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DIE SCHWARZE FLEDERMAUS
Band 17


In dieser Reihe bisher erschienen:

6001 – Der Anschlag von G. W. Jones

6002 – Der Sarg von G. W. Jones

6003 – Angriff der Schwarzen Fledermaus von G. W. Jones

6004 – Ein harmloser Fall von Angelika Schröder

6005 – Tote schweigen nicht von Margret Schwekendiek

6006 – Liga der Verdammten von G. W. Jones

6007 – Die Spione von G. W. Jones

6008 – Der Kreuzzug von G. W. Jones

6009 – Der Flammenpfad von G. W. Jones

6010 – Der Sieg der Schwarzen Fledermaus von G. W. Jones

6011 – Das Trojanische Pferd von G. W. Jones

6012 – Die Spur des Drachen von G. W. Jones

6013 – Das Gesetz der Schwarzen Fledermaus von G. W. Jones

6014 – Das nasse Grab von G. W. Jones

6015 – Stadt in Angst von G. W. Jones

6016 – Der unsichtbare Tod von G. W. Jones

6017 – Die Stimme der Gerechtigkeit von G. W. Jones

6018 – Die Augen des Blinden von G. W. Jones


Die Hauptfiguren des Romans:


03_Fledermaus

Die Schwarze Fledermaus


03_Carol

Carol Baldwin


03_Silk

Silk Kirby


03_Butch

Butch O'Leary


02_McGrath

Inspector McGrath



G. W. Jones


Die Stimme der

Gerechtigkeit


Aus dem Amerikanischen von Swantje Baumgart





Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!
Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung 
ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.
Infos unter: 
www.BLITZ-Verlag.de

© 2018 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck
Redaktion: Harald Gehlen
Fachberatung: Dr. Nicolaus Mathies
Illustrationen: Dorothea Mathies
Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati
Umschlaggestaltung: Mark Freier
Satz: Harald Gehlen
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-95719-017-8

Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!


G. Wayman Jones – hinter diesem Pseudonym verbirgt sich meistens der amerikanische Autor Norman A. Daniels, so auch beim vorliegenden Roman.

Daniels wurde am 3. Juni 1905 in Connecticut geboren, brach sein Studium aus finanziellen Gründen ab und begann 1931 eine beispiellos produktive Karriere als Autor. Allein in den folgenden drei Jahrzehnten veröffentlichte er über 2.000 Geschichten: Comics, Bücher, Radio­hörspiele, aber vor allen Kriminal- und Superheldenromane. Für den Chicagoer Verlag Thrilling Publications erschuf er die Figur der Schwarzen Fledermaus und verfasste einen Großteil ihrer 62 Abenteuer, die zwischen 1939 und 1952 in den USA erschienen. Daniels starb am 19. Juli 1995 im Alter von 90 Jahren in Kalifornien.

Das Abenteuer Die Stimme der Gerechtigkeit erschien im November 1941 unter dem Titel The Voice of Doom in dem amerikanischen Magazin Black Book Detective.




Kapitel 1 – Seltsames Erwachen

Police Commissioner Warner, Leiter der größten Polizeieinheit des Landes, wurde plötzlich aus dem Schlaf gerissen. Er setzte sich in seinem Bett auf, fuhr sich durch das graue und ziemlich schüttere Haar und sah sich in einem seltsamen Zimmer um. Es war ein üppig ausgestattetes Schlafzimmer mit überdimensioniertem Mobiliar, aufwändig dekorierten Wänden und seidener Bettwäsche.

Die Einrichtung entsprach dem Wert dessen, was ein durchschnittlicher Haushalt ausgab, um ein ganzes Haus mit sechs Zimmern zu möblieren. Der Raum hatte auch nichts Weibliches an sich. Über dem Bett hing ein Hirschkopf. Altmodische Buschmesser schmückten eine weitere Wand, ebenso zwei Bilder mit Jagdmotiven, die von exquisitem Geschmack zeugten.

Warner versuchte, sich zurechtzufinden. Er legte sich ein Kissen in den Rücken und lehnte sich zurück. Das Letzte, woran er sich erinnerte, war, dass er eine Party verlassen hatte, in seinen Wagen gestiegen war und sich auf den Heimweg gemacht hatte. Von da an war alles komplett und erschreckend leer. Wo war er? Wer hatte ihn hergebracht?

Warner stieg aus dem Bett. Zu seiner Überraschung wartete ein brandneues Paar Pantoffeln in seiner Größe nur darauf, von ihm benutzt zu werden. Ein seidener Morgenmantel war sorgfältig über einen Stuhl gehängt worden. Er zog ihn an, ging zügig zu einer der Türen, die sich in dem Zimmer befanden, und versuchte, sie zu öffnen.

Die Tür war abgeschlossen. Er versuchte die andere Tür und stellte fest, dass diese zu einem Wandschrank führte. Darin befand sich sein Anzug, sorgfältig aufgehängt. Auch seine übrige Kleidung befand sich dort. Kein Diener hätte sich besser darum kümmern können.

„Das glaub ich ja wohl nicht“, murmelte Warner. „Das geht zu weit. Muss ein Scherz sein, aber ich kann daran nichts Lustiges finden.“

Er dachte an die Fenster und rannte dorthin, doch nur, um ein verzweifeltes Stöhnen auszustoßen. Es waren gar keine echten Fenster, sondern nur Attrappen, die wie echte Fenster aussehen sollten. Künstliches Licht schien hindurch, um das Tageslicht zu simulieren. Dahinter sah Warner nackte, graue Wände. Dieses Zimmer, in dem er gefangen gehalten wurde, war in Wahrheit ein Zimmer innerhalb eines Zimmers.

„Meine Waffe“, sagte Warner laut. Er eilte zurück zu dem Wandschrank. Seine kompakte, leistungsfähige Automatik befand sich noch in seinem Hüftholster. Die Kugeln waren nicht angerührt worden. Mit der Waffe in der Hand fühlte er sich ein wenig besser.

Dann hörte Warner ein lautes Klicken wie von einem elektrischen Schalter, doch um ein Vielfaches verstärkt. Eine Stimme erklang von überall und nirgendwo. Sie erfüllte den ganzen Raum.

„Guten Morgen, Commissioner Warner. Sie haben sehr gut geschlafen. Es ist Mittag, haben Sie das bemerkt? Die formlose Art, auf die ich Sie herbringen musste, tut mir sehr leid, doch die Umstände haben das notwendig gemacht. Aber ich rede hier, während Sie am Verhungern sein müssen. Bitte öffnen Sie die Tür. Als sie es eben probiert haben, war sie verschlossen. Sie führt in ein anderes Zimmer, in dem Sie Toilettenartikel finden werden. Es ist sogar die Zahnpastamarke, die Sie gewohnt sind. Dort ist ein gedeckter Tisch mit einem typischen Frühstück von der Art, die Ihnen richtig gut schmeckt. Während Sie essen, werde ich Ihnen die Gründe erläutern, warum ich Sie hergebracht habe.“

Mit einem weiteren Klick verstummte die Stimme. Warner zuckte mit den Schultern. Er ging ins Nebenzimmer und starrte den Tisch an. Es gab Eier, genauso zubereitet, wie er sie mochte, Speck, dunkel gebraten, so wie Speck für ihn sein musste, gebratener Maisgrieß mit Sirup, Toast, Butter und Fruchtsaft. Ein besseres Frühstück hätte sich Warner nicht wünschen können. Er machte sich frisch und setzte sich dann, um zu frühstücken.


*


Ein gewöhnlicher Mann hätte unter solchen Umständen vielleicht keinen Hunger gehabt, doch Warner machte sich mit großem Appetit darüber her. Er hörte das bekannte Klicken, und dieselbe tiefe und klare Stimme sprach erneut.

„Ich begrüße Ihre Wahl, was das Essen betrifft, Commissioner. Sie deckt sich sehr mit meinen eigenen Vorlieben. Kommen wir nun zum Geschäftlichen. Das heißt ... wenn alles zu Ihrer Zufriedenheit ist. Sie können sprechen. Ich kann Sie hören.“

„Danke.“ Warner bestrich einen Toast mit Butter. „Ich werde aus dieser Angelegenheit nicht schlau. Aber wenn ich hier als Gefangener gehalten werde und das Essen so gut bleibt wie bisher, nun ... dann werde ich den Richter bitten, Sie lebenslang einzusperren, anstatt Sie auf den elektrischen Stuhl zu bringen. Wer sind Sie? Was wollen Sie? Wo bin ich überhaupt?“

„Ich kann Ihnen nicht sagen, wo Sie sind“, erwiderte die Stimme und lachte leise. „Meine Identität muss ebenfalls ein Geheimnis bleiben. Aber Sie können mich die Stimme der Gerechtigkeit nennen. Ich werde Ihnen gleich zeigen, warum ich diesen Namen gewählt habe. Alles, was ich von Ihnen will, ist ein wenig Kooperation. Letzte Nacht wurde Ihnen ein harmloses Opiat verabreicht, das keinerlei schädliche Wirkung hat. Ihr Wagen wurde versteckt, aber Sie werden ihn zurückbekommen. Ich habe Sie für dieses Gespräch hierher gebracht. Ich bin ein seltsamer Mann, Commissioner. Ich könnte ein ehemaliger Sträfling sein, oder ein Philanthrop, oder gar ein hobbymäßiger Kriminologe. Tatsache ist jedoch, dass ich die Anzahl der Verbrechen, die in diesem Land begangen und nicht bestraft werden, bedaure und beschlossen habe, etwas dagegen zu unternehmen. Mein Plan besteht darin, viele der bedeutenderen Verbrecher zu entlarven. Wie ich das erreichen werde, ist mein Geheimnis, aber es wird geschehen. Warten Sie ab und schauen Sie zu. Selbstverständlich kann ich nicht direkt mit der Polizei in Kontakt treten. Daher halte ich es für essentiell, einen Mann zu kontaktieren, dem ich absolut und ohne jeden Zweifel vertrauen kann.“

„Und Sie wollen, dass ich Ihnen diesen Mann nenne.“ Warner schob ein Stück des knusprigen Specks auf seinem Teller umher. „Was springt für Sie dabei heraus, mein Freund?“

„Nichts! Nicht ein müder Penny. Doch bei all dem gibt es eine kleine Bedingung. Auf die Ergreifung der Männer, die ich entlarven werde, wird entweder ein Kopfgeld ausgesetzt sein, oder es wird eine Belohnung angeboten. Dieses Geld muss an bestimmte, vorab genannte Parteien ausgezahlt werden. Nein, ich gehöre nicht dazu. Sie müssen wissen, dass ich absolut ehrlich bin, Commissioner. Ich könnte die ganze Kohle für mich behalten. Aber ich verzichte darauf und nehme nur die viel geringeren Belohnungen, die es gibt. Diese Belohnungen werden für wirklich sinnvolle Zwecke verwendet. Nun ... wen würden Sie empfehlen?“

Warner nippte an dem köstlichen Kaffee.

„Nun, das kann ich spontan nicht sagen“, erwiderte er. „ich weiß nicht, was für einen Mann Sie genau haben wollen. Nennen Sie mir weitere Einzelheiten.“

„Selbstverständlich.“ Die Stimme klang erfreut. „Der Mann, den ich will, muss überzeugend genug sein, um diese Belohnungen zu bekommen, selbst wenn in manchen Fällen keine ausgesetzt wurde. Er muss absolut ehrlich und geeignet sein. Er darf auch nicht zu genau hinschauen. Und er muss gewillt sein, eine Gelegenheit auszulassen, mich zu schnappen. Ich bin kein gewalttätiger Mann, aber ich werde mit aller Entschlossenheit alle Versuche abblocken, meine Identität aufzudecken. Diese Arbeit, die ich mir selbst auferlegt habe, bringt mich in größte Gefahr. Das werden Sie verstehen. Nun wissen Sie, was für eine Person ich brauche. Sagen Sie es mir.“

Warner nickte gemächlich.

„Ja, ich denke, ich wüsste den richtigen Mann für Sie. Er ist Anwalt. Er kann also überzeugen. Er ist absolut ehrlich, und ich garantiere Ihnen, dass er nicht allzu viel sehen wird, denn dieser Mann ist absolut blind. Sein Name ist Tony Quinn. Er war einst Bezirksstaatsanwalt, doch er verlor sein Augenlicht durch Säure. Von allen Leuten, die ich kenne, erfüllt Quinn die Bedingungen mit Abstand am besten.“

„Gut. Gut. Hervorragend, in der Tat. Ich werde ihn bald kontaktieren, und ich bin Ihnen äußerst dankbar. In wenigen Augenblicken werden Sie freigelassen. Gibt es sonst noch etwas, was Sie wissen möchten?“

„Nein“, sagte Warner nachdenklich. „Nichts was Sie mir sagen würden, meine ich. Ich muss Sie jedoch warnen, dass dieses ganze Prozedere eindeutig gegen das Gesetz verstößt und dass Sie sich offen der Strafverfolgung aussetzen. Trotzdem, danke für das Frühstück und für das Vertrauen, das sie in mich setzen, indem Sie mich gebeten haben, für Sie den Mann zu finden, den Sie wollen. Wie komme ich jetzt ... hier ... raus ... Mir ... mir wird schwindelig.“

„Keine Sorge.“ Die Stimme schien nun meilenweit entfernt zu sein. „Sie wurden erneut unter Drogen gesetzt. Das ist der einfachste Weg für mich, sie zurückzubringen. Sagen Sie Mr Quinn, dass man ihn bald kontaktieren wird. Schlafen Sie gut, Commissioner.“

Warners Kopf fiel auf den Tisch. Dabei stieß er eine Kanne um und brachte das Geschirr zum Klappern. Aus dem verborgenen Lautsprecher ertönte ein heiseres und düsteres Lachen. Dann war es still.

Warner erwachte, als eine kühle Brise seine Sinne wieder zum Leben erweckte. Er saß hinter dem Steuer seines Wagens, der sich in irgendeinem großen Park befand. Er schaute sich genau um und wusste, wo er war, nämlich in einem weniger belebten Teil des Central Park. Er war vollständig bekleidet, seine Waffe war dort, wo sie hingehörte.

Alles erschien ihm wie ein Traum. Doch er wusste, dass es keiner war. Was er erlebt hatte, war absolut wahr. Die verrückteste Form der Wirklichkeit, doch so wahr wie die Sonne, die ihn wärmte. Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte halb vier. Er war drei Stunden lang bewusstlos gewesen.

Warner grunzte frustriert, trat auf den Starterknopf und fuhr direkt zu seinem Büro im Polizeihauptquartier. Er fragte sich, wie Tony Quinn dieses fragwürdige Abkommen aufnehmen würde. Und er fragte sich, ob es die Schwarze Fledermaus, den Feind aller Verbrecher, erneut auf die Bildfläche locken würde.

Manchmal dachte Warner, Quinn sei die Schwarze Fledermaus. Dann hätte er wieder Stein und Bein geschworen, dass so etwas völlig unmöglich sei, und doch ... Der Gedanke, dass Tony Quinn und die Schwarze Fledermaus ein- und dieselbe Person waren, gefiel ihm.



Kapitel 2 – Schuldeingeständnis

Der Name auf der Glasscheibe an der Tür lautete Anthony Quinn, Rechtsanwalt. Police Commissioner Warner lächelte, als er das Schild las. Dann stieß er die Tür auf und betrat ein ansprechend eingerichtetes Vorzimmer. Darin standen ein Schreibtisch für einen Stenographen und ein weiterer für einen Angestellten. Ein geschnitztes Geländer trennte diesen Arbeitsbereich von einem kleinen Teil, der für die Mandanten vorgesehen war. Hinter dem Schreibmaschinentisch saß ein gepflegt aussehendes Mädchen und tat nichts. Ein junger Rechtsanwaltsgehilfe schreckte überrascht hoch, sprang von seinem Stuhl auf und hofierte Police Commissioner Warner geradezu.

„Ganz ruhig“, sagte Warner. „Ich bin ein Freund von Mr Quinn, kein Mandant. An mir gibt es gar nichts zu verdienen.“

Der Angestellte schaute enttäuscht.

„Ja, Sir. Ich sage ihm, dass Sie hier sind. Wenn Sie mir bitte Ihren Namen sagen? Und würden Sie mir außerdem einen Gefallen tun? Ich bin gerade mit dem Jurastudium fertig. Ich brauchte einen Job, und der hier erschien mir wie ein unerwarteter Gewinn. Aber ich wusste nicht, dass ich für einen blinden Anwalt arbeiten sollte. Ich muss Erfahrungen sammeln, aber was für eine Art Kanzlei könnte ein blinder Mann denn überhaupt haben? Ich möchte in dieser Angelegenheit keineswegs hochmütig sein. Es ist nur so, dass ich mein eigenes Wohlergehen und meine Zukunft im Auge behalten muss.“

Warner öffnete die Pforte, stieß den jungen Mann auf seinen Stuhl zurück und schaute auf ihn hinunter.

„Du bist nicht gebürtig aus New York, richtig? Sonst hättest du schon von Tony Quinn gehört. Hör zu, Junge. Dein Boss ist der beste Strafrechtler, den es gibt. Er war mal Bezirksstaatsanwalt, und zwar der beste, den wir je hatten. Eines Tages ist er erblindet, als ein paar Gauner Säure in sein Gesicht geschüttet haben. Aber wenn ein Mensch sein Augenlicht verliert, dann heißt das nicht zwangsläufig, dass er auch nicht mehr denken kann. Bevor du entscheidest, was für ein Anwalt er ist, warte ab, bis du ihn in Aktion gesehen hast. Er arbeitet heute zum ersten Mal wieder, stimmt‘s?“

„Ja, Sir ... Und Ihren Rat werde ich auch beherzigen, Sir. Jetzt werde ich Sie ankündigen, wenn Sie mir Ihren Namen sagen.“

„Mein Name ist Warner, Police Commissioner Warner. Aber es wird nicht nötig sein, mich anzukündigen. Ich werde dir gleich beweisen, wie kompetent Tony Quinn ist. Lass mich reingehen, ohne Ankündigung, und hör einfach zu.“

„Der Police Commissioner! Gosch, Sir, noch eine Empfehlung brauche ich bestimmt nicht.“

Warner ging zu der geschlossenen Tür, öffnete sie und schritt über den mit Teppich belegten Boden. In einer Ecke des geräumigen Büros stand ein großer Schreibtisch. Dahinter saß ein Mann. An allen vier Wänden waren Gesetzbücher aufgereiht.

An die Wand hinter dem Schreibtisch war ein Bild von Justitia gemalt worden. Ihre Augen waren verbunden, und in der Hand hielt sie ihre Waage. Das Mobiliar glänzte, es war bequem und ansprechend arrangiert. Der Teppich war dick, mahagonifarben und sehr teuer.

Der Mann hinter dem Schreibtisch schaute auf. Seine Augen waren blass und leblos, und sie besaßen den völlig ausdruckslosen Blick eines Menschen, der absolut blind ist. Um seine Augen herum waren zahlreiche Narben, die sich tief eingegraben hatten. Es waren Spuren der Säure, die man ihm ins Gesicht geschüttet hatte. Er sprach mit freundlicher Stimme, und seine Lippen teilten sich zu einem einladenden Lächeln.

„Hallo, Commissioner. Sie haben die Ehre, mein erster Besucher zu sein.“


*


Tony Quinn stand auf und streckte die Hand aus. Sie war nicht direkt auf Warner gerichtet, doch für einen blinden Mann hatte er gut gezielt.

Der Angestellte, der an der Tür stehengeblieben war, schloss sie leise und pfiff.

„Hey, June, das hättest du sehen sollen. Warner geht nur über den Teppich und macht dabei kaum ein Geräusch, und der Boss erkennt ihn sofort.“

June Marlowe, die Stenographin, schaute nur ein wenig überlegen drein.

„Das hätte ich dir vorher sagen können. Weißt du, mein Vater war Polizist. Er wurde vor etwa einem Jahr getötet, als er eine Bande von Gaunern verfolgt hat. Mr Quinn war kaum wieder im Geschäft, da hat er nach mir gesucht, und hier bin ich nun. Ich würde meinen rechten Arm für ihn hergeben. Was ist so seltsam daran, dass er den Police Commissioner erkennt? Blinde Leute können besser hören als sehende. Er hat nur auf Warners Schritte gelauscht und hat sie erkannt. Das ist alles. Jetzt setz dich hin und tu so, als würdest du arbeiten. Wir könnten jederzeit einen Mandanten bekommen. Mr Quinn ist in dieser Stadt ziemlich bekannt, glaub mir.“

In Quinns Büro setzte Warner sich hin.

„Tony“, sagte er. „Sie können sich nicht vorstellen, wie gut sich das für mich anfühlt. Sie wieder im Geschäft zu sehen, selbst wenn wir jetzt auf verschiedenen Seiten stehen. Ich schätze, von nun an werden Sie es meinen armen Agenten und Streifenpolizisten im Gericht so richtig geben.“


*


Quinn lachte leise. „Wenn ich das Glück haben sollte, überhaupt Mandanten zu finden, die sich einem blinden Mann anvertrauen.“

„Unsinn“, erwiderte Warner. „Sobald sich die Nachricht verbreitet hat, werden sie in Scharen herkommen. Ich wünsche Ihnen alles Gute und Erfolg in all Ihren Fällen ... oder zumindest in den meisten.“

„Commissioner, Sie sind nicht nur hergekommen, um mir alles Gute zu wünschen. Ich bin blind wie eine Fledermaus, aber meine anderen Sinne werden dadurch nicht beeinträchtigt. Sie tippen auf die Armlehnen Ihres Stuhls wie ein nervöses Kind, das auf dem Zahnarztstuhl sitzt und wartet, bis es an der Reihe ist. Was ist los?“

„Vor Ihnen kann man nichts geheim halten“, sagte Warner. „Nun, Tony, Sie haben Recht. Ich habe einen Mandanten für Sie an Land gezogen. So verrückt und wirr, so etwas haben Sie noch nie gehört. Vielleicht wird man mich überall verfluchen, bevor diese Angelegenheit erledigt ist. Aber ich kann mir nicht helfen, irgendetwas sagt mir, dass die Stimme der Gerechtigkeit die Stimme eines aufrichtigen Mannes ist.“

„Die Stimme der Gerechtigkeit!“ Quinn runzelte die Stirn. „Werden Sie jetzt melodramatisch?“

„Wohl kaum. Letzte Nacht muss man mich unter Drogen gesetzt haben. Und das auch noch sehr clever, denn ich weiß nicht, wann es passiert ist. Ich wachte in einem sehr komfortablen Schlafzimmer auf. Meine Kleidung war ordentlich aufgehängt worden, und ich trug einen seidenen Pyjama. Kaum hatte ich mich aufgesetzt, erklang eine Stimme, die irgendwie in den Raum geleitet wurde. Die Stimme sagte mir, ich solle mich anziehen und mir keine Sorgen machen. Ich gehorchte. Dann wurde ich angewiesen, in einen anderen Raum zu gehen, und auch das tat ich. Ich fand ein hervorragendes Frühstück, das dort auf mich wartete. Fragen Sie mich nicht, wo ich mich befand. Es gab keine Fenster, und das Zimmer muss schalldicht gewesen sein. Oder es war irgendwo auf dem Land, wo es keinerlei Geräusche gab.“

„Das ist hochinteressant“, unterbrach Quinn. „Was hat das mit mir zu tun? Sie sprachen von einem Mandanten.“

„Genau. Diese Stimme sprach durch einen verborgenen Verstärker. Es war eine männliche Stimme, und sie fragte um Rat. Er sagte, ich solle ihn die Stimme der Gerechtigkeit nennen, dass er sein Leben der Unterstützung der Polizei gewidmet hatte, um Verbrecher festzunehmen. Zuerst dachte ich, es sein Scherz der Schwarzen Fledermaus. Mittlerweile bin ich sicher, dass es nicht so war. Jedenfalls behauptete die Stimme, dass diese geheimnisvolle Person einen Kontaktmann außerhalb benötigt. Einen, dem sie absolut vertrauen kann. Sie wollte einen Mann, der nicht zu viele Fragen stellt, nicht zu genau hinschaut und den Ratschlägen folgt, die man ihm gibt. Diese Stimme der Gerechtigkeit schwört, mehr Kriminelle zu kennen als irgendeine andere lebende Person. Und er schwört, dass er diese Kriminellen der Justiz übergeben möchte.“

„Was ist sein Plan?“, fragte Quinn. „Was springt für ihn dabei heraus?“

„Nichts ... Jedenfalls behauptet er das. Ich war in einer seltsamen Situation, Tony. Ich musste irgendetwas antworten, also nannte ich ihm Ihren Namen. Ich sagte ihm, dass Sie blind sind, ehrlich, und dass Sie kooperieren würden, wenn dieses Ding astrein ist. Er bedankte sich bei mir, setzte mich wieder unter Drogen, und ich wachte in ­meinem eigenen Wagen irgendwo im Central Park auf. Hören Sie ... Das war kein Alptraum. Das hier ist wirklich passiert, und ich dachte mir, ich warne Sie besser, bevor die Stimme der Gerechtigkeit Kontakt mit Ihnen aufnimmt.“

„Dann vielen Dank“, sagte Quinn. „Das klingt vielversprechend, wenn es echt ist und nicht nur die Tat irgendeines Schlaumeiers. Ich werde mit Interesse auf die Stimme der Gerechtigkeit warten. Ich hoffe nur, dass wir nicht in irgendeine Sache reingezogen werden, die zu groß für uns ist. Und dass die Stimme der Gerechtigkeit sich nicht als Stimme der Ungerechtigkeit entpuppt und uns an der Nase herumführt. Sie sagten, dass Sie zuerst gedacht hätten, es sei ein Streich der Schwarzen Fledermaus. Warum haben Sie Ihre Meinung geändert?“

„Nun, ich habe ein paar diskrete Ermittlungen darüber angestellt, wo sie sich letzte Nacht aufgehalten haben. Wie es aussieht, haben Sie den frühen Abend hier in Ihrem Büro verbracht und den Rest der Nacht zu Hause. Nun beschuldige ich Sie nicht, die Schwarze Fledermaus zu sein. Captain McGrath wäre sehr viel weniger direkt als ich, Tony. Wie auch immer, die Schwarze Fledermaus kommt anscheinend viel herum und weiß, was vor sich geht. Sie wären eine hervorragende Schwarze Fledermaus. Tatsächlich ist es so, wenn keine Haftbefehle gegen die Schwarze Fledermaus vorliegen würden, dann würde ich mir wirklich wünschen, dass Sie es sind. Zum einen ist seine Arbeitsweise perfekt, und zum anderen würde das bedeuten, dass Sie nicht blind sind.“


*


Die Sprechanlage, die die beiden Büros miteinander verband, summte. Quinn fingerte an dem Kasten, als kenne er sich mit der Handhabung nicht aus. Schließlich drückte er den richtigen Knopf, und die Stimme des Angestellten erklang.

„Ein Mandant, Sir. Mr und Mrs James Drake.“

„Schicken Sie sie in zwei oder drei Minuten rein.“ Quinn rieb sich die Hände. „Danke, Winkie.“ Er schaltete das Gerät aus und schaute auf einen Punkt irgendwo links von Warner.

„Das klingt nicht gerade so, als rufe die Stimme der Gerechtigkeit, aber Mandant ist Mandant. Entschuldigen Sie mich bitte, Commissioner?“

Warner stand auf. „Sie werfen mich raus, was? In Ordnung, Tony. Ich bin froh, dass es bei Ihnen so schnell losgeht. Übrigens, der Rechtsanwaltsgehilfe, den Sie da haben – ich glaube, Sie nannten ihn Winkie – ist der in Ordnung?“

„Ich hoffe. Er hat vor ein paar Monaten seinen Abschluss an der Jurafakultät gemacht, konnte keinen Job finden und hat sich bei mir um einen beworben. Ich habe ihn eingestellt, weil mir seine Stimme gefiel. Wie sieht er aus, Commissioner?“

„Wie ein Trottel. Genauso wie Sie sich einen Trottel vorstellen würden. Er ist dünn, fast schon dürr. Er trägt eine große, schwarze Hornbrille und sieht aus wie der Cousin zweiten Grades von einem Bücherwurm. Und leicht zu beeindrucken. Er hat sich vor mir verbeugt, als wäre ich eine Art Diktator. Sie müssen sich um ihn keine Sorgen machen, Tony. Die Stenographin habe ich auch bemerkt. Nett von Ihnen, dass sie Bill Marlowes Tochter eingestellt haben. Sie brauchte einen Job.“

Warner ging hinaus, und zwei Personen traten ein. Quinns Augen waren völlig leer. Die besten Chirurgen hatten es für aussichtslos erklärt, dass diese Augen jemals wieder würden sehen können, doch Tony Quinn konnte sehen. Tatsächlich war seine Sehfähigkeit um ein Vielfaches besser als die jedes durchschnittlichen Menschen. Weder sie selbst noch sonst irgendjemand wäre auch nur auf den Gedanken gekommen, doch in diesem Augenblick betrachtete er seine ersten Mandanten kritisch und forschend.

Tony Quinn sah einen Mann um die Vierzig mit sanften, blauen Augen, dessen Haar an den Schläfen ergraute. Er war ungefähr zwei bis drei Zentimeter kleiner als Tony Quinn, der 1,78 Meter maß. Er war schlank und sah geradezu adrett aus, trug sehr teure Kleidung und benahm sich wie ein Geschäftsmann.