Der Bergpfarrer 108 – Solang du nur zu mir hältst!

Der Bergpfarrer –108–

Solang du nur zu mir hältst!

Hoffnung und Enttäuschung liegen dicht beieinander

Roman von Toni Waidacher

»Hallo, da bist du ja!«

Ines Kranzinger winkte der Freundin überschwenglich zu.

»Endlich! Ich warte schon auf dich.«

Unzählige Male war sie am Vormittag vor das Haus gelaufen und hatte nach dem Wagen Ausschau gehalten.

Barbara Schubert sprang aus dem Auto, und die beiden fielen sich in die Arme.

»Grüß dich, Ines«, rief sie. »Mensch, die letzten Kilometer wollten überhaupt kein Ende nehmen.«

Sie trugen das Gepäck ins Haus und setzten sich in die Küche. Auf dem Herd standen zwei Töpfe, in denen es leise köchelte.

»Erstmal was zu trinken«, sagte Ines. »Das Mittagessen ist auch gleich fertig. Ich muß nur noch schnell das Dressing für den Salat machen.«

Sie schenkte zwei Gläser Mineralwasser ein.

»Prost, Babsi. Schön, daß du da bist. Den Sekt trinken wir heute abend.«

»Ah, das tut gut nach der langen Fahrt.«

Barbara wischte sich die Lippen ab.

»Wie geht’s Tobias?« erkundigte sie sich nach dem Befinden des Hausherrn.

»Gut, wie immer, wenn er arbeitet«, lachte Ines. »Er läßt dich schön grüßen und freut sich darauf, sich heute abend mit zwei hübschen Frauen unterhalten zu dürfen.«

Babsi schmunzelte.

Selbstbewußt war sie, die Freundin. Manchmal wünschte sich die Arzthelferin, Ines könne ihr etwas davon abgeben.

»Im Moment ist viel zu tun«, erzählte die Freundin, während sie Essig, Öl und Gewürze zusammenrührte. »Die Firma expandiert, und so wie’s ausschaut, muß Tobias im nächsten Monat für ein oder zwei Wochen nach Polen. Der dortige Partner hat Produktionsprobleme, und Tobi soll versuchen, die Sache in den Griff zu bekommen.«

Tobias Kranzinger arbeitete als leitender Ingenieur in einer Lebensmittelfabrik, die sich auf die Produktion von vorgefertigten Backwaren spezialisiert hatte. Die Fabrik stellte Teigrohlinge her, die für Supermärkte in ganz Deutschland bestimmt waren. Dort wurden die Brote, Semmeln und Kuchen dann in Backstationen fertig gebacken und verkauft.

»Aber erzähl’ doch mal«, sagte Ines, »wie geht’s dir denn so? Seit wir das letzte Mal telefoniert haben, ist es doch auch schon wieder Wochen her.«

Die junge Arzthelferin winkte ab.

»In der Praxis geht alles seinen gewohnten Gang«, erwiderte sie. »Dr. Hauser ist bei den Patienten beliebt wie eh und je, und auch sonst läuft alles prima.«

Ines schmeckte das Salatdressing ab und drehte sich um.

»Und sonst…?« wollte sie wissen.

Babsi verzog den Mund.

Frag lieber nicht, sollte das heißen, und die Freundin verstand.

»Vielleicht erzähl’ ich dir bald mal mehr«, meinte Babsi. »Jetzt bin ich erst mal froh, da zu sein und meinen Urlaub zu genießen.«

»Und das wirst du auch«, versprach Ines. »In vollen Zügen!«

Die beiden kannten sich schon lange Jahre. Damals wohnte Ines noch mit den Eltern in Rosenheim. Sie und Babsi lernten sich in der Oberstufe des Gymnasiums kennen und wurden schon bald unzertrennlich. Diese Freundschaft hielt auch über die Jahre hinaus, die Ines nun schon mit Tobias verheiratet war. Der war seinerzeit bei der Bundeswehr stationiert gewesen und hatte das hübsche blonde Madl mit in seine Heimat genommen, nach St. Johann.

Rasch deckten sie den Tisch auf der Terrasse. Schon bald, nachdem Tobias eine gut bezahlte Stellung gefunden hatte, wurde das schmucke Einfamilienhaus, am Rande des Dorfes, gebaut. Inzwischen gab es einen herrlich angelegten Garten, und das Glück des jungen Paares hätte vollkommen sein können, würde nicht eine Kleinigkeit fehlen…

»Man kann’s net erzwingen«, sagte Ines, als ihr Gespräch auf das Thema kam. »Wenn der liebe Gott will, daß wir ein Kind haben sollen, wird er es uns schon schenken.«

»Ich drück’ euch die Daumen«, sagte Babsi, die wußte, daß Ines und Tobias sich schon lange Nachwuchs wünschten.

Die junge Hausfrau hatte ein saftiges Gulasch gekocht. Dazu gab es Nudeln und grünen Salat, der, wie Ines betonte, aus dem eigenen Garten stammte.

»Wie geht es denn Pfarrer Trenker?« wollte die Arzthelferin wissen. »Ich hoffe doch, er ist bei bester Gesundheit?«

Als sie die Freundin zum ersten Mal in deren neuen Heimat besuchte, um an der Hochzeit teilzunehmen, hatte sie den guten Hirten von St. Johann kennengelernt und war beeindruckt gewesen. Pfarrer Trenker entsprach so ganz und gar nicht dem Bild, das man gemeinhin von einem Landpfarrer hatte.

»Dem geht’s prächtig«, erzählte Ines. »Und noch immer steigt er in seinen geliebten Bergen umher, wenn es seine Zeit zuläßt.«

»Eine Bergtour will ich auf jeden Fall auch machen«, sagte Babsi. »Am liebsten gleich morgen früh.«

»Oje«, ließ sich Ines vernehmen, »da wirst’ aber allein’ aufsteigen müssen. Tobias’ Mutter ist krank geworden, und ich hab’ versprochen, morgen früh bei ihr ein bissel zu putzen und Essen zu kochen.«

»Na, bis zur Streusachhütte werd’ ich’s schon schaffen«, meinte Babsi. Oder soll ich lieber mit zur Frau Kranzinger kommen?«

»Net nötig«, schüttelte Ines den Kopf. »Was da zu tun ist, hat sich schnell erledigt. Ich koche ein bissel was vor, damit sie’s später nur aufwärmen braucht, und das bissel Putzen schaff’ ich schon allein.«

*

Nach dem Essen brachten sie Barbaras Gepäck in das Gästezimmer und packten aus. Anschließend machten sie einen Bummel durch den Ort. Die Besucherin stellte fest, daß sich hier nichts verändert hatte, seit sie das letzte Mal hiergewesen war. Aber das war gerade das Schöne an St. Johann, das Dorf strahlte wie immer Ruhe und Gelassenheit aus.

Es war einfach nur schön hier!

Natürlich gab es noch viel mehr zwischen den Freundinnen zu besprechen, und so saßen sie bald darauf im Garten des Hotels und unterhielten sich bei Kaffee und Kuchen über die letzten Ereignisse.

Eines interessierte Ines ganz besonders – Stefan Heilmann…

Babsi hatte den jungen Medizinstudenten kennengelernt, als er ein Praktikum bei dem Arzt machte, in dessen Praxis sie arbeitete. Der smarte Bursche schaffte es schnell, der Arzthelferin den Kopf zu verdrehen, und Babsi schwebte im siebten Himmel. Doch leider sollte dieser Zustand nicht allzu lange anhalten, denn sie merkte sehr schnell, daß Stefan sehr großzügig mit seiner Gunst umging…

»Gib dem Kerl den Laufpaß!« hatte Ines ihr geraten, als sie sich wieder einmal bei der Freundin am Telefon ausweinte. »Der hat dich doch gar nicht verdient.«

Aber das war leicht gesagt, wenn man den ›Kerl‹ so liebte, wie Babsi es tat. Immerhin schaffte sie es doch irgendwann, die Trennung zu vollziehen, doch der Schmerz war immer noch da.

»Wart’ nur«, tröstete Ines sie jetzt, »eines Tages läuft dir schon der Richtige über den Weg.«

Das wollte Barbara Schubert gerne glauben, indes hatte sie die Hoffnung längst aufgegeben.

»Jetzt bist du hier«, sagte die Freundin. »Wir machen uns ein paar schöne Tage. Tobias hat in der nächsten Zeit ohnehin viel um die Ohren, den werden wir kaum sehen. Wenn du morgen tatsächlich alleine zur Streusachhütte hinauf willst, dann könnten wir übermorgen doch in die Stadt fahren und einen supertollen Einkaufsbummel machen. Was hältst du davon?«

»Prima Idee«, nickte Babsi. »Aber was ist mit deiner Schwiegermutter?«

»Die kann gerne mal einen Tag auf mich verzichten. Versorgt ist sie ja, wenn ich vorkoche. Gott sei Dank ist sie net bettlägerig. Es ist nur so, daß sie in den letzten Wochen ziemliche Probleme mit dem Kreislauf hatte. Unser Doktor hat gesagt, sie solle sich schonen, aber du kennst Hertha Kranzinger ja. Tobias wollte, daß sie eine Haushaltshilfe einstellt, aber fremde Leute kämen ihr nicht ins Haus, sagte sie darauf. Na ja, wer weiß, wie wir mal sind in dem Alter.«

Barbara sah auf die Uhr.

»Sollen wir net mal zur Kirche hinübergehen und Pfarrer Trenker guten Tag sagen?« schlug sie vor.

Ines nickte. Sie bezahlten und verließen den Kaffeegarten. Die Kirche stand schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite. Sie gingen den Kiesweg hinauf und betraten das Gotteshaus, in dem es angenehm kühl war. Als sie unter der Galerie entlanggingen, sahen sie, daß die Tür zur Sakristei offenstand.

Babsi klopfte an.

»Guten Tag, Pfarrer Trenker«, rief sie fröhlich in den Raum, in dem allerlei Utensilien und das Kirchenarchiv aufbewahrt wurden.

Der Geistliche stand vor einem Schrank und räumte darin herum. Er drehte sich um und lächelte, als er die Freundinnen erkannte.

»Grüß Gott«, antwortete Sebastian und schüttelte die Hände. »Frau Schubert, haben S’ mal wieder Sehnsucht nach Ihrer Freundin?«

Babsi staunte wieder einmal über das Gedächtnis des Seelsorgers. So oft hatte sie nun auch wieder nicht mit ihm zu tun gehabt. Es war schon bewundernswert, daß er sich dennoch an sie erinnerte.

»Ja«, antwortete sie lächelnd, »und diesmal bleibe ich gleich zwei Wochen.«

»Na, dann werden wir doch bestimmt mal zusammen eine Tour unternehmen.«

Der Bergpfarrer konnte nicht nur Namen und Gesichter zuordnen, er erinnerte sich auch an die Leidenschaft der jungen Frau für das Wandern in den Bergen. Einmal waren sie schon zusammen aufgestiegen.

»Das hoffe ich sehr«, nickte die Arzthelferin. »Ich will gleich morgen schon zur Streusachhütte hinauf.«

Sebastian runzelte die Stirn.

»Morgen schon«, sagte er. »Da kann ich leider net. Aber die Tour schaffen S’ ja auch alleine. Doch für die nächste Woche sollten S’ sich nix vornehmen, da geh’n wir mal wieder zusammen.«

»Nix lieber als das, Hochwürden«, nickte Babsi. »Darauf freu’ ich mich schon – besonders auf die belegten Brote von Ihrer Haushälterin. Wie geht es denn der Frau Tappert?«

»Die ist gesund und munter, wie eh und je«, nickte Sebastian und schaute Ines an. »Und bei euch? Auch alles wohlauf?«

»Tobias klagt höchstens über zuviel Arbeit«, lachte die junge Frau. »Mir geht’s gut, und Mutter, na ja, das wissen Sie ja selbst.«

Der Geistliche nickte. Er hatte Ines’ Schwiegermutter in den letzten Tagen, als es ihr wirklich schlecht ging, mehrfach besucht.

»So langsam ist sie aber wieder auf dem Weg der Besserung«, setzte Ines hinzu.

Sie unterhielten sich eine Weile und gingen dann zur Tür. Sebastian wollte die beiden Frauen gerade verabschieden, als sein Bruder den Weg heraufgelaufen kam.

»Servus zusammen«, rief der Polizist. »Sebastian, sag’ der Frau Tappert, daß ich wahrscheinlich net zum Abendessen da sein werd’.«

»Was ist denn los?« fragte der Geistliche.

Max hatte schon wieder kehrt gemacht und war auf dem Weg zur Straße.

»Überfall auf die Sparkasse in der Kreisstadt«, rief er. »Es ist Großalarm ausgelöst worden. Der Täter ist noch irgendwo im Landkreis. Alle Kollegen fahnden nach ihm.«

Der Polizist stoppte und kam zurückgelaufen.

»Bleibt am besten im Ort«, sagte er eindringlich. »Der Bankräuber ist bewaffnet und wird als sehr gefährlich eingestuft.«

»Himmel, dann sei bloß vorsichtig«, rief Sebastian.

»Kennst mich doch«, grinste Max und rannte zu seinem Streifenwagen.

Der Bergpfarrer sah die beiden Frauen an.

»Unter diesen Umständen sollten Sie morgen besser net allein losziehen«, meinte er zu Babsi.

»Glauben Sie, daß der Räuber sich ausgerechnet auf den Kogler flüchtete?« meinte die Arzthelferin skeptisch.

»Ich weiß es net«, erwiderte Sebastian. »Vielleicht net. Am liebsten wär’s mir, sie würden ihn so schnell wie möglich fassen.«

*

In der Kreisstadt herrschte helle Aufregung. Polizisten hatten an den Ausfallstraßen Stellung bezogen. Streifenwagen fuhren und Martinshörner heulten. Die Leute standen in Gruppen zusammen und unterhielten sich über den Bankräuber, der mehrere tausend Euro erbeutet und auf seiner Flucht wild um sich geschossen hatte. Zum Glück war dabei niemand verletzt worden.

Kriminalhauptkommissar Bergmann, der die Einsatztruppe leitete, blickte auf das Fahndungsfoto. Es zeigte das Gesicht eines jungen Mannes, das ein Spezialist der Polizei nach Zeugenangaben gezeichnet hatte. Es war vervielfältigt worden und hing inzwischen auch überall aus. Allerdings wurde angenommen, daß der Täter die Stadt inzwischen verlassen hatte und sich irgendwo im Landkreis aufhielt. Aus diesem Grund wurde mehrfach stündlich im Rundfunk vor dem Mann gewarnt, daß der bewaffnet sei und als sehr gefährlich angesehen wurde. Außerdem gab es eine Sondersendung im Regionalprogramm des Fernsehens, in der das Fahndungsfoto gezeigt wurde.

Klaus Bergmann betrachtete immer noch das Foto, als sein Kollege den Raum betrat. Ernst Winter schüttelte den Kopf, als der Hauptkommissar ihn fragend anschaute.

»Tut mir leid, Klaus, immer noch keine Spur.«

»Das versteh’ ich net«, knurrte der Beamte. »Der Kerl kann sich doch net in Luft auflösen. Irgend jemand muß ihn doch gesehen haben.«

»Wir müssen abwarten«, meinte Ernst Winter. »Die meisten Leute im Wachnertal sind noch bei der Arbeit, die haben von dem Überfall noch nix mitbekommen. Das Foto wird alle halbe Stunde im Fernsehen gezeigt. Früher oder später trudeln die ersten Hinweise ein.«