Gedruckt mit Unterstützung der Stadt Wien / MA7 Wissenschafts- und For-
schungsförderung

Sperl, Gerfried (Hg.): Ungleichheit
Essays, Diskurse, Reportagen / Gerfried Sperl
Phoenix, Band 3
Wien: Czernin Verlag, 2016
ISBN 978-3-7076-0597-6

© 2016 Czernin Verlags GmbH, Wien
Umschlaggestaltung: Sensomatic
Satz: Burghard List
Produktion: www.nakadake.at
ISBN E-Book: 978-3-7076-0597-6
ISBN Print: 978-3-7076-0596-9

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe
in Print- oder elektronischen Medien

Inhalt

Editorial

Elfriede Jelinek: Unglaublich, aber unwahr

Günter Wallra: Armes Deutschland

Andreas Sator: Warum Frauen weniger verdienen

Colin Crouch: Die Demokratie leidet

Joseph E. Stiglitz: Neue Generationenkluft

Branko Milanović: Migration reduziert Ungleichheit

Dambisa Moyo: Das Rätsel der Umverteilung

Ayad Al-Ani: Der digitale Klassenkampf

Harry G. Frankfurt: Haben und genug haben

Giacomo Corneo: Kapitalismus mit menschlichem Antlitz

Sahra Wagenknecht: Unternehmen in Stiftungen verwandeln

Hans Rauscher: Wer oben wohnt und wer hinaufschaut

Über die Autoren

Editorial

Eine philosophische Überlegung zum Thema Ungleichheit von Elfriede Jelinek bildet (2014 zu einer Konferenz über »Ungleichheit« verfaßt) den Auftakt zum dritten Band in der Buchreihe »Phoenix«. Bevor ein erster Entwurf des Aufstiegs schon wieder verworfen wird, müssen wir »der Freiheit die Schuhbänder binden«, schreibt sie sinngemäß. Wobei die Nobelpreisträgerin natürlich nicht die bloße Karriereleiter meint.

Ungleichheit wird ja in der Regel nur finanziell definiert. Ungleiche Bezahlung für exakt dieselbe Arbeit zum Beispiel. Der Unterschied der Löhne und Gehälter zwischen Männern und Frauen führt jedes Jahr zu einem Aufflammen der Debatten und zu den üblichen Schuldzuweisungen. Dann erlischt das Feuer und es wird wieder viele Monate still um die Diskussion der eigentlichen Probleme.

Tatsächlich geht es nicht nur um die unterschiedliche Behandlung der Geschlechter. Eine große Rolle spielen beispielsweile Berufsstrukturen und Karrieremuster. Männer, die sich ihre Zeit schlecht einteilen, haben beim Aufstieg gegenüber Frauen trotzdem Vorteile. Denn nur gut organisierte Frauen klettern trotz familiärer Verpflichtungen die Karriereleiter hoch.

In diesem Reader wurden deshalb Untersuchungen zur Ungleichheit mit Thesen konfrontiert, die eine Reihe bisheriger Begründungen relativieren. Harry S. Frankfurt etwa, emeritierter Philosoph in Princeton, führt ein waghalsiges Argument ein: »Ökonomische Gleichheit« eliminiere tiefere Ursachen der Ungleichheit noch nicht. Er entwirft eine Theorie des »Genug Habens«. Eine Frage, die er nicht beantwortet, bleibt relevant: Wer misst, wie misst man, ob eine (nationale) Gesellschaft genug hat?

Letztlich laufen Pros und Contras, wie so oft, auf einen »Kapitalismus mit menschlichem Antlitz« (Giacomo Corneo) hinaus, also auf eine Wiederbelebung der sozialen Marktwirtschaft und eine Schwächung des Neoliberalismus. Und das wäre gleichzeitig Kern einer Offensive für das Überleben der EU. Da Großbritannien mit Hinweis auf den Finanzplatz London seit Jahrzehnten zu den Gegnern einer konsequenten Rückkehr zur sozialen Marktwirtschaft zählt, könnte sich die EU leichter tun. Könnte – denn auch die Niederlande, Polen und Schweden zählen zu den Bremsern.

Um möglichst viele Positionen zu präsentieren, wird diesmal ein starker Interview-Block geboten. Sahra Wagenknecht, Colin Crouch und Branko Milanović sind drei Zeit- und Ökonomie-Kritiker, deren Ideen immer für Diskussionen sorgen. Wenn die Spitzenpolitik geistesgegenwärtiger wäre, würde sie sich solcher Anstöße öfter bedienen. Aber dazu gehörte auch eine Abkehr der »Volksvertreter« in den Parlamenten vom publizistischen Boulevard.

Dass uns Ungleichheit seit unseren Ursprüngen begleitet und im alles in allem kleiner geworden ist, war immer auch ein Thema des Romans und der Theaterstücke. Der Kolumnist Hans Rauscher hat seine Couplets nach Johann Nestroys Stück »Zu ebener Erde und erster Stock« für Phoenix zur Verfügung gestellt – eine besondere Delikatesse österreichischer Prägung.

Gerfried Sperl

Unglaublich, aber unwahr

von ELFRIEDE JELINEK

Herrschaft ist der Menge enthoben, manchmal tritt sie als »die Herrschaften«, also ihre eigene Parodie auf, aber ihr Wesen wandelt sich. Bis sie aus dem Schatten derer, die man nicht sieht, wieder hervorkommt und ganz neu ausschaut, aber nicht neu ist, als Maß für alles, wieder paro­diert in den »Maßgeblichen«. Aber Parodie kann man das auch wieder nicht nennen, denn sie geben ja wirklich das Maß vor, nur sind sie es nicht, und das Maß ist auch immer das falsche. Was sich für maßgeblich hält, ist es nicht, was maßgeblich ist, das kennt kein Maß und kann es auch nicht sein. Es gibt sehr viel, es ist sehr viel vorhanden, aber nur wenige maßgebliche Meßbecher für Reichtum, der da ist, aber gleichzeitig fort, denn man sieht ihn nur selten. Was sich ereignet, sehen wir nicht, und was wir sehen, ist kein Ereignis. Oder nur eins für uns, eines, das andere uns vorgeben; doch das sind nur diejenigen, die den Takt vorgeben, etwas veranstalten, bloß die dazugehörige Anstalt, in der man dazugehört, die sieht man nicht. Die Musik spielt immer woanders, auch wenn sie hier ununterbrochen alles beschallt, sogar die Lifte im Kaufhaus. Was aus der Geschichte als Wahrheit herausdestilliert wird, ist nicht wahr, weil nichts wahr ist, wenn nur wenige die Wahrheit kennen, und man kennt sie nicht, und zwar nicht deshalb nicht, weil die etwas wissen, das wir nicht wissen können, sondern weil sie sie gemacht haben. Den Reichtum, welcher, strahlend von Sonne übergossen, auf irgendwelchen Bergspitzen zu ruhen scheint, bis wir im Alter dort die Lawinen hoher Pensionen erlösen (auslösen?) dürfen, den werden wir später genießen dürfen, später, irgendwann, denn der Genuß-Schein hat es für die meisten an sich, daß er immer erst später eingelöst werden kann. Später, als man je zu spät kommen kann. Man nennt das dann Sozialvermögen, doch das Soziale vermag nichts, es vermag nichts für uns zu tun, es mag einfach nicht!, während andre jetzt schon genießen, solche, die überhaupt nichts tun müssen, denn ihr Vermögen vermag alles allein. Es arbeitet für sie. Einer muß es ja tun. Geld muß arbeiten, der Mensch auch.

Es ist alles eins, man erkennt nichts, die Machenschaften der Herrschenden sind nicht einmal Macht, denn es ist ihnen egal, ob sie diese Macht überhaupt haben, Hauptsache, sie haben sie. Und nur deswegen haben sie sie auch. Eine Tautologie, vielleicht die einzige überhaupt. Der Herr hat nicht, er herrscht vielmehr über die Macht, die er uns hinschmeißt wie Talmi in den kleinen Läden, meist in U-Bahn-Stationen, wo Schülerinnen und Azubis sich etwas Glitzerndes anstecken können. Der Herr hat nicht die Macht, er ist über ihr, weil er sie nicht nötig hat und nicht braucht. Es ist nicht einmal Diktatur, nicht einmal Meinungsdiktatur, es geht auch nicht um das Diktat der Mode, die etwas nachschreibt, das sie selbst nicht versteht (sie kennt es ja meist nur aus zweiter Hand) und uns fast immer nur als Imitation zur Verfügung steht, die ihr eigenes Original eben nicht kennt. So wie der Mensch, der in einer Illustrierten oder im Netz als Original beschrieben wird, keiner ist, denn ein Original braucht man nicht zu beschreiben, man wird ihm ja eh nie begegnen, nicht einmal, wenn es volksnah auftritt. Das Mißempfinden derer im Abseits, derer, die immer zu spät kommen, weil sie gar nicht kommen müssen, nichts und niemand wartet ja auf sie, nein, auch kein Job, die Eitelkeit derer, die gar nicht wissen, daß es ein Dreck ist, worauf sie so stolz sind, der Lärm der um jeden Preis (den sie auch nicht kennen) Dazugehörigen, gefälschte Kleidung, gefälschte Accessoires, gefälschte Menschen, die alle etwas imitieren, das sie nie kennengelernt haben, das sie nie gesehen haben, das ihnen für immer entzogen ist, das alles ist ein einziger Engelssturz Unschuldiger, die nicht wissen, warum sie gestürzt werden, bevor sie auferstehen, oder auch nur aufstehen durften (diejenigen, die einst Aufstände gemacht haben, sind jetzt fast alle tot), die keine Ahnung haben, was sie erwartet, weil sie von niemandem erwartet werden und aus dem Nichts kommen und nichts tun als fallen. Wie soll man da stürzen, aus dem Nichts ins Unbekannte, es hält einen ja auch nichts?, während die Jachten auslaufen (wie sagte Heidi Horten, die Kaufhausmilliardärs-Witwe, so schön, als sie die Mühen des Auslaufens ihrer Jacht beschrieben hat, die Mühen der Ebene also, denn das Wasser ist immer eben, ich meine waagrecht, auch wenn es noch so große Wellen macht, und dazu ein kurzer Seitenblick auf das, was die Sonne sonst ab-, nicht aufblendet, man soll es ja nicht sehen, sie sprach: Ich muß vorher hier das Fleisch einkaufen. Ich kann doch in Griechenland kein Fleisch kaufen!), während andre herumlaufen, während alles rennt, ja, während alles rennt, bleibe ich stehen und habe Lust, mich hinzusetzen, auf einen Treppenabsatz. Der hat genauso viel Platz, wie ich brauche. Ich brauche dafür keinen Absatz, der Absatz ist mir egal, vielleicht ist er abgebrochen?, ich brauche die Treppe, aber für niemanden, auch für mich nicht, ist die der Anfang von etwas, das vielleicht noch kommt, von etwas, über das man wo hinkommt. Es ist immer schon vorbei. Bevor es aufwärtsgeht, wird man schon wieder hingeschmissen, geworfen, schon als erster Entwurf verworfen, an irgendwelche Machenschaften gefesselt, und man darf seiner Freiheit (nicht nur der, zu wählen) die Schuhbänder binden. Falls man nicht einfach so hineinrutscht, was einfacher und bequemer ist. Bestenfalls.

Armes Deutschland

Die Ungleichheit hat in Deutschland dramatisch zugenommen. Noch in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts waren die Unterschiede relativ gering. Heute wird die Gesellschaft von einem Geflecht aus Demütigung und Entwürdigung durchzogen. Nicht einmal die soziale Absicherung funktioniert noch.

von GÜNTER WALLRAFF

Deutschland galt noch bis in die 1990er-Jahre hinein als ein Land der sozialen Marktwirtschaft, des sozialen Ausgleichs. Das heißt, wir hatten vergleichsweise geringe Einkommensunterschiede – verglichen mit den USA, Großbritannien oder auch Spanien und Italien; wir lagen nah an den skandinavischen Ländern, die in internationalen Studien in dieser Hinsicht immer am besten dastehen. Doch es gab in den letzten Jahren in ganz Europa, und zwar sowohl nach statistischen Erhebungen der Europäischen Union als auch denen der OECD, nur zwei Länder, in denen die Kluft zwischen hohen und niedrigen Einkommen noch schneller auseinanderdriftete als in Deutschland, und diese zwei Länder sind Bulgarien und Rumänien.

Gleichzeitig war die Vermögensverteilung in Deutschland noch nie so ungerecht – und ist im europäischen Vergleich die ungerechteste. Die untere Hälfte der Pyramide – 40 Millionen Menschen – besitzt gerade mal ein Hundertstel des wirtschaftlichen Gesamtvermögens. Das unterste Drittel besitzt gar nichts oder hat Schulden. Die obersten zehn Prozent halten allein zwei Drittel des Vermögens in ihren Händen, Tendenz steigend; das alleroberste Tausendstel der Bundesbürger, 80 000 Menschen, verfügt bereits über knapp ein Viertel. Die zehn reichsten Deutschen haben sich über 120 Milliarden Euro (ca. sechs Prozent) an Vermögenswerten gesichert, auch hier: Tendenz steigend. In einem jährlich veröffentlichten Ranking der hundert reichsten Deutschen war 2015 der Hundertste mit 1,5 Milliarden Euro vertreten, 2005 hatten für den letzten Platz 800 Millionen Euro gereicht. Fast eine Verdoppelung in zehn Jahren. Zur Beruhigung der Bevölkerung wird gleichzeitig fast jedes Jahr die Meldung lanciert: »Deutsche so reich wie nie!« Trotz Verarmung breitester Schichten ist das rein statistisch gesehen sogar zutreffend, wenn man den exorbitanten Vermögenszuwachs der Superreichen auf jeden Einzelnen umrechnet. Soziologen sprechen bereits von Neofeudalismus.

Man bezeichnet in dieser neuen Kastengesellschaft die unterste Kaste, die Parias, die »Unberührbaren«, die Ausgegrenzten, Ausrangierten als »A-Gruppe«: Alte, Arme, Alleinerziehende, Arbeitslose, Ausländer. Dazu passt eine weitere statistische Meldung: Jedes zweite Kind von Alleinerziehenden lebt bereits unter der Armutsgrenze. In Berlin z.B. ist bereits jeder zweite Jugendliche Hartz-IV-Bezieher.

Deutschland weist in Europa den größten Niedriglohnsektor auf, jeder vierte Arbeitnehmer verdient so wenig Geld mit seiner Tätigkeit, dass er unter die amtliche Armutsschwelle rutscht. Manche der Betroffenen betteln beim »Jobcenter« um »Aufstockung«. Noch mehr vermeiden diesen demütigenden Gang. Übrigens: Mehr als jeder dritte Hartz-IV-Empfänger, der noch die Kraft hat, gegen vom Jobcenter oft willkürlich verhängte Sanktionen Widerspruch einzulegen, und klagt, erhält im Nachhinein Recht.

Seit Jahren steigt stetig und anscheinend unumkehrbar die Zahl der Erwerbstätigen, die von dem, was sie am Ende ihres Arbeitstages, ihrer Arbeitswoche oder ihres Arbeitsmonats nach Hause bringen, nicht menschenwürdig leben können und deshalb von der Wissenschaft als »arm« bezeichnet werden.

Niedriglöhne und Vermögensexplosion gehen dabei Hand in Hand. Unversteuerten Erbschaften reicher Leute steht die fortschreitende Senkung des Rentenniveaus gegenüber, bis hin zur absehbaren Altersarmut vieler, die heute noch als Normalverdiener gelten. Es braucht hier eine Politik auch für die wirtschaftlich Schwachen der Gesellschaft: steuerliche Förderung von Investition und nicht von Spekulation, mehr Steuern für Vermögen und Erbschaften, weniger Steuern für Arbeit. Anstatt Profitgier und Wertschöpfung als Selbstzweck sollte doch Wertschätzung der Arbeitnehmer angesagt sein!

In den Großbetrieben hat sich ein Dreiklassensystem herausgebildet: Da gibt es als erste Klasse noch die Stammarbeiter, die Zug um Zug durch billigere, willigere und schneller zu heuernde und zu feuernde Leiharbeiter – die zweite Klasse – ersetzt werden. Zur dritten gehören Mitarbeiter mit Werkverträgen, die Allerletzten. Ihr Lohn ist meist nur halb so hoch wie der der Stammarbeiter, dafür ihr abverlangtes Arbeitspensum umso intensiver. Sie dürfen noch nicht mal in die Kantine, in der die anderen noch vergünstigtes Essen bekommen.

Die Zerstörung gesicherter und dauerhafter Arbeitsverhältnisse bei gleichzeitiger Zunahme prekärer Beschäftigungsformen, die Aufweichung und Entwertung des öffentlichen Rentensystems – die Politik hat die Vorschläge der Wirtschaft weitgehend umgesetzt. Die Folgen treten brutal zutage: wachsende Kinderarmut, höhere Bildungshürden, mehr Menschen ohne Kranken- und Rentenversicherung, dauerhafte Abkoppelung der unteren Schichten von kultureller und sozialer Teilhabe, Altersarmut. Trotzdem lassen die sogenannten Volksparteien bis heute nicht ab von ihrer neoliberalen Politik des sozialen Kahlschlags – ein Prozess, der mit rasantem Tempo voranschreitet.

Hans-Olaf Henkel, langjähriger BDI-Präsident und ehemaliger stellvertretender Sprecher und Europaabgeordneter der AfD, offenbarte bereits vor Jahren in einem Interview im Berliner »Tagesspiegel« sein über allen thronendes Elitedenken: »Kennen Sie einen Armen?«, stellte er die rhetorische Frage. Und verriet seine Ignoranz: »Gehen Sie doch mal durch die Straßen und suchen Sie sie, die Armen. Ich finde sie nicht!«