Über dieses Buch

Im Streit mit einem zwielichtigen Geldverleiher bringt ein junger Mann von unter zwanzig Jahren diesen um. Nach einer emotionalen Berg-­ und ­Talfahrt stellt er sich der Polizei.

Die Mühlen der Justiz beginnen zu mahlen. Der Untersuchungsrichter scheint wenig Lust auf mildernde Umstände zu haben, der Pflichtver­teidiger ebenso wenig auf Verteidigung. Auch der Gutachter hat offenbar seine Meinung schon im ­Voraus gemacht und dreht Simon jedes Wort im Mund um. Ein Exempel wird statuiert, Simon zu sechzehn Jahren verurteilt.

Simon hat in der Zwischenzeit die Haft vor­zei­tig angetreten und ist in der schwierigen Gemein­schaft von Gefangenen und Aufsehern gelandet, in einer Welt mit eigenen Gesetzen und Gebräuchen, die nur noch wenig mit der Welt draussen zu tun hat, auf die er vorbereitet werden soll.

Mit psychologischem Gespür schildert
Simon Volkart den Justizvollzug von den ersten Ver­­hören bis zur Entlassung, sein Bericht ist der selten wahr­genommene Blick eines Betroffenen auf die Verwaltung von Verbrechen und Verbrecher.

Simon Volkart

Im Knast

Ein Bericht

Mit einem Vorwort von Mario Gmür

Limmat Verlag

Zürich

Simon Volkart ist ein Pseudonym. Nach der Verbüssung seiner Straftat lebt er heute ein normales Berufs- und ­Familienleben.

Beobachtete Beobachter

Mario Gmür

Fällt die Tür ins Schloss, umfängt ihn eine Stille, die ihn die völlige Abgeschiedenheit spüren lässt. Einsamkeit hinter Schloss und Riegel. Augenblick und Ewigkeit fallen in eins. Er ist zurückgeworfen, nicht auf ein Nichts, aber auf ein Minimum, das die wenigen Gegenstände, Tisch, Bett und Stuhl, veranschaulichen: der Strafgefangene. «Sträfling» ist drei Silben kürzer, auch strammer als Begriff, der seine neue Identität bestimmt. Hier wird er zum Experten für Zeit und Zeitlosigkeit, im Wartesaal der Freiheit. Er sitzt die Strafe ab, ein Stück Lebenszeit, die ihn dem Tod näherbringt. Bis dann wird seine Grunderfahrung Langeweile sein. Er kann Antwort geben auf die scherzhafte Frage, ob es einen Satz gibt, in dem das Wort mühsam (jiddisch gesprochen miehsam) siebenmal hintereinander vorkommt: «Mir ist mies am Montag, mies am Dienstag, mies am Mittwoch …» Nicht nur eine Woche lang, sondern über Monate und Jahre.

Als Verfasser dieses Vorwortes, der nie eine Nacht, ja nie eine Stunde in einer Gefängniszelle verbracht hat, habe ich eine unzureichende Kompetenz, über das Leben im Knast zu schreiben. Der Autor dieses Buches hingegen weiss, wovon er spricht. Er, dem im Affekt ein unverzeihlicher, dummer und folgenschwerer Fehler passiert ist, hat viele Jahre in einer Strafanstalt eingesessen.

Er war ein gefährlicher Insasse. Nicht für die Mitgefangenen, nicht für die Menschen, denen er in Zukunft in Freiheit begegnen würde. Jedoch für die Funktionäre der Justiz, die sich ihrer Sache sicher sind, ob als Ankläger, Richter oder Vollzugsbeamte.

Zeugt es nicht von Hochmut und sträflicher Dummheit der Mächtigen, nie zu bedenken, sie selber könnten unter Beobachtung stehen? Die Ohnmacht ihrer Schützlinge hat Augen und Ohren auf sie gerichtet und legt ihre Wahrnehmungen in das Archiv ihrer Erinnerung ab. Vor­der­gründige Einflusslosigkeit macht Notizen, schreibt Ta­ge­bücher, die per se schon eine subversive Gefahr für die Bevollmächtigten darstellen. Zu gegebener Zeit – wenn es zu spät ist, dies zu verhindern – riskieren sie, blossgestellt und angeprangert zu werden.

Wäre dieser Rapport aus der Strafanstalt das Machwerk eines recherchierenden Journalisten, er wäre aufschlussreich und brisant. Aus der Feder eines Insassen be­eindruckt er besonders, weil der Verfasser seine Erfahrungen und Reflexionen aus der Authentizität seines Erlebens zu Papier brachte. Er schreibt nicht über die Justiz, sondern aus der sinnlichen Erfahrung rechtsprechender Gewalt an eigenem Leib und eigener Seele in verschiedenen Phasen und an entsprechenden Lokalitäten seines Cur­riculum Vitae innerhalb der Sphäre gesetzwidrigen Hergangs und anschliessender Gerichtsbarkeit. Er beschreibt den Tatort, die Flucht, die Untersuchungshaft, die psychiatrische Begutachtung, das Gerichtsverfahren, den Strafvollzug, die Entlassung nach dreizehn Jahren.

Der Autor hat keine akademische Ausbildung genossen. Seine beachtliche Schreibkunst scheint einerseits einer genuinen Begabung geschuldet, andererseits einer Be­le­senheit, die er nicht zuletzt einer reichhaltigen Gefängnisbibliothek zu verdanken weiss. Seine Aufzeichnungen er­innern an den psychologischen Realismus romanhafter Darstellungen der Gefängnisliteratur, wie jene von Jakob Wassermann (Der Fall Maurizius) und Hans Fallada (Wer einmal aus dem Blechnapf frisst). Sie sind aber kein Roman, sondern eine Geschichte, die das Leben hinter Mauern schrieb. Für das Studium der Psychologie der Macht sind sie ein wertvoller Beitrag. Sie handeln von einem Feld der Not und der Qual, von erzwungenem Zusam­men­leben, von der Zermürbung im Wirbel zurückgedrängter Triebe, vom im Unterdrückungsregime gesammel­ten Schweigen, vom Sadismus der Justiz, die legitimiert ist durch seine Schuld. Er zeichnet das Bild einer entseelten Maschinerie der Justiz, einer von ihm als despotisch erlebten Willkür und eines Verlustes der Menschenwürde. Er schreibt von der Hölle auf Erden. Der Text ist aber keineswegs ein anlastendes Klagelied eines Unzufriedenen, der sich darauf beschränkt, das Leiden in Worte zu fassen. Der Autor nimmt eine besonnene Rolle ein, die des scharfäugigen Analytikers des Alltags im Knast, der sozialen Strukturen und dynamischen Abläufe, geleitet von der Methode der teilnehmenden Beobachtung. Er bemüht sich – über weite Strecken respektvoll-distanziert – um Objektivität und Ausgewogenheit. Seine Schrift «Im Knast» wirft einen Lichtstrahl in die Psychologie des Strafvollzugs. Sie hält der Strafjustiz den Spiegel vor, in dem sie ihre eigenen Fratzen abgebildet sieht. Der Registrierende gibt dem Ausdruck «Gegengutachten» eine neue Bedeutung, nicht die übliche einer von einem Verteidiger in Auftrag gegebenen Gegenexpertise. Es ist seine, des Autors, Begutachtung des Amtspsychiaters, der ihn hochnäsig abgeschmeckt hat, und der Seelenfolterfunktionäre im Namen des Rechtsstaates.

Der Bericht kann als Werk eines seiner Freiheit beraubten Insassen aufgefasst werden, der aus der Not der Gefangenschaft die Tugend eines aufmerksamen subtilen Beobachters und Berichterstatters macht. Schreibend gewinnt er dadurch stückweise die Autonomie zurück, die ihm in der Haft abhanden gekommen ist. Entstanden ist ein höchst lesenswertes Buch, das nachdenklich stimmt.

Zutritt

Die folgenden Geschichten sind wahr. Sie ­wurden nur so weit verändert, wie es für eine Anonymisierung nötig ist.

Leider ist es noch heute so, dass man als entlassener Sträf­ling von der Schweizer Gesellschaft geächtet wird. Deshalb wäre ich sehr dankbar, wenn man meine Anonymität respektierte, nicht zuletzt, weil ich nun Familie habe und meine Frau und Kinder wegen meines Fehlers keine Nachteile haben sollen.

Hypostase

1

Schweissgebadet wachte ich auf, hörte nur noch mein Herz pochen, das schweissnasse Hemd klebte mir am Rücken, die Uhr zeigte kurz nach Mit­ternacht. Mein Hals war ausgetrocknet. Wiederkehrende Alb­träu­me sind eine der kleinen Rechnungen, die man als Mörder erhält. Oft schon wurde ein solcher gefragt, wie er sich während und nach seiner Tat gefühlt hatte. Eine ebenso verständliche wie unsinnige Frage. Die Antwort muss wirr, widersprüchlich und fragwürdig erscheinen – denn so erlebt er das auch.

Alles wegen des Mords, dachte ich. Er war es, er will mich töten, sich an mir rächen. Er lässt mich nicht in Ruhe, nie mehr. Er will, dass ich leide. Das hält ihn am Leben.

Am Leben? So ein Unsinn! Er war ja tot.

Warum hatte ich keinen Krankenwagen geholt? Aber er war doch schon tot. Sicher? Es gibt Menschen die überleben schwerste Verletzungen, wenn man ihnen sofort hilft. Scheisse!

Wasser, ich brauchte Wasser.

Mühsam stand ich auf, die Glieder schmerzten wie bei einer schweren Erkältung. Ich schleppte mich ins Bad und beugte mich vor, um zu trinken. Dass ich kein Glas benutz­te, war eine meiner hässlichen Angewohnheiten, die mir auch meine Exfreundin nicht hatte austreiben kön­nen.

Ich wusch mir mein Gesicht, wagte aber nicht, in den Spiegel zu schauen. Ob das wieder normal würde, ob ich irgendwann wieder in den Spiegel würde sehen können?

Ich sah bestimmt scheusslich aus. Seit Wochen musste ich mich zum Essen zwingen und hatte doch nichts Anständiges zu mir genommen. Das Schlafengehen war ebenfalls zu einer Mutprobe geworden, jedes Mal warteten schon die Verfolger auf der anderen Seite.

Vor allen anderen er. Er liess nicht locker. Sein Bild erschien mir auch schon im Wachzustand. Er stand kerzengerade vor meinem geistigen Auge und schaute mich still und vorwurfsvoll an. Ich fühlte mich festgenagelt, und mein Körper zog sich zusammen, bis mich jeder Atemzug schmerzte. Mit jedem Atemzug sog ich einen Teil von ihm ein, bis ich ihn ganz aufgesogen hatte und die Erscheinung verschwand. Danach ein kurzer Schüttelfrost, übrig blieb ein mulmiges Gefühl, das mich die nächste Zeit begleitete.

Wie gerne hätte ich mit meinem Opfer getauscht. Es gab nichts Schrecklicheres mehr für mich als mein Gewissen, es quälte mich, warf mich von einem Gefühl ins andere. Bald sah ich nur noch einen Ausweg. Bloss: Wie es anstellen? Mich erschiessen? Aus dem Fenster springen? Mich vor einen Zug werfen? Das schien mir alles zu feige. Ich musste sterben wie mein Opfer, ich musste mich erstechen.

Entschlossen wankte ich in die Küche, nahm ein langes Küchenmesser und setzte es mir an den Hals. Ich versuchte zuzudrücken, aber die Kraft wich aus meinem Arm. Ich packte mit der zweiten Hand an und drückte die Klinge in die Haut. Dann fuhr ich mit einem Ruck durch das Fleisch.

Ein lächerlicher Kratzer war das Ergebnis, einer mehr neben den anderen, die ich mir in den letzten Tagen bereits zugefügt hatte. Dann versuchte ich, mir das Messer in den Bauch zu rammen, die ganze Szene war schon fast zu einer Art Ritual geworden, innerlich hatte ich den Selbstmord längst aufgegeben.

Heulend fiel ich auf die Knie und stach mir dabei aus Versehen in den Oberschenkel. Verzweifelt schleuderte ich das Messer in eine Ecke. Ich krümmte mich und schlug mehrmals mit dem Kopf gegen den Boden. Dieselbe Frage quälte mich immer und immer wieder: Wieso? Wieso? Wieso?

Ich krallte die Finger ins Gesicht und schrie laut auf, wenigstens erschien mir mein Schrei lange und unmenschlich, bis ich nur noch stossweise die letzte Luft aus der Lunge keuchte. Ich wollte den ganzen heissen Gestank von mir loswerden. Kurz vor dem erneuten Luftholen sog mich eine Leere von innen her auf, und ich wurde ohnmächtig.

Als ich wieder zu mir kam, blieb ich kraftlos liegen. Langsam drehte ich mich auf die Seite und zog mit Hilfe der Arme meine Knie ans Kinn. So lag ich stundenlang da, meine Gedanken stürmten wirr durcheinander und brach­ten nichts Klares hervor. Es rauschte und flimmerte alles um mich herum. Erst als die Sonne durch das Fenster direkt auf mich schien, kamen meine Kräfte langsam zurück.

Vorsichtig setzte ich mich in Bewegung. Ich stützte meine Hände auf dem Boden auf, dann zog ich mich zitternd am Tisch empor, bis ich meinen Oberkörper vornüber auf die Tischplatte legen und mich dann mit einer leichten Drehung in den Stuhl fallen lassen konnte. So ruhte ich eine Weile aus, bis ich die Kraft fand, um aufzustehen. Schliesslich schaffte ich es zum Wasserhahn. Das kalte Wasser befreite mich aus meinem Loch.

Jetzt durfte ich bereits daran denken, was als Nächstes zu tun war. Ich musste wieder mal was Richtiges essen. Ein Blick in den Kühlschrank war überflüssig, ich beschloss, mich anzuziehen und im Imbiss gegenüber etwas zu verdrücken.

Die frische Luft erfüllte mich mit neuem Leben. Fast fröhlich überquerte ich die Strasse und trat an die Theke, dann setzte ich mich mit einem Hotdog in einen der Plastikstühle. Einige schauten mich merkwürdig an, aber das war im Augenblick unwichtig, ich biss frohgemut zu. Erst als es ans Schlucken ging, war mein Appetit mit einem Schlag vorbei. Der Bissen fühlte sich im Magen wie ein klebriger Fremdkörper an. Mir wurde übel, mein Magen verkrampfte sich, und ich erbrach mich über den Tisch und vor die Füsse eines wenig anmutig wirkenden Bauarbeiters. Mit einer hastigen Bewegung als eine Art Entschuldigung erhob ich mich und räumte das Feld, den Hotdog hatte ich zu Boden fallen lassen.

Wieder hatte ich nichts gegessen. Mit weichen Knien wankte ich durch die Strassen, in denen sich die Sommerhitze staute. Wieder verlor ich mich in wilden Gedanken, mein Gesicht zuckte nervös.

Dann sah ich die Schlagzeile: Todesmetzger gefasst! Darunter war das schlecht unkenntlich gemachte Porträt eines Mannes zu sehen, das fast die ganze Titelseite füllte. Mit vorgeschobenem Kopf ging ich ungläubig hin. Der Bericht zum Bild befand sich erst auf den nachfolgenden ­Seiten, also verlangte ich von der Verkäuferin die Zeitung, schlug sie auf und hastete durch die Sätze, die Verkäuferin musste mit Nachdruck das Geld verlangen, ich warf ihr etwas hin, nicht genug, noch etwas, so sehr war ich in den Text vertieft.

Sie hatten ihn geschnappt! Aber wen denn eigentlich? Ich war ja der Gesuchte! Wen konnten sie da eingesperrt haben? Dringender Tatverdacht … noch nicht geständig … kein Alibi … ist das Motiv Geld? … Fast war ich selber von der Schuld des Verhafteten überzeugt. Wie konnten sie einen Unschuldigen unter dringendem Tatverdacht in­haftieren? Egal, endlich konnte ich mich entspannen.

Durfte ich das?

Die Suche würde jetzt sicherlich nicht mehr so intensiv weitergeführt werden. Ich hatte es geschafft. Mit einem tiefen Aufatmen lehnte ich mich an den Kiosk und liess die Arme mit der Zeitung sinken. Eine Polizeisirene schreckte mich auf, aber im nächsten Moment fasste ich mich. Ich konnte ja beruhigt sein.

Seit der Tat hatte mich jede Sirene in Alarmbereitschaft versetzt, obwohl ich wusste, dass ich keinerlei Spuren oder Anhaltspunkte hinterlassen hatte, durch die sie auf mich hätten kommen können. Jetzt war dies alles auf einen Schlag vorbei. Ich konnte mir zwar noch immer nicht erklären, wie ein Unschuldiger unter dringendem Tatverdacht stehen konnte, aber das kümmerte mich nun herzlich wenig. Hauptsache, ich hatte meine Ruhe und konnte einen Neuanfang planen.

Ich stiess mich vom Kiosk ab und schlenderte durch die Stadt. Mehrmals hatte ich mir durch einen Blick in die Zeitung Genugtuung verschafft. Schliesslich warf ich sie in hohem Bogen über eine Mauer. Ich hatte mich von der Echtheit überzeugt. Zum ersten Mal wagte ich wieder über die nächsten fünf Minuten hinauszudenken.

Zuerst, überlegte ich, musste ich einen Job finden. Egal was, nur nicht wieder irgendein Experiment als Selbständiger. Aber vor allem musste ich dringend etwas essen. Ich setzte mich ins nächste Restaurant und bestellte ein sattes Mahl. Der hohe Preis störte mich nicht im Geringsten, er spornte mich eher zu einem doppelten Appetit an.

Mit dem letzten Bissen lehnte ich mich zurück und bestellte mir einen guten Wein. Jetzt interessierte ich mich auch wieder für die Menschen um mich herum. Meine Gedanken beruhigten, mein Gesicht entspannte sich.

Sie hatten also den Falschen geschnappt, und ich, der Mörder, sass gemütlich in einem Wirtshaus und schlug sich den Wanst voll. Da soll einer die Welt verstehen.

Als ich nach dem dritten Glas Wein eine wohlige Wär­me meinen Körper durchströmen fühlte, beschloss ich, nach Hause zu gehen. Voller Elan machte ich mich auf den Weg, aber plötzlich wurde ich müde, die Müdigkeit wurde immer grösser, und die letzten Treppenstufen schienen mir einen halben Meter hoch zu sein. Eine Weile versuchte ich, die Tür aufzuschliessen, bis ich merkte, dass ich sie mittags gar nicht abgeschlossen hatte. In der Wohnung erbrach ich mein üppiges Mahl, liess mich ins Bett fallen und versank mit einem angenehmen Kribbeln in den Gliedern in einen tiefen Schlaf.

2

Am nächsten Tag wollte ich raus, irgendwohin. Auf dem letzten Treppenabsatz fiel mir ein, dass ich erneut die Woh­nungstür zu schliessen vergessen hatte, aber es war mir egal. Ich setzte mich zuhinterst in einen Bus und überliess mich meinen sprunghaften Gedanken.

Dann spürte ich zwei Augen auf mir. Schräg gegenüber sass eine junge Frau, ungefähr in meinem Alter. Ich blickte sie direkt an. Sie schaute zunächst erfreut zurück. Ich verstand nicht wieso, aber dies löste in mir einen unbändigen Zorn aus, den ich sie spüren lassen wollte.

Ich starrte sie mit aller Kraft an und genoss die aufsteigende Beklommenheit in ihren Augen. Verlegen wich sie meinem Blick aus, ich aber liess nicht locker und starrte nur umso intensiver auf sie. Sie bemerkte es, wich weiterem Blickkontakt aus, lachte vor lauter Unsicherheit einmal stumm auf. Ich starrte und starrte, unbarmherzig drückte ich sie mit meinen Augen in den Sessel, liess sie nicht mehr los, selbst das Atmen fiel ihr schwer, die Angst schien ihr die Kehle zuzuschnüren, und sie schien nicht aufstehen zu können. Ihre Augen suchten verzweifelt nach einem Ausweg, während ich sie immer eindringlicher durchbohrte, ich hatte bemerkt, dass sie schon hätte aussteigen müssen, aber sie fürchtete wohl, ich würde ihr folgen. Immer wieder streifte sie mich mit einem flüch­tigen Blick, um zu sehen, ob ich noch schaute.

Ich wollte sie meine Macht spüren lassen. Ich bin ein Mörder. Ich habe Macht und brauche mich vor niemandem zu fürchten. Ich kann machen, was ich will.

Da drängten sich mehrere Personen zwischen mich und mein Opfer, sie sah ihre Chance gekommen, stand schnell auf und zwängte sich aus dem Bus.

An der Endstation stieg ich aus. Ich blickte mich um, wusste nicht, was ich hier wollte und stieg in den nächsten Bus zurück. Ich dachte an die verängstigte junge Frau. Plötzlich überkam mich Scham, die Röte stieg mir ins Gesicht, mir wurde bang und heiss. Wie hatte ich nur so brutal sein können! Wie hatte mich die Gewalt derart übermannt? Zum ersten Mal in meinem Leben ängstigte mich die Vorstellung, gefährlich zu sein, wirklich gefährlich.

Dann tat ich das Ganze wieder ab. Der jungen Frau war ja nichts passiert, sie war am Leben und konnte sich von ihrer Begegnung erholen.

Aber genau das war der Punkt, sie musste sich von der Begegnung mit mir erholen. Ich hatte nicht einmal etwas Konkretes getan, es war nur eine oberflächliche Begegnung – und trotzdem. Was würde ich erst im engeren Kontakt anrichten?

In meinem Kopf begann es zu rauschen, ich hörte ­unverständliches Flüstern, dann wieder fernes Rauschen wie unter Wasser, immer neue, unbrauchbare Gedanken­fetzen schwirrten mir durch den Kopf, ich sah durch die Menschen hindurch, meine Gedanken verhedderten sich: Bänke, Mauern, Steine, Fenster, die ganze Wirklichkeit wurde zu einem Wirrsinn aus Nichts …

Während ich so abgeschnitten von der Umwelt dasass, stieg eine Frau mit einem Kleinkind im Arm ein. Ich sass erneut auf der hintersten Bank. Die Frau setzte sich mit dem Rücken zu mir, der Säugling blickte über ihre Schulter in meine Richtung. Obwohl ein Säuglingsblick meist von verschwommener Abgehobenheit zu sein scheint, fingen mich die Augen des Babys ein. Sie waren gleichsam mein rettender Notausgang zurück in die Realität. Ohne jeglichen Argwohn oder Vorwurf zogen sie mich zu sich. Die Gedanken in meinem Kopf wurden klar, alles Überflüssige fiel ab, und es kristallisierte sich ein trauriger Gedanke her­aus: Was wird wohl aus dir werden? Ich war auch einmal ein unschuldiges Kind wie du, sieh mich jetzt an … So reine Augen hatte ich früher auch, und jetzt wage ich nicht einmal, mich im Spiegel anzuschauen. Was wird mit der Welt sein, wenn du so alt bist wie ich, wird sie überhaupt noch existieren, wo wirst du dann stehen?

Das Kind schaute mich weiterhin an. Seine Augen antworteten mir: Mach dir keine Sorgen, es wird alles gut.

Ich fing zu weinen an, still und in mich hinein, in einer Welt, in der es nur mich und diese tröstenden Kin­­deraugen gab und meine Tat, die mein Herz erdrückte. Ich fühlte eine warme, tragende Reue aufsteigen, die meinen Körper leicht machte. Einige Augenblicke setzte meine At­mung aus, mein Herz stand still, ich existierte nur noch im Innern des Kindes, so sehr wünschte ich, mit diesem Kind zu tauschen, mein Leben noch einmal zu beginnen, es diesmal richtig zu machen.

Ich fühlte mich zutiefst einsam. Wie froh wäre ich gewesen, ein Arschloch zu sein, alles, nur kein Mörder. Ein Arschloch findet vielleicht jemanden, der ihn mag oder gar liebt, aber ich … ich fühlte mich von der Gesellschaft abgeschnitten.

So plötzlich, wie die Vision über mich gekommen war, verschwand sie wieder. Die Frau war aufgestanden und ausgestiegen.

Es hat ja gar nicht mit mir gesprochen, es hat mich womöglich gar nicht richtig sehen können, da das Sehver­mögen von Kleinkindern noch nicht richtig ausgereift ist, wie die Früchte und Früchtchen, auch die müssen reifen, oder waren es Frettchen im Bettchen, alles, was sich reimt, ist gut, müde Leute sollen ins Bett, schlafen gehen, aber es ist erst Mittag, jedenfalls hell, ein Mittagsschlaf senkt das Krebsrisiko, und man lebt länger, im Schlaf wächst man, und das braucht man zum Reifen, Reifen oder Pneu, sagen sie heute, morgen eventualisieren sie es bestimmt wieder und dann noch einmal, wer weiss … Vielleicht war ja doch alles nur ein Traum …?

Schon wieder! Du Idiot, bekloppter, es ist kein Traum, es ist … kein Traum!, entfuhr es mir unwillkürlich laut, und während ich mich duckte, schnellten meine Augen nervös von einer Person zur anderen, dann stieg ich aus, machte mich auf den Weg nach Hause.

Dann überkam mich die Lust, mein Lieblingsplätzchen, eine Bank im Park, aufzusuchen, die ganz in der Nähe war … oder war die Bank aus meinem Albtraum und gar nicht wirklich?

Es war schon dunkel geworden, plötzlich sah ich mich von vier Gestalten umringt. Ich konnte sie nicht richtig er­kennen, sie waren dunkel angezogen, Teenager, noch nicht zwanzig, in meinem Alter ungefähr.

Einer von ihnen trat einen halben Schritt vor, ich sah ein Messer in seiner Hand. Eine gewollt feste Stimme forderte Geld von mir.

Dem Messer zum Trotz blieb ich die Ruhe selbst und sagte lapidar, für sie hätte ich keines, sie sollten jemand an­deren fragen.

Nun schrie die Stimme, was heisse hier fragen, ob ich das Messer nicht sähe, ob ich einen Kaiserschnitt wolle und dergleichen mehr. Ich staunte selber über meine eiskalte Ruhe, aber ich war an einem Punkt angelangt, an dem mir alles egal war. Ich trat einen Schritt vor, sodass ich die Messerspitze deutlich an meinem Bauch spürte, sah dem Angreifer fest in die Augen und warnte mit ruhiger Stimme, sie seien nur zu viert. Ich warf auf die anderen drei ei­nen kurzen Blick, sie waren alle auf Armlänge herangerückt. Dann sah ich wieder den Messerträger an, trat noch einen Schritt vor und stiess dabei mit meinem Bauch das Messer zurück. Als der Messerträger merkte, wie sein Arm dem Druck nachgab, war es auch um den letzten Rest Mut geschehen, und er wandte sich mit einem Ruck um und stürmte, von seinen Mitstreitern gefolgt, davon.

Ich blickte in die dunkle Gasse. Plötzlich wurde mir mulmig, und ich lief los, seltsam berauscht eilte ich nach Hause. Es war das Gefühl von Angst, das mir abhanden ge­kommen war. Und schockartig realisierte ich die Dummheit meiner Handlung.

3

Als ich aufwachte, war es schon wieder dunkel. Die Lichter vorbeifahrender Autos zuckten durch das Zimmer. Ich fühlte mich vollkommen frisch. Die Schwäche war vorbei, und ich spürte wieder grossen Hunger. Sofort sprang ich aus dem Bett und rauschte, mit unbändiger Energie geladen, ins Bad. Nun war ich mit meinem Spiegelbild schon viel zufriedener. Ich zwinkerte mir zu, riss mir die Kleider vom Leib und trat unter die Dusche. Das alte Leben verschwand im Ablauf. Den Kratzern am Hals half ich mit dicker Schminke ab.

Adrett gekleidet ging ich in die Nacht hinaus, stieg in den Bus und fuhr ins Zentrum. Die Menschen schienen mir jetzt alle zugetan. Es entspann sich sogar das erste ­Ge­spräch seit Langem mit einem hübschen Mädchen. Ich packte die Gelegenheit und lud sie zum Abendessen ein. An einem anderen Tag hätte ich sicherlich keinen Erfolg gehabt, aber jetzt konnte sie mir nicht widerstehen. Nach anfänglichem Zaudern überzeugte ich sie mit einem tiefen Blick in ihre Augen und einem unschuldigen Lächeln. So verbrachten wir einen schönen Abend. Ich begleitete sie nach Hause und wurde mit einem flüchtigen Kuss belohnt.