Produziert mit Unterstützung der Stadt Wien / MA7
Wissenschafts- und Forschungsförderung

Sperl, Gerfried (Hg.): Neoliberalismus
Essays, Diskurse, Reportagen / Gerfried Sperl
Phoenix, Band 1
Wien: Czernin Verlag, 2016
ISBN 978-3-7076-0579-2

© 2016 Czernin Verlags GmbH, Wien
Umschlaggestaltung: Sensomatic
Produktion: www.nakadake.at
ISBN E-Book: 978-3-7076-0579-2
ISBN Print: 978-3-7076-0551-8

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe
in Print- oder elektronischen Medien

Inhalt

Editorial

Philipp Ther: Neoliberalismus, eine Einführung

Georg Packer: Wende in der US-Politik

Mariana Mazzucato: Missverstandener Staat

Gabriele Winker: Umbau der Familienstrukturen

Christian Nürnberger: Verscherbelte Demokratie

Barbara Vinken: Mode als Gier und Rausch

Regula Stämpfli: Brüste werden zu Beton

Rudolf Müllner: Die Industrialisierung des Sports

Über die Autoren

Editorial

Eines der meistdiskutierten Gegen­satzpaare der wirtschaftspolitischen Diskussion ist Marktwirtschaft versus Marktherrschaft. Ersteres wäre gleichzusetzen mit dem Ordo-Liberalismus deutscher Prägung.

Das zweite mit dem Neo-Liberalismus à la Chicago. Der Ordo-Liberalismus verankert im von direkter Lenkung unabhängigen Wirtschaftssystem die Verbindung von sozialer Rücksicht und Leistungsprinzip durch den Überbegriff der »sozialen Gerechtigkeit«. Der Neo-Liberalismus moderner Prägung (ent­standen unter der Präsidentschaft Jimmy Carters, entwickelt unter Ronald Reagan und Margaret Thatcher) entzieht dem Staat durch radikale Privatisierung jede unternehmerische Kraft. Er überlässt sie schließlich durch die Deregulierung des Kapitalverkehrs der immer mächtiger werdenden Finanzindustrie. Deren Entfesselung wird zu einer der Ursachen der »Lehman-Brothers-Krise«, die bis heute dauert.

Die ideologischen Stöße dieses neuen Liberalismus hatten damit das Potenzial, die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft mit ihrer Ausformung einer Sozialpartnerschaft zu verdrängen und den Keynesianismus als Instrument der staatlichen Budgetpolitik abzulösen. Die sozialen Verwerfungen dramatisierten sich nach 2008 dort am stärksten, wo es im Unterschied zu Deutschland, Österreich und Skandinavien keinen Nachhall des frühen »historischen Kompromisses« zwischen christlichen und sozialdemokratischen Parteien mehr gab.

So wie in den späten 60er-Jahren die Sozialdemokratie (oft mithilfe der Kultur- und Sozialliberalen) vergeblich versuchte, die Gesellschaft mit Demokratie zu »durchfluten«, starteten die konservativen und rechtsliberalen Parteien eine solche Durchflutung mit den Gesetzen der Ökonomie. Selbst Wissenschaft und Kunst sollten und sollen sich »rechnen«. Wer sich nicht selbst finanziert, verschwindet. Und der Staat wird zum Beschützer dieses neuen ökonomischen Körpers. Eine »organisierte Parteien­demokratie« ist angesagt, Volksabstimmungen, Demonstrationen und Medienfreiheit stören die Harmonie.

Der »freie Markt« im Sinne eines von jeglicher Kontrolle befreiten Marktes überzieht nicht nur das politische Leben und die wirtschaftlichen Entwicklungen. Seine Fantasien verbreiten sich in alle Lebens- und Umgangsformen. Weshalb Phoenix, als Periodikum für Zeitphänomene, auch einen Blick auf bisher kaum beachtete Wirkungsfelder des Neo-Liberalismus wirft – zum Beispiel auf die Familien­politik, wo der Umbau voll im Gange ist, oder im Sport, wo die Skandale rund um die Imperien der FIFA und des österreichischen Skiverbandes vom enthusiasmierten Publikum kaum wahrgenommen werden und doch Teil des Totaleinbruchs industrieller Interessen in die einstige »Körperertüchtigung« sind.

Selbst die Mode hat über Textilindustrien und Marketing-Giganten zur Entfremdung vieler Menschen von sich selbst geführt, das chirurgische Reparatur- und Skulptur-Business gehorcht der ökonomischen Instrumentalisierung einer alten Sehnsucht: Schön zu sein für die moderne Welt.

Gerfried Sperl*

* Dr. phil. Universität Graz. 1982–1987 Chefredakteur der Süd-Ost Tagespost, 1988 Mitglied der Gründungscrew des Standard, 1992–2007 dessen Chefredakteur. 2000–2007 Board-Mitglied der Internationalen Vereinigung der Chefredakteure, Paris. Autor der Bücher Machtwechsel (2000) und Die umgefärbte Republik (2003). 2009–2014 Herausgeber der Vierteljahreszeitschrift Phoenix.

Neoliberalismus, eine Einführung

Der Neoliberalismus ist als Kampfbegriff in aller Munde. Doch Polemiken sind wenig hilfreich, um eine der wirkmächtigsten Ideologien der jüngeren Zeitgeschichte zu verstehen.

von PHILIPP THER

Im Unterschied zum Marxismus, dem klassischen Liberalismus oder zur christlichen Soziallehre gibt es keine Partei oder Gruppierung, die sich offen zum Begriff des Neoliberalismus bekennt und dabei auf einen bestimmten Kanon an Schriften oder historisch gewachsene Grundwerte verweisen würde. Zudem haben sogar jene Ökonomen und Politiker, die man ohne Zögern im »Feld« des Neoliberalismus verorten kann, diese Bezeichnung stets von sich gewiesen. Das gilt auch für jene Vordenker, die sich in der frühen Nachkriegszeit zu diesem Begriff bekannt hatten.1

Kritiker und Analysten des Neoliberalismus zielen somit auf ein »moving target«, wobei ein Teil des Problems in der öffentlichen Debatte darin liegt, dass zu viel geschossen und zu wenig analysiert wird. Ein zweites Problem ist die Abgrenzung vom klassischen Liberalismus bzw. in den Wirtschaftswissenschaften als impulsgebender Disziplin von der neoklassischen Lehre.

Trotz aller Überschneidungen ist der Neoliberalismus vom weltanschaulich gepräg­ten politischen Neokonservatismus zu unter­scheiden, der ebenfalls Ende der 1970er-Jahre aufkam. Ein drittes Problem ist das Auseinanderklaffen zwischen neoliberaler Rhetorik und Politik, die nicht zuletzt auf die systemimmanenten Widersprüche dieser Ideologie und ihrer begrenzten Durchsetzbarkeit in etablierten Demokratien zurückgeht. Die wissenschaftliche Eingrenzung und Definition wird außerdem durch die Anpassungsfähigkeit des Neoliberalismus erschwert. Doch darin liegt zugleich eine wesentliche Stärke dieser Ideologie und ein Grund ihrer globalen Ausbreitung seit den 1980er-Jahren.

Während die zeithistorische Forschung über den Neo­liberalismus noch überschaubar ist, gibt es in den benachbarten Sozialwissenschaften bereits eine Reihe von profilierten Autoren und Studien, die den Begriff neutral bzw. analytisch verwenden. In der Politikwissenschaft sind unter anderem Mitchell Orenstein und das Autorenduo Bohle und Greskovits zu nennen (Ersterer ist ein Experte für Sozialsysteme, Letztere sind ursprünglich auch Demokratieforscher), in den Wirtschaftswissenschaften Joseph Stiglitz und Paul Krugman sowie der Wissenschaftshistoriker Philip Mirowski, der zusammen mit dem Politologen Dieter Plehwe einen grundlegenden Sammelband über die Entstehung neoliberalen Denkens und neoliberaler Netzwerke vorgelegt hat.

Die Ethnologin Elisabeth Dunn hat mit ihrem Buch über Privatisierungen in Polen gezeigt, wie die neoliberale Ordnung in die Gesellschaft hineinwirkt und sich »bottom up« analysieren lässt. Selbstverständlich handelt es sich dabei nur um punktuelle Literaturhinweise.2 Das Forschungsfeld ist aufgrund seiner Überschneidungen mit nahe verwandten Themen, insbesondere der Kapitalismusforschung, hier sind vor allem die »Varieties of Capitalism« zu nennen, weit größer als hier darstellbar.3

Die Ursprünge des Neoliberalismus reichen in die Zwischenkriegszeit zurück. Die Vorsilbe Neo- stand ursprünglich für die Kritik am klassischen Liberalismus infolge der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre. In der Nachkriegszeit war die Mont Pèlerin Society führend bei der Weiterentwicklung neoliberalen Denkens. Dabei handelte es sich um ein transatlantisches Netzwerk renommierter Ökonomen, bekannter Intellektueller, politischer Berater und zeitweilig auch bedeutender Politiker. Gründungsväter der logenartig organisierten Gesellschaft waren unter anderem Friedrich von Hayek und Ludwig von Mises (als Vertreter der Austrian School ), Wilhelm Röpke (der den Begriff der Political Economy prägte), der französische Konservative Raymond Aron, der ungarisch-britische Sozialphilosoph Michael Polanyi (der Bruder des bekannteren Kapitalismus-Forschers Karl Polanyi) und der Publizist Walter Lippmann, einer der Schöpfer des Begriffs »Kalter Krieg«.

Der Kontext des Ost-West-Konflikts prägte die 1947 gegründete Gesellschaft auf mehrfache Weise. Die Mont Pèlerin Society wandte sich gegen die kommunistische Planwirtschaft und zugleich gegen den Einfluss von Kommunisten und Sozialisten und den staatlichen Dirigismus an der westeuropäischen Heimatfront. Beim ersten Treffen der Gesellschaft, die nach einem Berg nahe des Genfer Sees benannt ist, forderten die Mitglieder ein freies Unternehmertum, freien Wettbewerb, eine freie, marktwirtschaftliche Bildung von Preisen und einen unparteiischen Staat.4 Mirowski und Plehwe betonen die Vielfältigkeit der Mont Pèlerin Society, die in der Tat ein breites Spektrum von Experten und Ideen vertrat.

Von besonderem Interesse sind die Überschneidungsbereiche zur Politik, die zugleich das Bourdieu’sche »Feld« des Neoliberalismus markieren. Zeitweise waren einige prominente Parlamentarier und Politiker mit der Gesellschaft verbunden, darunter Ludwig Erhard und Luigi Einaudi (der zweite Staatspräsident Italiens und Gründer des gleichnamigen Verlags). Doch Hayek wandte sich ausdrücklich gegen eine zu aktive Rolle bekannter Politiker, um die geforderte Überparteilichkeit des Netzwerks nicht zu gefährden.

Trotz ihrer prominenten Mitglieder übte die Mont Pèlerin Society in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten nur einen begrenzten Einfluss auf die internationale und die jeweiligen nationalen Öffentlichkeiten aus. In den Wirtschaftswissenschaften gab bis in die siebziger Jahre die »neoklassische Synthese« von Paul Samuelson den Ton an. Wie schon der Begriff der Synthese andeutet, enthielt dieses Standardwerk der Volkswirtschaftslehre, das bis heute zur universitären Pflichtlektüre gehört, Keynesianische Elemente.5

In den USA wirkte weiterhin der New Deal nach, der Wohlfahrtsstaat wurde insbesondere unter Präsident Johnson ausgebaut. Im westlichen Europa setzte der Wiederaufbau einen dirigistischen Staat geradezu voraus. Die Systemkonkurrenz zwischen Ost und West verstärkte in Europa die ohnehin vorhandene Tendenz zum Ausbau der Sozialsysteme.

Auch das internationale Wirtschaftssystem war durch das Bretton-Woods-System in hohem Maße reguliert. Währungsspekulationen, wie sie seit den achtziger Jahren aufkamen, und flexible Direktinvestitionen in ausländische Märkte waren unter diesen Umständen nicht möglich.

Doch Anfang der siebziger Jahre brach diese wirtschaftspolitische Nachkriegsordnung zusammen. Die USA kündigten Bretton Woods 1971 faktisch auf, die Ölkrise beendete die trentes glorieuses und brachte eine Spirale der Inflation in Gang. Bereits zuvor erzeugte die industrielle Massenproduktion auf globaler Ebene einen immer schärferen Konkurrenzdruck.

Dies nahm den Umschwung von einer auf Nachfrage orientierten Wirtschaftspolitik auf eine angebotsorientierte Politik in mancher Hinsicht vorweg. Außerdem versagte der Keynesianismus bei der Bewältigung der Krise, wobei hier kulturelle Elemente ins Spiel kamen. Die westlichen Industriegesellschaften ließen sich nicht mehr so steuern wie zuvor, und die Kritik an der Machtposition des Staates nahm auch von links zu.6 Ein weiteres Problem war die Krise der Sozialsysteme, die auf Zeiten der Vollbeschäftigung und nicht auf stark steigende Arbeitslosigkeit und immer mehr Empfänger von Sozialleistungen ausgelegt waren.

Aufgrund der »Stagflation« (geringes Wirtschaftswachstum in Kombination mit hoher Inflation) nach der Ölkrise und der steigenden staatlichen Budgetdefizite gerieten die Keynesianer in den USA und England und mit Verzögerung in Kontinentaleuropa in die Defensive.

Der Aufstieg des Neoliberalismus

Anstelle der Regulierung der Wirtschaft und der staatlichen Stützung der Nachfrage setzten Ökonomen vermehrt auf die Kräfte des Marktes. Was das genau bedeutete, wurde selten positiv definiert, aber ex negativo stets mit einer mehr oder weniger prononcierten Kritik am Staat und dessen vermeintlicher Übermacht verbunden. Dieser Paradigmenwechsel wurde wesentlich von der Chicago School rund um Milton Friedman beeinflusst, einem Anhänger Hayeks und langjährigen Mitglied und Präsidenten der Mont Pèlerin Society. Gerade weil der Begriff des Markts eher vage blieb, eignete er sich als rhetorische Figur, die weit über die innerwissenschaftlichen Debatten hinausreichte.

Ein frühes Beispiel neoliberaler Diskurse und Kommunikationsstrategien war eine zehnteilige TV-Serie, die Friedman 1980 für PBS, das Äquivalent zum öffentlich-rechtlichen Fernsehen in den USA, produzierte.7 Die Serie hieß »Free to Choose« und gleich die erste, von cooler Fusion-Musik und einem Sonnenaufgang über Manhattan eingeleitete Serie hatte den programmatischen Titel »The Power of the Market«.8

Friedman propagierte in dieser Serie die Basics der Reagonomics, möglichst wenig Staat und Steuern, möglichst viel Freiheit für die Unternehmen und die individuellen Bürger. Ein ganz wichtiger Punkt war die Reduktion der Inflation, die Ende der siebziger Jahre zweistellige Jahresraten erreichte und eine massive Abwertung des Dollar zur Folge hatte, und die indirekte Steuerung der Wirtschaft durch die Geldmenge bzw. den Monetarismus. Die tatsächliche Politik Reagans wich von diesen Vorgaben ab. Die Hochrüstungspolitik nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan wirkte wie ein Konjunkturprogramm, der Aufschwung wurde zu einem guten Teil durch höhere Staatsschulden finanziert. Außerdem gab es eine Reihe systemimmanenter Widersprüche, zum Beispiel war die Zentralbank doch eine staatliche Institution, was zu jahrelangen Debatten zwischen verschiedenen Vertretern der Chicago School führte, die man demnach nicht zu sehr als homogene Einheit betrachten sollte.

Auch an den Börsen, der Bastion der Reagonomics, lief keineswegs alles glatt. Im Oktober 1987 verzeichnete die Wall Street den größten Tagesverlust ihrer Geschichte, am »Schwarzen Montag« brachen die Kurse um mehr als 22 Prozent ein. Doch diese Rückschläge führten zu keinem wirtschaftspolitischen Kurswechsel, George Bush, Reagans langjähriger Vize, gewann die Präsidentschaftswahlen von 1988 gegen seinen demokratischen Herausforderer mit Leichtigkeit.

Die lange republikanische Vorherrschaft war indes einer der Gründe, warum der Neoliberalismus einen negativen Beigeschmack bekam. Die liberalen und linken Kritiker arbeiteten sich vor allem an dessen Sozial- und Wirtschaftspolitik ab und griffen Reagans ökonomische Berater an. In Großbritannien provozierte Margaret Thatcher noch schärfere Kontroversen und Konflikte.

Sie steht wie kein anderer Politiker für den Argumentationsmodus neoliberaler Reformen und Einschnitte. Thatchers Leitspruch »There is no alternative« (abgekürzt und verballhornt als TINA) wurde seit den achtziger Jahren unzählige Male wiederholt, auch von Gerhard Schröder und Angela Merkel. Die Inflation des antipolitischen Attributs »alternativlos« ließ in Deutschland erst nach, als es zum Unwort des Jahres 2010 erklärt wurde.

Egal wie man zu den Reagonomics und zum Thatcherismus steht – den Vereinigten Staaten und England gelang Anfang der achtziger Jahre nach langer Rezession eine wirtschaftliche Wende. Die Inflation ging zurück, die Wirtschaft wuchs wieder und das verstärkte den generellen Wertewandel zu mehr Individualismus, Gewinnstreben (dafür stand archetypisch der Yuppie) und Unternehmertum. Die westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten wirkten im Vergleich dazu behäbig und im Wortsinn konservativ, auch wenn sie noch von Sozialdemokraten oder Sozialisten regiert wurden wie Frankreich oder Österreich.

Die Rolle Frankreichs

Der westliche Nachbar der Bundesrepublik verdient auch deshalb besondere Erwähnung, weil François Mitterand nach seinem Wahlsieg von 1981 einen genau entgegengesetzten wirtschaftspolitischen Kurs verfolgte. Er setzte auf höhere Staatsausgaben und staatliche Interventionen, um die Wirtschaft nach der zweiten Ölkrise anzukurbeln. Doch die Inflation blieb hoch, die Schulden stiegen, das Wirtschaftswachstum wollte nicht anspringen, und der Franc stand unter ständigem Abwertungsdruck gegenüber der D-Mark. Bereits zwei Jahre nach seinem Amtsantritt musste sich Mitterand dem Druck der internationalen Finanzmärkte beugen und ein Sparprogramm auflegen, um eine weitere Abwertung der Landeswährung und eine noch höhere Inflation abzuwenden.

In der Bundesrepublik stürzte wegen des ausufernden Staatsdefizits und der strittigen Strategie zur Bewältigung der damaligen Rezession 1982 die sozialliberale Regierung. Auch in Bonn hatte der Keynesianismus ausgedient, die neue Regierung unter Helmut Kohl wandte sich unter dem Einfluss der FDP marktliberalen Ideen zu. Aus dem Munde Kohls klang das wie folgt: »Weg von mehr Staat, hin zu mehr Markt; weg von kollektiven Lasten, hin zur persönlichen Leistung; weg von verkrusteten Strukturen, hin zu mehr Beweglichkeit, Eigeninitiative und verstärkter Wettbewerbsfähigkeit.«9 Markanter war der Paradigmenwechsel an den ökonomischen Fakultäten und Forschungsinstituten. Dort erreichte die neoklassische Wirtschaftslehre eine unanfechtbare Vormachtstellung.

Auch hier sollte man sich vor Vereinfachungen und Gleichsetzungen mit dem Neoliberalismus hüten. Aber es entwickelte sich doch ein Kern gemeinsamer Anschauungen, allen voran die Quantifizierbarkeit der Welt, die Gleichgewichtstheorie bzw. die Annahme, dass die Märkte am besten ohne staatliche Eingriffe ein Equilibrium zwischen Angebot und Nachfrage herstellen – hierfür steht die auf Adam Smith zurückgehende, parareligiöse Formel von der »unsichtbaren Hand« der Märkte – und der rational nur bedingt begründbare Glauben an die Rationalität der Marktteilnehmer – hier wirkten die in den achtziger Jahren viel diskutierten Rational Choice Theorien ein.

Will man sich der Metapher des Equilibriums bedienen, verschoben sich Ende der achtziger Jahre die Gewichte nochmals. Das hing eng mit dem Niedergang des Staatssozialismus zusammen. Die von Michail Gorbatschow in Gang gesetzte und von vielen Hoffnungen begleitete Perestroika war eine Strategie gradueller Reformen im Rahmen des existierenden Systems. Ab 1988 war bereits erkennbar, dass die Perestroika die Probleme des Staatssozialismus eher verschärfte als verringerte.10 In Polen war die ökonomische Krise so tief, dass sich die Regierung entschied, auf die Opposition zuzugehen. Daraus gingen der Runde Tisch, die Wahlen vom Juni 1989 und die Teilung der Macht hervor.

Das Scheitern der Perestroika beförderte die Neigung zu radikalen Reformen. Bereits 1988 berichtete die polnische Wochenzeitung Polityka über den wachsenden Einfluss der »östlichen Thatcheristen«.11