Patchett, Ann Die Taufe

PIPER

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Mike Glasscock

 

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Ulrike Thiesmeyer

 

ISBN 978-3-8270-7939-8

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Commonwealth bei Bloomsbury Publishing Plc, London

© Ann Patchett 2016

Für die deutsche Ausgabe

© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: plainpicture / Cultura / Daniel Allan

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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1

Die Taufe nahm eine unvermutete Wendung, als Albert Cousins mit einer Flasche Gin auftauchte. Fix öffnete lächelnd die Tür und lächelte weiter, während er ein wenig verdutzt den Neuankömmling musterte: Es war Albert Cousins von der Bezirksstaatsanwaltschaft, der da vor ihm auf der Betonveranda stand. In der letzten halben Stunde hatte er zwanzigmal die Tür geöffnet – Nachbarn und Freunden und Leuten aus der Kirchengemeinde und Beverleys Schwester und all seinen Brüdern und ihren Eltern und praktisch sämtlichen Kollegen aus der Polizeiwache –, doch Cousins war der erste Überraschungsgast. Zwei Wochen zuvor hatte Fix seiner Frau die Frage gestellt, wieso sie jeden einzelnen Menschen, den sie auf der Welt kannten, zu einer Tauffeier einladen müssten, worauf sie zurückgefragt hatte, ob er einen Blick auf die Gästeliste werfen und ihr sagen wolle, wen sie streichen sollte. Er war nicht auf ihr Angebot eingegangen, aber wäre sie jetzt hier gewesen, hätte er auf Cousins gedeutet und gesagt: ihn. Nicht, weil er Albert Cousins nicht gemocht hätte, er kannte ihn nicht weiter, bloß vom Namen her, mit dem er ein Gesicht verbinden konnte. Aber eben weil er ihn nicht kannte, hätte er ihn nicht eingeladen. Fix kam der Gedanke, dass Cousins vielleicht vorbeigekommen war, um mit ihm über einen Fall zu reden; so etwas war zwar noch nie vorgekommen, aber was gab es sonst für eine Erklärung? Der Vorgarten war voller Leute, wobei Fix keine Ahnung hatte, ob diese Gäste eben erst mit Verspätung eingetroffen waren, schon wieder gehen wollten oder sich einfach nur im Freien aufhielten, weil das Haus so gerammelt voll war, dass ein Brandschutzinspektor ernsthafte Bedenken angemeldet hätte. Cousins allerdings, da war er sich sicher, war ungeladen erschienen, ganz allein, mit einer Flasche in einer Tüte.

»Fix«, sagte Albert Cousins. Der großgewachsene stellvertretende Bezirksstaatsanwalt in Schlips und Kragen streckte ihm die Hand entgegen.

»Al«, erwiderte Fix. (Wurde er Al genannt?) »Freut mich, dass Sie es einrichten konnten.« Er schüttelte ihm zweimal kräftig die Hand, ehe er sie wieder losließ.

»Gerade noch geschafft.« Cousins blickte auf die Gästeschar im Haus, etwas zweifelnd, als wäre für ihn womöglich kein Platz mehr. Die Feier, das war nicht zu übersehen, hatte ihren Höhepunkt bereits überschritten – die kleinen, dreieckigen Sandwiches waren größtenteils schon verzehrt, ebenso die Hälfte der Kekse. Die Tischdecke unter der Schüssel mit Bowle war feucht und rosarot verfärbt.

Fix trat beiseite, um ihn einzulassen. »Aber nun sind Sie ja da.«

»Das wollte ich doch nicht verpassen.« Dabei hatte er es verpasst: Bei der eigentlichen Taufe war er schließlich nicht gewesen.

Dick Spencer war der einzige Bezirksstaatsanwalt, den Fix eingeladen hatte. Dick war früher selbst Polizist gewesen, er hatte sich per Abendstudium fortgebildet und war zum Juristen aufgestiegen, ohne den alten Kollegen gegenüber je hochnäsig aufzutreten. Ob Dick nun Streife fuhr oder vor einem Richter stand, er blieb immer der Alte. Cousins dagegen war ein Jurist wie all die anderen – die Bezirksstaatsanwälte, die Pflichtverteidiger, die mandatierten Anwälte; sie alle waren recht freundlich, wenn sie etwas von einem wollten, kamen aber eher selten auf die Idee, einen auf einen Drink einzuladen. Und wenn, dann machten sie das nur, um den betreffenden Cop auszuhorchen, weil sie den Verdacht hatten, er verschweige ihnen irgendetwas. Staatsanwälte, das waren die Typen, die einem die Zigaretten wegqualmten, weil sie eigentlich mit Rauchen aufhören wollten. Die Polizisten, die sich im Wohn- und Esszimmer drängten und bis in den Garten hinter dem Haus standen, unter der Wäscheleine und den beiden Orangenbäumen, hatten nicht die Absicht, mit Rauchen aufzuhören. Sie tranken mit Limonade vermischten Eistee und qualmten wie die Schlote.

Albert Cousins händigte seine Tüte aus, die, wie Fix mit einem kurzen Blick feststellte, eine Flasche Gin enthielt, und zwar eine große. Andere Leute hatten Gebetskarten mitgebracht, Rosenkranzperlen aus schimmerndem Perlmutt oder eine kleine, in weißes Ziegenleder gebundene Taschenbibel mit Goldschnitt. Fünf der Jungs, oder ihre Frauen, hatten zusammengelegt und eine Halskette mit einem Kreuzanhänger besorgt, blau emailliert und mit einer winzigen Perle in der Mitte, sehr hübsch, etwas für später.

»Haben Sie dann jetzt einen Jungen und ein Mädchen?«

»Zwei Mädchen.«

Cousins zuckte mit den Schultern. »Was soll man machen?«

»Da kann man nix machen«, erwiderte Fix und schloss die Haustür. Beverley hatte ihm gesagt, er solle sie offen lassen, damit frische Luft hereinkam, was nur bewies, dass sie keine Ahnung hatte, was die Menschen einander antaten. Egal wie viele Gäste da waren – man ließ die gottverdammte Haustür nicht offen stehen, Punkt.

Beverley lehnte sich aus der Küchentür. Es standen locker dreißig Leute zwischen ihnen – der vollzählige Meloy-Clan, alle DeMatteos, eine Handvoll Messdiener, die sich gerade durch den Rest der Kekse futterten –, doch Beverley war nicht zu übersehen. Dieses gelbe Kleid.

»Fix?«, sagte sie mit etwas erhobener Stimme, um gegen den Lärm anzukommen.

Es war Cousins, der sich als Erster umsah. Cousins, der ihr zunickte.

Fix straffte sich unwillkürlich, ließ die Sache dann aber unkommentiert. »Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause«, sagte er zu dem stellvertretenden Bezirksstaatsanwalt und deutete auf ein Grüppchen Detectives an der Terrassentür, alle noch korrekt im Sakko. »Sie kennen hier jede Menge Leute.« Was zutreffen mochte oder auch nicht. Den Gastgeber jedenfalls kannte Cousins nicht, das stand mal fest. Fix machte sich auf den Weg in die Küche, und die dicht gedrängte Menge teilte sich für ihn, man berührte ihn an der Schulter, schüttelte ihm die Hand und beglückwünschte ihn. Er gab acht, dass er auf keins der Kinder trat, darunter seine vierjährige Tochter Caroline, die auf dem Boden des Esszimmers spielten, wie kleine Tiger auf allen vieren zwischen den Beinen der Erwachsenen herumkrochen.

Die Küche war voller Ehefrauen, die alle lachten und zu laut durcheinanderredeten; Lois von nebenan war die Einzige, die sich nützlich machte, sie holte gerade Schüsseln aus dem Kühlschrank. Wallis, Beverleys beste Freundin, nutzte eine Seite des chromblinkenden Toasters dazu, sich die Lippen rot nachzuziehen. Wallis war zu mager und zu braungebrannt, und als sie sich wieder aufrichtete, trug sie zu viel Lippenstift. Beverleys Mutter saß mit dem Baby auf dem Schoß am Frühstückstisch. Sie hatten die Kleine umgezogen, statt des Taufkleidchens aus Spitze trug sie nun ein weißes Kleid aus gestärkter Baumwolle, rings um den Ausschnitt mit gelben Blümchen bestickt, als wäre sie eine frischvermählte Braut, die am Ende der Hochzeitsfeier in das Kleid geschlüpft war, in dem sie nun in ihr neues Leben aufbrechen würde. Die Frauen in der Küche machten viel Aufhebens um sie, bemühten sich abwechselnd, sie zum Lächeln zu bringen, als wäre es ihre Aufgabe, sie bis zur Ankunft der drei Weisen aus dem Morgenland bei Laune zu halten. Ohne viel Erfolg allerdings, die Kleine blickte mit ihren blauen Augen, die wie glasig überzogen wirkten, vor sich ins Leere, als hätte sie das alles herzlich satt. Der ganze Trubel, um Sandwiches zu machen und Geschenke für ein Mädchen in Empfang zu nehmen, das noch kein Jahr alt war.

»Seht doch nur, wie hübsch sie ist«, sagte seine Schwiegermutter zu niemand Bestimmtem, während sie mit dem Finger sanft über die runde Babywange strich.

»Eis«, sagte Beverley zu ihrem Mann. »Wir haben kein Eis mehr.«

»Darum sollte sich doch deine Schwester kümmern«, sagte Fix.

»Dann hat sie’s vermasselt. Kannst du einen der Jungs losschicken, um welches zu besorgen? Es ist zu warm, wir brauchen Eis für die Getränke.« Sie hatte eine Schürze umgehängt, sie aber nicht um die Taille gebunden, wohl um ihr Kleid nicht zu zerknittern. Aus der Bananenfrisur, zu der sie ihr blondes Haar hochgesteckt hatte, hatten sich einige Strähnen gelöst, die ihr in die Augen hingen.

»Wenn sie schon kein Eis mitgebracht hat, könnte sie euch wenigstens hier helfen, Sandwiches zu machen.« Bei diesen Worten blickte Fix Wallis direkt an, die diesen Wink jedoch ungerührt an sich abprallen ließ, während sie ihren Lippenstift verschloss. ER hatte Beverley nur unterstützen wollen, weil sie eindeutig alle Hände voll zu tun hatte. Dabei wirkte sie eher wie die Sorte Frau, die für so eine Feier einen Partyservice beauftragte. Die auf der Couch saß, während andere Leute mit Speisen- und Getränketabletts herumgingen.

»Bonnie ist doch selig, dass hier heute so viele Cops sind«, gab Beverley zurück, während sie Brotscheiben mit Käse und Gurken belegte. »Da kann man nicht von ihr erwarten, sich mit Sandwiches abzugeben.« Dann hielt sie kurz inne und blickte auf die Tüte in seiner Hand. »Was ist da drin?«

Fix hielt den Gin in die Höhe, und seine sichtlich überraschte Frau schenkte ihm das erste Lächeln an diesem Tag. Vielleicht sogar das erste Lächeln der Woche.

»Wenn du jemanden zum Laden schickst«, schaltete sich Wallis ein, deren Interesse mit einem Mal erwacht schien, »sag ihm doch, er soll gleich auch Tonic mitbringen.«

 

Fix sagte, er würde das Eis selbst besorgen. Ein Stück die Straße hoch gab es einen Supermarkt, und er hatte nichts dagegen, kurz aus dem Haus zu kommen. Die relative Stille in der Siedlung, die ordentlichen Bungalows mit den üppigen Rasenflächen davor, die schlanken Schatten der Palmen und der Duft der Orangenblüten, all das hatte, im Zusammenspiel mit der Zigarette, die er unterwegs rauchte, eine beruhigende Wirkung auf ihn. Sein Bruder Tom begleitete ihn, und sie schwiegen einträchtig, während sie zusammen die Straße entlanggingen. Tom und Betty hatten inzwischen drei Kinder, lauter Mädchen, und wohnten in Escondido, wo er bei der Feuerwehr arbeitete. Fix wurde allmählich klar, dass es im Leben nun einmal so lief, wenn man älter wurde und die Kinder kamen, hatte man weniger Zeit für die Angehörigen als gedacht. Das letzte Mal hatten er und sein Bruder sich an Heiligabend bei ihren Eltern gesehen, als sie alle gemeinsam zur Messe gegangen waren, und davor vermutlich bei Erins Taufe in Escondido. Ein rotes Cabriolet fuhr vorbei, ein Sunbeam Alpine, und Tom sagte: »So einen.« Fix nickte und bedauerte im Stillen, den Wagen nicht als Erster gesehen zu haben. Nun musste er warten, bis etwas vorbeikam, das er sich wünschen konnte. Im Supermarkt kauften sie vier Beutel Eis und vier Flaschen Tonicwater. Der Junge an der Kasse erkundigte sich, ob sie auch Limetten benötigten, und Fix schüttelte den Kopf. Es war Juni in Los Angeles. Da wollte man Limetten nicht einmal geschenkt haben.

Fix hatte nicht auf die Uhr gesehen, als Tom und er sich auf den Weg gemacht hatten, aber wie die meisten Polizisten hatte er ein gutes Zeitgefühl. Sie waren zwanzig Minuten fort gewesen, fünfundzwanzig Minuten, wenn’s hochkam. Jedenfalls nicht lange genug, dass sich alles hätte verändern können. Doch bei ihrer Rückkehr stand die Haustür offen, und es war niemand mehr im Vorgarten. Tom fiel der Unterschied gar nicht auf, aber er war ja auch Feuerwehrmann – solange er keinen Rauch roch, war für ihn die Welt in Ordnung. Es waren noch immer viele Leute im Haus, aber es war nun merklich ruhiger. Vor Beginn der Feier hatte Fix das Radio angeschaltet, und zum ersten Mal konnte er nun auch ein paar Takte Musik hören. Die Kinder krabbelten nicht mehr im Esszimmer umher, sie waren spurlos verschwunden, wovon aber niemand Notiz zu nehmen schien. Aller Aufmerksamkeit war auf die offene Küchentür gerichtet, die auch das Ziel der beiden Gebrüder Keating mit dem Eis war. Lomer, Fix’ Partner bei der Arbeit, erwartete sie schon, er deutete mit dem Kopf auf die versammelte Menge und begrüßte sie mit den Worten: »Ihr kommt genau rechtzeitig.«

In der Küche, die schon bei ihrem Aufbruch voll gewesen war, drängten sich mittlerweile dreimal mehr Leute, mehrheitlich Männer. Beverleys Mutter und das Baby waren verschwunden. Beverley stand an der Spüle und halbierte mit dem Fleischermesser Orangen wie am Fließband, die sie von einem großen Haufen auf dem Tresen nahm, während die beiden Staatsanwälte von der Bezirksstaatsanwaltschaft L. A. County, Dick Spencer und Albert Cousins, beide inzwischen in Hemdsärmeln, die Orangenhälften auf Zitruspressen aus Metall auspressten. Sie waren hochrot, der Schweiß stand ihnen auf der Stirn, auf ihren geöffneten Hemdkragen waren erste feuchte, dunkle Flecken zu erkennen, während sie schufteten, als hinge die Sicherheit der Stadt davon ab, dass sie ausreichend Orangensaft auspressten.

Beverleys Schwester Bonnie, die sich nun offenbar gern nützlich machte, pflückte Dick Spencer die beschlagene Brille von der Nase und wischte sie mit einem Geschirrtuch trocken, obwohl Dick irgendwo im Gewühl der Gäste eine tüchtige Gattin dabeihatte. Mit seiner frisch gewonnenen Klarsicht entdeckte er Fix und Tom und rief: »Her mit dem Eis!«

»Eis!«, schrie Bonnie begeistert, denn es stimmte schon, es war brütend heiß, und Eis klang besser als alles andere. Sie ließ das Geschirrtuch aus der Hand fallen, um Tom seine beiden Beutel abzunehmen und in die Spüle zu stellen, mitten auf die säuberlich ausgepressten Orangenschalen. Dann nahm sie auch Fix die Beutel ab. Für das Eis war sie zuständig.

Beverley legte das Messer weg. »Perfektes Timing.« Mit diesen Worten steckte sie einen Pappbecher in den offenen Beutel und schöpfte drei bescheidene Würfel heraus, als wolle sie das Eis lieber gut einteilen. Sie goss einen kleinen Drink ein – halb Gin, halb Orangensaft aus der vollen Kanne. Dann noch einen und noch einen und immer so weiter, während die Becher durch die Küche und zur Tür hinaus durchgereicht wurden, an die Gäste, die draußen im Esszimmer warteten.

»Ich habe auch Tonicwater besorgt«, sagte Fix und blickte auf die Tüte hinab, die er noch in der Hand hielt. Womit er vor allem gegen den Eindruck protestierte, dass man ihn und seinen Bruder in ihrer Abwesenheit, während sie beim Supermarkt waren, irgendwie ausgebootet hatte.

»Orangensaft ist besser«, erklärte Albert Cousins und legte kurz eine Pause ein, um den Drink hinunterzustürzen, den Bonnie ihm gemixt hatte. Bonnie, die gerade noch für Polizisten geschwärmt hatte, hatte ihre Gunst anscheinend auf die beiden Staatsanwälte verlagert.

»Ja, für Wodka«, entgegnete Fix. Screwdriver. Wodka-Orange. Das wusste jeder.

Doch Cousins deutete nur wortlos mit dem Kopf auf ihn, den Ungläubigen, und da reichte Beverley ihrem Mann auch schon einen Drink. Fast so, als hätten sie und Cousins sich auf einen geheimen Code verständigt. Fix hielt den Becher umfasst, ohne zu trinken, und starrte den ungeladenen Gast an. Er hatte seine drei Brüder im Haus, zahlreiche kräftige Kollegen vom Los Angeles Police Department sowie einen Priester, der immer samstags ein Boxtraining für Jungen abhielt, die auf die schiefe Bahn zu geraten drohten; sie alle, da war er sich sicher, würden ihm beim Rauswurf eines einzelnen stellvertretenden Bezirksstaatsanwalts helfen.

»Prost«, sagte Beverley mit leiser Stimme, weniger ein Trinkspruch als eine Aufforderung, und Fix, der noch immer das Gefühl hatte, gegen etwas protestieren zu müssen, hob den Becher an die Lippen und trank.

 

Pater Joe Mike saß in dem schmalen Schattenstreifen an der Rückseite des Hauses, bequem an die Mauer gelehnt und mit angewinkelten Beinen. Den Becher mit Gin-Orangensaft ließ er vor sich auf dem Knie ruhen, das in eine schwarze Hose gehüllt war. Seine Priesterhose. Der Drink war sein vierter oder dritter, so genau wusste er das nicht mehr, und es bekümmerte ihn auch nicht übermäßig, da die Drinks nur sehr klein waren. Im Geist formulierte er eine Predigt für den kommenden Sonntag. Eine Predigt, in der er seiner Gemeinde, den wenigen Mitgliedern, die sich gerade nicht mit ihm im Garten der Keatings aufhielten, davon künden wollte, wie sich hier heute die wundersame Brotvermehrung gewissermaßen wiederholt hatte. Aber wie konnte er dabei den Alkohol aus der Geschichte wringen? Dass er Zeuge eines Wunders geworden war, glaubte er natürlich ebenso wenig wie die anderen Anwesenden, aber ihm war eine perfekte Erklärung dafür geliefert worden, wie jenes Wunder zu Christi Zeiten womöglich zustande gekommen war. Es war eine große Flasche Gin gewesen, die Albert Cousins zu der Feier mitgebracht hatte, gewiss, aber auf keinen Fall groß genug, um die über einhundert Gäste mit Drinks zu versorgen, fallweise sogar mehrfach, von denen nun einige ausgelassen tanzten, kaum einen Meter von ihm entfernt. Und auch wenn die Äste der beiden, nunmehr kahl gepflückten, Orangenbäume hier im Garten sich schwer unter der Last der Früchte gebogen hatten, sie hätten nie und nimmer genügend Saft ergeben, um den Durst der gesamten Festgesellschaft zu stillen. Orangensaft passte nach landläufiger Meinung nicht zu Gin, und außerdem, wer rechnete denn bei einer Taufe schon mit einer hochprozentigen Erfrischung? Niemand hätte es den Keatings verübelt, wenn sie den Gin einfach in ihre Hausbar gestellt hätten. Aber Fix Keating hatte die Flasche seiner Frau gegeben, und seine Frau, die ausgelaugt war von dem Stress, eine gelungene Feier auszurichten, brauchte einen Drink. Und wenn sie sich einen Drink genehmigte, dann waren bei Gott alle Gäste herzlich eingeladen, sich ebenfalls einen hinter die Binde zu kippen. In mancher Hinsicht handelte es sich hier um Beverley Keatings ureigenes Wunder. Albert Cousins, der Mann, dem der Gin zu verdanken war, hatte auch die Mischung mit Orangensaft angeregt. Jener Albert Cousins hatte bis vor etwa zwei Minuten neben Pater Joe Mike gesessen und ihm erzählt, dass er aus Virginia stamme und auch nach drei Jahren in Los Angeles noch immer ganz erschlagen von der Fülle von Zitrusfrüchten sei, die hier in den Bäumen hingen. Bert – er forderte den Priester auf, ihn Bert zu nennen – war mit tiefgefrorenem Konzentrat aufgewachsen, das in Kannen mit Wasser zu einem Getränk vermischt wurde, welches, aber das konnte er damals noch nicht ahnen, nicht das Geringste mit richtigem Orangensaft zu tun hatte. Heute tranken seine Kinder mit derselben Selbstverständlichkeit frischgepressten Orangensaft, mit der er einst als Junge Milch getrunken hatte. Sie pressten ihn aus den Früchten, die sie von den Bäumen in ihrem eigenen Garten pflückten. Im Unterarm seiner Frau, Teresa, waren schon ganz neue Muskeln zu erkennen, weil sie so oft von Hand Orangen auspresste, während die Kinder ihre Becher in die Höhe hielten und auf Nachschub warteten. Sie waren ganz versessen auf Orangensaft, erzählte Bert ihm. Sie tranken ihn morgens zu ihren Cornflakes, außerdem fror Teresa ihn in Tupperware-Formen zu Eis am Stiel ein, das sie den Kindern nachmittags als kleine Erfrischung für zwischendurch reichte, und abends tranken er und Teresa den Saft auf Eis, mit Wodka oder Bourbon oder Gin. Genau das schien kein Mensch zu begreifen – es kam nicht darauf an, womit man ihn mischte, worauf es ankam, war einzig der Saft selbst. »Das vergessen die Leute hier in Kalifornien gern«, sagte Albert. »Weil sie in der Hinsicht verwöhnt sind.«

»Stimmt«, räumte Pater Joe Mike ein, der selbst in Oceanside aufgewachsen war und im Stillen darüber staunte, mit welcher Begeisterung sich dieser Typ über Orangensaft ausließ.

Der Priester merkte, dass sich seine Gedanken auf Abwege verirrten, nicht unähnlich den Juden bei ihrer Wanderschaft durch die Wüste, und versuchte sich wieder auf seine Predigt zu konzentrieren: Beverley Keating warf also einen Blick in ihre nur spärlich bestückte Hausbar und nahm alles heraus, was sie dort vorfand – eine zu zwei Dritteln geleerte Flasche Gin, eine noch fast volle Flasche Wodka und eine Flasche Tequila, die Fix’ Bruder John ihnen vergangenen September aus Mexiko mitgebracht hatte und die noch verschlossen war, weil sie beide nicht recht wussten, was man mit Tequila machte. Sie kehrte mit den Flaschen in die Küche zurück, woraufhin beide Nachbarn von nebenan, die Nachbarn von gegenüber und drei der Leute, die unweit der Kirche wohnten, spontan angeboten hatten, bei sich zu Hause nachzusehen, was sie dort auf Lager hatten; und als diese Nachbarn zurückkehrten, brachten sie nicht bloß Flaschen mit, sondern auch Orangen. Bill und Susie kehrten mit einem Kopfkissenbezug voller Früchte zurück, die sie eilig bei sich im Garten gepflückt hatten. Da diese erste Fuhre, die sie der Feier spendeten, kaum ein Tropfen auf den heißen Stein war, erklärten sie sich umgehend bereit, noch drei weitere Kissenbezüge voll zu holen. Andere Gäste folgten ihrem Beispiel und liefen nach Hause, um beizusteuern, was die Orangenbäume in ihrem Garten und das Spirituosenregal in ihrer Speisekammer hergaben. Ihre Ausbeute brachten sie zu den Keatings, bis deren Küchentisch an eine gut sortierte Bar erinnerte und die Arbeitsfläche an einen Obstlieferwagen.

Bestand möglicherweise darin das wahre Wunder? Dass Jesus nicht etwa ein reich bestücktes Büfett aus Seinem heiligen Ärmel geschüttelt und alle eingeladen hatte, sich mit Ihm an Fisch und Broten gütlich zu tun, sondern dass die Menschen, die ihr Mittagsmahl in Ziegenlederbeuteln mitgebracht hatten, vielleicht ein wenig mehr, als sie für sich und ihre Familien benötigten, aber gewiss zu wenig, um damit die Massen zu sättigen, sich vom Beispiel ihres Lehrers und Seiner Jünger zu unerschrockener Freigiebigkeit hatten anregen lassen? Ähnlich, wie sich die Menschen bei dieser Tauffeier von der Freigiebigkeit Beverley Keatings hatten anregen lassen, oder vielleicht auch von ihrem Anblick in jenem gelben Kleid, mit ihrer hellblonden Hochsteckfrisur, die den Blick auf ihren glatten Nacken freigab, diesen Nacken, der so anmutig im hinteren Ausschnitt des gelben Kleides verschwand. Pater Joe Mike trank einen Schluck. Und hinterher sammelten die Jünger nicht weniger als zwölf Körbe voller Reste ein. Er sah sich um, musterte all die Becher, die auf den Tischen und Stühlen standen, teils auch auf der Erde, meist noch mit einem kleinen Getränkerest darin. Wie viel mochten sie wohl noch übrig haben, wenn sie alle Reste zusammenkippen würden? Pater Joe Mike schämte sich ein wenig dafür, nicht seinerseits ins Pfarrhaus geeilt zu sein, um ebenfalls etwas beizusteuern. Davon abgehalten hatte ihn der Gedanke, wie es auf seine Schäfchen wirken mochte, dass er als Priester bei sich daheim Gin hortete; darüber hatte er die Gelegenheit verpasst, sich ebenso selbstlos wie die anderen an dieser Gemeinschaftsanstrengung zu beteiligen.

Jemand tippte sacht von vorn an einen seiner Schuhe. Pater Joe Mike, der bisher versonnen in den Becher auf seinem Knie gestarrt hatte, blickte auf und sah Bonnie Keating vor sich stehen. Nein, das war nicht richtig. Es war ja ihre Schwester, die mit Fix Keating verheiratet war, sie hieß also anders, Bonnie Soundso. Bonnie Beverleys-Mädchenname.

»Hey, Pater.« Auch sie hielt so einen Becher in der Hand wie er, ganz lässig zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Bonnie«, sagte er, um einen Tonfall bemüht, der davon ablenkte, dass er gerade auf der Erde hockte und Gin trank. Wobei er nicht ganz sicher war, ob es sich noch um Gin handelte; es konnte ebenso gut Tequila sein.

»Ich wollte fragen, ob Sie vielleicht mit mir tanzen würden.«

Bonnie X trug ein Kleid mit blauem Blümchenmuster, das so kurz war, dass ein Priester ins Grübeln geraten konnte, wo er genau hinschauen sollte; wobei er ihr fairerweise zugutehalten musste, dass sie am Morgen beim Ankleiden wahrscheinlich nicht damit gerechnet hatte, später ins Blickfeld von Männern zu geraten, die vor ihr am Boden saßen. Er wollte etwas Onkelhaftes erwidern, dass er nicht tanze, weil er aus der Übung sei, aber dann wurde ihm klar, dass er nicht alt genug war, um ihr Onkel zu sein; oder ihr Vater, wie sie ihn auf Lateinisch genannt hatte. Also erwiderte er schlicht: »Nein. Das ist keine gute Idee.«

Bonnie X ließ sich nicht entmutigen. Sie ging vor ihm in die Hocke, fraglos in der Absicht, sich mit ihm auf eine Augenhöhe zu begeben, damit sie sich etwas vertraulicher unterhalten konnten, und ohne daran zu denken, dass dabei der ohnehin kurze Kleidersaum noch weiter hochrutschte. Ihre Unterhose war ebenfalls blau, passend zu den Blümchen.

»Das Problem ist, hier sind alle verheiratet, verstehen Sie«, sagte sie, ohne ihre Stimme nennenswert zu dämpfen. »Und ich hab zwar nichts dagegen, mit einem Typen zu tanzen, der schon verheiratet ist, weil Tanzen meiner Meinung nach weiter nichts zu bedeuten hat. Aber die sind alle mit ihren Frauen da.«

»Und die Frauen finden schon, dass Tanzen nicht ganz so harmlos ist.« Er achtete jetzt bewusst darauf, ihr direkt ins Gesicht zu sehen.

»Genau«, sagte sie bekümmert und strich sich das glatte, mahagonibraune Haar hinters Ohr.

In diesem Augenblick hatte Pater Joe Mike eine Art Offenbarung: dass Bonnie X Los Angeles verlassen oder zumindest ins Valley umziehen sollte, irgendwohin, wo niemand ihre ältere Schwester kannte. Denn unabhängig von ihrer Schwester betrachtet war Bonnie ein sehr hübsches Mädchen. Verglich man die beiden jedoch, ähnelte Bonnie eher einem Shetlandpony, das neben einem Rennpferd stand; aber ihm war blitzartig klar, dass ihm ohne Beverley das Wort »Pony« nie eingefallen wäre. Über Bonnies Schulter hinweg konnte er sehen, dass Beverley Keating gerade in der Auffahrt mit einem Polizisten tanzte, der nicht ihr Mann war, und dass der Polizist einen sehr glücklichen Eindruck machte.

»Ach, bitte.« Bonnies Tonfall schwankte zwischen Flehen und Quengeln. »Wir sind, glaube ich, die beiden Einzigen hier, die nicht verheiratet sind.«

»Falls es dir um Verfügbarkeit geht, bin ich wohl nicht der Richtige.«

»Ich möchte doch bloß tanzen.« Dabei legte sie ihm die Hand aufs Knie, das Knie, auf dem kein Becher stand.

Pater Joe Mike war hin- und hergerissen, zumal er sich eben erst gescholten hatte, weil ihm der Anschein von Wohlanständigkeit wichtiger gewesen war als wahre mitmenschliche Güte. Hätte er sich auch nur zwei Sekunden um den äußeren Anschein gesorgt, wenn ihn seine Gastgeberin um einen Tanz gebeten hätte? Wenn nun statt ihrer Schwester Beverley Keating vor ihm gehockt hätte, mit ihren weit auseinanderstehenden blauen Augen ebenso dicht vor ihm und mit hochgerutschtem Kleid, das ihm einen Blick auf die Farbe ihrer Unterwäsche gewährte – hier gebot er sich Einhalt, mit einem fast unmerklichen Kopfschütteln. Kein guter Gedanke. Er versuchte kurz, sein Denken wieder auf die Fische und Brotlaibe zu richten, und als er dabei scheiterte, hielt er den Zeigefinger in die Höhe. »Aber nur einen Tanz«, betonte er.

Bonnie X strahlte ihn an, so dankbar und voller Seligkeit, dass Pater Joe Mike sich fragte, ob er je zuvor einer lebenden Seele eine solche Freude bereitet hatte. Sie stellten ihre Becher am Boden ab und versuchten, sich gegenseitig auf die Beine zu helfen, was nicht ganz einfach war. Ehe sie beide aufrecht dastanden, taumelten sie sich auch schon in die Arme. Von dort war es für Bonnie nur mehr ein kleiner Schritt, die Hände in Joe Mikes Nacken zu verschränken und an ihm zu hängen wie die Stola, die er umzulegen pflegte, wenn er die Beichte abnahm. Er legte ihr unbeholfen die Hände links und rechts an die Taille, an genau jene schmale Stelle, wo er die Wölbung ihres Brustkorbs an den Daumen spüren konnte. Falls andere Gäste sie beim Tanzen beobachteten, bemerkte er davon jedenfalls nichts. Tatsächlich überkam ihn ein Gefühl, als wäre er unsichtbar, sicher verborgen vor den Augen der Welt von der geheimnisvollen Wolke von Lavendelduft, die vom Haar der Schwester Beverley Keatings aufstieg.

 

Tatsächlich hatte Bonnie, ehe sie Pater Joe Mike in die Pflicht nahm, bereits einen Tanz ergattert, der nur leider schon nach knapp der Hälfte vorbei war. Sie hatte den unermüdlichen Dick Spencer kurz von den Orangen losgeeist, mit dem Argument, dass er mal Pause machen sollte, weil gewerkschaftlich garantierte Rechte auch für Männer galten, die Orangen auspressten. Dick Spencer trug eine Hornbrille mit dicken Gläsern, mit der er sehr intelligent aussah, viel intelligenter als Fix’ Partner Lomer, der ihr stur die kalte Schulter zeigte, obwohl sie sich bereits zweimal lachend an ihn gelehnt hatte. (Dick Spencer sah nicht nur intelligent aus, er war es auch. Und außerdem so kurzsichtig, dass er bei den wenigen Gelegenheiten, als ihm bei Rangeleien mit Verdächtigen die Brille vom Gesicht flog, so blind gewesen war wie ein Maulwurf. Die unbehagliche Vorstellung, einmal an jemanden zu geraten, der beim Zweikampf womöglich ein Messer oder eine Pistole zückte, die er mangels Brille nicht sehen konnte, gab für ihn den Ausschlag, sich zunächst an der Abendschule einzuschreiben und danach Jura zu studieren, bis hin zum erfolgreichen Examen und der Zulassung als Rechtsanwalt.) Bonnie nahm Spencers saftklebrige Hand und zog ihn hinaus auf die hintere Terrasse, wo sie sogleich zu tanzen begannen, in einem weiten Kreis, bei dem sie immer wieder mit anderen zusammenstießen. Sie hatte ihm die Arme um den Rücken gelegt und konnte spüren, wie dünn er unter seinem Hemd war. Aber nicht unangenehm dünn, sondern eher schmal auf die Art, die sich zweimal um ein Mädchen herumwickeln konnte. Cousins, der andere stellvertretende Bezirksstaatsanwalt, sah besser aus, richtig umwerfend eigentlich, aber er war auch selbstverliebt, dafür hatte sie ein Gespür. Dick Spencer dagegen war ein richtiger Schatz, auch das konnte sie spüren.

Diese Gedanken waren ihr gerade durch den Kopf gegangen, als sie auf einmal spürte, wie sie von einer Hand unsanft am Oberarm gepackt wurde. Sie hatte sich größte Mühe gegeben, beim Tanzen unentwegt in Dick Spencers Augen hinter den dicken Brillengläsern zu schauen, und dabei war ihr vor Anstrengung schwindlig geworden, oder vielleicht von etwas anderem. Sie klammerte sich an ihn und hatte die Frau nicht bemerkt, die auf sie zusteuerte. Hätte sie sie eher gesehen, hätte Bonnie sich rechtzeitig von ihm losmachen oder sich zumindest eine schlagfertige Bemerkung einfallen lassen können. Die Frau redete auf sie ein, sehr laut und sehr schnell, und Bonnie war bemüht, rein vorsichtshalber, von ihr so weit wie möglich Abstand zu halten. Als die Tirade endlich vorbei war, verließen Dick Spencer und seine Frau die Feier. Ganz abrupt, Knall auf Fall.

»Geht ihr schon?«, fragte Fix, als die beiden im Wohnzimmer an ihm vorbeirauschten.

»Hab ein Auge auf deine Familie«, sagte Mary Spencer.

Da Fix gerade auf der Couch saß, mit seiner älteren Tochter Caroline, die selig schlummernd auf seinem Schoß lag, nahm er irrtümlich an, dass Mary ihm ein Kompliment gemacht hatte, weil er gerade über den Schlaf seiner Tochter wachte. Vielleicht war er auch selbst halb eingeschlafen. Er klopfte Caroline leicht mit der Hand aufs Kreuz, und sie rührte sich nicht.

»Geh mal Cousins helfen«, sagte Dick noch über die Schulter, und dann waren sie auch schon zur Tür hinaus. Ohne sein Sakko und seine Krawatte, ohne sich von Beverley zu verabschieden.

 

Albert Cousins war tatsächlich nicht eingeladen gewesen. Am Freitag war er im Gerichtsflur an Dick Spencer vorbeigekommen, der sich gerade mit einem Cop unterhielt, einem Cop, den Cousins nicht kannte, der ihm aber irgendwie bekannt vorkam, so wie halt viele Cops. »Bis Sonntag«, mit diesen Worten hatte sich der Cop verabschiedet, und als er davonging, fragte Cousins Spencer neugierig: »Was ist am Sonntag?« Worauf Dick Spencer ihm erklärte, dass Fix Keating kürzlich Vater geworden war und am Sonntag bei ihm eine Feier anlässlich der Taufe des Neugeborenen stattfand.

»Das erste Kind?«, hatte Cousins gefragt, während er Keating nachblickte, wie er in seiner blauen Uniform den Flur entlangging.

»Nein. Das zweite.«

»So einen Aufwand treiben die für ein zweites Kind?«

»Sie sind katholisch«, sagte Spencer mit einem Achselzucken. »Die können ja nie genug bekommen.«

Cousins hatte zwar nicht direkt nach einer Feier gesucht, zu der er sich kurzerhand selbst einladen konnte, ganz unschuldig aber war seine Frage auch nicht gewesen. Sonntage waren ihm verhasst, und da der Sonntag nun mal als Familientag galt, gab es da kaum Einladungen. An Wochentagen verließ er morgens das Haus, wenn seine Kinder gerade aufwachten. Er wuschelte ihnen in der Regel kurz übers Haar, und nachdem er seiner Frau noch ein paar Anweisungen hinterlassen hatte, brach er auch schon zur Arbeit auf. Wenn er abends nach Hause kam, lagen sie schon im Bett und schliefen. Oder schliefen gerade ein. Er fand seine Kinder ganz reizend, wenn sie so an ihre Kissen geschmiegt dalagen, notwendig, und das war das Bild, das er von Montagmorgen bis Samstag früh von ihnen hatte. Denn samstagmorgens waren sie immer schon in aller Frühe putzmunter. Dann warfen sich Cal und Holly an seine Brust, noch ehe das erste Tageslicht durch die Plastikjalousien gedrungen war, und zankten sich bereits wegen irgendetwas, das in den drei Minuten vorgefallen war, seit sie beide wach waren. Sobald die Kleinste ihre Geschwister hörte, fing sie an, sich am Gitter ihres Bettchens hochzuziehen – ihre neueste Spezialität –, und was ihr an Schnelligkeit fehlte, machte sie durch zähe Beharrlichkeit wett. Sofern Teresa nicht schnell genug zur Stelle war, um sie aufzufangen, ließ sie sich zum Schluss von oben auf den Boden plumpsen, aber Teresa war schon auf, weil sie sich übergeben musste. Sie klinkte zwar die Tür des Badezimmers draußen im Flur hinter sich zu und ließ das Wasser laufen, um die Sache so diskret wie möglich über die Bühne zu bringen, aber ihr Würgen und Keuchen drang trotzdem bis ins Schlafzimmer herüber. Cousins warf seine älteren Kinder von sich, sodass die beiden, die federleicht waren, in einem Knäuel auf der zusammengelegten Tagesdecke am Fußende des Ehebetts landeten. Unter kreischendem Gelächter stürzten sie sich erneut auf ihn, aber er konnte jetzt nicht mit ihnen spielen und wollte nicht mit ihnen spielen, ebenso wenig, wie er aufstehen und sich um das Baby kümmern wollte, aber genau das musste er tun.

Und so nahm der Tag seinen Lauf. Teresa lag ihm damit in den Ohren, dass es für sie möglich sein müsste, allein zum Einkaufen zu fahren, oder dass die Leute, die unten an der Ecke wohnten, eine Grillparty veranstalteten und sie schon an der letzten Grillparty nicht teilgenommen hatten. Immerzu heulte ein Kind; eines machte den Anfang, dann schloss sich ein zweites an, bis mit kurzer Verzögerung auch das dritte mit einstimmte, dann beruhigten sich zwei wieder, und der Kreislauf konnte von vorn beginnen. Schon vor dem Frühstück knallte das Baby gegen die Glastür im Arbeitszimmer und zog sich eine Platzwunde an der Stirn zu. Teresa kauerte vor der Kleinen am Boden und fragte Bert, ob die Wunde seiner Ansicht nach genäht werden musste, während sie hektisch mit kleinen Pflastern hantierte. Da Bert kein Blut sehen konnte, wandte er den Blick ab und erklärte, nein, das sei nicht nötig. Holly weinte, weil auch das Baby weinte, und sagte, ihr tue der Kopf weh. Cal war nirgends zu sehen – obwohl er sonst immer herbeiflitzte, wenn er Geschrei hörte, sei es von seinen Schwestern oder seinen Eltern. Cal fand es gut, wenn es Zoff gab. Teresa blickte mit von der Wunde des Babys blutigen Fingern auf und fragte ihren Mann, wo Cal steckte.

Die ganze Woche watete Cousins durch den Morast der Zuhälter und prügelnden Ehemänner, der kleinen Diebe. Er gab sein Bestes im Angesicht von voreingenommenen Richtern und dösenden Geschworenen. Er redete sich ein, dass er all die Kriminalität in Los Angeles am Wochenende hinter sich lassen und sich ganz seiner Familie widmen würde, den Kindern in ihren Schlafanzügen und seiner wieder schwangeren Frau, doch meist hielt er nur bis Samstagmittag durch, ehe er sich von Teresa mit der Erklärung verabschiedete, er müsse vor der ersten Anhörung am Montag noch mal ins Büro. Und er fuhr tatsächlich zur Arbeit, das war das Lustige. Anfangs war er ein paar Mal nach Manhattan Beach gefahren, um an der Strandpromenade einen Hot Dog zu essen und mit den hübschen Mädchen in Bikinioberteil und heißen Höschen zu flirten, hatte sich dabei aber einen Sonnenbrand geholt, den Teresa sofort kommentierte. Also fuhr er ins Büro und saß dort unter all den Männern, die er schon die ganze Woche über um sich hatte. Sie nickten einander ernsthaft zu und erledigten in diesen drei, vier Stunden am Samstagnachmittag in der Regel mehr Arbeit als an jedem anderen Tag der Woche.

Am Sonntag aber konnte er sich das nicht noch einmal antun, weder die Kinder noch die Frau noch den Job, und entsann sich einer Tauffeier, zu der er nicht eingeladen war. Teresa sah ihn an, und ihr Gesicht strahlte kurz vor Hoffnung. Ihre Nase und ein Teil der Wangen waren noch immer mit Sommersprossen gesprenkelt, und das mit einunddreißig. Sie äußerte oft den Wunsch, dass sie sonntags mit den Kindern in die Kirche gingen, auch wenn er nicht an die Kirche glaubte oder an Gott und so weiter, weil sie der Ansicht war, dass ihnen als Familie dieser allwöchentliche Brauch guttun würde. Nun dachte sie, dass diese Feier dafür ein guter Anfang wäre. Sie könnten alle zusammen hingehen.

»Nein«, sagte er. »Es ist was Berufliches.«

Sie blinzelte verdattert. »Eine Tauffeier?«

»Der Typ ist Polizist.« Im Stillen betete er, dass sie nicht fragen würde, wie dieser Polizist hieß; das war ihm nämlich gerade komplett entfallen. »Nicht ganz unwichtig, so ein Machertyp, verstehst du? Das ganze Büro geht hin. Ich muss bloß meine Aufwartung machen.«

Sie hatte gefragt, ob das Baby ein Junge oder ein Mädchen war und ob er ein Geschenk hatte. Gleich darauf war aus der Küche ein Krachen zu hören, gefolgt von anhaltendem Scheppern und Klirren, wie von Rührschüsseln aus Metall. An ein Geschenk hatte er gar nicht gedacht. Kurzentschlossen ging er zur Hausbar und nahm eine Flasche Gin heraus. Es war eine große Flasche, mehr, als er eigentlich zu verschenken bereit war, aber nach einem Blick auf das noch intakte Verschlusssiegel zauderte er nicht länger.

So kam es, dass er nun in Fix Keatings Küche stand und Orangen auspresste, allein, da Dick Spencer soeben seinen Posten verlassen hatte, mit der unscheinbaren Schwester der Blondine als Trostpreis. Er würde weitermachen, weiter den zuverlässigen Helfer spielen, in der Hoffnung, selbst bei der Blondine landen zu können. Für dieses Ziel würde er notfalls jede einzelne Orange in Los Angeles County auspressen. In dieser Stadt, die die Schönheit sozusagen erfunden hatte, war sie die möglicherweise schönste Frau, mit der er je geredet hatte, auf jeden Fall die schönste Frau, neben der er je in einer Küche gestanden hatte. Gewiss, es war vor allem ihre Schönheit, die er reizvoll fand, aber da war noch mehr: immer wenn sie ihm die nächste Orange anreichte, hatte es leise zwischen ihren Fingern geknistert. Ein elektrisches Knistern, so greifbar wie die Frucht, er spürte es jedes Mal. Sich an eine verheiratete Frau heranzumachen, dessen war er sich bewusst, war keine gute Idee. Zumal, wenn man sich im Haus der Frau aufhielt, ihr Mann ebenfalls zugegen und zufällig auch noch Polizist war, und dann noch bei einer Tauffeier für ihr zweites gemeinsames Kind. Aber obschon ihm das alles klar war, gelangte Cousins mit jedem Drink mehr zu der Überzeugung, dass hier höhere Kräfte am Werk waren. Der Priester, mit dem er sich vor einer Weile auf der Terrasse unterhalten hatte, war nicht so betrunken wie er, und dieser Priester hatte eindeutig gesagt, dass hier heute etwas Außerordentliches vor sich ging. Das konnte man auch so auslegen, dass heute alles möglich war. Cousins griff mit der Linken nach seinem Becher und pausierte kurz, weil sich bei ihm langsam ein Krampf anbahnte. Zur Lockerung ließ er seine Hand im Gelenk kreisen, wie er es schon mal bei Teresa gesehen hatte.

Fix Keating stand in der offenen Tür und beobachtete ihn, als wüsste er genau, was ihm durch den Kopf ging. »Dick hat gemeint, jetzt wäre ich an der Reihe.« Der Cop war von der Statur her nicht sonderlich imposant, doch er wirkte prinzipiell angespannt und reizbar, als würde er permanent auf eine Gelegenheit lauern, sich in eine Schlägerei zu stürzen. So waren alle irischen Cops, es war ihr Naturell.

»Sie sind der Gastgeber«, wehrte Cousins ab. »Da sollten sie nicht hier in der Küche stehen und Saft machen.«

»Sie sind der Gast«, erwiderte Fix und nahm ein Messer zur Hand. »Sie sollten zu den anderen gehen und sich amüsieren.«

Aber Cousins war kein übermäßig geselliger Mensch. Wäre er von Teresa mit hergeschleppt worden, hätte er es bei dieser Feier keine zwanzig Minuten ausgehalten. »Nein, nein«, sagte er. »Ich kenne meine Stärken.« Er nahm den Aufsatz von der Zitruspresse, in dessen Rillen eine Menge Fruchtfleisch haftete, und spülte ihn kurz unter Wasser ab, ehe er den ausgepressten Saft in eine grüne Plastikkanne goss. Eine Zeit lang arbeiteten sie Seite an Seite, ohne zu reden. Cousins gab sich einem kleinen Tagtraum über die Frau des anderen hin. Als sie sich in seiner Phantasie gerade über ihn neigte, mit der Hand an seiner Wange, während er ihr mit der Hand den Oberschenkel hinauffuhr, meldete sich Fix zu Wort. »Ich glaube, jetzt habe ich es.«

Cousins hielt inne und sah ihn an. »Was?«

Fix schnitt Orangen entzwei. Dabei schob er das Messer nicht von sich fort, wie Cousins auffiel, sondern zog es auf sich zu. »Es war ein Autodiebstahl.«

»Was war ein Autodiebstahl?«

»Daher kenne ich Sie. Darüber habe ich mir den Kopf zerbrochen, seit Sie vorhin vor der Tür standen. Ist zwei Jahre her, würde ich sagen. Wie der Typ hieß, weiß ich nicht mehr, aber er hat ausschließlich rote El Caminos geklaut.«

Solche Einzelheiten blieben Albert Cousins, wenn’s hochkam, einen Monat lang im Gedächtnis, nachdem ihn der betreffende Fall beschäftigt hatte; mitunter auch nur eine Woche, wenn er viel zu tun hatte. Autodiebstahl war sozusagen ihr täglich Brot. Wenn in Los Angeles keine Autos gestohlen würden, könnten die Cops und Staatsanwälte an ihren Schreibtischen den ganzen Tag Karten spielen und darauf warten, dass es mal einen Mord gab. Die Autodiebstähle verschwammen alle miteinander – manche Autos wurden weiterverscherbelt, wie sie waren, andere wurden in irgendwelchen dubiosen Werkstätten ausgeschlachtet –, weil ein Diebstahl letzten Endes so banal war wie der andere. Bis auf diesen einen Fall, bei dem der Täter ausschließlich rote El Caminos gestohlen hatte.

»D’Agostino«, sagte Cousins wie aus der Pistole geschossen und wiederholte den Namen dann noch einmal, weil ihm ein Rätsel war, wie sein Gedächtnis ihm dieses Geschenk hatte machen können. Es war wohl wirklich ein ganz besonderer Tag, das war die einzige Erklärung.

Fix schüttelte anerkennend den Kopf. »Der Name wäre mir nicht mehr eingefallen, da hätte ich lange grübeln können. Aber ich erinnere mich an ihn. Er hielt es für einen Beweis von Niveau, sich auf diesen einen Autotyp zu konzentrieren.«