch, dass gewitzte Reisende ihrerseits solche Tricks anwenden und verkauft den einzelnen Platz sicherheitshalber gleich mehrfach, wegen der optimalen Ausnutzung eben.

Nachdem das Düsseldorfer Pärchen, das man wohl als verheiratet, aber doch nicht als ein Ehepaar betrachten musste, sich in den schnittigen Großraum-Panoramawagen gezwängt hatte, fand es leider seine reservierten Plätze besetzt. Ein ganz unglücklicher Zufall, einer der äußerst wenigen, die höchstens zwei Mal bei rund einer Million Buchungen vorkommen, wie der akademisch vorgebildete Zugbegleiter mit großem Bedauern vermerkte. Aber die zwei Individuen, die die reservierten Plätze eingenommen hatten und ebenfalls gültige Platzkarten vorweisen konnten, waren eben nicht zu spät, das heißt in Düsseldorf, sondern rechtzeitig, nämlich in Köln zugestiegen.

Bevor sich nun das allgemeine Bedauern potenzierte, hatte der Zugbegleiter, dem trotz der intensiv erfahrenen Reklamations-Abwehrunterweisung noch eine vernünftige Portion Pragmatismus verblieben war, irgendwie zwei Plätze freischaufeln können, auf die sich das Paar, inzwischen leicht reizbar und verfärbt, niederließ.

»Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, hat das nicht schon Cicero gesagt, Daddy?«, fragte die aparte schwarzkurzhaarige Dame ihren Begleiter, der sich mühsam aus seinem Trenchcoat geschält hatte.

»Keine Ahnung, aber der letzte, der mit diesem Motto Weltpolitik machte, war der Genosse Gorbatschow. Aber wieso nennst du mich Daddy? Soll ich dein Vater sein? Das nenne ich unfair.« Beleidigt knurrte er sie an. Leise versteht sich, Mithörer brauchten sie im Moment noch nicht.

»Die Prinzessin nannte ihren Kurt immer Daddy. Wir müssen uns jetzt auch tief in unsere Rollen hineinversetzen, weißt du – auf unserem Weg in das Schloss. Es geht doch nach Gripsholm, oder?« In ihrem »Oder« verbarg sich eine verborgene Drohung, ein Ausdruck der unguten Ahnungen, die Frauen überkommen, wenn Männer eigenständig etwas organisiert haben.

Er überhörte diese Warnung und antwortete: »Sie hat aber auch Peter zu ihm gesagt, und hin und wieder nannte er sie ›Alte‹.«

»Ein Peter bist du ja im richtigen Leben. Nee, das geht nicht. Wie wolltest du denn als Junge heißen, bestimmt doch anders?«

»Ich wollte immer Kurt heißen.«

»Du schwindelst! Ich nenne dich Alexander, basta. Da kannte ich ’mal einen flotten Burschen …«

»Vor deiner Ehe oder während?«, unterbrach er sie frech. Dafür kassierte er einen ordentlichen Knuff in die Rippen.

»Gripsholm?«

Er lenkte ab. »Steh mal vorsichtig auf und schaue dich im Wagen um, ob du da jemanden kennst, Alte!« Sie reagierte nicht. »Bitte«, ergänzte er.

»Also, so sprichst du nicht mit mir, wir sind doch nicht verheiratet!« Erregt sprang sie auf und wurde dabei unbewusst etwas lauter. Eine Mitreisende schräg gegenüber, die Zeichen der längst verlassenen Jugend im emanzipierten Gesicht gekonnt kaschiert, blickte auf und nickte ihr Mut machend zu. Das verhieß Solidarität.

»Hast du jemanden gesehen, der uns kennen könnte?«, wiederholte er ungerührt. Sie schwieg, hatte sich wieder gesetzt und blickte interessiert aus dem Fenster in das vorüberhuschende Ruhrgebiet und auf die wenig attraktiven Gebäude, die sich an der immer tristen Bahntrasse niedergelassen hatten. Nach einigen vorbeigeflogenen Stadtteilen wandte sie sich ihm zu und hämmerte ihren Zeigefinger im Takt der Worte tief in seine Brust: »Alte nicht, mein Lieber, Alte nicht!«

»Prinzessin erscheint mir aber sehr antiquiert. Zu Tucholskys Zeiten mag das ja noch als Kompliment gegolten haben, aber bei dem heutigen Ruf des verbliebenen Hochadels? Nein. Ich nenne dich Lydia. Der Name geht mit der reizenden Geschichte des genialen Berliners konform. Lydia war damals schön, Lydia ist heute schön. Er verkörpert mir die totale verführerische Weiblichkeit, er passt hinreißend zu dir.« Und er drückte sie an sich. Angesichts der noch unbekannten, streng tuenden Dame gegenüber, traute sich der gerade ernannte Alexander dennoch nicht, seinen illegalen Schatz zu küssen.

Lydia verhielt sich still und verblieb ein Weilchen im angenehmen Kontakt mit dem Herrn als solchen. Sie schaute zu ihm hoch und sprach sanft: »Ich habe im Abteil niemanden gesehen, der mich kennen könnte. Zufrieden?«

»Ja sehr«, lobte er sie, »aber mit deinem neuen Lippenstift hätte dich sowieso niemand erkannt. Dieses unbeschreibliche Rot bedeutet die perfekte Tarnung. Es steht dir übrigens sehr gut.«

»Das ist dir aufgefallen? Wie glücklich darf ich mich schätzen, dich noch kennengelernt zu haben.« Sie gab ihm einen schmalzigen Kuss auf die Wange. »Das hätte mein alter Gockel zu Hause nie bemerkt!«

»Immerhin bezeichnest du deinen dir amtlich Angetrauten noch als Hahn, das könnte der direkt als Kompliment auffassen«, bemerkte er süffisant und bekam postwendend wieder einen derben Knuff in die Seite. Mehr nicht, diese ausdrucksstarke Geste musste reichen, benötigte keine verbale Assistenz. Ihrer beider Sicherheit ging zunächst vor, so riet sie ihm:

»Jetzt musst du aber mal deine weitsichtigen Blicke schweifen lassen. Als honoriges Mitglied der männlichen Grafenberger Oberschicht muss man deine Anwesenheit mit mir als offenkundiges amouröses Anhängsel hier im Zug als viel brisanter ansehen. Da, schräg hinter dir, der Kahlköpfige da am Fenster, der schaut schon eine ganze Weile so neugierig zu uns herüber. Kennst du den?«

Er machte Anstalten aufzustehen, wurde jedoch umgehend am Arm heruntergezogen. »Unauffällig«, raunte sie.

»Mach ich doch«, zischte er zurück, blieb in gebückter Haltung stehen und legte die Hand über die Augen wie Karl Mays Winnetou und schaute sich in aller Seelenruhe im Salonwagen um. »Es hocken hier nur tapfere Krieger, keine Kriegsbeile zu sehen, lediglich flimmernde Laptops auf ihren Lendenschürzen. Sie schauen besorgt umher. Das Feuerross ist ihnen zu langsam. ›Mehr Dornen unter dem Kessel‹, verlangen ihre gehetzten Blicke. ›Mehr Dampf in die Zylinder‹, fordern die piepsenden Handys. ›Schneller, schneller‹, hämmern ihre nervösen Finger in die Tastaturen. Dennoch, keine Gefahr für uns, liebe Apanatschi, die apokalyptischen Reiter der Hektik haben uns längst überholt. Howgh, Häuptling Alexauge hat gesprochen!«

Fremd, sehr fremd, sah ihn die Frau an seiner Seite an: »Du bist aber jetzt ziemlich albern, nicht wahr. Der Tucholsky hat damals auch eine Menge Dummheiten gemacht, da im Brunnen vom Schloss und so, aber zu uns passt das heute nicht mehr.«

»Wo Sie recht haben, haben Sie recht, liebe Freifrau von Fein und Vernünftig, entschuldigen Sie bitte meine Entgleisung, soll nicht wieder vorkommen. Haben Sie Ihr handgeschnitztes Elfenbein-Strickzeug dabei? Stricken Sie mir bitte einen Rollkragenpullover, einen aus dem überlieferten Seemannsgarn warmherziger Schriftsteller. Es soll ja am Meere so sehr kalt sein.«

›Nun muss man nicht auf jeden Quatsch dieser Welt antworten‹, dachte sich auch Lydia. Sie kuschelte sich dafür an den kürzlich ernannten Alexander. »Jetzt bestätige mir endlich, dass wir nach Schweden fahren, mein lieber Unterhäuptling, mit dem Meer hast du dich bereits verraten.«

»Zunächst müssen wir Ihre amoralische Blöße bedecken, meine liebe Dame. Her mit dem verräterischen Körperteil.« Gleichzeitig entnahm er dem kleinen Schächtelchen einen zauberhaften Brillantring und schob ihn ihr vorsichtig über den Finger. »Das ist aber lieb von dir«, hauchte sie zurück und küsste ihn leidenschaftlich auf den Mund.

Das wiederum konnte die schräg gegenübersitzende Dame nun nicht mehr übersehen. Mit leicht indigniertem Blick aus ihren schwarz betonten Augen starrte sie das reichlich erwachsene Paar unverhohlen an. Lydia strahlte. Sie hob die rechte Hand in die Höhe. »Unsere erste Verlobung«, schwärmte sie laut, »und nun fahren wir nach Schweden, sozusagen unsere Verlobungsreise, ach Liebling, ich bin dir ja so dankbar. Das hier ist mein Verlobter, Alexander heißt er.« Hingerissen schaute sie abwechselnd ihn und die fremde Dame an.

»Meinen Glückwunsch«, beeilte sich die Dame zu äußern. »Ja, nach Schweden, nach Schweden würde ich auch gerne fahren. Kennen Sie die Geschichte vom Schloss Gripsholm, kennen sie Kurt Tucholsky, der sie verfasst hat? Eine ›schöne Literatur‹ hatte der Verleger Ernst Rowohlt damals gefordert und eine zarte erotische Liebesgeschichte bekommen …«

Sie wurde von Alexander unterbrochen. Ein bisschen verlegen murmelte er und schaute dabei seine Lydia von der Seite an: »Es ist ihr Wunsch nach Schweden zu fahren. Sie hat sich da vielleicht zu sehr hineingesteigert. Nein, wir fahren einfach nur so ins Blaue. Und das Ziel muss bis zum Schluss ein Geheimnis bleiben, nicht wahr, Lydia?«

»Oh, das kann kein Zufall sein, mein Herr, Ihre Verlobte heißt Lydia. Genau so nennt Tucholsky seine Prinzessin, vielmehr, er nennt sie Prinzessin, obwohl sie Lydia heißt, beides sind selbstverständlich erfundene Namen. Vermutlich hatte Tucholsky doch vieles von dem, was er schrieb, selbst erlebt. Und vorbei kam noch Karlchen, ein Freund. Und als der ging, tauchte Billie auf. Und dann die Verwandlung in eine saftige Ménage-à-trois, oh, là, là, mein Herr. Tucholsky ist da oben ja auch begraben, dort in Schweden, wissen Sie doch bestimmt.«

»Was, der ist schon tot, der – wie heißt der gleich noch – der das alles aufgeschrieben haben soll?«, unterbrach jetzt Lydia den enthusiastischen Redeschwall der kundigen Dame, die ihr die ganze schöne Tour zu vermasseln drohte. Da musste doch jetzt mal eine völlig andere Seite in diesem Buch aufgeschlagen werden. Außerdem himmelte das blöde Weib ihren Alexander ungehörig lange an, und bei dem ›oh, là, là, mein Herr‹ glaubte sie, einen sehnenden Unterton vernommen zu haben. So nicht, meine Dame!

»Tucholsky«, half Alexander aus, dem jetzt – wie dem genannten damals – eine Menge Unheil schwante.

»War der denn ein Schwede? Der Name hört sich doch polnisch an. Ein Schwede würde solch ein Durcheinander auch gar nicht erfinden können, das spricht doch mehr für eine polnische Wirtschaft, meinst du nicht auch, Liebster?«

Der Liebste meinte sicherheitshalber gar nichts. Aber die sich jetzt vorbeugende und Distanz vermindernde Dame biss sich fest. »Tucholsky war ein Deutscher, ein Berliner. Er wurde im Jahr achtzehnhundertneunzig geboren und starb neunzehnhundertfünfunddreißig in Schweden. Er gehörte zu den ausdrucksstärksten Schriftstellern seiner Zeit und hat sich vehement gegen die Nationalsozialisten gewandt. Auch, weil er Jude war. Aus diesem Grunde lebte er lange in Frankreich und in Schweden. Man sagt, er sei an Deutschland zugrunde gegangen. Er beging Selbstmord, wie man vermutet.«

»In Schweden, in diesem Land voller Friedfertigkeit, voller vitaler Wikinger, voller blonder Mädchen, voller Frühlingsblumen und voller Schnee im Winter, voller Seen und Rentiere, da bringt sich ein Deutscher um und das wegen Deutschland? Das klingt nicht gut, Alexander, glaubst du das?«

»Ja, wenn die freundliche Dame das doch sagt. Wahrscheinlich hat sie Germanistik studiert. Nicht wahr, haben Sie doch bestimmt?« Unsicher lächelnd hatte sich Alexander der Dame zugewandt. Diese merkte immer noch nichts und antwortete verbindlich: »Ich bin Buchhändlerin.«

»Wann ist der gestorben, neunzehnhundertfünfunddreißig, so früh? Da war ich ja noch längst nicht geboren. Kein Wunder, dass ich solche Leute nicht kenne. Vielleicht gehört dieser Tucholsky wohl mehr zu Ihrem Jahrgang?« Unschuldig grinsend knallte Lydia der gebildeten Buchhändlerin die Frage in die gestylte Visage. Der blieb nicht einmal Zeit, den harten Brocken hinunterzuschlucken. Lydia schob nach.

»In Langenfeld, da gab es einen Bäcker, ich war da noch ein Kind und lebte vorübergehend bei meiner Tante Renate, der hieß auch Tucholsky und buk die süßesten Berliner, die ich je gegessen habe. Berliner – Tucholsky, sehen Sie, das passt schon wieder. Schön, dass man sich so gut unterhalten kann und dann auf diesem hohen Niveau. Alexander sag doch auch mal was. Gerade du hast doch lange die höheren Schulen besucht.«

»Na ja …«

Diese wirklich erschöpfende Antwort reichte der klugen Lydia bereits. Während sie sich an der hohen Alexanderschule schmiegte, erklärt sie der Dame sehr vertraulich: »Sehen Sie, so ist er, mein Alexander, immer bescheiden, stets zurückhaltend. Mein zweiter Ex, der war da ganz anders. Aber das gehört jetzt nicht hierher. Man muss sich im Gespräch immer unter Kontrolle haben, meine eiserne Regel. Den Gesprächspartner keineswegs mit persönlichen Dingen belästigen, so bleibt man interessant und die Gespräche plätschern munter fort, werden niemals langweilig …«

Plötzlich unterbrach sie ihre geniale Einlassung, tat so, als gäbe es die Buchhändlerin nicht mehr, als hätte sich die so sympathische Dame in Luft aufgelöst.

»Also, unter diesen Umständen möchte ich dann doch nicht nach Schweden fahren, Liebster. Stell dir vor, überall finden wir dort das Denkmal vom ollen Tucholsky. In jedem Nest gibt es mindestens zwei Tucholsky-Stuben, die nur alkoholarmes Bier ausschenken; wir finden überall eine Tucholsky-Berliner-Bäckerei, und der beste Aquavit heißt Tucholsky-Tropfen, wobei wir womöglich schlampig bedient werden, weil wir ja Deutsche sind, auf die Tucholsky – mit Recht – nicht so gut zu sprechen war. Warum nennt denn dieser Mensch seine Freundin, oder was die auch immer war, ausgerechnet Lydia? Offensichtlich eine unmoralische Person. Man glaubt es kaum, die allein und dann drei Männer und so etwas heißt genauso wie ich. Dabei bin ich wohlbehütet unter dem gesegneten Dach der römischkatholischen Kirche getauft, gefirmt und verh … Das gehört jetzt nicht hierher. Und der Tucholsky schreibt so schreckliche Sachen über mich, und das alles in Schweden, das doch so ein schönes Land sein soll.«

Den Tränen nahe, verbarg sich die tief Enttäuschte hinter ihrem Alexander, der bei den beginnenden Tiraden seiner Begleiterin urplötzlich ein steifes Kreuz bekam und dessen Miene sich der des gequälten Tantalos näherte, der unter schrecklichen Qualen leiden muss und nie mehr erlöst wird. Hilflos blickte der Gegenwärtige in die Runde, jedenfalls krampfhaft an der blass und blasser werdenden Buchhändlerin vorbei und wünschte sich sehnlichst von den griechischen Göttern in den langsamer fahrenden Reparaturzug auf dem Nebengleis befördert zu werden.

Die in jeder Beziehung mitgenommene Buchhändlerin legte ihr bedauerndes Mitgefühl in den glühenden Blick, den sie Alexander zum Abschied schenkte, murmelte dabei von Unwohlsein wegen der ungünstigen Sitzposition mit dem Rücken gegen die Fahrtrichtung, ein Umstand, den sie noch nie ertragen konnte, raffte in überstürzter Eile ihre Utensilien zusammen und verschwand.