Stefan A. Sengl

WACHSTUMSSTRATEGIEN

Was Unternehmen von Pflanzen lernen können

Federschwert

Stefan A. Sengl

WACHSTUMSSTRATEGIEN

Was Unternehmen von Pflanzen lernen können

Czernin Verlag, Wien

Produziert mit Unterstützung der Stadt Wien, MA 7/ Kultur – Wissenschafts- und Forschungsförderung

Sengl, Stefan A.: Wachstumsstrategien. Was Unternehmen von Pflanzen lernen können / Stefan A. Sengl
Wien: Czernin Verlag 2016
ISBN: 978-3-7076-0595-2

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien

»Die darwinistische Erklärung dafür, warum Lebewesen das,
was sie tun, so gut können, ist sehr einfach.
Sie sind gut durch die angehäufte Klugheit ihrer Vorfahren.«

RICHARD DAWKINS

Für Deborah

Inhalt

Vorwort

Einleitung

ı Stille Wettbewerber

ıı Die Stresstoleranten

ııı Grüne Pioniere

ıv Abwehrstrategien

v Size matters

Im Schatten der Großen

vıı Die Früchte des Marketings

vııı Auf Expansionskurs

ıx Am Ende

Nachwort

Danksagungen

Über den Autor

Vorwort

Wer ein Unternehmen leitet, hat wenig Zeit. Darum liest die Mehrzahl der Führungskräfte Umfragen zufolge keine Bücher mehr.1 Dennoch werden jedes Jahr Tonnen an neuer Managementliteratur veröffentlicht, die Entscheidern dabei helfen sollen, erfolgreicher zu werden. Damit sie im Kampf um die knappe Aufmerksamkeit ihrer Zielgruppe keine Ladenhüter werden, müssen Managementbücher heute auffällig anders sein. Wohl deshalb kommt kaum noch eine Neuerscheinung ohne griffige Metaphern aus – die besonders gerne dem Tierreich entnommen werden.

»Die sieben Geheimnisse der Schildkröte«, »Die Mäusestrategie für Manager«, »Whale done – Von Walen lernen«. In der modernen Management-Literatur2 wimmelt es nur so von allerlei Getier. Ob Haie oder Delphine, Kakerlaken oder Spinnen – es gibt kaum ein Vieh, dessen clevere Überlebensstrategie nicht schon als Inspirationsquelle für gehetzte Alphatiere herhalten musste. Umso verblüffender ist es, dass bei diesem Bioboom auf den Nachtkästchen gestresster Manager bislang komplett übersehen wurde, wie winzig der Marktanteil der gesamten Tierwelt an der Biomasse unseres Planeten ist – er liegt gerade einmal bei zwei Promille.3

Von den Marktführern lernen

Die Marktführer zum Thema irdisches Leben sind nämlich grüne Pflänzchen – und das in allen Kategorien, egal ob es um Masse, Verbreitung oder Vielfalt geht. Pflanzen stellen mit 350.000 verschiedenen Arten – jede davon optimal an ihren Lebensraum angepasst – rund 55 Prozent aller bekannten Lebewesen. Die restlichen 45 Prozent haben sich diverse Mikroorganismen gesichert, während sich tierisches und menschliches Leben in einem kaum wahrnehmbaren Rundungsbereich abspielt. Ein guter Grund, um den Erfolgsstrategien von Pflanzen mehr Beachtung zu schenken. Doch warum spielen sie in der Management-Literatur keine Rolle? Dafür gibt es vor allem zwei Erklärungsansätze: Darwin und Tempo.

Charles Darwin hat mit seinen Beiträgen zur Evolutionstheorie unser Verständnis von natürlichen Entwicklungsprinzipien geprägt. Leider wurden seine Untersuchungen über biologische Gesetzmäßigkeiten in diversen »sozialdarwinistischen« Konzepten immer wieder unreflektiert auf die menschliche Gesellschaft übertragen. Und dieser Sozialdarwinismus schwingt in einer Management-Literatur fort, die mit Beispielen aus der Natur das egoistische Konkurrenzdenken anzufeuern versucht. Bei ihrer Lektüre könnte man den Eindruck gewinnen, unser Wirtschaftsleben würde dem unbarmherzigen Gesetz des Dschungels unterliegen.

Anpassungsstrategien statt Muskelspiele

Doch gerade in diesem Punkt wird Darwin oft missverstanden. Das von ihm postulierte »Survival of the fittest« ist eben keine Empfehlung für ein raubtierkapitalistisches »Gesetz des Stärkeren«, sondern räumt denjenigen die besten Überlebenschancen ein, die am besten an ihre Umwelt angepasst sind.

Eigentlich wissen das die meisten Unternehmer: Größe und Stärke sind nicht gleichbedeutend mit geschäftlichem Erfolg. Viel öfter geht es im täglichen Wettbewerb darum, sich bestmöglich auf seine lokalen Rahmenbedingungen einzustellen, denn mit Ausnahme internationaler Konzerne – die ihre Produktion kurzerhand in ein Billiglohnland verschieben können – ist der Großteil der Wirtschafts­treibenden mehr oder minder stark an seinen Standort gebunden. Statt Muskelspiele sind also auch im Wirtschaftsleben häufig Anpassungsstrategien gefordert, um anhand der vorhandenen Ressourcen bestmöglich wachsen zu können.

Pflanzen sind wahre Weltmeister in dieser Disziplin. Fest verwurzelt in ihrer Umgebung, können sie nicht einfach die Flucht ergreifen, wenn ihre Lage unangenehm wird. Und dennoch ist es ihnen gelungen, an allen möglichen (und unmöglichen) Flecken der Erde Fuß zu fassen. Eine Leistung, die nicht zuletzt ihrer strategischen Vielseitigkeit zu verdanken ist. Denn nur ein Teil der Pflanzenwelt ist darauf aus, ihre Umwelt zu dominieren und Mitbewerbern z. B. durch rascheres Wachstum und große Blätter begehrte Ressourcen wie Licht wegzuschnappen. Strategien wie Stresstoleranz – die Begabung, in einer unwirtlichen Umgebung gedeihen zu können – oder clevere Verbreitungskonzepte gehören mindestens ebenso oft zum Erfolgsrepertoire der grünen Überlebenskünstler.

Erfolgsfaktor Geduld

Ein weiterer Grund, warum wir Pflanzen unterschätzen, ist ihre Langsamkeit – sie leben in einem anderen Tempo als wir Menschen und die Tierwelt. Wir können vielleicht das Gras wachsen hören, aber es nicht dabei beobachten. Naturfilmer brauchen deshalb aufwendige Zeitrafferaufnahmen, um ihre Bewegungen für unser Auge sichtbar zu machen. Auch das kennen wir aus dem Wirtschaftsleben: Unternehmen, vor allem größere Betriebe, sind komplexe Systeme, die sich nur langsam verändern. Wer lediglich einen flüchtigen Blick auf sie wirft, versteht nur selten die Strategien, die den Unterschied zwischen Erfolg und Pleite ausmachen, denn in den allermeisten Fällen ist wirtschaftlicher Erfolg nicht das Ergebnis von »quick wins«, sondern das Resultat der beharrlichen Verfolgung von Zielen. Die Formel »speed kills« wird meist so verstanden, dass die Schnelleren gewinnen. Doch die Realität zeigt viel häufiger, dass eine zu hohe Geschwindigkeit gefährlich ist – nicht nur auf der Autobahn, auch für Unternehmen. In seinem Buch »Die Entdeckung der Geduld. Ausdauer schlägt Talent« liefert der österreichische Wirtschaftsforscher Matthias Sutter4 zahlreiche Belege dafür, dass sich Erfolg nicht gegen, sondern mit der Zeit einstellt. Gute Bergsteiger wissen, dass sie ihr persönliches Tempo gehen müssen, um den Gipfel zu erreichen.

Auch Pflanzen haben ihr eigenes Tempo. Doch wer sich die Zeit nimmt, um ihre Strategien zu erkennen und zu verstehen, kann daraus lernen und zahlreiche Inspirationen gewinnen – gerade auch als Manager und insbesondere in Zeiten sich schnell wandelnder Umweltbedingungen. Darum machen Sie es wie eine Pflanze: Lassen Sie sich Zeit. Und lesen Sie in Ruhe dieses Buch.

Einleitung

Wenn wir als Unternehmerinnen und Unternehmer auf die Vielfalt der Pflanzenwelt blicken, dann werden wir im ersten Moment wohl nur wenig erkennen, wovon unser Betrieb etwas lernen könnte. Zwar fasziniert uns der unschätzbare Reichtum an Formen und Farben, diese überwältigende Zahl unterschiedlichster Arten mit all ihren biologischen Eigenheiten – doch die Flora präsentiert sich uns auf den ersten Blick eher bunt und chaotisch. Wir bewegen uns meist viel zu schnell durch die Welt der Pflanzen, um die Strategien dahinter erkennen zu können. Aber vielleicht ahnen wir, wenn wir durch einen Wald spazieren, dass in diesem Ökosystem nach den Spielregeln der Natur diverse Prozesse ablaufen, die schon vor Millionen von Jahren »erfunden« und seither immer weiter verbessert wurden.

Wer sich etwas mehr Zeit dafür nimmt, kann in den unentwegten Kreisläufen des Lebens, diesen Zyklen aus Keimen, Wachsen, Blühen und Sterben, immerhin gewisse wiederkehrende Muster entdecken, die sich auch im Wirtschaftsleben wiederfinden lassen. Aber insgesamt vermittelt uns das fröhliche Durch- und Nebeneinander in der Natur nicht gerade das Bild eines hocheffizient arbeitenden Systems. Wie der bekannte Förster und Buchautor Peter Wohlleben schreibt5, bildet eine Rotbuche im Laufe ihres Lebens unter großem Aufwand 1,8 Millionen Bucheckern – von denen statistisch betrachtet nur eine einzige zu einem ausgewachsenen Baum wird. Ist diese Verschwendung nicht ein Beweis dafür, wie unwirtschaftlich dieses System arbeitet? Natürlich nicht.

Tatsächlich ist dieses System hocheffizient, denn keine Ressource bleibt hier ungenutzt. Dahinter steckt ein Millionen von Jahren andauernder und niemals abgeschlossener Innovationsprozess – die Evolution –, in dem sich die Pflanzwelt unentwegt weiterentwickelt hat, um die Erschließung von Ressourcen zu optimieren und sich an wechselnde Umgebungen anzupassen. Sollte es da für Unternehmen nicht möglich sein, sich von den Wachstumsstrategien von Pflanzen etwas abzuschauen – ähnlich der Disziplin der Bionik, die gezielt nach Vorbildern in der Natur sucht, um Lösungen für technische Probleme zu finden?

Die CSR-Theorie von J. Philip Grime

Wer nach Pflanzenstrategien Ausschau hält, landet unweigerlich beim prominenten britischen Ökologen J. Philip Grime, einem emeritierten Professor der Universität von Sheffield. Sein 1979 erschienenes Buch »Plant Strategies and Vegetation Processes« ist inzwischen ein viel zitierter Klassiker, dessen Erkenntnisse aber zu meiner Überraschung einer breiteren Öffentlichkeit relativ unbekannt sind. Das gehört in meinen Augen geändert.

Vor Grime wurden die »Wettbewerbsstrategien« von Pflanzen im Wesentlichen auf zwei Ansätze reduziert: stark oder schnell. Entweder setzten sich die grünen Konkurrenten über ihre bessere »Ressourcensicherung« oder durch eine raschere Verbreitung gegenüber ihren Mitbewerbern durch. Für gute Böden – also produktive, nährstoffreiche Habitate – ist das ein relativ gutes Erklärungsmodell. Für schwierige Böden und Umgebungen mit extremen Umweltbedingungen, wo die Belastungsfähigkeit von Gewebe oder der Schutz erworbener Ressourcen ausschlaggebend für das Überleben sein können, funktionierte das Modell allerdings nicht optimal.

Grime ging daher einen Schritt weiter. Aufbauend auf seinen Untersuchungen entwickelte er ein Drei-Strategien-Modell, die CSR-Theorie. »CSR« steht in diesem Fall nicht für »Corporate Social Responsibility«, sondern für drei pflanzliche Grundstrategien:

Competitors: C-Strategen sind echte Wettbewerber, die in entscheidenden Phasen auf rasches Wachstum setzen, um die vorhandenen Ressourcen zu monopolisieren. Wenn Pflanzen ihre Triebe zielstrebig in die Höhe schießen lassen, um Mitbewerbern das dringend benötigte Licht wegzunehmen, wird diese Strategie klar deutlich. Bei Wettbewerbern zählt die Größe, doch dieser Skaleneffekt hat auch einen Haken: Er funktioniert nur in dauerhaft produktiven Nischen wirklich gut. Bäume sind ein gutes Beispiel dafür. Natürlich sichert sich ein Baum mit seinem großen Blätterdach mehr Sonnenstrahlen als ein Strauch. Doch so eine Baumkrone bringt auch einen Wasserverbrauch mit sich, den sich eine Pflanze erst mal leisten können muss. Und aus diesem Grund sind Bäume in trockenen Gegenden vielen Sträuchern unterlegen.

Stress-Tolerators: S-Strategen nutzen den Umstand, dass es in der Natur nicht nur A-Lagen gibt, sondern viel häufiger schwierige Böden, wo sie nur durch eine entsprechende Spezialisierung überleben. Die »Stresstoleranten« haben gelernt, gegen widrige Umweltbedingungen zu bestehen. Sie haben (oft durch eine spezielle Schutzschicht in ihrem Gewebe) gelernt, mit Trockenheit, übermäßiger Feuchtigkeit, Hitze, Kälte oder Pflanzenfressern richtig umzugehen – und entgehen dadurch dem Konkurrenzdruck. Natürlich ist diese Strategie mit eingeschränkten Wachstumsmöglichkeiten verbunden – doch im globalen Maßstab betrachtet ist dieses Konzept sehr erfolgreich und als Geschäftsmodell oft weniger leicht zu erschüttern als kompetitivere Strategien.

Ruderals: R-Strategen sind als Pionierpflanzen darauf spezialisiert, Habitate nach einer Störung bzw. einem Umbruch – wie z. B. einem Waldbrand oder einem Erdrutsch – als Erste neu zu besiedeln. Die »Ruderalen« kommen nicht, um zu bleiben, sondern bilden eher kurzlebige Strukturen und investieren die durch ihre Vorreiterrolle eroberteren Ressourcen rasch in die Produktion von (möglichst viel) Nachwuchs, um das nächste Stück Brachland zu erschließen. Damit sind sie am ehesten mit einem »Seed Investor« zu vergleichen, der ebenfalls auf Tempo und Streuung setzt, um in neuen Märkten – die durch eine Disruption6 des Ökosystems entstehen – Fuß zu fassen.

Kein Vorteil ohne Nachteil

Wer sich mit Pflanzenstrategien befasst, wird rasch sehen, dass es die eine perfekte Erfolgsformel für Wachstum schlichtweg nicht gibt. Vielmehr hängt es immer vom jeweiligen Lebensraum und den damit verbundenen Umwelteinflüssen ab, welches Konzept aufgeht. Die Naturgesetze diktieren der Pflanzenwelt dabei ein strategisches Tauschgeschäft: Eine erhöhte Lebensfähigkeit in der einen Umgebung ist mit verminderten Überlebenschancen in einer anderen verbunden. Oder, anders gesagt: kein Vorteil ohne Nachteil.

Es sind vor allem die Umwelteinflüsse, die entscheidend sind, mit welchen Strategien jemand erfolgreich ist. In der Pflanzenwelt sind dabei zwei Faktoren relevant: zum einen die Produktivität eines Habitats, also die Verfügbarkeit von lebensnotwendigen Ressourcen wie Wasser, Licht und Nährstoffe. Und zum anderen die Störungsanfälligkeit der Umwelt, also die Frequenz und Schwere von Beeinträchtigungen und Zerstörungsfaktoren. Ist die Produktivität hoch und die Störungsanfälligkeit niedrig, haben die Wettbewerber einen Vorteil. Ist die Störungsanfälligkeit hoch, kommen »Ruderale« zum Zug, ist die Produktivität niedrig, die »Stresstoleranten«.

Genau wie Unternehmen müssen sich auch Pflanzen einen Plan zurechtlegen, wie sie ihre »Erträge« investieren: Sie können die gewonnenen Ressourcen für ihr Wachstum verwenden, also zum Beispiel Wurzeln und Triebe entwickeln, um sich in Zukunft noch mehr Ressourcen zu sichern. Sie können ihre »Einkünfte« in Schutzmechanismen und Speichersysteme stecken, um auch unter widrigen Bedingungen den laufenden Betrieb aufrechtzuerhalten, während ihre Mitbewerber eingehen. Oder sie können mehr Mittel für die Regeneration – im Sinne der Ausbildung einer nächsten Generation – aufwenden, um so ihren Fortbestand zu sichern. Pflanzen finden stets die optimale Kombination aus diesen Entwicklungsrichtungen. Und als Meister der Anpassung können sie – je nach Standort und Phase in ihrem Lebenszyklus – ihre strategischen Schwerpunkte auch mal wechseln.

Der Blick auf das Ökosystem

Die Wahl zwischen Wachstum, Absicherung oder Regeneration – das sind strategische Investitionsentscheidungen, die jede/r Unternehmer/-in kennt. Hier die richtige Balance zu finden ist keine leichte Aufgabe – weder in einem Weltkonzern noch in einem Kleinbetrieb. Wer sich mit Pflanzen beschäftigt, hat dabei allerdings einen kleinen Vorteil, nämlich das Wissen darüber, dass die optimale Strategie im höchsten Ausmaß von dem Ökosystem abhängig ist, in dem sich ein Unternehmen befindet.

Diese Erkenntnis gilt heute mehr denn je. Früher wurde die Wirtschaftswelt von riesigen produzierenden Industriekonzernen dominiert, deren Fabrikanlagen ganze Städte oder sogar Landstriche prägten und deren Hunderttausende Beschäftigte ein Leben lang in und für ihren Betrieb arbeiteten. Diese Giganten waren ein Habitat für sich. Konzerne wie Ford produzierten leistbare Autos und sicherten ihren Mitarbeitern dadurch ein Einkommen, mit dem sie sich ein Auto (natürlich wieder von Ford) leisten konnten. Lange galten solche Unternehmen als unsterblich – und unverzichtbar für jede Volkswirtschaft. Doch viele dieser Wirtschaftsriesen sind in den letzten Jahrzehnten von unserem Planeten verschwunden, weil sie nicht in der Lage waren, sich an die Veränderungen ihrer Umwelt anzupassen.

Die Big Player von heute sind in ein viel globaleres Wirtschaftssystem eingebettet, in dem die wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen unterschiedlichen Ländern, Märkten und Branchen kontinuierlich zunehmen. Cluster aus flinken Technologie-Start-ups in Biotopen wie dem Silicon Valley treiben heute selbst die größten Konzerne der Welt vor sich her. Denn die Riesen von heute müssen in immer größerem Umfang auf die Innovationskraft smarter Entrepreneure zurückgreifen, um in Branchen, die von disruptiven Umwälzungen betroffen sind, nicht auf der Strecke zu bleiben.

Auf den Punkt gebracht hat diese Entwicklung der ehemalige Google-Chef Eric Schmidt, dem die Prophezeiung zugeschrieben wird, dass »Unternehmen, die sich über ihr Produkt oder ihre Technologie definieren, sterben werden und nur jene überleben, die sich über ihre Ökologie […] definieren«.7 Anders gesagt: Es sind das Beziehungsnetz und die perfekte Integration in ihre Umwelt, die Unternehmen in Zukunft das Überleben sichern. Und Pflanzen bieten unzählige, wunderbare Beispiele dafür, wie das funktioniert.

ıStille Wettbewerber

Natürlich stehen auch Pflanzen untereinander in einem Wettbewerb. Sie brauchen Licht, Wasser, CO2 und Nährstoffe, um gedeihen zu können. Diese Ressourcen müssen sie sich aktiv besorgen, vor allem durch ihre Wurzeln und Blätter. Und da diese unverzichtbaren Rohstoffe meist knapp sind, ist der Wettstreit darum entsprechend stark. Wer sich einmal als Gärtner mit einem hartnäckigen Eindringling wie dem Japanischen Staudenknöterich8 herumschlagen musste, hat eine Vorstellung davon, wie aggressiv Pflanzen vorgehen können, wenn es darum geht, mögliche Konkurrenten auszustechen. Bevor wir uns also jenen Strategietypen zuwenden, die uns vielleicht etwas mehr über die Unterschiede zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen erzählen, wollen wir uns den wettbewerbsorientierten Arten zuwenden.

Vom Überleben im Dschungel

Wer an gnadenlosen Wettbewerb denkt, landet früher oder später im Dschungel. Der linke sozialkritische US-Schriftsteller Upton Sinclair (1878–1968) wurde Anfang des vergangenen Jahrhunderts mit einem Roman populär, der die elenden Lebensumstände der Arbeiter sowie die hygienischen Missstände in den Schlachthöfen und Konserven­fabriken Chicagos aufzeigte. Der Titel dieses Bestsellers: »The Jungle«. Der Dschungel – ein Wort, das über die in Indien lebenden Briten seinen Platz in unserem Wortschatz und unserer Vorstellungswelt erobert hat – diente Sinclair als Metapher für die vermeintliche Aussichtslosigkeit der Lage, in der die ausgebeuteten Arbeiter gefangen waren – und natürlich auch als Bild für den Kampf aller gegen alle. Vom »Gesetz des Dschungels« ist bei uns die Rede, wenn wir auf Umstände verweisen, in denen das Recht des Stärkeren gilt – also fressen und gefressen werden statt leben und leben lassen. Und sogar in der Inszenierung des schrillen »Dschungelcamps« steht der Urwald für ein hartes und entbehrungsreiches Leben, das voller Gefahren und Herausforderungen steckt.

Natürlich ist ein Dschungel kein angenehmer Ort für Menschen, die wilde Tiere nur aus dem Zoo kennen und es gewohnt sind, ihr Essen aus dem Kühlschrank zu holen. Aber der Dschungel ist nicht deshalb gefährlich für uns, weil in der Wildnis nur die Stärksten überleben, sondern aus einem weitaus simpleren Grund: Wir sind nicht daran angepasst. Es gibt unzählige Regenwaldbewohner, zum Beispiel die putzigen Plumploris9, die definitiv nicht stärker, schneller oder schlauer sind als wir Menschen, sich aber in den Dschungeln Südostasiens pudelwohl fühlen. Wenn es ein Gesetz des Dschungels gibt, dann lautet es eher: Passe dich an, um zu überleben. Und gerade von einem so komplexen Ökosystem wie dem Regenwald, wo die unterschiedlichsten Pflanzen und Tiere aufeinander angewiesen sind, können wir nicht bloß etwas über den täglichen Konkurrenzkampf lernen, sondern auch, wie eine Gemeinschaft ein totes Stück felsiges Land in eine bunte, blühende Welt voller Leben verwandeln kann.

Der Kampf ums Licht

Es ist nämlich ein Irrtum zu glauben, dass die immergrünen tropischen Regenwälder so pflanzenreich sind, weil die Böden dort besonders fruchtbar wären. Das Gegenteil ist der Fall: Durch die starken Regenfälle sind Urwaldböden nahezu vollständig ausgewaschen und bestehen vor allem aus verwittertem Gestein.10 Nicht einmal Wasser wird von einem derartigen Untergrund gut gespeichert. Solche Böden bieten Bäumen zwar etwas Halt, aber kaum Nährstoffe – und sind im Vergleich zu mitteleuropäischen Mischwäldern eigentlich unfruchtbar. Daher brauchen Dschungelpflanzen besonders clevere Strategien, um sich mit allem zu versorgen, was sie zum Überleben brauchen. Im Mittelpunkt steht dabei der Kampf um die begehrteste Ressource im Regenwald: Sonnenlicht.

Die »Großunternehmen« unter den Regenwaldpflanzen sind die Baumriesen. Ihre Stämme sind astlos und verzweigen sich erst am oberen Ende zu einer ausladenden Baumkrone. Mit bis zu 60 Metern Höhe (zum Vergleich: Der Schiefe Turm von Pisa misst nur 55 Meter) überragen sie die gesamte Vegetation in ihrer Umgebung und sichern sich damit ein Maximum an Licht. Um die damit verbundene Verdunstung in Grenzen zu halten, sind ihre Blätter meist mit einer wachsartigen Schicht überzogen. Doch auch am unteren Ende sind Regenwaldbäume perfekt an die Bedingungen ihrer Umwelt angepasst: Sie haben ein flaches, sehr breites Wurzelwerk, um die wenigen verfügbaren Nährstoffe (die nicht selten von abgestorbenen Pflanzen kommen) möglichst rasch aufzunehmen, bevor diese in den Boden sickern und ausgewaschen oder gar von Mitbewerbern genutzt werden können. Und weil flache Wurzeln auf einem verwitterten Gesteinsboden nicht gerade die stabilste Form der Verankerung sind, bilden die Bäume die für den Regenwald so charakteristischen Brettwurzeln (oder andere Formen von Stützwurzelwerk) aus, um ihre Standfestigkeit zu erhöhen. So können sie im Kampf ums Licht ruhig auch mal ein wenig schiefer wachsen.

Unterhalb des Kronendachs ist es im Regenwald hingegen ziemlich düster. Nur wenige Sonnenstrahlen schaffen es bis zum Boden, weshalb viele Pflanzen in diesen »unteren Stockwerken« nur schwer gedeihen können – denn ohne Photosynthese fehlt ihnen die Power dafür. Lediglich angepasste Spezialisten wie z. B. Farne, die wenig Licht brauchen, können hier – entsprechend langsam – wachsen. Andere Pflanzenarten warten einfach mit dem Keimen, bis ein alter Baum umstürzt und sich dadurch ein leuchtendes »window of opportunity« im Kronendach auftut. Oder sie blühen nur dort, wo es ein Lichtstrahl bis auf den Boden schafft. Es gibt aber auch Pflanzen mit weitaus komplexeren Wachstumsstrategien.

Der brutale »Businessplan« der Würgefeige

Ein besonders interessantes Beispiel dafür ist die Würgefeige, deren »Businessplan« mehrere Entwicklungsphasen vorsieht. Ihre Früchte sind bei vielen Tieren sehr beliebt, was das erste Geheimnis ihres Erfolges ist. Frisst ein Vogel oder ein Flughund eine ihrer Feigen und scheidet das Endprodukt seiner Verdauung danach im Kronendach des Regenwalds aus, schafft er die perfekten Voraussetzungen für das Wachstum des Würgefeigensamens. Denn der keimt damit nicht nur im lichtdurchfluteten oberen Teil des Regenwalds, sondern bekommt dazu auch noch ein paar Extranährstoffe aus dem Kot als Starthilfe. Der Samen von Würgefeigen ist daher so aufgebaut, dass er nicht nur den Verdauungstrakt von Tieren unbeschadet übersteht, sondern nach dem Ausscheiden auch noch aufgrund einer schleimigen Hülle besonders gut auf Ästen kleben bleibt. Schnell bildet er eine Wurzel, um sich in einer Astgabel oder einer anderen Nische seines Wirtsbaums zu verankern.

Ist diese erste Hürde geschafft, geht die junge Würgefeige zum zweiten Teil ihres Wachstumsplans über. Das Lichtproblem ist nun gelöst, aber da sie über keinen Kontakt zum Erdboden verfügt, muss sie andere Wege finden, um an Wasser und Nährstoffe zu kommen. Dafür verhält sie sich zunächst wie eine Aufsitzerpflanze. Aufsitzer oder auch »Epiphyten« sind Pflanzen, die auf anderen Pflanzen wachsen, dabei aber ihre »Gastgeber« – anders als Parasiten – nicht anzapfen. Unsere Würgefeige hält es anfangs genauso: Sie heftet sich am Stamm ihres Wirtsbaums fest und holt sich ihre Nährstoffe aus dem bisschen Substrat, das sich dort oben finden lässt. Da so keine kontinuierliche Versorgung gewährleistet werden kann, hat sich unsere Würgefeige daran gewöhnt, in dieser Phase auch mal längere Durststrecken überstehen zu müssen. Doch ihr Wachstumsplan geht weiter.

Die Würgefeige bildet Luftwurzeln, die sich zielstrebig dem Boden nähern. Und sobald sie dort angekommen sind, beginnt ein neuer Lebensabschnitt für die Würgefeige. Sie bekommt nun nämlich ausreichend Wasser, und diese neue Ressource nutzt sie dazu, um sich von einem zarten Pflänzchen in einen mächtigen Baum zu verwandeln. Vergleichsweise rasch bildet sie eine große Krone aus, mit der sie immer mehr Licht für sich beansprucht und ihren Wirtsbaum – im wahrsten Sinn des Wortes – in den Schatten stellt. Doch damit nicht genug: Ihre Wurzeln schlängeln sich nun immer dichter um den Stamm ihres Wirts, verholzen immer mehr und werden dicker und dicker, bis dieses Geflecht die Leitgefäße des darunter liegenden Baumstamms abschnürt und den Wirt – in einem jahrelangen Vorgang – regelrecht erwürgt.

Alternative Investitionsstrategie

Damit beginnt die letzte Phase im Wachstumsplan der Würgefeige. Von Luft, Wasser und Nährstoffen abgeschnitten und im Wachstum immer weiter eingeschränkt, stirbt ihr Wirtsbaum. Sein verfaulendes Holz setzt weitere Nährstoffe frei, die der Würgefeige einen zusätzlichen Wachstumsschub verpassen. Ihre Wurzeln sind nun so dicht und stark geworden, dass sie ohne Stütze stehen kann. Und nach einiger Zeit ist dort, wo einst der Baumstamm ihres Vorgängers stand, nur mehr ein Hohlraum übrig. Die Würgefeige hat seinen Platz eingenommen – und damit einen auf mehrere Jahrzehnte angelegten »Businessplan« erfolgreich abgeschlossen.

Das Konzept dahinter ist gleichermaßen simpel wie komplex in der Ausführung, denn die Würgefeige verzichtet darauf, einen Stamm und Äste zu bilden – sie verzichtet also auf üblicherweise unverzichtbare Investitionen, um in die oberen Stockwerke des Regenwalds aufzusteigen. Stattdessen steckt sie alle ihre Mittel in die Bildung von Wurzeln und Blättern, mit denen sie ihrer Konkurrenz den Rang abläuft.

Entscheiden, was man nicht macht

Die Würgefeige scheint sich mit ihrem Verzicht auf die Stammbildung an einen sehr klugen Satz von Michael E. Porter zu halten, der als Universitätsprofessor für Wirtschaftswissenschaft am »Institute for Strategy and Competitiveness« der Harvard Business School zu den führenden Managementtheoretikern unserer Zeit zählt: »The essence of strategy is choosing what not to do.« Strategie heißt zu entscheiden, was man nicht macht. Bezogen auf die Pflanzenwelt bedeutet das: Um im Wettbewerb erfolgreich zu sein, muss man wissen, worauf man unter den gegebenen Umweltbedingungen verzichten kann – denn nur dann kann man genug Ressourcen aufbringen, um in einem entscheidenden Punkt besser als andere zu sein.

Kostenführer wie z. B. die Billigfluglinie Ryanair haben dieses Prinzip verinnerlicht. »No frills«11 – kein Schnickschnack –––