Kirby, Emma Jane Der Optiker von Lampedusa

PIPER

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Übersetzung aus dem Englischen von Paulina Abzieher und Hans-Christian Oeser

 

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel The Optician of Lampedusa bei Penguin Books, London.

ISBN 978-3-8270-7932-9

© Éditions des Équateurs 2016

Deutschsprachige Ausgabe:

© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2017

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: plainpicture / Yann Grancher

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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Für meine Eltern und für Denis

PROLOG

Ich weiß nicht, wie ich Ihnen beschreiben soll, was ich sah, als sich unser Boot der Quelle jenes schrecklichen Geräuschs näherte. Ich will es gar nicht beschreiben. Sie werden es nicht verstehen, weil Sie nicht dabei waren. Sie können es nicht verstehen. Ich glaubte nämlich, das Kreischen von Möwen gehört zu haben. Von Möwen, die sich um einen glücklichen Fang raufen. Von Vögeln. Einfach nur Vögeln.

Schließlich befanden wir uns auf offener See. Es konnte gar nichts anderes sein.

Noch nie hatte ich so viele Menschen im Wasser gesehen. Strampelnde Gliedmaßen, ausgestreckte Hände, schlagende Fäuste, schwarze Gesichter, die erst über, dann unter den Wellen aufblitzten. Schnaufen, Geschrei, Prusten, Gebrüll. Mein Gott, dieses Gebrüll! In den höchsten Tönen! Das Meer kochte und bebte, als sie um sich traten und um sich schlugen, als sie sich aneinanderkrallten, nach Treibholz griffen und bei dem Versuch, sich an Sturzwellen festzuklammern, nur eine Handvoll Wasser erhaschten. In rasender Verzweiflung sandten sie gellende Rufe nach uns aus und bemühten sich, die Aufmerksamkeit unseres kleinen Boots auf sich zu lenken. Und sie waren überallhin versprengt – wohin ich den Kopf auch wandte, erblickte ich sie, Hunderte von ihnen, wie sie tauchten, spuckten, flehten, einen hochgereckten Arm, der ins Wasser klatschte. Und während sich die Schiffsschraube schwerfällig einen Zickzackweg zwischen den Körpern hindurch bahnte, schluchzte meine Frau immer wieder meinen Namen.

Sie alle waren am Ertrinken. Ich dachte: Wie kann ich sie alle retten?

Ich spüre noch immer die Finger der ersten Hand, die ich ergriff. Wie sie sich in meine zementierten, Knochen, die an Knochen rieben, wie sie sich mit so eisernem Griff festkrampften, dass ich die sehnigen Adern des Handgelenks pulsieren sah. Die Kraft dieses Griffs! Meine Hand in der Hand eines Fremden, ein stärkeres und innigeres Band als jede Nabelschnur. Und wie dank der Kraft dieses Griffs mein ganzer Körper zitterte, als ich die Hand hinaufzog und den nackten Oberkörper den Wellen entriss.

 

Es sind zu viele. Zu viele, und ich weiß nicht, wie ich es bewerkstelligen soll. Ich bin Optiker; ich bin kein Lebensretter. Ich bin Optiker, und ich bin im Urlaub, und ich weiß nicht, wie ich es bewerkstelligen soll.

Ich werfe den Rettungsring aus, aber wie Wrackteile sind die Menschen in einem Umkreis von fünfhundert Metern verstreut, und sie alle rufen nach uns. Wieder und wieder beuge ich mich über den Hecktritt, doch so viele Hände schießen aus den Wellen hervor, so viele Hände greifen nach Luft. Meine Finger verschränken sich mit Fingern, und ich ziehe.

Sinken wir? Inzwischen liegt das Boot tief im Wasser. Jemand brüllt mir etwas zu, aber ich kann nicht innehalten und zuhören. Es sind zu viele Hände. Das Deck ist vollgestopft mit schwarzen Körpern, die sich übereinander erbrechen und entleeren. Ich spüre, wie das Boot unter dem Gewicht protestiert, wie es schlingert, wie es kurz davor ist zu kentern. Ich weiß, dass das Boot außer Kontrolle geraten ist.

Dort drüben! Noch eine Hand!

 

Ich wollte Ihnen diese Geschichte nie erzählen. Ich hatte mir geschworen, diese Geschichte nie wieder zu erzählen, weil sie kein Märchen ist. Es waren einfach zu viele. Ich wollte zurück, um nach ihnen zu suchen. Ich wollte zurück.

Verstehen Sie, was ich Ihnen sagen möchte? Vielleicht können Sie es nicht verstehen, weil Sie nicht in dem Boot waren. Aber ich war dort, und ich habe sie gesehen. Ich sehe sie noch immer. Weil es noch immer geschieht.

1.

Der Optiker von Lampedusa joggt. Bei jedem Auftritt steigen von der rissigen Straße kleine Staubwölkchen hoch, und die winzigen Partikel wirbeln in einem feinen rostfarbenen Schleier um seine Knie. Heute geht nur ein leichter Wind, selbst auf der Küstenstraße; in trockenen, unregelmäßigen Stößen umweht er das Gesicht des Optikers, und dieser kann im salzigen Hauch des Windes den scharfen Geruch des Meers riechen. In der sengenden Herbstsonne ist es fast zu heiß, um zu joggen, aber er drängt voran, und der Staub, der sich mit seinem Schweiß vermischt, klebt ihm in Klumpen an den Beinen. Von irgendwoher, vielleicht vom Hafen am Ende der Stadt, hört er einen Hund jaulen. Zu jeder Tages- oder Nachtzeit, denkt er, kann man auf dieser Insel einen streunenden Hund kläffen hören.

Eigentlich ist die Insel eher Afrika als Italien. Hier beim Joggen, weit weg von den Gelato- und Cappuccino-Bars und den Souvenirläden der kleinen Stadt, kann man sich gut vorstellen, in Afrika zu sein, vor allem, wenn man an einem kleinen trockengemauerten Dammuso mit weiß getünchtem Dach vorbeikommt. Er kneift die Augen zusammen. Von hier aus kann man beinahe die afrikanische Küste erkennen. Tunesien, Lampedusas nächster Nachbar, ist zweimal so nah wie Sizilien.

Fünfundzwanzig Jahre lebt er nun schon in dieser trockenen, dürren Landschaft. Seit fünfundzwanzig Jahren läuft er, von Dornen zerkratzt und von Schmutz verkrustet, durch dieses zerklüftete, ausgedörrte Buschland. Wie ruhig es hier ist im Vergleich zu dem aufgeregten Chaos seiner Geburtsstadt Neapel, doch bereut hat der Optiker es noch nie, seine weitläufige Stadt gegen die Einsamkeit dieser kleinen Insel eingetauscht zu haben. Sie mag nur zehn Quadratkilometer groß sein, etwa halb so groß wie Neapel, aber auf Lampedusa ist er auf allen Seiten vom Meer umgeben. Der Optiker braucht das Meer.

Als er jetzt die Pfade der Südküste entlangjoggt, blickt er aufs Wasser. Zersplittertes Kobaltblau und Türkisgrün, glatt und glänzend wie billiger Schmuck, und er weiß, würde er jetzt hineinspringen, wäre es noch immer einladend warm, obwohl es bereits der erste Tag im Oktober ist. Wenn er sich mit seiner Frau Teresa draußen auf dem Boot aufhält, beobachtet er Delfine, mitunter sogar Pottwale, die in den ruhigen Gewässern schwimmen. Oft schwimmen auch sie selbst vor der paradiesischen Spiaggia dei Conigli, wo der ausgebleichte Sand Hitze ausstrahlt und gelegentlich Schwärme von Papageienfischen pfeilschnell durch das gebrochene Licht der Bucht schießen und Farbtupfer auf die weiße Leinwand spritzen. Im Sommer suchen sich die seltenen Unechten Karettschildkröten diese Strände aus, um ihre Eier abzulegen. Seine Frau meint, es liege daran, dass die Natur erkennt: Mit allem, was an Land gespült wird, wird Lampedusa stets behutsam umgehen.

Die Füße des Optikers hämmern weiter. Von der Hitze pulsiert eine verknotete Ader über seinem rechten Ohr, und er kann ihr Pochen über seine Glatze bis in seinen Schädel hinein verfolgen. Er geht gern an seine Grenzen, muss spüren, wie sein Körper sich verausgabt. Schlank und fit war er schon immer. Vor Jahren hatte er die körperliche Disziplin des Militärdiensts genossen, und obwohl er inzwischen Ende fünfzig sein dürfte, vernachlässigt er sich nicht.

Ein Halbwüchsiger rast auf einer alten Vespa an ihm vorbei, der laute Motorlärm durchbricht die Stille seines Laufs. Der Optiker sieht zu, wie der Junge mit kreischenden Reifen und aufheulendem Motor ganz sinnlos Spuren in den Staub zeichnet. Für Jugendliche gibt es hier abends nur wenig zu tun – eine Handvoll Bars und Cafés, ein kleiner Klub mit einer Karaokeanlage. Seine Eltern hatten nicht gewollt, dass er sich nach dem Schulabgang in Neapel herumtrieb, sich langweilte und Ärger bekam. Sie hatten ihn auf eine Berufsfachschule für Schneider geschickt, wo er lernte, Maßanzüge anzufertigen. Mit seiner Maßgenauigkeit und seinem präzisen Schnitt hatte er sich bald einen Namen gemacht. Er muss lächeln. Er hatte gewusst, dass es ihn auf lange Sicht nicht wirklich befriedigen würde, hatte er doch den heimlichen Wunsch gehegt, Optiker zu werden. Eine seltsame Leidenschaft für einen jungen Mann, möchte man meinen, aber das Sehvermögen hat ihn schon immer fasziniert: wie und was Menschen sehen. Also hatte er neben der Schneiderei Optiker gelernt.

Eine kleine Gruppe afrikanischer Männer, die in die Stadt wollen, schlurft ihm entgegen. Im Vorbeilaufen winkt er ihnen zu, und im Gegenzug murmeln sie einen schüchternen Gruß. Er fragt sich, ob sie wohl an diesem Morgen auf der Insel angekommen sind – inzwischen wird er fast jeden Tag Zeuge, wie die Busse den Hafen verlassen, überladen mit frisch eingetroffenen Migranten. Diese treiben sich vor dem Supermarkt gegenüber seinem Geschäft herum, und er sieht, wie sie sich in Scharen um die Kirche drängen. Vielleicht ist der Teil Afrikas, aus dem sie stammen, besonders christlich? Seine Nachbarn sammeln Lebensmittel und andere Dinge für sie; irgendwer klappert immer mit der Spendenbüchse. An diesem Morgen war eine Frau, vermutlich von der Gemeinde, vorbeigekommen und hatte gefragt, ob er nicht alte Kleider oder Schuhe spenden wolle, aber er war gerade in Papierkram vertieft und hatte keine Zeit. Offenbar platzt das Flüchtlingslager wieder einmal aus allen Nähten; vielleicht ziehen sie es deshalb vor, auf der Insel umherzuwandern.

Verrückt, denkt er, dass sie alle hier auftauchen, wo dieses Land ihnen doch herzlich wenig zu bieten hat. In den vergangenen paar Jahren hatte es viele Momente gegeben, da er glaubte, sein Geschäft werde pleitegehen; wie viele schlaflose Nächte hatten er und Teresa deswegen schon gehabt? Er schnauft geräuschvoll. Alles, was er sich so mühsam erarbeitet hat, ist bedroht! Er spürt, wie sein Herz schneller schlägt, um mit seiner aufsteigenden Wut mitzuhalten. Immer wieder hatte die Stadtverwaltung die Gewerbesteuern erhöht, bis ihm vor lauter Steuern und Gebühren und Abgaben und Gott weiß was fast die Luft ausging. Es fühlt sich an, als werde er ständig von dem einen oder anderen Beamten gepiesackt und angeschnorrt.

Er läuft jetzt geradewegs der niedrigen Sonne entgegen, und sie zwingt ihn zum Wegschauen. Wenn er zwinkert, sieht er kleine bunte Funken, rot und golden und grün, und er hebt die Hand, um sich vor dem grellen Licht zu schützen. Er hätte eine Sonnenbrille tragen sollen. Das Licht blinkt und blitzt um seine Augen.

Natürlich macht er sich vor allem um seine beiden Söhne Gedanken. Er muss sicherstellen, dass sie versorgt sind, denn wie um alles in der Welt sie in dieser schrumpfenden Wirtschaft langfristige Arbeitsstellen finden sollen, ist ihm ein Rätsel. Beide sind aufgeweckte Jungen und tüchtige Arbeiter. Der ältere möchte seine eigene Firma gründen; er besitzt Unternehmergeist, aber natürlich birgt das ein Risiko. Sich selbstständig zu machen birgt immer ein Risiko, das weiß er nur allzu gut.

Aber er könnte sich nicht mehr vorstellen, für jemand anderen zu arbeiten; es wäre undenkbar. Sein Blick wandert von links nach rechts. Sein eigener Herr zu sein, sich seine Zeit selbst einzuteilen, seine eigene kleine Welt zu verwalten – das ist es, was ihm gefällt. Und keiner kann behaupten, dass er sich nicht anstrengt; unter der Woche arbeitet er hart, damit sein kleines Geschäft floriert, für seine Familie, und dann sein Lohn – er wirft einen weiteren Blick über die Schulter aufs Meer –, sein Lohn ist es, diese wunderschöne Natur seine Spielwiese nennen zu dürfen.

Die Möwen haben angefangen, aufgeregt zu kreischen, und als der Optiker aufblickt, sieht er, wie sie sich zu einem Schwarm vereinen und über der Küste kreisen. Er weiß, in der Hoffnung, ein paar Abfälle zu ergattern, warten sie darauf, dass der letzte Fischtrawler in den Hafen einfährt. Wenn er seinen Lauf zeitlich abstimmt, wird er rechtzeitig wieder im Hafen sein, um das Boot abzupassen und sich den besten Fang fürs Abendessen auszusuchen.

Er joggt an einigen jungen Afrikanern vorbei, die am Straßenrand kauern und an ihren Handys herumfummeln. Er nickt ihnen höflich zu, und sie sehen ihm neugierig nach, als er in seinem schweißgetränkten T-Shirt die Straße hinuntersprintet. Das Gestrüpp hinter ihnen ist mit bunten Plastikverpackungen und zerdrückten Getränkedosen übersät. Er kickt eine Dose an den Straßenrand. So viel Müll jetzt auf der Insel! In den Dornbüschen haben sich blaue Plastikfetzen verfangen, überall liegen alte Essenskartons herum.

Zwanzig Jahre zuvor, als er die Straßen der Insel noch ganz mühelos ablaufen konnte, entdeckte der Optiker von Lampedusa mitunter einen verängstigten Migranten, der die Felsen zu seinem Weg heraufkletterte. Fast immer war dieser allein und rief ihm auf Englisch zu: »Wo bin ich? Bin ich in Palermo? Habe ich Sizilien erreicht?«

Er schüttelt ungläubig den Kopf. Das scheint ewig her zu sein. Der Arabische Frühling hat alles verändert, und sie kommen nicht länger allein für sich. Jetzt treffen in stetigem Strom ganze Schiffsladungen ein – große Familien; auch Frauen und Kinder, die armen Dinger. Erst vor ein paar Jahren hatten die Zeitungen berichtet, Lampedusa habe mittlerweile mehr Migranten und Flüchtlinge als Einwohner! Er runzelt die Stirn. Besser, nicht zu viel darüber nachzudenken. Das Fernsehen, die Zeitungen; sie sind voll von Nachrichten über Migranten; es wird von nichts anderem mehr geredet. Erst neulich hieß es im Radio, vor der Küste Siziliens seien wieder einige ertrunken. Waren es sieben oder acht gewesen?

Er verlangsamt seinen Lauf, um eine magere Katze vor ihm die Straße überqueren zu lassen, und blickt ihr nach, wie sie sich in dem Dorngestrüpp versteckt. Natürlich war er eigentlich hierhergezogen, um allem zu entfliehen. Die Achtzigerjahre in Neapel waren ihm sinnentleert vorgekommen; hirnlose politische Streitereien, nichts Tiefgründiges, er hatte das Gefühl gehabt, die Orientierung zu verlieren. Diese kleine Insel jedoch war der perfekte Ort gewesen, um sich ein neues, ein sinnvolleres Leben aufzubauen. Unmöglich, sich in der Schönheit dieser Natur nicht aufgehoben zu fühlen. Die buttergelben Kalksteinklippen, die an ihrem Fuß idyllische Sandstrände bieten, und die harsche Wildnis im Norden der Insel, die er als Stärkung empfand.

Plötzlich hört er Gelächter, und vom Ufer vor ihm tauchen zwei Männer mittleren Alters auf, behängt mit Ferngläsern und teuer aussehenden Kameras. Sie sprechen Italienisch, aber er kann deutlich hören, dass sie nicht von der Insel stammen – Vogelbeobachter aus Mailand vermutlich; die meisten Touristen scheinen aus Mailand zu kommen. Sie sind aufgeregt und lebhaft, und der jüngere ruft ihm zu, sie hätten soeben eine seltene Watvogelart entdeckt. Der Optiker hat den Namen nicht verstanden. Er wendet sich landeinwärts.

Jetzt, wo die Saison vorbei ist, gibt es nur noch sehr wenige Touristen, aber es war schon den ganzen Sommer über ruhig gewesen. Migranten, denkt er, sind wohl kaum eine Touristenattraktion, und viele Urlauber haben die Sommerferien dieses Jahr statt auf Lampedusa auf Sardinien verbracht. Freunde im Hotel- und Gastgewerbe haben sich bei ihm über ihr sinkendes Einkommen beschwert. Zum Glück hängt sein eigenes Geschäft nicht vom Fremdenverkehr ab.

Am Eingang des Friedhofs steht ein grauhaariger Mann in einem hellblauen Poloshirt über eine Werkbank gebeugt und bohrt Löcher in Betonsteine. Die Betonsteine sprühen Funken, und der Optiker fragte sich, woran der Mann wohl so angespannt arbeitet. Die Kreuze auf den Schrägdächern der Mausoleen glitzern im frühabendlichen Licht.

Inzwischen ist er auf dem Heimweg und in guter Stimmung. Morgen wird er sich ein paar freie Tage gönnen und mit seiner Frau und einigen engen Freunden eine Bootsfahrt unternehmen. Es wird ihm guttun, ein bisschen abzuschalten, sich nicht mehr über die Buchhaltung und die Zukunft der beiden Jungen zu sorgen, die unermessliche Weite des offenen Meers mit all seinen Möglichkeiten vor sich zu sehen. Er blickt zum wolkenlosen Himmel auf, und seine dünnen Lippen verziehen sich zu einem Lächeln. Das Wetter sieht vielversprechend aus.

Sein Freund Francesco wird den Vormittag damit verbracht haben, die Galata zu reinigen und ihren königsblauen und ziegelroten Rumpf zu schrubben, um sie für die bevorstehende Ausfahrt aufzuhübschen. Er lächelt nachsichtig. Der gute alte Francesco! Was für Spaß sie über die Jahre auf diesem Boot gehabt haben! Francesco behandelt es, als wäre es kein herausgeputztes fünfzehn Meter langes hölzernes Fischerboot, sondern eine Luxusjacht. Das Ruderhaus ist stets makellos weiß gestrichen.

Beim Fischhändler am Hafen hat sich bereits eine kleine Schlange gebildet. Auf Blechen mit zerstoßenem Eis sieht er Blauflossenthunfische, rundbäuchige Goldsardinen und riesige, langschnäbelige Schwertfische ausliegen. Ein Arbeiter hilft dem letzten Fischer beim Entladen seines Fangs: Tintenfische von der Farbe eines Blutergusses, deren geleeartige violette Tentakel über den Kistenrand hängen.

Jetzt noch im Endspurt den Hügel hinauf und dann auf der Via Roma zu seiner kleinen Wohnung über dem Geschäft. Duschen. Zu seiner Linken, gestrandet auf einem riesigen Parkplatz, liegen die verstreuten Wracks der hölzernen Boote, die Migranten aus Libyen zur Insel gebracht haben. Sie sind unbeholfen auf die Seite gekippt, und die fröhliche Türkis- und Ochsenblutfarbe auf den rissigen Rümpfen hat Blasen geworfen.

Aber der Optiker hat andere Sorgen. In diesem Augenblick hat er Hunger, und er möchte duschen und am Hafen Sardinen für das Abendessen mit seiner Frau kaufen. Er muss seinen Freund Matteo anrufen, um zu besprechen, welche Vorräte für den Bootsausflug eingepackt werden müssen und wer für den Wein zuständig ist. Es dürfte eine lustige Fahrt werden, zu acht dort draußen auf dem Wasser.

 

Wäre, wie es auf Lampedusa so oft geschieht, in jener Nacht plötzlich ein starker Wind aufgekommen, der die kleinen Fischerboote gegen die Hafenmauer geworfen und das Meer aufgepeitscht hätte, dass es toste und tobte, vielleicht hätte der Optiker das kleine Freizeitboot seines Freundes niemals bestiegen und niemals abgelegt. Er hätte die Fahrt einfach verschoben und wäre mit seinen Freunden auf einen Aperitif in seine Stammbar gegangen, hernach vielleicht zum Abendessen in eines der örtlichen Restaurants. Er wäre enttäuscht, vielleicht verärgert gewesen, und am Morgen im Geschäft, wenn ihn einer seiner Kunden bei der Auswahl eines neuen Brillengestells höflich gefragt hätte, was er denn in letzter Zeit so getrieben habe, hätte er mit den Schultern gezuckt und freiheraus geantwortet, er habe nichts zu erzählen.

Doch der Wind blieb sanft. Und er legte ab.

2.

Als er im Geschäft ankam, sah er die Tür zu seiner Wohnung offen stehen. Das konnte er überhaupt nicht leiden. Er konnte es nicht leiden, wenn die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben verschwammen. Die Kunden waren furchtbar neugierig; sobald sie die Tür aufgehen und Teresa nach unten kommen hörten, verrenkten sie den Hals, um ins Innere zu spähen und herauszufinden, wie der Optiker und seine Frau wohnten. Es ärgerte ihn, wie fasziniert die Leute von privaten Lebensverhältnissen waren.

Er drückte die Tür fest zu und eilte die Treppe hinauf. Teresa saß im Wohnzimmer und blätterte in einer Zeitschrift.

»Die Tür hat schon wieder offen gestanden«, sagte er spitz. Sie lächelte abwesend und blickte kurz von ihrer Lektüre auf.

»Ach ja, Liebling?«, fragte sie und spielte mit den Strähnen ihres dichten blonden Haars. »Macht doch nichts.«

Das Wohnzimmer war von der Tagessonne aufgeheizt, und Teresa hatte das Fenster weit geöffnet. Die Seiten des Romans, in dem er gestern gelesen hatte, flatterten ein wenig in der sanften Brise, und er hob das Buch auf, strich es mit den Handflächen glatt und fuhr mit dem Daumen behutsam über seinen Rücken, bevor er es in das abgewetzte hölzerne Regal zurückstellte. Er hätte die Möbel gern möglichst bald erneuert; allmählich sah alles ein bisschen altmodisch aus, vor allem der gläserne Couchtisch, der völlig verkratzt war. Das grelle Licht ließ seine Mängel hervortreten; beim Anblick der beschädigten Glasfläche zuckte der Optiker zusammen.

Seine Frau hatte zu Recht darauf bestanden, dass der Maler, der im vergangenen Jahr das Geschäft renoviert hatte, auch hier oben streichen sollte. Die weißen Wände ließen die Wohnung sauberer und größer erscheinen, als sie war. Nicht, dass sie viele Möbel besaßen; zum Glück hatte Teresa dieselbe Einstellung zu unnötigem Gerümpel wie er.

»Ich dachte, fürs Abendessen könnte ich uns Sardinen besorgen«, sagte er, die Worte an den Hinterkopf seiner Frau gerichtet. »Ich habe das Boot einlaufen sehen.«

Teresa reckte den Hals, um ihn anzusehen, und rümpfte die Nase.

»Willst du denn nicht duschen, Liebling?«, antwortete sie.