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Acknowledgements


Die Sammlung Sherlock Holmes und Old Shatterhand wurde 2010 zusammengestellt und erschien 2011 als Hardcover. Für die vorliegende Taschenbuchausgabe wurden alle Texte überarbeitet, Fehler korrigiert, die Fußnoten entfernt und bei Bedarf in den Erzähltext integriert. Außerdem wurde die Sammlung um insgesamt drei Geschichten vermehrt. Zwei lagen bislang nur als exklusive Winterzeit-Hörbücher vor. Nun kann man sie auch lesend zur Kenntnis nehmen.

Wie immer können wir davon ausgehen, dass diese nachgelassenen Geschichten, in denen es der Meister aus der Baker Street mehrfach mit Sprachen und Dialekten, aber auch mit berühmten Büchern sowie mit etlichen Prominenten seiner Zeit zu tun bekommt, aus Dr. Watsons unerschöpflicher Blechkiste stammen, die einst auf der Bank Cox & Cie. in London ihrer Wiederentdeckung harrten, in alle Winde zerstreut wurden und auf die unglaublichste Weise in die Hände ihrer späteren Herausgeber gelangten. Selbstverständlich!

Trotzdem gilt es, Dank abzustatten. Dank für Inspiration, gute Ideen oder Hilfeleistungen.

George Bernard Shaw etwa erfand die unsterblichen Figuren Henry Higgins, Oberst Pickering, Alfred und Eliza Doolittle sowie Freddy Eynsford-Hill für sein Theaterstück Pygmalion beziehungsweise das geniale Musical My fair Lady, dessen unmittelbare Fortsetzung Sherlock Holmes und die Fair Lady darstellt. Einige linguistische Ideen darin entstammen Sacha Baron Cohens Groteskfilm Borat (USA 2006). Wer hätte übrigens gedacht, das Dr. Watson und Oberst Pickering Regimentskameraden waren? Wir dachten bisher immer, Shaw hätte gekonnt, aber ungeniert bei Conan Doyle abgekupfert!

Karl May und seinen Abenteuern aus dem Wilden Westen und Osten verdanken wir unzählige Lesestunden mit vor Spannung rot glühenden Ohren. Eigentlich hat er nicht verdient, in Sherlock Holmes und Old Shatterhand so schmählich als Betrüger hingestellt zu werden! Er möge verzeihen! Allerdings ist er auch selber schuld!

Grund zum Ärgern hätte sicher William F. Cody über die ihm angedichtete Onymagnosie oder die Unfähigkeit, sich Namen zu merken. Sorry, Bill, nicht schießen! Es passte einfach so schön!

Verzeihen möge ferner der 2017 verstorbene James-­Bond-Darsteller Sir Roger Moore die Inanspruchnahme seiner werten Person für die Figur des Schauspielers James St. John-Smythe in Der diebische Weihnachtsmann. St. John-Smythe war Moores Deckname in A View to kill (Im Angesicht des Todes, 1985), und Rufus Excalibur Ffolkes lautete sein Rollenname in North Sea Highjack (Großbritannien 1979, dt. Sprengkommando Atlantik). Wer Sergio Leones letzten Film Once Upon a Time in America (USA 1984, Es war einmal in Amerika) mit Robert de Niro kennt, weiß, woher William Masters Trick mit dem Salz und den Auftriebskörpern stammt.

In dem Buch Unglaublich aber wahr (Verlag Das Beste 1976) findet sich auf S. 385 die Geschichte von der ­verschwundenen englischen Besucherin der Weltausstellung in Paris. Daraus entstand Die verschwundene Witwe. Leider unterschlägt die Reader's-Digest-Redaktion das verdienstvolle Wirken von Sherlock Holmes und Dr. Watson in diesem Fall. Pfui!

Das Schwirrholz aus Buffalo Bill ist ein zentrales Moment der Donald-Duck-Story Das verbotene Tal/Die Gurkenkrise von Carl Barks. Damit veranstalten die Enten und Entchen aus Entenhausen im Zusammenhang mit dem Fabrikanten Kasimir Keiler (im Original: P. J. McBrine) und dessen Versuch, den internationalen Gurkenmarkt durch ein Gurkenmurkser genanntes Schadinsekt zu Gunsten seiner eingelegten Runkelrüben zu sabotieren, eine veritable Dinosaurier-Stampede. Die sensiblen Reptilien halten das Schwirren nämlich für das Geräusch anfliegender Brisanz-Bremsen! Nomen est omen! Siehe hierzu auch die ausgesprochen vergnügliche, weil ebenso geistvolle wie sachkundige Untersuchung Barks' Thierleben. Biodiversität in Entenhausen von Oliver und paTrick (sic!) Martin, Peter Jacobsen und Klaus Harms unter www.quakpiep.de/thierleben.htm, S. 24 und 44ff.

Die in Sherlock Holmes und Buffalo Bill erwähnte Indianerin Lozen ist übrigen eine historische Persönlichkeit. Sie war die Schwester des Apatschen-Häuptlings Victorio. Ihr Name bedeutet „geschickte Pferdediebin“. Lozen galt als heilige Frau und tapfere Kriegerin und gab sich meist als Mann aus. Unter anderem kämpfte sie an der Seite des berühmten Geronimo gegen die Weißen, musste sich 1886 ergeben und wurde nach Florida verbannt. Danach verliert sich ihre Spur. In meiner Fiktion gelangt sie mit Buffalo Bill's Wild West nach England, wo sie an der Seite eines exzentrischen britischen Pferdenarren ein neues Leben beginnt. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Lozen

Der im Zusammenhang mit dem italienischen Politiker Berlusconi bekannt gewordene Ausdruck „Bunga, Bunga!“ ist mitnichten rückwirkend den viktorianischen Figuren Conan Doyles in den Mund gelegt worden.

Londons Spaßvogel Nummer 1, William Horace de Vere Cole (1881-1936) besichtigte 1910 zusammen mit fünf als abessinische Fürsten verkleideten Freunden mit großem Aplomb die Dreadnought, das damalige Flaggschiff der Royal Navy. Die fünf Freunde waren die Schriftstellerin Virginia Woolf (1882-1941) sowie Duncan Grant, Adrian Stephen, Anthony Buxton und Guy Ridley. Die angeblichen Hoheiten brachten ihr Wohlgefallen über die Besichtigung durch den begeisterten Ruf „Bunga, Bunga!“ zum Ausdruck. Seither ist der Ulk als Bunga-Bunga-­Affäre bekannt. Cole wird überdies die Fälschung des Piltdown-Menschen zugeschrieben. Manipulierte Knochenfunde erweckten den Anschein, als wäre das Missing Link zwischen Menschen- und Affenwelt gefunden, und ein bedauernswerter Forscher, der von der Echtheit der Funde überzeugt war, verlor darüber seine wissenschaftliche Reputation. George Bernard Shaw und Charlie Chaplin trafen sich übrigens viel, viel später, 1931, bei der Premiere von City Lights. Ob sie dabei wohl auch über Sherlock Holmes und den Fall von Henry Higgins' Herzensdame, seiner fair lady, sprachen?

Das Wort zum Tod, dem Dr. Watson am Anfang von Buffalo Bill jederzeit zu folgen bereit ist, stammt, genau wie der gute Doktor angibt, tatsächlich von Hector Berlioz. Ich entdeckte es in Holger Noltze: Diese Gier nach grenzenlosen Gefühlen, in: Literaturen 3/2007, S. 31. Den Stunt auf der Kutschdeichsel, den Chief Red Shirt in derselben Geschichte hinlegt, habe ich mir erlaubt, aus dem Western Stagecoach (1939) zu entleihen.

Der Sherlock Holmes in Die Weiße Frau in den Mund gelegte Satz „Zum Sehen geboren und durch Übung verbessert“ stammt in Wirklichkeit von Dorothy Sayers' Lord Peter Wimsey. Die Fundstelle weiß ich nicht mehr. Auch eine Paraphrase aus Tsurezuregusa (dt. Betrachtungen aus der Stille, 1963) von Yoshida Kenko (1283-1350), eingefügt in den Anfang von Der diebische Weihnachtsmann, vermag ich leider nicht mehr auf die Seite genau zuzuordnen.

Dank gilt schließlich dem emeritierten Potsdamer Slawisten Professor Dr. Norbert Franz und seiner Frau Wei Chi, die für Die Weiße Frau mitteilten, was Schwarzes Theater auf Chinesisch heißt und wie die Zeichen dafür aussehen, sowie dem aus Ungarn stammenden, in Trier lebenden Pianisten Geza Loso, der mir interessante Details zur ungarischen Aussprache mitteilte. Er ist übrigens Erfinder des linkshändigen Flügels nebst entsprechender Notenschrift, aber das nur am Rande. In Henning Mankells Non-Wallander-Roman Kinesen (Der Chinese, Original und deutsch 2008) schließlich wird der Unsichtbare Tod ausführlich erklärt.

Die Idee mit der Phantasie-Marineuniform verdanke ich dem Buch Die Denkmaschine. München 1973 (Heyne Crime Classic 1529). Der Autor Jacques Futrelle kann sich allerdings gegen den Ideenklau nicht mehr wehren, denn er ging 1912 mit der Titanic unter.


Weitere Informationen lieferten unter anderem folgende Bücher und Medien:


Mark Girouard: Historic Houses of Britain. London 1979: Artus Publishing.


Claudia Piras, Berhard Roetzel, Rupert Tenison: British Style. Wohnen, Kultur, Lebensart. o.O. 2005: Tandem.


Daniel Pool: What Jane Austen ate and Charles Dickens knew. From Fox Hunting to Whist – the Facts of Daily Life in 19th-Century England. New York 1993: Touchstone.


E.J. Wagner: Die Wissenschaft bei Sherlock Holmes und die Anfänge der Gerichtsmedizin. Weinheim 2008: Wiley.


Die Langspielplatte Johnny Cash at St. Quentin von CBS, darauf der Song Peace in the Valley.


Viele andere Details vermittelte, oft unschlagbar, aber nicht immer, Wikipedia.


Bitburg, im Februar 2018

Dr. Klaus-Peter Walter

DIE NEUEN FÄLLE DES MEISTERDETEKTIVS
SHERLOCK HOLMES



In dieser Reihe bisher erschienen:

3001 – Sherlock Holmes und die Zeitmaschine von Ralph E. Vaughan

3002 – Sherlock Holmes und die Moriarty-Lüge von J. J. Preyer

3003 – Sherlock Holmes und die geheimnisvolle Wand von Ronald M. Hahn

3004 – Sherlock Holmes und der Werwolf von Klaus-Peter Walter

3005 – Sherlock Holmes und der Teufel von St. James von J. J. Preyer

3006 – Dr. Watson von Michael Hardwick

3007 – Sherlock Holmes und die Drachenlady von Klaus-Peter Walter (Hrsg.)

3008 – Sherlock Holmes jagt Hieronymus Bosch von Martin Barkawitz

3009 – Sherlock Holmes und sein schwierigster Fall von Gary Lovisi

3010 – Sherlock Holmes und der Hund der Rache von Michael Hardwick

3011 – Sherlock Holmes und die indische Kette von Michael Buttler

3012 – Sherlock Holmes und der Fluch der Titanic von J. J. Preyer

3013 – Sherlock Holmes und das Freimaurerkomplott von J. J. Preyer

3014 – Sherlock Holmes im Auftrag der Krone von G. G. Grandt

3015 – Sherlock Holmes und die Diamanten der Prinzessin von E. C. Watson

3016 – Sherlock Holmes und die Geheimnisse von Blackwood Castle von E. C. Watson

3017 – Sherlock Holmes und die Kaiserattentate von G. G. Grandt

3018 – Sherlock Holmes und der Wiedergänger von William Meikle

3019 – Sherlock Holmes und die Farben des Verbrechens von Rolf Krohn

3020 – Sherlock Holmes und das Geheimnis von Rosie‘s Hall von Michael Buttler

3021 – Sherlock Holmes und der stumme Klavierspieler von Klaus-Peter Walter

3022 – Sherlock Holmes und die Geheimwaffe von Andreas Zwengel

3023 – Sherlock Holmes und die Kombinationsmaschine von Klaus-Peter Walter (Hrsg.)



Klaus-Peter Walter


SHERLOCK HOLMES
und der stumme Klavierspieler


Basierend auf den Charakteren von
Sir Arthur Conan Doyle




Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!
Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung 
ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.
Infos unter: 
www.BLITZ-Verlag.de

© 2018 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Titelbild: Mark Freier
Umschlaggestaltung: Mark Freier
Satz: Harald Gehlen
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-95719-220-2

Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!



Klaus-Peter Walter, Dr. phil., wurde 1955 in Michelstadt/Odw. geboren und lebt heute in Bitburg. Er promovierte 1983 in Mainz mit Studien zur russischsprachig-jüdischen Dramatik im 20. Jahrhundert (Liber Verlag); rezensierte zehn Jahre lang für die FAZ, dann für Die Welt, schrieb Literatursendungen für SWR und HR und arbeitete u.a. am KLfG, am KNLL oder dem Romanführer des Hiersemann-Verlages mit; gab im Corian-Verlag von 1993 bis zur Einstellung 2014 das Loseblatt-Lexikon der Kriminalliteratur LKL heraus; schrieb neben Büchern über Russland 1995 für Ullstein Das James-Bond-Buch und gab 2002 Reclams Krimilexikon heraus; veröffentlichte zahlreiche Krimi-Kurzgeschichten und wurde 2011 in Betzdorf für die Kurzgeschichte Findikus mit dem Blutigen Messer ausgezeichnet. Für Alisha Bionda entstanden eine Reihe meist phantastischer Holmesiaden, ­darunter 2008 der Debütroman Im Reich des Cthulhu, dem 2011 die realistische Sammlung Sherlock Holmes und Old Shatterhand sowie 2012 das literarische Vexierspiel Sherlock Holmes und der Werwolf. Eine Fälschung (alles bei BLITZ) folgte. 2016 erschien bei KBV das Pastiche Sherlock Holmes und der Golem von Prag, in dem 1912 in Prag der Meister aus der Baker Street mit Franz Kafka zusammentrifft. Als Hörbücher erschienen die meisten dieser Texte bei WinterZeit.



Sherlock Holmes und der stumme Klavierspieler


Ich muss es leider zugeben: Manchmal brachten geradezu unglaubliche Zufälle meinen Freund Sherlock Holmes auf die Lösung eines Falles, nicht nur seine stupenden Kenntnisse. Letztere bezog er aus seiner exzessiven Lektüre. Er las schlichtweg alles, was ihm in die Finger kam. Egal, ob es von Ornithologie, Orchideenzucht oder der Musik der Bantu-Neger handelte. Ich glaube, er hatte einen sechsten Sinn für die Notwendigkeit einer bestimmten Lektüre. Dieser sechste Sinn schien ihm zu sagen, dass er spezielle Informationen zu einem bestimmten Thema just zu diesem Zeitpunkt und niemals sonst brauchen würde. Gerade las er in einer zweisprachigen Zeitschrift mit dem seltsamen Namen Albania. Ich erinnerte mich vage, dass so ein Land auf dem Balkan hieß.

„Es ist mein Beruf, die abseitigsten Dinge zu wissen“, erklärte er mir auf meine verwunderte Frage hin, was es mit der Zeitschrift auf sich habe. Doch er ließ das Heft voller Neugier sinken, als ich ihm mitteilte, dass ausnahmsweise ich selbst ihm ein Problem unterbreiten wollte.

Wenn ich meine Aufzeichnungen richtig entziffere, war das im Jahre 1900. Mein ehemaliger Studienkollege Hillary Bentingham – nunmehr Sir Hillary – hatte mich völlig überraschend zum Dinner eingeladen. Viele Jahre hatten wir keinerlei Kontakt miteinander gehabt. Bentingham war eine Doppelbegabung, aber obwohl er das absolute Gespür für Formen, Farben und Linien besaß, hatte er sich gegen die Kunst und für die Medizin entschieden und war Nervenarzt geworden. Zu seinen Patienten zählten hohe und höchste Persönlichkeiten. Sogar Prinz Edward, den Enkel unserer Königin, hieß es, soll er behandelt haben. Seinerzeit galt Eddie, wie er genannt wurde, wegen seines bizarren Verhaltens besonders Frauen gegenüber als einer der heißesten Anwärter auf den Titel des wahren Jack the Ripper.

Zunächst ließen wir, Sir Hillary und ich, die alten Zeiten auf- und hochleben. Wir leerten jeder eine Flasche besten Rotweins, und nach dem Dessert blieb es nicht bei einem Cognac. Schließlich aber rückte Bentingham mit seinem Anliegen heraus.

„Du kannst dir sicherlich denken, dass diese Einladung nicht ganz ohne Hintergedanken erfolgte. Schließlich bin ich der Nervenarzt, was?“ Er lachte ein trunkenes, meckerndes Lachen.

„Spuck's aus, alter Junge. Wie kann ich dir helfen?“

„Also, Watson, du bist doch ein Freund von diesem Detektiv, diesem Holmes.“

„Ja, und?“

„Du musst ihn dazu bringen, sich einen meiner Patienten anzusehen.“

„Holmes ist Detektiv. Er bringt Verbrecher zur Strecke. Was in ihren Seelen vorgeht, ist deine Angelegenheit. Schließlich bist du der Seelendoktor, oder?“ Diesmal lachte ich.

„Ja, ja. Ganz der alte Sarkast Watson. Nein! Das Problem ist, dass wir nicht wissen, wer der Patient ist. ­Deshalb nennen wir ihn einfach Max. Mad Max, wenn er nicht zugegen ist. Vielleicht kann dein Freund seine Identität herausfinden. Verstehst du?“

Ich verstand. Und Bentingham begann zu erzählen ...

„Bentingham sagt“, referierte ich am nächsten Tag meinem Freund, „der Mann sei von dem italienischen Frachter Altravolta gerettet worden, der nach Korfu unterwegs gewesen sei. Er habe in einem halb gesunkenen Ruderboot gesessen, auf dem kein Name mehr stand. Es seien keine Ruder an Bord gewesen, keine Nahrung, kein Wasser. Als sich der Frachter genähert habe, habe er weder gewunken noch gerufen, sondern einfach apathisch dagesessen und alles über sich ergehen lassen. Er habe eine Marineuniform getragen, aber keine Papiere bei sich geführt und reagiere weder auf Italienisch, Französisch, Russisch, Deutsch noch auf eine andere bekannte europäische Sprache. Seinen Namen kenne er angeblich nicht. Weil er aber nach einigen kräftigen Mahlzeiten auf einige englischsprachige Seekommandos reagiert habe, habe man ihn auf Korfu britischen Behörden überstellt. Die hätten ihn nach London bringen lassen und schließlich sei er bei Bentingham gelandet. Dort werde er Max genannt. Mad Max. Bentingham habe auch versucht, ihn fotografieren zu lassen, um seine Identität herauszufinden. Darauf habe Max jedoch mit extremem Verhalten reagiert. Er habe versucht, sein Gesicht zu verstecken, sich abgewandt und schließlich den Fotografen bedroht und auf den Fotoapparat eingeschlagen. Aber Bentingham hat eine kleine Porträtzeichnung von ihm angefertigt, aus dem Gedächtnis. Hier, bitte!“

Ich reichte Holmes das Blatt. Es zeigte einen Mann mit großer Nase, lockigem langen Haar und einem verwegenen Vollbart. Holmes starrte die ganze Zeit angelegentlich auf das Blatt, während ich weiter sprach.

„Das Interessante ist, dass das Einzige, auf das Max positiv reagiert, die Musik ist. Als er das Klavier im Speisesaal gesehen habe, habe er sich hingesetzt und ohne zu zögern zu spielen begonnen. Meisterhaft. Wie ein Konzertpianist. Beethoven und solche Sachen. Bentingham bittet Sie, sich den Mann einmal anzusehen.“

„Wunderbar!“, erwiderte Holmes freudig. „Lange habe ich auf eine solche Aufgabe gewartet. Reichen Sie mir doch bitte einige Telegrammformulare herüber. Ich muss vor dem Besuch bei Sir Hillary und seinem Patienten noch einige Vorbereitungen treffen. Darf ich mit Ihrer Begleitung rechnen, Watson?“

Natürlich durfte er!

Am folgenden Tag nahmen wir eine Droschke zu Bentinghams exklusivem Sanatorium im Westen Londons. Holmes hatte seinen Geigenkasten mitgenommen. Den Grund dafür wollte er nicht nennen.

Eine Krankenschwester, die uns am Tor in Empfang nahm, bat uns, einen Moment im Foyer zu warten. So konnten wir die beiden riesigen Frauenstatuen aus Marmor links und rechts der Freitreppe bewundern. Mir als Arzt war natürlich klar, wen sie darstellen sollten. Die eine mit ihrem übervollen Füllhorn war Hygiea, die Göttin der Gesundheit. Von ihr ist der Begriff der Hygiene abgeleitet. Die andere war ihre Gegenspielerin Panacea, die Göttin der Heilkunst.

„Darf ich vorstellen, meine Herren? Meine beiden Frauen, die ich vergöttere, Hygiea und Panacea. Wobei letztere meine Favoritin ist. Schließlich bin ich Psychiater, was?“

Das meckernde Lachen sagte mir, dass Bentingham hinter uns getreten war.

„Chaire, o phile“, grüßte ich ihn wie dereinst auf Altgriechisch, bevor ich die Vorstellung übernahm.

Holmes' Begrüßung fiel sehr förmlich aus. Ganz offenkundig gefiel ihm der Arzt mit seinem üppigen Kinnbart nicht.

„Ich mag Männer mit Kinnbärten ohne Schnauzbart nicht“, pflegte er zu sagen. „Ihnen fehlt meist der Sinn für die rechte Proportion.“ Da war etwas dran!

„Dr. Watson hat mich bereits grob über Ihren Patienten in Kenntnis gesetzt, Sir Hillary. Ich würde mir aber gerne erst einmal die Kleidung ansehen, die er bei seiner Rettung trug.“

„Das ist kein Problem. Ich darf allerdings darauf aufmerksam machen, dass sie gereinigt wurde. Sie war in keinem sehr appetitlichen Zustand. Max – wir nennen unseren Patienten Max – trug sie längere Zeit ununterbrochen, wenn Sie verstehen.“

Bentingham führte uns in sein Arbeitszimmer. Dort war auf einem stummen Diener Maxens Kleidung aufgehängt, eine Marineuniform. Die Hose war weiß, der Uniformrock dunkelblau, einige Messingknöpfe fehlten. Ein weißes Hemd gehörte ebenfalls dazu. An der arg ramponierten Schirmmütze war der Schirm halb abgerissen und mit ­weißer Farbe verschmiert. Das war keine britische Uniform, denn eine solche hätte ich mit Sicherheit erkannt.

Holmes unterzog sämtliche Taschen einer genauen Inspek­tion, obwohl kaum Hoffnung bestand, dass sie nach der Reinigung noch verwertbare Spuren preisgeben würden. Sie waren alle leer.

„Ich bezweifle, dass Ihr Max, wie Sie ihn nennen, Angehöriger einer in- oder ausländischen Marine ist“, befand Holmes schließlich.

„Und welchen Schluss ziehen Sie daraus?“

Bentingham war ungeduldig.

„Bevor ich diese Frage beantworte, möchte ich Max gerne selbst sehen. Nichts führt öfter zu falschen Schlüssen als verfrühte Festlegungen.“

„Wie Sie wünschen, Mr. Holmes. Es ist alles vorbereitet! Wenn Sie mir bitte in den Großen Saal folgen wollen ... Watson!“

Wir folgten Sir Hillary, der uns schnellen Schrittes vorauseilte. Die Schöße seines weißen Arztkittels wehten vor uns her. Der Große Saal war ganz offensichtlich der Speise- und Festsaal der Anstalt. Am hinteren Ende spielte ein Mann in Anstaltskleidung auf einem Flügel. Unser Eintreten schien er nicht einmal wahrzunehmen. Er spielte wie in Trance und war höchstens fünfundzwanzig Jahre alt. Es war tatsächlich der gut aussehende dunkelhaarige Mann von Bentinghams Zeichnung. Die Adlernase, die schwarzen Augen, das lockige Haar und den Bart hatte er genau getroffen.

„Das kann länger dauern“, gab Bentingham zu bedenken.

„Umso besser“, gab Holmes flüsternd zurück. „Je länger ich ihn beobachten kann, desto klarer wird das Bild werden!“

Zunächst spielte Max einige Walzer von Chopin. Zu meiner Verblüffung betrat während des Spiels ein großer, schwerer Mann den Saal, nickte Bentingham zu und nahm so leise, wie es sein enormes Körpergewicht zuließ, Platz: Sir Mycroft Holmes in höchsteigener Person. Der Mann, der manchmal die Regierung war. Was mochte seine erlauchte Anwesenheit bedeuten?

Es dauerte länger als eine Stunde, bis Max mit geschlossenen Augen dem Nachhall des letzten Akkords nachlauschte. Als Bentingham applaudierte, fielen Sir Mycroft, Holmes und ich ein. Max deutete eine knappe Verbeugung an. Nun trat Holmes, der seine Geige ausgepackt hatte, neben den Flügel und prüfte kurz die Stimmung seines Instruments. Dann hob er den Bogen und begann selbst zu spielen.

Max blickte lächelnd zu Holmes auf. Dann nickte er und fing ohne zu zögern an, eine Begleitung zu improvisieren. Holmes spielte eines seiner Lieblingsstücke, das Violinkonzert in g-Moll des Deutschen Max Bruch, der von 1880 bis 1883 die Philharmonic Society in Liverpool geleitet hatte. Es war eine beeindruckende Darbietung, bei der mir manchmal fast die Tränen kamen. Als der letzte Ton und der letzte Akkord verklungen waren, setzte Holmes die Geige ab und schüttelte Max kräftig die Hand.

„Flisni shqip?“, fragte er unvermittelt. „Sprechen Sie Albanisch?“

Damit schien er Max völlig überrumpelt zu haben.

Da! U në foli shqip“, antwortete er spontan, „ja, ich spreche Albanisch!“

Dann aber schlug er sich auf den Mund, schrie und stampfte mit dem Fuß auf.

„Was haben Sie zu ihm gesagt, Sie Unglücksmensch?“, rief Sir Hillary aufspringend aus. Holmes winkte ab zum Zeichen, dass er bleiben solle, wo er war, und sprach einfach weiter.

„Gjergj Frashëri? Da? Gjergj Frashëri? I qetë. Frajer. Frajer! Ich bin ein Freund, George. Seien Sie ganz ruhig. Niemand tut Ihnen etwas. Unë quhem Sherlock Holmes. A ai është Doktor Watson. Edhe frajer! Auch ein Freund, George!“

„Was reden Sie denn da für eine Sprache, Holmes, zum Don...“

„Jetzt warten Sie doch ab, Bentingham, zum Kuckuck“, fuhr Mycroft dazwischen. „Sherlock weiß schon, was er tut!“

Bentingham verstummte sofort, kniff aber böse die Lippen zusammen. Mycroft Holmes schien hier weisungsbefugt zu sein. Den fragenden Blick der Schwester beantwortete Sir Hillary mit einem verärgerten Kopfschütteln.

„Kanun? Besë?“, fragte Holmes weiter. „Der Kanun? Ehrenwort?“ Max begann zu weinen und fiel Holmes um den Hals.

„Da, Kanun, Besë!“

„Ich glaube, wir können die Posse jetzt aufgeben, George!“

Max nickte schluchzend. „Was bleibt mir übrig?“

Sein Englisch war fließend und fast akzentfrei.

„Dann denke ich, sollten wir Sir Hillary, Sir Mycroft und meinen Freund Dr. Watson jetzt aufklären. Glauben Sie mir, hier droht Ihnen keine Gefahr mehr, und wir werden eine Lösung für Ihr Problem finden. Meine Herren, darf ich Ihnen Gjergj Frashëri vorstellen? Oder George, wie ihn alle nannten? Ein Skipetar, ein Albaner. Und einer der jüngsten Musiker, die je das Trinity ­College of Music absolvierten. 1893, nicht wahr? Ich hatte seinerzeit das Vergnügen, ihn bei seinem Abschlusskonzert zu erleben. Tschaikowskis Klavierkonzert Nr. 1 b-moll. Hier!“

Er zog einige Blätter aus der Tasche.

„Aus meinem privaten Musiklexikon. Der Programmzettel und eine Besprechung. Der Kritiker überschlug sich damals förmlich vor Begeisterung. Leider kehrte Gjergj Frashëri danach in seine Heimat zurück und schien verstummt zu sein. Erst kürzlich stieß ich in der in Belgien erscheinenden Zeitschrift Albania wieder auf seinen Namen. Welch glücklicher Zufall, dass sich schon so kurz nach meiner Lektüre unsere Wege wieder kreuzen! Anhand von Sir Hillarys kunstfertigem Porträt erkannte ich ihn trotz des Bartes sofort wieder.“

„Genial!“, entfuhr es Bentingham.

„Sir Hillary“, fuhr Holmes fort, „was halten Sie davon, wenn wir uns in Ihre Privaträume zurückzögen? Ich denke, eine weniger offizielle Atmosphäre wäre unserer Sache dienlich.“

Bentingham hatte keine Einwände. Wenig später saßen wir gemütlich in seinem Wohnzimmer vor dem Kaminfeuer bei einem Glas Cognac. Über dem Kamin hing ein Gemälde, das er bereits als Student geschaffen hatte. Es stellte Dostojewskis Helden Rodion Raskolnikow aus dem Roman Verbrechen und Strafe dar. Schon damals war mir beim Anblick von Raskolnikows irren Augen jedes Mal ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen. Ein kleines Meisterwerk, das ebenso Aufschluss über den Charakter von Dostojewskis Helden gab wie über den des Künstlers.

„Also, meine Herren“, begann Holmes, „der Fall ist ganz einfach, wenngleich ich zugeben muss, dass mir Fortuna bei seiner Lösung sehr zur Hilfe kam. Ich habe George gleich wiedererkannt. Was aber war mit ihm geschehen? Seine Uniform gab einen ersten Hinweis. Die unterschiedlichen Farben von Hose und Rock gibt es bei den Offizieren der italienischen und der österreichisch-­ungarischen Marine. Bei den britischen Marineoffizieren sind die Uniformröcke hochgeschlossen, das heißt, man sieht, anders als hier, Hemd und Binder nicht. Also kämen das Reich, Österreich-Ungarn, Italien oder Frankreich in Betracht. Die Schulterstücke des Rocks weisen eher auf die deutsche Kriegsmarine hin. Letztlich sind diese Fragen aber allesamt ohne Belang, denn normalerweise findet sich an jeder Uniform irgendetwas, das deutlich auf die Nationalität des Trägers hinweist. Gerne finden hierfür Wappentiere wie Adler Verwendung oder die Flagge des jeweiligen Landes, etwa in Form einer Dienstkokarde. Die russische Marine beispielsweise setzt ihren Seeoffizieren Doppeladler auf die Schulterstücke. So etwas fehlt in unserem Fall gänzlich. Auf jedem der Schulterstücke befinden sich drei Anker. Demnach hätte die Uniform einem Oberleutnant oder einem Kapitän gehört, je nachdem, mit welchem Rang die Skala der Offiziere im betreffenden Land beginnt. Die acht voluminösen Streifen auf den Ärmeln korrespondieren jedoch nicht mit einem solchen vergleichsweise niederen Offiziersrang. So etwas tragen gemeinhin viel höherrangige Offiziere wie Admiräle. Die Mütze zierte nur ein Anker. Außerdem konnte ich mir die Frage nicht beantworten, wo dieser Mann denn den ihm dienstgradmäßig zustehenden Säbel getragen haben sollte. Für das Portepee haben alle Armeen der Welt erfindungsreich Gürtel oder Schärpen ersonnen. Hier war nichts dergleichen vorgesehen! Ich zog daraus den Schluss, dass es sich um eine Phantasieuniform handeln müsse. Es gibt nur eine plausible Erklärung dafür, George: Sie haben in der Bordkapelle eines Schiffes gespielt!“

„So ist es, Mr. Holmes. Auf der Eudelphi.“

„Bon. Ich erwähnte vorhin einige albanische Worte, unter anderem das Wort Kanun und das Wort Besë. Der Kanun, der gerade erst von dem Franziskanerpater ­Shtjefën Gjeçovi schriftlich niedergelegt wird und zum Teil in der Zeitschrift Albania, wo ich über ihn las, veröffentlicht wurde, ist das mündlich tradierte Gewohnheitsrecht Albaniens. Dort wird noch heute der barbarische Brauch der Blutrache praktiziert. Mit dem Wort Besë gelang es mir, George regelrecht aus der Fassung zu bringen, wofür ich mich vielmals entschuldigen möchte.

Wer als Opfer der Blutrache ausersehen ist, kann dem Kanun zufolge ein Besë aushandeln, eine zeitweilige Aussetzung der Vollstreckung. Ich nehme an, Ihnen als Künstler steht nichts ferner, als irgendjemanden wegen einer Sache, die gar nichts mit Ihnen zu tun hat, umzubringen und sich dann im Gegenzug Ihrerseits selber dafür umbringen zu lassen. Daher nutzten Sie einen ausgehandelten Besë und flohen. Richtig?“

„Genau, Mr. Holmes. Sie haben es erfasst. Nur auf einem Schiff konnte ich mich noch sicher fühlen. Nie aber hätte ich erwartet, dass sie mich an Bord aufspüren würden! Doch dann entdeckte ich meinen Cousin Skender unter den Passagieren. Er wollte mich als Verräter töten. Ich hätte nämlich eigentlich meinen Bruder Zef rächen sollen, der von einem Mitglied der Ahmeti-Sippe erschossen worden war.

Der Rat hatte den Streit, an dessen Anfang sich, wenn man ehrlich war, niemand mehr erinnerte, beilegen wollen, doch ein einziger starrsinniger Greis hatte für die Fortsetzung der Fehde gestimmt. Dieser Wahnsinn wollte kein Ende nehmen und ich will das einfach nicht mehr mitmachen! Meine Berufung ist doch die Musik! Da mir also mein Cousin so dicht auf den Fersen war, blieb mir nur, in der Nacht heimlich ein Rettungsboot zu Wasser zu lassen und mich davontreiben zu lassen. Um meine Spur zu verwischen, kratzte ich unterwegs mit dem Schirm der Mütze den Bootsnamen ab, warf meine Papiere ins Meer und beschloss, mich stumm und wahnsinnig zu stellen. Mein Plan funktionierte, bis mich Sir Hillary fotografieren lassen wollte. Nur mit seiner Zeichenkunst hatte ich nicht gerechnet!“

„Und im Wissen“, ergänzte Holmes, „dass man beim Musizieren leicht jeglichen Panzer um die Seele ablegt, wagte ich einfach ein Duett mit Ihnen. So konnte ich Sie zur Preisgabe Ihrer Muttersprache bewegen. Der Grund für die Anwesenheit meines Bruders ist übrigens der, dass er ein hohes, wenngleich inoffizielles Amt in der Regierung bekleidet, und ich auf die Möglichkeit hoffe, die Interessen des Empires mit denen von George zu verbinden und ihm eine neue Identität zu verschaffen. Was meinst du, Bruder?“

„Das Empire ist nicht zuletzt deshalb das, was es ist, weil es die besten Künstler der Welt sein Eigen nennt. Ich denke, George kann unter einem neuen Namen Ehre für England einlegen. Ich brauche Sie freilich nicht daran zu erinnern, dass alles, was wir am heutigen Nachmittag erlebt und besprochen haben, striktester Geheimhaltung unterliegt. Gentlemen, auf George!“

Das war typisch für Mycroft, der wahrscheinlich am liebsten sogar die Uhrzeit geheim halten würde, wenn man ihn danach fragte.

„Auf George!“, echoten drei Männerstimmen. George hob sein Glas und trank mit.

Natürlich muss ich weiterhin verschweigen, unter welchem Namen er seine musikalische Laufbahn fortsetzte. Ich denke aber, ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass er einer der größten Pianisten wurde, die Großbritannien je hatte, und er wäre es sicherlich geblieben, hätte ihn nicht ein allzu früher Tod ereilt. Nein, er wurde nicht von wahnsinnigen Landsleuten getötet, sondern starb wie so mancher Frühvollendeter unerwartet von uns allen auf dem Höhepunkt seines Könnens, erschöpft von seiner rastlosen künstlerischen Arbeit, eines natürlichen Todes. Leider zerbrach irgendwann die Grammophonplatte, die mir George – den ich weiterhin so nennen will – geschenkt hatte. Wenn ich aber an dieses kleine Abenteuer meines Freundes Sherlock Holmes zurückdenken möchte, brauche ich nur die Zeichnung Bentinghams anzuschauen, die ich behalten durfte. Dann erklingt in meinem geistigen Ohr wieder die wunderbare Musik, die Georges begnadete Hände hervorzubringen verstanden.



Sherlock Holmes und Old Shatterhand


Um mir den kleinen Fall, von dem ich berichten will, wieder ins Gedächtnis zu rufen, muss ich leider meine Aufzeichnungen zur Hand nehmen. Viel lieber würde ich zu meiner Sammlung an Fotografien greifen, doch leider hat mir damals mein Freund Sherlock Holmes in seinem unerforschlichen Ratschluss verboten, welche anzufertigen.

Wir schrieben das Jahr 1903. Ich hatte im Jahr zuvor gerade begeistert die Fotografie als neues Hobby entdeckt und mir eine handliche Bergheil-Balgenkamera mit einem Voigtländer-Anastigmaten aus Deutschland schicken lassen. Für die Entwicklung der unzähligen belichteten Platten, die ich von meinen Streifzügen durch das winterliche London mitbrachte, stellte mir Holmes in seiner unergründlichen Güte seinen Säure zerfressenen Labortisch zur Verfügung und nahm es sogar gelassen hin, stundenlang in grüblerisches Schweigen gehüllt im Dunkeln sitzen zu müssen und dem Rauch nachzublicken, der in dem roten Licht meiner Laborlampe emporstieg.

Anfang März rief der seltsame Fall des Rabbi von Bacharach meinen Freund auf den Kontinent, nach Deutschland. Vielleicht werde ich eines Tages davon berichten. „Er gehört zu den ganz besonderen Fällen in meinen Annalen“, meinte Holmes später.

Nach einer stürmischen Überfahrt bestiegen wir in Hoek van Holland einen Zug, der uns rheinaufwärts nach Mainz bringen sollte. Bis Köln verlief die Reise vergleichsweise eintönig, doch dann öffnete sich das Rheintal, und wir dampften an diesem malerischen, so urdeutschen Strom entlang – leider ohne Halt und viel zu schnell. So nahm ich das Manual meiner Kamera zur Hand, während Holmes sich in einen französischen Roman um zwei Brüder namens Kip vertiefte, den ihm der Verfasser, ein Monsieur Verne, im Jahr zuvor mit einer freundlichen Widmung versehen, geschickt hatte. Als Dankeschön für den kleinen Dienst, den mein Freund ihm einmal erwiesen hatte.

Holmes sollte jedoch nicht viel Gelegenheit zum Lesen haben, denn kurz nach der Abfahrt aus Köln gesellte sich ein kleiner aufdringlicher Herr mit Kneifer zu uns. Er stellte sich als „Dr. Karl May, Reiseschriftsteller aus Dresden“ vor, zurzeit auf der Rückreise von Amerika, wo er den Indianerstamm der Apatschen besucht habe, deren Sprache er fließend beherrsche und die ihn Old Shatterhand nannten. Ich hatte nie von jemandem dieses Namens gehört. Er mochte die Sprache der Apatschen beherrschen, sein Englisch war jedoch fürchterlich! In einem fort erzählte er von angeblichen Abenteuern mit einem edlen Wilden namens Winnitou oder so ähnlich und fragte, ob wir mit einem Lord David Lindsay oder einem Lord Castle­pool bekannt seien, was wir beide Male verneinen mussten. Weil der Mann eine solche Plage war, ließen wir ihn zunächst über unsere Deutschkenntnisse im Unklaren.

Wir hatten Coblenz noch nicht erreicht, da betrat ein Schaffner unser Abteil. Obwohl wir uns Reeman und Albers nannten, schien er genau zu wissen, wer wir in Wirklichkeit waren. Er salutierte militärisch und sprach uns höflich an:

„Mr. Sherlock Holmes?“

Mein Freund nickte nur, sich ergeben in das Schicksal nahezu weltweiter Prominenz fügend. Dr. May riss die Augen auf und brachte sein Erstaunen mit dem seltsamen Laut „Zounds!“ zum Ausdruck. Wo er den wohl aufgeschnappt haben mochte?

Der Schaffner druckste herum.

„I – no English!“

„I translate, I translate“, rief Dr. May ebenso aufgeregt wie grammatisch unbeholfen. „I can Apachi, too!“

„Which will be very useful here among all the red­skins of Germany!“, spottete Holmes. Der Schriftsteller schwieg beleidigt. Dann bat mein Freund, die Unterhaltung auf Deutsch fortführen zu dürfen.

„Ich bin der Sprache Goethes und Kants einigermaßen mächtig.“

Der Schaffner und Dr. May seufzten – aus verschiedenen Gründen – auf, und so kam nach einigem Hin und Her heraus, dass in einem der vorderen Waggons ein Toter mit einem Knife in der Brust saß. Ob Mr. Holmes als berühmter Detektiv nicht vielleicht ...

„Nichts, was ich lieber täte“, antwortete Holmes mit einem Seitenblick auf May. „Wir sollten uns einmal den Tatort ansehen. Watson, das Spiel beginnt, nehmen Sie Ihre Bergheil mit!“

Ich tat wie mir geheißen und folgte Holmes, der wiederum dem Schaffner folgte. Dr. May wollte uns begleiten, doch weil ich die Abteiltür vor seiner Nase zuzog, blieb er notgedrungen zurück.

„Nach der Abfahrt in Köln war der Mann noch am Leben, da habe ich persönlich seine Fahrkarte kontrolliert“, erklärte der Schaffner. „Eine mitreisende Dame aus dem Ausland hat ihn offenbar gefunden. Ich sah sie aus dem Abteil des Ermordeten kommen. Jetzt wartet sie im Nachbarabteil. Hier ist es schon!“

Der Tote war ein Mann mittleren Alters. Seine Augen standen weit offen. Die Todesursache war eindeutig, denn ein Messer steckte mitten in seiner Brust. Der Mord musste sich vor wenigen Minuten ereignet haben, denn das Blut war noch nicht geronnen. Da ich offensichtlich nichts mehr für ihn tun konnte, ging ich zu der Dame, die ihn gefunden haben wollte. Die Dame, die einen wagenradgroßen Hut mit dunklem Schleier trug, stand keineswegs unter Schock.

„Guten Tag, Frau“, begrüßte ich sie in unbeholfenem Deutsch. „Ich Arzt. Dr. Watson!“

„Bonjour, monsieur le docteur“, erwiderte sie. Gott sei Dank beherrsche ich Französisch besser als Deutsch.

Doch dann überschüttete sie mich mit einem wahren Maschinengewehrfeuer aus Worten, von denen ich nur die Hälfte verstand. So viel wurde mir immerhin klar: Der Tote habe ihr bei der Abfahrt angeboten, sich während der Fahrt ihrer anzunehmen, und sie sei dankbar darauf eingegangen. Er habe sich als Weinhändler Eduard von Pauly, Rittmeister der Reserve aus Ingelheim, vorgestellt, und es sei ihr gleich seltsam vorgekommen, wie unvorsichtig er seine prall gefüllte Brieftasche herumgezeigt habe. Er habe in England ein großes Geschäft abgeschlossen, hatte er wohl erzählt, und sei nun auf dem Weg nach Hause. Sie habe sich kurz frisch machen müssen und ihn bei ihrer Rückkehr tot gefunden.

Ich dankte der Dame für ihre Auskünfte, entschuldigte mich und begab mich zu Sherlock Holmes ins Nachbarabteil. Der sprach gerade mit dem Schaffner.

„Der Mörder muss noch im Zug sein. Ziehen Sie bitte die Vorhänge zu, verschließen Sie das Abteil und bitten Sie die Fahrgäste in den Speisewagen.“

„Jawoll!“ Der Schaffner salutierte und ging.

„So, Watson, um das Verfahren abzukürzen, wollen wir uns eines kleinen Bluffs bedienen.“

Dann gab er mir genaue Instruktionen. Ich sollte eine Rede vor den versammelten Mitreisenden halten.

Wenig später hatten sich die etwa siebzig Passagiere im Speisewagen der 1. Klasse eingefunden. Dr. May mit seinem Pincenez stand wichtigtuerisch vorne, die Dame mit dem riesigen Hut und dem Schleier ganz hinten. Da fiel mir ein, dass sie sich gar nicht vorgestellt hatte.

„Geehrte Damen und Herren! Mein Name ist Sherlock Holmes“, stellte mein Freund sich auf Deutsch vor. „Das ist mein Freund und Kollege Dr. Watson. Der Herr Schaffner“ – der Angesprochene salutierte wieder – „der Herr Schaffner hat mich gebeten, den Mordfall zu lösen, der sich in diesem Zug zugetragen hat. Was ich gerne tun werde.“

Zuerst schilderte Sherlock Holmes die Umstände des Mordes – es müsse sich um einen Raubmord handeln, denn die Brieftasche des Opfers sei restlos ausgeräumt worden. Dann wandte er sich der Mordwaffe zu. „Das Springmesser, mit dem Rittmeister von Pauly aus dem Leben befördert wurde, stammt aus Italien. In die Klinge ist der Wunsch eingraviert: ‚Che la mia ferita sia mortale‛. Der hier anwesende polyglotte Dr. May wird sicherlich die Bedeutung der Ingravur bestätigen: ‚Möge meine Wunde tödlich sein‛.“

May errötete, sagte aber nichts.

Holmes fuhr fort: „Wir suchen also einen Italiener, denn es dürfte ausgeschlossen sein, dass eine Waffe dieser Art, wie sie die Mano negra und andere Geheimorganisationen benutzen, in die Hände eines ausländischen Reisenden gelangt ist. Der Herr Schaffner wird Sie nachher um Ihre Papiere bitten, damit wir sie auf eventuelle Hinweise durchsehen können. In Coblenz wird dann die Polizei zusteigen. Zunächst aber wird mein Freund ihnen noch einige neue wissenschaftliche Erkenntnisse mitteilen, die in diesem Fall von Relevanz sind. Wenn Sie mich bitte für einige Minuten entschuldigen wollen. Bitte schön, lieber Doktor!“

Damit verließ er den Speisewagen. Der Zug fuhr immer weiter den Rhein hinauf, auf Coblenz zu. Wie wollte mein Freund bis zu unserer dortigen Ankunft den Fall zu einem Abschluss gebracht haben? Ich verneigte mich kurz und begann.

„Jawoll, gutt!“, sagte ich und merkte, dass ich schon den bellenden Tonfall des Schaffners angenommen hatte. Ich fühlte mich unwohl in meiner Rolle als Conférencier.

„Sie wissen, Fortschritt ist nicht aufzuhalten. Fotografie, zum Beispiel!“ Ich hielt meine Kamera hoch.

„Und Sie wissen, Damen und Herren, dass Letztes, was sieht Sterbender, auf Auge bleibt erhalten. Wie in Spiegel. Kann man dann fotografieren. Entwickeln, vergrößern und – Bild zeigt Mörder. So einfach! Mein Freund Sherlock Holmes auf diese Weise – viele Mörder gefangen! Werden auch Mörder von Rittmeister fangen!“, versprach ich.

Da kam es zu einem Tumult. Die Dame in Hut und Schleier stieß zwei Passagiere beiseite und schob sich durch die Abteiltür. Ich betätigte wie mit Holmes verabredet die Notbremse. Mit kreischenden Bremsen verlangsamte der Zug seine Fahrt. Die Fahrgäste mussten sich festhalten, wo immer sie etwas zum Festhalten fanden. Dann stand der Zug mit einem scharfen Ruck still.

Von draußen drang Holmes' scharfe Stimme an mein Ohr. „Fermarsi! – Stehen bleiben!“

Dann ertönte ein Schuss. Alles stürzte an die Fenster. Ich sah, dass wir mitten in den Weinbergen hielten. Weit und breit war keine menschliche Ansiedlung zu sehen. Gleich darauf stieß Holmes, meinen Revolver in Händen, die Dame mit Hut und Schleier und mit nach hinten gefesselten Händen zur Türe herein. Die Passagiere wichen zurück.

„Keine Sorge, meine Herrschaften“, beruhigte Holmes die Anwesenden, „die Fahrt wird gleich weitergehen. Ich habe lediglich einen Warnschuss in die Luft abgefeuert. Die Dame wollte sich mit gerafften Röcken auf offener Strecke davonmachen. Aber wollen Sie nicht ablegen, Signora?“

Mit einem Ruck riss Holmes der Dame den Hut, den Schleier und das falsche Haar herunter. Zum Vorschein kam – ein Mann.

„Darf ich die Vorstellung übernehmen? Das ist Silvio Perlusconi, der berühmte italienische Anarchist. Er sorgt dafür, dass die Kriegskasse seiner Gesinnungsgenossen immer gut gefüllt ist. Mir sind gleich einige kleine Blutspritzer auf dem schwarzen Kleid aufgefallen. Ich frage mich nur, warum er sein Messer hat stecken lassen. Hörte wohl den Schaffner kommen und spielte die erschrockene Entdeckerin der Leiche! Nun gut! Schaffner, sperren Sie den Mann bis Coblenz bitte auf dem Abtritt ein! Andiamo! Aber nun möchten Sie noch etwas sagen, Doktor Watson!“

„Jawoll, gutt“, begann ich wieder bellend. „Meine Herrschaften, das Sache mit Fotografieren von Auge des Toten nur Trick von Sherlock Holmes war, um Mörder zu fangen. In Auge nichts. Kein Bild. Kein Spiegel. Signore Perlusconi nicht hat gewusst, aber geglaubt. Danke sehr, jawoll!“

Beifall brandete auf, die Menschen lachten erleichtert und begannen durcheinander zu reden. Im selben Moment setzte auch der Zug seine Fahrt wieder fort. Sherlock Holmes ergänzte noch etwas in seinem eleganten Deutsch: „Meine sehr verehrten Herrschaften, bitte noch einen Moment! Ich möchte den Eindruck vermeiden, ich würde mich mit fremden Federn schmücken wollen. Daher möchte ich betonen, dass der kleine Bluff, den mein lieber Freund und Kollege Dr. Watson Ihnen gerade zu erklären versuchte, keineswegs auf einem meiner eigenen Einfälle beruht. Vielmehr stammt er – ‚man sollte im Zug immer etwas Sensationelles zu lesen haben‛, sagt der unvergleichliche Oscar Wilde – aus dem Roman Le frères Kip, Die Gebrüder Kip, der vergangenes Jahr bei Monsieur Hetzel in Paris erschien – ein Buch, das ich Ihrer Aufmerksamkeit wärmstens empfehle. Es stammt von niemand anderem als dem hoch geschätzten Jules Verne, dessen Zwanzigtausend Meilen unter den Meeren Sie sicherlich noch in bester Erinnerung haben. Ehre, wem Ehre gebührt! Danke verbindlichst!“

Weil die Ehre tatsächlich demjenigen zuteilwerden sollte, dem sie gebührte, begann ich, mein Magnesiumlicht auszupacken, um den denkwürdigen Augenblick auf eine Glasplatte zu bannen.

„Aber, aber“, protestierte Holmes, während er noch einige begeisterte Fahrgäste abzuwehren versuchte. „Sie werden doch nicht etwa die Ergebnisse dieses meiner Geistesgaben absolut unwürdigen Zwischenfalles fotografisch festhalten wollen? Nein, nein, darüber sollten wir lieber den Mantel des Vergessens breiten! Wir werden jetzt nach Mainz weiterfahren und von dort nach Bingen, um uns mit dem Fall des Rabbi zu beschäftigen. Er weist einige interessante Aspekte auf, die meiner detektivischen Begabung eher angemessen scheinen.“

Resigniert wollte ich meine Ausrüstung wieder zusammenpacken.

„Jawoll, Herr“, knurrte ich enttäuscht auf Deutsch. „Gutt!“

„Bitte schön, Herr Doktor Watson“, meldete sich da Dr. May. Durch seinen Kneifer blinzelte er kurzsichtig zu mir empor.

„Ob Sie wohl die Güte hätten, mich einmal mit dem großen Detektiv zu fotografieren? Und darf ich mir ­erlauben, Ihnen dies hier zur Deckung Ihrer Unkosten zu überreichen?“

Er streckte mir einen Geldschein und eine Visitenkarte hin, auf der Villa Shatterhand als Adresse angegeben war.

„Hüten Sie sich, Watson!“, schaltete sich da Holmes ein. „Der Mann muss ein Betrüger sein. Wir waren selbst schon einmal in den Staaten – nicht wahr, Watson? Und wenn man dort – außer dem Gebrauch von kultiviertem, vernünftigem Englisch – etwas verliert, dann ist es die insulare Blässe. Sie, verehrter Dr. May, sind bleich wie der Tod und haben mitnichten vor kurzem reitend und schießend den Wilden Westen bereist. Außerdem versicherte mir der Schaffner, dass Ihr karges Gepäck keineswegs das eines Überseereisenden sein könne. Und wer auch nur einmal im Leben geboxt hat, erkennt sofort, dass Ihre zarten Hände für den ‚Jagdhieb‛ dieses angeblichen Old Shatterhand ungeeignet sind. Apropos Hände! Sie haben sich vor nicht allzu langer Zeit von Ihrer Gattin getrennt, wie mir die Einkerbung an Ihrem Ringfinger beweist, wo Ihr Ehering saß, und ich vermute, dass Sie Ihre Abenteuer nirgendwo anders denn auf dem Papier erlebt haben. Die tief eingezogenen Tintenspuren an Ihren Fingerspitzen lassen keinen anderen Schluss zu. Ich sehe Ihrem erschrockenen Gesichtsausdruck an, dass ich Recht habe. Wenn Sie uns bitte entschuldigen würden!“

„Jawoll, Herr, entschuldigen Sie!“, rief ich May grimmig zu und wandte mich ab. Old Shatterhand sah uns schweigend nach, bis wir in unserem Abteil verschwunden waren.