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FLÜCHTIGE BEKANNTE

Insel der Lotophagen, 1145 v. Chr.

Und neun Tage trieb ich, von wütenden Stürmen geschleudert über das fischdurchwimmelte Meer; am zehnten gelangt’ ich hin zu den Lotophagen, die blühende Speise genießen. Allda stiegen wir an das Gestad’, und schöpften uns Wasser. Eilend nahmen die Freunde das Mahl bei den rüstigen Schiffen. Und nachdem wir uns alle mit Trank und Speise gesättigt, sandt’ ich einige Männer voran, das Land zu erkunden, was für Sterbliche dort die Frucht des Halmes genössen: Zween erlesene Freund’; ein Herold war ihr Begleiter.

Und sie erreichten bald der Lotophagen Versammlung. Aber die Lotophagen beleidigten nicht im Geringsten unsere Freunde; sie gaben den Fremdlingen Lotos zu kosten. Wer nun die Honigsüße der Lotosfrüchte gekostet, der dachte nicht mehr an Kundschaft oder an Heimkehr: sondern wollte stets in der Lotophagen Gesellschaft bleiben, und Lotos pflücken, und seiner Heimat entsagen.

Doch ich zog mit Gewalt die Weinenden wieder ans Ufer, warf sie unter die Bänke der Schiffe und band sie mit Seilen. Drauf befahl ich und trieb die übrigen lieben Gefährten, eilend von dannen zu fliehn und sich in die Schiffe zu retten, dass man nicht, vom Lotos gereizt, der Heimat vergäße.

Und sie traten ins Schiff und setzten sich hin auf die Bänke, saßen in Reihn, und schlugen die graue Woge mit Rudern. Also steuerten wir mit trauriger Seele von dannen.

Berlin, 16. November

Wir hatten Verspätung. Vor vierzig Minuten hätten wir starten sollen, stattdessen saßen wir an diesem Gate und warteten. Ich versuchte mit dem Laptop auf dem Schoß zu arbeiten, tat mich aber schwer, unkonzentriert, wie ich war. Als ich sah, wie sich die Frau vom Bodenpersonal hinter ihrem Desk zum Mikrofon beugte, glaubte ich natürlich wie alle anderen auch, es ginge endlich los, dann ihre Durchsage, der Sektor sei immer noch überlastet, unser Abflug verschiebe sich um weitere dreißig Minuten.

Sofort setzte allgemeines Gemurmel ein, manche schüttelten den Kopf und verzogen ihr Gesicht, mir ging es nicht anders, es nervte einfach, vor allem weil spätestens jetzt klar war, dass ich meinen Anschlussflug nach Djerba verpassen würde. Ob es spätere Flüge gab, wusste ich nicht, wahrscheinlich würden wir erst gegen acht in Tunis ankommen, vorausgesetzt, wir kamen überhaupt irgendwo an.

Ich ging zum Desk, um mich zu erkundigen, und erhielt nach einem Blick auf den Monitor die Auskunft, zwei weitere Maschinen würden an diesem Abend noch von Tunis aus starten, ich könne ganz beruhigt sein.

Zurück auf meinem Platz war ich überhaupt nicht beruhigt und fragte mich, was eigentlich mit mir los war. Die Frau vom Desk hatte völlig recht, ich hätte es mir bequem machen und entspannt abwarten können, es spielte absolut keine Rolle, ob ich zwei Stunden später in diesem Club auf Djerba ankam oder nicht, Maren lief mir nicht davon, sie hatte keine Ahnung. So oder so würde ich sie frühestens am nächsten Tag treffen, wieso also diese Unruhe, die ich schon seit Tagen spürte, statt mich auf eine Woche Mittelmeer im November zu freuen, mit Palmen, Sonne, Sand und Meer. Schließlich hätte sie auch in Alaska sein können, bei minus fünfunddreißig Grad und Schneesturm, oder in der Wüste Gobi, oder sonstwo.

Um auf andere Gedanken zu kommen, beschäftigte ich mich erneut mit meiner Kritik von Atmen. In ein paar Tagen musste ich liefern, aber alles, was ich tippte, löschte ich, kaum dass ich es durchgelesen hatte. Dabei gefiel mir die Story über diesen achtzehnjährigen Freigänger, der ausgerechnet durch einen Job bei der Wiener Bestattung im Leben wieder Fuß fassen wollte, schwarzer Humor eben, den ich witzig fand. Meine Bewertung stand fest, ich gab dem Film vier Sterne, trotzdem fiel mir nichts Vernünftiges ein, ich konnte mir den Kopf zerbrechen, wie ich wollte.

Nach fünf Minuten klappte ich das Laptop endgültig zu, es hatte einfach keinen Sinn.

Das Gate voller Menschen, man saß dicht an dicht, umgeben von Taschen, Tüten und Mänteln. Irgendwo anders hinzugehen war unmöglich, weil sofort Trennwände kamen, wir waren regelrecht eingepfercht. Ich hasste diesen Flughafen mit seiner engen Zweckmäßigkeit und stellte mich an eines der Fenster, um mir etwas Luft zu verschaffen.

Draußen war Nacht, Betrieb auf dem Vorfeld im Flutlicht bei Nieselregen. Seit Wochen nasskaltes Wetter, auch tagsüber wurde es nicht richtig hell, dafür eine diffuse, weißlich graue Schicht am Himmel, die einen wahnsinnig machte.

Auf einem Zug aus Gepäckkarren weichten Koffer durch.

Am Desk rührte sich noch immer nichts.

Um etwas zu tun, ging ich zur Toilette und wusch mir die Hände. Das bleiche Gesicht, das mich aus dem Spiegel über dem Waschbecken anglotzte, passte eigentlich nicht zu mir, im ersten Moment erschrak ich geradezu. Ich hätte mich rasieren sollen, irgendwie wirkte ich ungepflegt, fiel mir auf, bevor ich meinen Blick abwendete und mir dabei zusah, wie ich meine Finger einseifte.

Am Gate stand ich wieder unschlüssig mit den Händen in den Hosentaschen.

Dann endlich die Durchsage, unsere Maschine sei nun zum Einsteigen bereit. Sofort sprangen alle auf, weil es keiner mehr erwarten konnte.

Wir schwenkten auf die Startbahn.

Ich war erleichtert, als wir abhoben. Kurz konnte man noch die Lichter am Boden erkennen, bevor wir in den Wolken verschwanden.

Später gab es Laugenstange mit Butter. Auf dem Klapptisch vor mir stand das Laptop, ich klickte Fotos von Badfliesen durch, die mir Anne extra noch abgespeichert hatte. Die nächste Versammlung unserer Baugruppe sollte zwei Tage nach meiner Rückkehr stattfinden, dann mussten wir Details nennen. Ich hatte vor diesen Zusammentreffen jedes Mal ein ungutes Gefühl. Der Bau war eine Belastung, auch wenn ich es nicht zugab. Anne steckte den ganzen Ärger besser weg, ich dagegen rechnete immer mit einer Katastrophe. Riss in einer tragenden Wand, Insolvenz der Baufirma, Nässe, die nicht richtig austrocknete, und kurz nach dem Einzug schimmelten die Wände, alles Mögliche konnte passieren. Man wusste einfach nicht, worauf man sich einließ, ich glaube das war es, was mich am meisten bei der Geschichte störte. Es war nicht zu kontrollieren, unmöglich, man hatte keinen Einfluss und konnte nur hoffen, dass alles gutgehen würde, was mir, wie gesagt, unheimlich schwerfiel.

Die Sicht wurde klarer, je südlicher wir kamen. Unter uns Lichter in Orange, ansonsten alles stockdunkel, bis auf die Tragfläche, die, vom Blitzen des Positionslichts beleuchtet, vollkommen ruhig in der Luft lag.

Nachdem ich mich teilnahmslos durch die Fliesen geklickt hatte, eigentlich war mir völlig egal, was bei uns im Bad an der Wand klebte, packte ich den Stick weg und betrachtete wieder dieses Foto von Maren: wie sie vor der Garage im Rohbau steht, mit dem Meterstab in der Hand. Ihr überraschter Blick in die Kamera, als wäre sie beschäftigt gewesen und hätte aufgesehen, weil der Fotograf irgendetwas rief. Die Hemdsärmel der taillierten weißen Bluse aufgekrempelt, ihre dunklen Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Eine lange Strähne hing über ihrer Wange, ich war mir sicher, dass Maren sie Sekunden nach dem Foto hinters Ohr gestrichen hatte. Sie wirkte attraktiv, klar, auch wenn das natürlich keine Rolle spielte. Ich glaubte, etwas wie Skepsis oder Misstrauen aus ihrem Blick herauslesen zu können, was wahrscheinlich albern war. Eine Momentaufnahme, nichts weiter.

Als ich mir durch den Kopf gehen ließ, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis ich ihr gegenübertrat, wenn nicht zwischendurch die Welt unterging, fühlte ich wieder dieses nervöse Kribbeln im Magen, dessen Ursache ich mir einfach nicht erklären konnte.

Locarno, vor drei Monaten

Mein Telefon klingelte, als ich in einer Pause zusammen mit Georg, der fürs Radio arbeitete und den ich seit Jahren kannte, an der Bar im Pressezentrum stand, bei Schinken-Käse-Toast und Mineralwasser.

Vom Display wurde angezeigt, dass Anne anrief. Ich steckte das Telefon zurück in die Tasche, es schien mir unsinnig abzunehmen, in der hektischen Bar, außerdem begann in zehn Minuten der nächste Film. Georg trank Bier, was ich angesichts der Hitze für gewagt hielt. Wir hatten gerade Five easy pieces aus der Nicholson-Retrospektive gesehen, siebziger Jahre, den wir natürlich kannten, aber uns noch mal gönnen wollten, sozusagen als Privatvergnügen. Nicholson in der Rolle dieses komplett Entwurzelten, der keine Bindungen eingehen konnte, weder beruflich noch privat, ein Verlorener, unzufrieden mit sich und der Welt, früher Konzertpianist, dann Arbeiter auf einem Ölfeld. Am Ende ist er zusammen mit seiner Freundin im Auto auf der Rückfahrt von einem ziemlich bitteren Besuch bei seinem Vater, zu dem er jahrelang keinen Kontakt hatte, weil sie sich von Anfang an nicht verstanden. Mitten im Nirgendwo stoppt er an einer Tankstelle, geht zur Toilette, seine Freundin bleibt im Wagen sitzen, schaut im Waschraum lange in den Spiegel, geht wieder nach draußen, spricht spontan mit einem Lkw-Fahrer, der zufällig zwischen ihm und seinem Wagen geparkt hat, passt auf, dass ihn seine Freundin nicht bemerkt, steigt auf der Beifahrerseite in den Lkw, nur mit den Sachen, die er am Leib trägt, und fährt davon, irgendwohin, während sich seine Freundin im Wagen an der Zapfsäule wundert, wo er nur so lange bleibt.

Wir fanden den Film immer noch grandios.

Weil ich mich für die nächste Vorstellung beeilen musste, verabredete ich mich mit Georg für später in meiner Stammbar bei Michele.

Anne rief ich am frühen Abend zurück. Ich fühlte mich nicht wohl, wahrscheinlich wegen der Hitze, es waren noch über dreißig Grad. Mein Hemd klebte am Rücken, ich schwitzte am ganzen Körper, sogar meine Brille war schmierig. Idiotischerweise versuchte ich, die Gläser mit dem Hemd sauber zu reiben. Außerdem hatte ich wieder schlecht geschlafen, wie schon die ganzen Tage. Es hatte ein Versehen in unserem Redaktionssekretariat gegeben, das ein Zimmer für mich buchen sollte, was die letzten Jahre auch problemlos geklappt hatte. Albergo La Quiete, wo ich mich immer sehr wohlfühlte. Als ich nachfragte, weil noch keine Reservierungsbestätigung bei mir eingegangen war, bemerkte die Sekretärin, dass ich vergessen worden war. Die Albergo längst ausgebucht, woran auch ein sofortiger Anruf von mir nichts änderte. Maria, die mich von den letzten Jahren kannte, bedauerte aufrichtig, aber es sei beim besten Willen nichts mehr zu machen. Stattdessen eine Notlösung, Fremdenzimmer im ersten Stock über einer Kneipe in der Altstadt, Bar Grill Ristorante, Lärm bis spät in die Nacht, das Zimmer ging zum Eingang raus. Sicht aus dem Fenster fünf Meter, dann die Wand des Hauses gegenüber.

In der Nacht zuvor hatten wieder welche vor dem Eingang stundenlang in voller Lautstärke gequatscht, bis ich es nicht mehr aushielt, die Läden aufriss und hinunterbrüllte:

»Do you know what time it is?«

»A quarter past three«, rief einer zurück, worauf sich die anderen halb totlachten.

Anne meldete sich.

Ich saß am Ufer des Sees auf einer Bank, Blick auf das ölige Wasser, kein Lüftchen, Zypressen wie Stein. An den Stegen die Boote, als wären sie festgeklebt, dafür schwirrten Mücken.

Anne erzählte von der letzten Baugruppenversammlung, wovon ich nichts wissen wollte, aber trotzdem zuhörte.

Der Projektsteuerer, sagte sie seltsam unaufgeregt, habe bekanntgegeben, dass sich die Baukosten wesentlich erhöhten, wegen gestiegener Rohstoffpreise oder so, sie wisse es nicht genau.

Ich wedelte mit den Händen, um die Mücken zu verscheuchen.

»Hat natürlich sofort ein Riesentohuwabohu gegeben«, sagte Anne, »kannst du dir ja vorstellen. Zweiunddreißig Parteien und alle rufen durcheinander. Der Typ zuckte bloß mit den Schultern und meinte, so sei es eben, Abstriche an anderer Stelle kämen nicht in Frage, und wenn uns das nicht passe, müssten wir einen anderen Dummen suchen. Du weißt ja, wie er ist.«

Ich murmelte irgendwas.

»Dann haben sich alle gegenseitig angeschrien, bis auf die, die sowieso nie was sagen. Ich fand’s ziemlich peinlich. In meiner fünften Klasse geht’s gesitteter zu, so viel ist sicher.«

»Und mit denen wohnen wir dann später zusammen«, sagte ich.

»Die mit der Erdgeschosswohnung sind in finanziellen Schwierigkeiten«, fuhr Anne fort, »wahrscheinlich müssen sie ausscheiden, die haben sich völlig verkalkuliert. Aber da mach ich mir keinen Kopf, die Leute schlagen sich doch um Kreuzberg, dazu noch unsere Nähe zum Tempelhofer Flugfeld, da finden wir sofort Ersatz. Eigentlich wollte ich dir sowieso was ganz anderes erzählen, aber sag doch vorher schnell, wie die Filme bisher waren.«

»Wir sind doch sowieso immer unterschiedlicher Meinung, was das betrifft.«

»Oh, sind wir heute mit dem falschen Fuß aufgestanden?«

Ich erzählte von dem Bar Grill Ristorante.

Anne lachte.

»Und dann diese Hitze«, sagte ich.

Ob ich Schnee erwartet hätte?

Allmählich bekam ich schlechte Laune.

»Nur die Ruhe«, sagte Anne. Gleich würde ich große Ohren machen. Sie sei gestern Abend wie immer beim Pilates gewesen, anschließend noch zusammen mit den anderen in eine Kneipe gegangen. Zufällig habe sie dort neben Berthold gesessen, der erst seit ein paar Wochen dabei sei, und mit dem sei sie eben ins Gespräch gekommen. Sie finde ihn sympathisch, wahrscheinlich gehe es ihm genauso, jedenfalls hätten sie sich von Anfang an prima verstanden.

Ich schaute auf den See. Kein Ahnung, was ein Mann beim Pilates wollte, aber bitte. Im Kreis mit anderen auf einer Turnmatte zu liegen und deutlich hörbar aus- und einzuatmen war nicht mein Fall, sowieso empfand ich Dinge wie Beckenbodenmuskulatur als etwas typisch Weibliches, ich wusste nicht, ob Männer überhaupt einen Beckenboden haben, aber natürlich war es jedem selbst überlassen, ob er das machte oder nicht.

»Das merkt man ja schnell, ob man mit jemandem auf einer Wellenlänge ist oder nicht«, sagte Anne. Wie sie darauf gekommen seien, wisse sie nicht mehr, aber irgendwann habe sie nebenbei gefragt, ohne sich viel dabei zu denken, aber wieso solle man sich dabei auch viel denken, obwohl ihr im Nachhinein schon bewusst geworden sei, dass es auch hätte missverstanden werden können, sie habe also Berthold gefragt, ob er eigentlich verheiratet sei. Schlagartig habe sich seine Miene verändert, ernst sei er geworden und habe nach kurzem Zögern gesagt, seine Frau werde vermisst, seit einem Dreivierteljahr.

Anne machte eine Pause und wartete, was ich sagen würde, aber ich hatte nichts zu sagen und schwieg mit vorgestülpter Unterlippe, was Anne an mir noch nie leiden konnte, aber sie sah es ja nicht.

»Und?«, fragte sie, weil ich nichts antwortete, »was sagst du? Das ist doch furchtbar!«

»Jaja«, sagte ich, »klar!«

»Wie, jaja«, erwiderte sie mit dieser plötzlich gereizten Stimme, die ich schon kannte.

»Dann erzähl eben«, sagte ich, »wie war das, die Umstände, Details, du wirst ja wohl nachgefragt haben.«

»Einfach weg. Von einer Sekunde auf die andere.«

Ich verdrehte die Augen.

»Sie wohnen«, sagte Anne, »in einem Altbau, zweiter Stock Vorderhaus, in Schöneberg. Unter dem Dach hat sich Maren, seine Frau, ein kleines Büro eingerichtet, sie ist Architektin. Es war an einem Freitagabend, Anfang November, nach dem Essen, da hat sie zu ihm gesagt, sie müsse nochmal hoch, eine Zeichnung fertig machen, sonst schleppe sie die das ganze Wochenende mit sich herum. Sie brauche nicht lange, zwei, drei Stunden. Berthold solle nicht vergessen nach Sandra zu sehen, der Tochter. Zwölf war die damals. Sie musste noch irgendwas für die Schule machen. Seine Frau verlässt also die Wohnung, nur mit Turnschuhen und Pullover bekleidet, und verschwindet spurlos, wie von der Erde verschluckt.«

»Und die Polizei?«

»Die haben auch nichts rausbekommen. Sicher ist, dass sie tatsächlich oben im Büro gewesen sein muss, nicht nur, weil das Licht brannte, sondern auch, weil man festgestellt hat, dass ihr Computer kurz nach acht eingeschaltet wurde.«

Ich musste gähnen, was nichts mit Annes Geschichte zu tun hatte, ich war bloß müde.

Natürlich verstand sie es falsch.

Sie habe geglaubt, sagte sie enttäuscht, das sei etwas für mich.

Als wir aufgelegt hatten, blieb ich auf meiner Bank sitzen. Mein Treffen mit Georg war in einer Stunde, es lohnte sich nicht, vorher noch mal ins Hotel zu gehen. Klar ging mir das Telefonat mit Anne durch den Kopf.

Es war ja nicht so, dass es mich nicht interessierte.

Im Gegenteil!

Selbstverständlich hatte die Geschichte etwas, auch wenn sie nicht neu war. Die Zigaretten, die einer noch schnell am Automaten um die Ecke holen wollte, der dann nicht mehr wiederkam, das gab es schon. Meistens Männer, glaubte ich, ohne es zu wissen, es war nur so ein Gefühl. Einmal eine Frau, fiel mir ein, in den USA, die ohne ein Wort zu sagen ihr Mittelstandsdasein mit Mann und zwei kleinen Kindern zurückgelassen hatte und zwanzig Jahre später zufällig bei einer Polizeikontrolle identifiziert wurde; die meiste Zeit war sie als Obdachlose durch das Land gezogen. Es gab dann wohl ein Treffen mit ihrer Familie, die aber nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte. Oder diese Deutsche, um die sechzig, die vor Jahren an Bord der Queen Mary 2 nach New York fuhr und unterwegs spurlos verschwand. Ich bekam damals die Agenturmeldung in die Finger, wobei in ihrem Fall weniger das Rätsel war, wo sie sich aufhielt, das konnte nur der Atlantik sein, es stellte sich eher die Frage, ob freiwillig oder unfreiwillig.

Bei Maren wusste man weder das eine noch das andere, reizvoll also, klar. Und natürlich hatte Anne recht, hin und wieder machte ich auch Reportagen, neben meinen Kritiken, selten genug allerdings und sowieso war Voraussetzung, dass von Seiten der Redaktion überhaupt Bedarf bestand.

Davon abgesehen hatte ich genug zu tun:

Venedig: 28. 8.–7. 9.

Oldenburg: 12. 9.–16. 9.

Zürich: 20. 9.–30. 9.

Hamburg: 26. 9.–5. 10.

Hof: 23. 10.–28. 10.

Im November würde es ein Jahr her sein, dass sie verschwunden war, was als Aufhänger taugte, andererseits erledigte sich das Alltagsgeschäft mit den Filmen auch nicht von allein, ganz zu schweigen von den Festivals. Sowieso wäre für die Geschichte nicht mein übliches Ressort zuständig. Vielleicht die Seite drei, ansonsten Panorama, womöglich Lokales – wenn überhaupt.

Über dem Mittelmeer, 16. November

Die Turbulenzen kamen plötzlich, ohne die sonst übliche Vorwarnung. Ich schaute aus dem Fenster, als gäbe es irgendwas zu sehen, mein Laptop hatte ich wieder in die Tasche gepackt. Das Anschnallzeichen ging sofort an, begleitet vom üblichen Gong. Unmittelbar darauf die Durchsage einer Stewardess, das Benutzen der Toilette sei nicht mehr gestattet.

Wir wurden ziemlich durchgerüttelt.

 In dem Plastikbecherchen auf dem Klapptisch vor mir schwappte das Wasser.

Der Kapitän informierte, es könne noch eine Weile holprig sein, wegen einer Gewitterfront, die man zwar umfliege, trotzdem bekämen wir die Ausläufer ab, das sei unvermeidlich. Die Kabinencrew solle den Service einstellen und sich ebenfalls anschnallen.

Spätestens jetzt wurde den meisten mulmig.

Wir saßen schweigsam und konzentrierten uns auf das Rütteln. Manchmal ging es wie in einem Aufzug nach oben, dann ein kurzer Fall, der abrupt stoppte, fast so, als touchierten wir festen Boden; ein merkwürdiges Gefühl, in zehntausend Metern Höhe. Zwischendurch flogen wir für ein paar Sekunden vollkommen ruhig, während wir auf die nächste Turbulenz warteten. Ich hatte diese Heftigkeit selten erlebt. Einmal vor Jahren bei einem Flug im Winter über die Alpen, aber seitdem war es meist mehr oder weniger ruhig gewesen, jedenfalls nie so schlimm wie jetzt.

Alles klapperte, vor allem die Getränkewagen in ihren Boxen.

Natürlich glaubte ich nicht, dass wir abstürzen könnten, obwohl mir genügend Flugzeugkatastrophen einfielen, bei denen es mit einem Gewitter losging. Auf meinem Nachttisch zu Hause lag dieses ziemlich abgegriffene Buch mit Abschriften der Aufzeichnungen von Voice Recordern bei einer Reihe von Abstürzen. Zuerst eine kurze Schilderung des Sachverhalts, was sich wie und warum ereignete, dann die Stelle, an der die Gespräche im Cockpit einsetzten, natürlich noch zu einem völlig harmlosen Zeitpunkt. Die Crew unterhielt sich über Cocktails, eine der Stewardessen war gerade im Cockpit und erzählte, was ihr am besten schmeckte, Blood and Sand, der Kapitän schwärmte von Mai Tai, plötzlich die Warnmeldung, Eis an den Tragflächen. Sekunden später geriet alles außer Kontrolle, steiles Trudeln in Richtung Boden, keine Minute später der Aufschlag.

Anne hasste dieses Buch.

Ich stellte mir vor, wie wir plötzlich abkippten und in den Sturzflug übergingen. Man saß auf seinem Sitz und wusste, das war es also. Ich glaubte nicht, dass ich hysterisch werden würde, dazu war ich nicht der Typ. Wahrscheinlich fände ich mich einfach damit ab. Man konnte sowieso nichts tun, wozu also sich gegen das Unvermeidliche wehren. Vielleicht notierte ich noch schnell ein paar Zeilen auf der Bordzeitschrift und hoffte, sie würden hinterher gefunden. Was schrieb man in so einem Moment? Anne, ich liebe dich, Grüße J.? Oder, ich liebte dich?

Vielleicht wäre es besser, nichts zu hinterlassen. Überhaupt stellte ich es mir problematisch vor, wie man als Hinterbliebener mit so einem Relikt umging, womöglich noch angekokelt an den Rändern.

Jetzt ein Luftloch von ein paar Metern.

Es war mein Vorschlag gewesen, Berthold zu uns zum Essen einzuladen. Anne schaute mich ungläubig an, aber ich wollte die Geschichte aus erster Hand hören, auch wegen Details, die bisher noch gar nicht zur Sprache gekommen waren. Alles ganz unverbindlich, klar, ich hatte in der Redaktion bislang mit niemandem darüber gesprochen.

Wir saßen am Esstisch und tranken Rotwein, im Backofen brutzelte Annes legendäres Paprikahuhn.

Anfangs die Stimmung ziemlich verkrampft, was ja auch kein Wunder war, obwohl ich mit Berthold schnell zum Du überging. Wir fanden es beide komisch, wenn er sich mit Anne duzte und wir zueinander Sie sagten. Anne hatte ihm erzählt, dass ich Journalist sei, was ihn sofort misstrauisch machte. Das Verschwinden von Maren hatte damals für Aufsehen gesorgt, er war von Reportern bedrängt worden und hatte sich eingelassen in der Hoffnung, es helfe. Am nächsten Tag dann ihr Urlaubsfoto großformatig abgedruckt, Berthold mit der lachenden Maren auf dem Hotelbalkon in Spanien, er hatte den Arm um sie gelegt. Maren im Bikini, er in Badehose, beide braungebrannt. Über seinen Augen ein schwarzer Balken, dazu lauter intime Details, die er erzählt hatte, ohne sich viel dabei zu denken, durcheinander, wie er war.

Diese Erfahrung, sagte Berthold, wolle er nicht noch mal machen.

Anne versprach, dass ich niemanden über den Tisch ziehen würde.

Ich sagte, zumindest merke sie es nie.

Wir lachten.

Als wir das zweite Glas getrunken hatten, wurde es lockerer, wirklich entspannt aber waren wir den ganzen Abend nicht. Berthold konzentrierte sich darauf, sachlich zu bleiben, die Distanz zu wahren, vor allem zu mir. Gegenüber Anne schien er sich leichter öffnen zu können, dabei immer freundlich, überhaupt wirkte er nicht unsympathisch, wenn auch die Belastung unübersehbar blieb. Seine Augen unruhig, die Züge seines Gesichts dagegen wie eingefroren, ernst, gleichzeitig unsicher, immer unter Spannung. Es strengte an, wenn man ihn ansah.

Er lobte das Essen, Anne freute sich, ich schenkte nach. Zu der Unterhaltung von Anne und Berthold über Pilates konnte ich nichts beitragen, dafür fragte ich nach Sandra. Sie sei allein zu Hause, sagte Berthold, was aber kein Problem wäre, außerdem habe sie natürlich seine Handynummer, für Notfälle.

Nochmals also: Maren (42), die nicht anders wirkte als sonst, auch in den letzten Tagen oder Wochen, deren Verhalten nicht den kleinsten Hinweis bot, auf was auch immer. Schon deshalb befürchtete Berthold das Schlimmste, weil alles andere einfach keinen Sinn ergab. Gegen zwanzig Uhr verließ sie die Wohnung in Turnschuhen und Pullover. Um Mitternacht ging Berthold zu Bett und fand es merkwürdig, dass sie immer noch arbeitete. Er glaubte, sie habe die Zeit vergessen. Um drei Uhr wachte er aus einem ihm nicht mehr erklärlichen Grund auf, merkte, es lag niemand neben ihm. Er zog sich an und ging nach oben, um zu fragen, was um Gottes willen sie nachts um drei noch zu arbeiten habe. Schlüssel zum Büro hatte er, wunderte sich nicht, als das Licht brannte, im Gegenteil, wurde aber unruhig, als er merkte, dass sie gar nicht da war. Er ging wieder nach unten, schaute in jedes Zimmer der Wohnung, auch in das von Sandra, vielleicht hatte sie sich irgendwo anders zum Schlafen hingelegt, was sie allerdings noch nie gemacht hatte, wozu auch. Er fand sie nicht und wurde zunehmend ratlos. Eine Weile lang stand er im Wohnzimmer und überlegte, was er tun sollte, während er gleichzeitig hoffte, sie würde plötzlich zur Tür hereinschleichen mit einer ganz unglaublichen Geschichte, die alles aufklärte.

Um vier Uhr rief er die Polizei. Eine Streife nahm den Sachverhalt auf, notierte Personalien. Mehr war nicht möglich, was sollte man auch machen, ohne den geringsten Hinweis, wo und in welche Richtung man suchen sollte. Wenigstens wurde eine Personenbeschreibung von ihr über Funk durchgegeben. Die Polizisten gingen wieder, Berthold blieb allein zurück, machte sich Kaffee, an Schlaf war sowieso nicht mehr zu denken. Die Unruhe in ihm mit jeder Minute immer bohrender. Beim kleinsten Geräusch aus dem Treppenhaus die Hoffnung, es sei Maren. Einmal schlug die Haustür, jemand ging die Treppen hoch. Berthold war sofort an der Tür, riss sie auf und sah den Mieter aus dem vierten Stock, der ihn verwundert anblickte.

Gegen sieben telefonierte er der Reihe nach alle Freunde und Bekannte ab, in der unsinnigen Hoffnung, womöglich sei sie mitten in der Nacht zu irgendeinem von ihnen gegangen, oder habe sich sonst gemeldet, warum auch immer.

Jedes Mal sofort die Gegenfrage, was um Gottes willen denn passiert sei.