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Lothar Niklas

Vorübergehende
Freundschaften

 

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Wenn es nun stimmt,
ich meine das
mit Wiederkehr
und Reinkarnation,
dann, Herr,
versprich mir bitte schon,
solang ich lebe noch
auf dieser Erde,
dass ich als Schwuler
wiederkehren werde.

So ein eigenartiges Gefühl

„Studium Dolmetscher – abgebrochen, Ausbildung Krankenpflege – abgebrochen, Auslandsaufenthalt mit Versuch einer Existenzgründung: Hühnerfarm auf Bali – abgebrochen“, las der Arbeitsvermittler beim Jobcenter mit wachsender Begeisterung von dem Formular ab. Über seine Lesebrille hinweg schaute er Lukas scheinbar ratlos an, aber dieser Eindruck täuschte, denn schon resümierte er: „Also spontan würde ich Ihnen raten: Versuchen Sie’s als Abbruchunternehmer.“

Nach dieser unbürokratischen Entgleisung wurde er allerdings gleich wieder seriös und fragte mit der emotionslosen Neugier eines Beichtvaters: „Könnten Sie mir diesen, äh – diesen beruflichen Werdegang versuchsweise erklären?“

„Na ja, das mit dem Dolmetscher wurde nichts, weil mir eines Tages klar wurde, dass ich ungern alles nur nachplapper, sondern ganz gern auch mal eigene Gedanken äußere“, erklärte Lukas versuchsweise. Und da er mittlerweile den Eindruck hatte, sein Gegenüber würde am liebsten ein Schild ,Bitte nicht stören!’ an die Tür hängen und ihm erst bei aufkommender Übermüdung und einsetzendem Magenknurren raten ,Versuchen Sie’s als Alleinunterhalter’, äußerte er einfach noch ein paar eigene Gedanken.

„Und das mit der Krankenpflege war ein klares Zeichen von Orientierungslosigkeit, so eine Art Sinnkrise. Aber eines Tages kamen mir Zweifel, ob das denn wirklich so sinnvoll ist. Ich meine wegen Alkohol, Nikotin, falscher Ernährung, Bewegungsarmut – na eben wegen all dieser kleinen Unarten, die Menschen zu Patienten machen.“

Täuschte man sich, oder war der gute Mann gerade dabei, angestrengt nachzurechnen, wie viele der kleinen Unarten nicht wegzudenkende Stützpfeiler seines Lebens bildeten?

„Dann habe ich eine Zeitlang alle möglichen Jobs gemacht“, fuhr Lukas mit seiner beruflichen Lebensbeichte fort, „bis ich genug Startkapital hatte, um einem Freund nach Bali zu folgen und nach seinem Vorbild eine kleine Hühnerfarm aufzuziehen. Das lief zunächst sehr gut an, bis ich eines Tages erkannte“ – den Zuhörer hielt es vor Spannung nur mit Mühe auf seinem Stuhl – „dass dreitausend Hühner an einem Virus krepiert waren.“

 

Außer einer Art Mitgefühl war zum guten Schluss nichts anderes für Lukas herausgekommen als die Durchhalteparole: „Wir melden uns, sobald was Passendes reinkommt.“ Aber ihn interessierte es im Moment viel mehr, dass er Zugang zum ,Hartz IV’-Topf hatte, bis er wieder festen Boden unter den Füßen spürte.

Und den hatte er vollkommen verloren, verkörperte er doch weit mehr als das aus Doku-Soaps bekannte ,typische Aussteigerschicksal’. Schließlich hatte er in den zwei Jahren auf Bali nicht nur eine Hühnerfarm aufgebaut, sondern auch – und das eigentlich zum ersten Mal in seinem Leben – einen wirklichen Freundeskreis.

Und bei aller Arbeit, die so ein Projekt speziell in der Aufbauphase macht, hatte er doch täglich zwei, dreimal die Lust und die Gelegenheit zu sexuellem Vergnügen gefunden – hatte sich an einen Lebens- und Liebesrhythmus gewöhnt, den er für einen im vollen Saft stehenden Mann von siebenundzwanzig Jahren kein bisschen übertrieben oder gar obsessiv empfand.

Lust – so war ihm einmal bei einem besinnlichen Joint klar geworden – ist ein so unstillbarer Hunger, weil Haut ein extrem kurzes Gedächtnis hat. Und nicht allein deswegen wollte er zurück zu seinem natürlichen Rhythmus und zu all den Freunden auf der Insel der Geister und Dämonen, die voller Enthusiasmus dazu beitrugen.

Stattdessen saß er jedoch mit leeren Taschen und arbeitslos im Ruhrgebiet fest, in einer Dachkammer im Hause eines Freundes, wo er sich alle paar Tage auf schlechte Pornos lustlos und mechanisch einen runterholte. Und schnell wurde ihm klar, dass seine Resistenz gegen solche Lieblosigkeit zwar groß war – aber nicht grenzenlos.

 

Für Zugang zum ,Hartz IV’-Topf muss man mit sogenannter ,Arbeitssuche’ bezahlen, wobei es passieren kann, dass man einem Wirt als Servicekraft zu unqualifiziert vorkommt und einem Großbäcker als Auslieferungsfahrer zu überqualifiziert. Und man kann an einen Punkt gelangen, an dem man fast in Tränen ausbricht, weil ein bereits zugesagter Job als Aufsicht in einer Peepshow (mit Kabinenreinigung) wieder abgesagt wird.

Aber dann nahte Rettung in Form einer ungewöhnlichen Anzeige: Gastronomie im Circus Romanelli sucht männliche Kraft zum Mitreisen, aktueller Standort Düsseldorf.

Lukas’ Blick fährt schon zur nächsten Anzeige, aber irgendwas in ihm hat aufgehorcht und lässt nicht mehr locker: Zirkus-Gastronomie – na ja, da braucht man keine Unsummen für eine Wohnung zu verschwenden. Und es fällt auch immer was Essbares ab. Und im Winter pausieren die doch ziemlich lange, und in ein paar Tagen ist schon Juli …

Eine Minute später telefoniert er mit dem Chef und eine Stunde später trifft er bei den Düsseldorfer Rheinwiesen ein. Und zwar genau zu dem Zeitpunkt, als der Circus Romanelli seine Pforten zur Nachmittagsvorstellung öffnet. Und als in einem großen Zeltvorbau sämtliche Artisten und Clowns und Ballettmädchen in ihren farbenfrohen Kostümen Konfetti verstreuen, wobei ein Orchester die Stimmung anheizt. Eine Gesamtszenerie, von der überwältigt Lukas sich mit natürlicher Bescheidenheit denkt ,Also das wäre doch wirklich nicht nötig gewesen.’

 

Schon am nächsten Tag zog er zum Zirkus und zwar in einen sogenannten Abteilwagen. Dieser erinnert in Form und Größe an einen Personenwaggon, wobei es statt Fenster nur Luken gibt und im Innern fünf Abteile, von denen jedes etwa fünf Quadratmeter Wohnfläche bietet und somit genug für ein gutes Dutzend Hühner in Bodenhaltung.

Und er nahm seine Arbeit als Gastronomiehelfer auf, eine Tätigkeit, bei der man sich speziell dadurch nützlich macht, dass man Bestände auffüllt, Lieferungen annimmt, sich um Ordnung und Sauberkeit kümmert und dergleichen mehr. Anders als beim herkömmlichen Berufsbild schlüpft man jedoch zweimal täglich in eine schicke Uniform, um dem verehrten Publikum Bier und Softdrinks zu verkaufen, Bratwürste, Popcorn, Süßigkeiten und all die anderen Bestandteile einer gut ausgewogenen falschen Ernährung.

Und wenn der Zirkus umzieht, wird auch aus dem Gastronomiehelfer für zwei schlaflose Tage ein wahrer Schwerstarbeiter. Das ganze Zeug bei jedem Wind und Wetter abbauen, durch die Gegend schleppen, verstauen, auf fünfzig Güterwaggons verfrachten – um es am nächsten Gastspielort wieder auszupacken, zu schleppen, aufzubauen und betriebsbereit zu machen.

In kürzester Zeit wurde er zum Teil des Ganzen, wurde einmal wie jeder Neuling nach da – und von da nach dort geschickt, möglichst weit weg und möglichst bei strömendem Regen, um den Schlüssel fürs Chapito zu holen und irgendwann, wenn alle mit Lachen fertig waren, zu erfahren, dass mit Chapito das Zirkuszelt bezeichnet wird.

Es ergab sich ein gewisser Alltagstrott, gründlich ermüdende Arbeitszeiten, möglichst lange Erholungsphasen, um wieder die langen Arbeitszeiten verkraften zu können, acht Monate ohne einen einzigen Tag frei. Soziale Kontakte, die sich auf ein Minimum beschränkten, ein freundlicher Gruß, ein netter Satz, ein kleiner Scherz, aber bei weitem nichts, um irgendjemand näher kennenzulernen. Und an Schwulen hatte er unter den über hundert Zirkusleuten sowieso nur zwei ,zum Abgewöhnen’ entdecken können, den suspekt freundlichen PR-Manager mit seinem offen arroganten Lover aus der Buchhaltung.

Allerdings war ihm diese Art von Isolation in der Menge sehr recht, schließlich hatte er nicht die Absicht, nach Freundschaften oder gar Liebschaften zu suchen. Denn in den vier Monaten Winterpause wollte er wieder nach Bali und irgendwann später einen Neuanlauf wagen. Irgendwann später – nach ein paar Jahren solch extremer Wechselbäder von abstumpfender Schinderei und wiederbelebenden Kuraufenthalten im Sanatorium Sodom.

 

Dann jedoch nahmen die Ereignisse einen etwas anderen Verlauf, wobei der Auslöser, wie so oft bei größeren Veränderungen, eine reine Banalität war. Weil sein Chef nämlich beim Einkauf Sekt-Piccolos vergessen hatte, gingen diese zur Neige, und so schickte er Lukas während der ersten Hälfte des Abendprogramms rüber zur Konkurrenz, um welche auszuborgen.

Die Konkurrenz zu ihrer Massenabfertigung, das Edel-Restaurant ,Hereinspaziert!’ verfügte über einen Speisewagen im Wiener Caféhaus-Stil. Der dort wie üblich hektisch herumspringende Chef meinte nur knapp: „Joseph ist hinten beim Materialwagen und kann dir die Sachen rausgeben.“

Im Zelt tanzen gerade – soweit hat Lukas es längst gelernt, sich allein an der Musik zu orientieren – acht Pferde, lauter Hengste, einen schwülstigen Wiener Walzer. Also noch eine Viertelstunde bis zur Pause, bis zum Irrsinn des Stoßgeschäfts, wenn in eben dieser Zeit fünfzehnhundert Gäste bedient werden müssen und mehr als zehntausend Euro den Besitzer wechseln.

Die Tür des Materialwagens steht offen, aber es ist niemand darin, und so schaut er auf der Rückseite nach. Tatsächlich sitzt dort jemand rauchend im Halbdunkel zwischen dem Wagen und dem hohen Lattenzaun, der das Zirkusterrain nach außen hin abgrenzt. Als Lukas näherkommt, erkennt er, dass es dieser schweigsame Hüne mit den militärisch kurz getrimmten dunklen Haaren ist, dieser ,lonesome cowboy’ Ende dreißig, den er gelegentlich schon mal gesehen hat, aber eben noch nie mit jemandem im Gespräch.

Und auch jetzt schaut er ihn nur schweigend an, und da Lukas den Eindruck gewinnt, er könnte so weit herangehen, bis ihre Nasenspitzen sich berühren, ohne dass ein Wort über diese Lippen käme, bricht er halt als erster das Schweigen.

„Du musst Joseph sein“, verrät er ihm, und als Antwort kommt ein unmerkliches Nicken in Begleitung eines Lungenvolumens Rauch, das in seine Richtung geblasen wird.

„Riecht gut in dieser Gegend“, lautet der spontane Anschlussgedanke, und als Antwort streckt Joseph betont langsam seinen Arm aus und hält Lukas den Joint entgegen.

Der nimmt das Angebot dankend an, inhaliert einmal tief und genüsslich, bläst den Rauch aus und sagt sinnlos provokativ: „Könntest du mir bitte sagen, wie spät es ist.“

Für eine Sekunde huscht eine Veränderung über Josephs Gesicht, ein Lebensfunke, ein neugierig rätselnder Blick, aber dann verlangt er mit gestrecktem Arm seinen Joint zurück und gibt kaum hörbar von sich: „Noch Zeit.“

Schnell bringt Lukas noch einen Zug in Sicherheit – Junge, Junge, die Edel-Konkurrenz raucht wirklich vom Feinsten – und zeigt prompte Anzeichen von tiefgründiger Redseligkeit.

„Zirkusvolk – heute hier, morgen dort – vogelfrei“, bringt er einige typische Kiffer-Sprechblasen hervor und findet offenbar Gefallen an seinem Selbstgespräch. „Fahrende Gesellen – nirgends zu Hause – wer das verlor, was ich verlor, macht nirgends halt.“

Joseph lässt ihn nicht aus den Augen, und als er Lukas den Joint wieder reicht, wird er unversehens doch noch zu einem echten Gesprächspartner: „Was verlorst du denn?“

„Nein, nein“, sagt Lukas rasch, „das ist von einem alten Freund, Friedrich Nietzsche mit Namen, und der verlor anfangs seinen Glauben an die Menschheit und zum guten Schluss den Verstand.“ – und nach einem weiteren Zug fährt er fort: „Na ja, und ich, das ist auch schon ziemlich verrückt, ich kam zum Zirkus, diesem Inbegriff von Freiheit, eben weil ich meine Freiheit verloren habe. Und für mich hat dieser Zaun da eine symbolische Bedeutung und gibt mir Tag für Tag das quälende Gefühl, im Gefängnis zu sein.“

„Warst du schon mal im Gefängnis?“, kommt statt eines Kommentars eine ebenso prompte wie unerwartete Frage, und als Lukas mit Anzeichen von Verunsicherung nur mit einem Kopfschütteln antwortet, kommt gleich die nächste: „Woher willst du dann wissen, wie man sich dort fühlt?“

Für den Moment wird Lukas – mit ungewöhnlich ernsten Fragen überfordert – quasi dank einer Musik gerettet, denn vom Zelt erklingt die Zirkusbearbeitung von Ravels ,Bolero’. Und die verrät, dass jetzt die drei starken Männer mit ihren Goldbronze-Körpern ihre atemberaubenden lebenden Statuen bauen und dass noch knapp zehn Minuten bis zur Pause bleiben.

„Lieber Himmel!“, bringt er alarmiert hervor und muss sich regelrecht von Josephs Aura losreißen. „Mein Chef ertränkt mich in Goldbronze. Hast du mal schnell zwanzig Piccolo für mich übrig?“

Joseph rührt sich nicht vom Fleck, sondern schaut ihn unentwegt intensiv an und fragt mit äußerster Eindringlichkeit: „Und willst du mal wissen, wie man sich im Gefängnis fühlt?“

„Warum nicht?“, antwortet Lukas einigermaßen dümmlich und nicht ganz bei der Sache. „Vielleicht ja nach Feierabend. Du findest mich …“

„Forget it!“, unterbricht Joseph entschieden. „Du findest mich in dem Wohnmobil neben dem Duschwagen. Denn eine Zelle im Abteilwagen – das kannst du mir nicht antun.“

 

Aufräumen und Abrechnen und Umziehen inbegriffen, endet der Arbeitstag eines Gastrohelfers beim Circus Romanelli gegen zehn. Und als Lukas wenig später an die Tür des kleinen Wohnmobils klopft, kommt die wohl beruflich bedingte Aufforderung „Hereinspaziert!“

Joseph schaut kurz von seinem Jointbau auf, um seinem Gast eine minimale Begrüßung zuzunicken, und Lukas holt das gut gekühlte Sixpack Heineken aus der mitgebrachten Plastiktüte. Er stellt zwei Dosen auf den Tisch und den Rest in den Kühlschrank, bevor er sich Joseph gegenüber niederlässt.

„Da schmeißt der Mann fast seinen gesamten Tagesverdienst zum Fenster raus, nur um einen guten Eindruck zu machen“, bringt Joseph die längste Äußerung hervor, die Lukas bislang von ihm zu hören bekommen hat, und sie geht sogar noch weiter: „Und mit Erfolg, denn man ist beeindruckt und weiß gar nicht, wie man ihm das je wiedergutmachen kann.“

„Ich muss dich enttäuschen“, gibt Lukas zurück, als er seine Dose öffnet und wahrnimmt, dass Josephs intensiver Blick aus der tiefbraunen Farbe seiner Augen resultiert, „denn meine ganz persönliche Eurokrise zwingt mich momentan dazu, es in puncto Großzügigkeit wie die Schwaben zu halten.“

„Und wie halten es die Schwaben?“, fragt Joseph gleich nach und hat durch den herzerfrischenden Zischlaut animiert auch die eigene Dose geöffnet, so dass Lukas mit erhobener Hand zum Anstoßen einlädt und wie zum Trinkspruch nuschelt: „Ha noi, mir gäbet nix!“

So rauchten sie und tranken sie, amüsierten sich über manche Pointe köstlich – wie beispielsweise über Lukas’ Erklärung, das Sixpack sei eine kleine Aufmerksamkeit von seinem Chef, von der dieser allerdings nichts zu wissen brauchte – und machten sich quasi ganz nebenbei miteinander bekannt.

Joseph war gebürtiger Österreicher und stammte aus der Steiermark, aus ,Schwarzenegger-Country’, wie er anmerkt und kurz die Arme zu einer Bodybuilder-Pose anwinkelt. Dabei wölben sich die Bizepse selbst unter den weiten Ärmeln seines Sweatshirts beeindruckend auf und sein Gesicht zeigt tatsächlich gewisse Ähnlichkeit mit Arnie etwa zu dessen Zeit als Terminator.

Diese Gelegenheit fasst Lukas beim Schopfe, mit seinem Outing nicht unnötig lange zu warten, indem er wie erleichtert erklärt: „Na, da bin ich ja beruhigt, dass du dir einen unsportlichen Schwulen wie mich im Ernstfall vom Leib halten könntest.“

Joseph schaut ungerührt und erwidert: „Der letzte, der was in diese Richtung versucht hat, singt seitdem im Gefängnischor Sopran“, und der neutrale Tonfall lässt jede Interpretation offen, inwieweit dieser Scherz der Wahrheit entspricht.

Jedenfalls fuhr er ohne weiteren Kommentar mit seiner Lebensgeschichte fort, und darin war die Mutter schon früh mit einem anderen durchgebrannt, und irgendwann hatte der Vater mit den beiden halbwüchsigen Söhnen aus wichtigen Gründen nicht mehr in Österreich bleiben können.

„Es war ungefähr so wie mit dir und der Freiheit“, erklärte Joseph die Sache versuchsweise. „Um nicht hinter schwedischen Gardinen zu landen, ist mein Vater mit uns Jungs ab nach Schweden.“

Und ob man dies nun erbliche Vorbelastung nennen wollte oder wie auch immer, hatten die Jungs eine gründliche Ausbildung in all den Tätigkeiten erhalten, die es sicherstellen, dass man nie in die Verlegenheit kommt, sich nach einem Beruf oder gar nach Arbeit umschauen zu müssen.

Irgendwann nahm Joseph eine Mappe aus einem Fach, und als er sie Lukas zuschiebt, kommentiert er: „Na ja, und das führte nach ereignisreichen Jahren sozusagen zu diesem Ergebnis.“

Lukas fühlt sich so gut wie schon lange nicht mehr – Circus Romanelli? Nie gehört! – und entsprechend animiert öffnet er die Mappe, die einen ganzen Stapel ausgeschnittener Zeitungsartikel enthält. Aber gleich gerät er ins Stutzen, denn von sämtlichen Fotos schaut ihn ein deutlich jüngerer Joseph an, und in vielen Schlagzeilen wiederholt sich ein und derselbe Begriff.

Und obwohl er kein Schwedisch versteht, versteht er doch genug, und als er ungläubig darauf deutet und Joseph fragend anschaut, nickt der grinsend und intoniert im Ton eines Manegendirektors, der die nächste Nummer ankündigt: „Drogen kungen av Sverige! – Der Drogenkönig von Schweden!“

 

Zehn Jahre ,eingefahren’ und nach achteinhalb wegen guter Führung entlassen. Hinter schwedischen Gardinen in Schweden, um wenigstens irgendeinen Fixpunkt im plötzlich vollkommen leeren Leben zu haben, mit Bodybuilding angefangen und der beachtlichen steierischen Grundausstattung von neunzig Kilo im Laufe der Jahre zwanzig weitere hinzugefügt. Und jedes einzelne Kilo vom schwedischen Steuerzahler finanziert, wie Joseph zufrieden anmerkte.

Auch war im Knast die Verwandlung mit ihm vorgegangen, dass er vom eigentlich gar nicht ungeselligen Menschen zum Einzelgänger wurde. Denn das, wie er es nannte, Knastgevögel war ihm zuwider, und so verbrachte er seine Zeit lieber damit, seinen Willen zu trainieren. Außer mit Bodybuilding auch, indem er sich auf höchst spezielle Art ,massierte’: Häufiger Aufbau maximaler Erregung, aber nur seltener Abbau mittels eines ,Mega-Orgasmus’. Und das Ganze war noch verfeinert worden, als ihm gute Kumpel eine ,connection’ einrichten und ihn gelegentlich mit Koks versorgen konnten.

„Gute Kumpel sind einfach Gold wert“, verriet Joseph voller Überzeugung, und dafür sprach auch der Umstand, dass er nach seiner Entlassung Anfang des Jahres ausgerechnet beim Circus Romanelli gelandet war. In Schweden hatte er nicht bleiben wollen, weil er das Gefühl nicht mochte, ihm würde irgendwie auf die Finger geschaut. Und dann hatten seine Kumpel sich umgehört und ihm noch mal eine etwas anders geartete ,connection’ eingerichtet.

Der Chef vom Restaurant ,Hereinspaziert!’ trug zwar ausschließlich schwarze Kleidung, war aber dennoch eine hoffnungslos nimmersatte ,weiße Nase’ und mit seinen diesbezüglichen Zahlungen etwas im Rückstand. Zum Glück war sein Dealer aber entgegenkommend und hatte ihm angeboten, auf die Entsendung einschlägiger ,Kreditberater’ zu verzichten, wenn Joseph ohne irgendwelche Fragen als Koch eingestellt würde. Denn das war doch tatsächlich die einzige gutbürgerliche Tätigkeit, die der mehr privat und aus Spaß an der Sache erlernt hatte.

 

Ihre ,Herrenabende’ wurden zum einzig lebendigen Fixpunkt im trostlosen Zirkusalltag, wozu sie beide Speis und Trank beisteuerten, alles vom Feinsten und – aus reinem Ehrgefühl – niemals irgendwo gekauft. Und wenn ihnen bestimmte Rauchwaren ausgingen, dann konnte es passieren, dass sie nach Feierabend mal eben mit Josephs altem Benz hundert Kilometer zu einer sicheren ,connection’ fuhren und hundert zurück, schließlich waren sie ja fahrende Gesellen.

Einmal, als sie von solcher Eskapade heimkehren und noch schnell einen ,Gute Nacht’-Joint rauchen wollen, leert Joseph seine Jackentaschen aus, holt dabei wie selbstverständlich eine Pistole hervor und verstaut diese im Schrank. Lukas gibt keinerlei Kommentar von sich, sondern belässt es wie zur Beruhigung bei dem Gedanken, dass ja wohl jeder echte Mann – und sogar jeder echte schwule Mann – mindestens einmal im Leben eine echte Pistole aus nächster Nähe gesehen haben sollte.

An einem der folgenden Tage zeichnete sich dann eine neuerliche Veränderung ihrer freundschaftlichen Beziehung ab, denn Lukas war morgens genau zu dem Zeitpunkt in der Herrenabteilung des Duschwagens erschienen, als Joseph gerade aus einer der Kabinen kam. Lukas ist überwältigt von einem dermaßen kraftstrotzenden Körper, der dabei gar nicht nach Bodybuilding aussieht, sondern einfach nur nach einem kraftstrotzenden Körper. Und natürlich ist er auch überwältigt von solch einem kraftstrotzenden Teil, wie es da zwischen Josephs Beinen schaukelt, und – typisch für ihn – kann er seine Überwältigung nur mit skurrilem Humor unter Kontrolle bringen.

„Alter Schwede!“, bringt er nämlich gewichtig hervor, statt zum Beispiel ,Du geile Sau!’ oder ,Ich mach mich nass!’ – „Kennst du zufällig Tom of Finland?“ – und als Joseph nur den Kopf schüttelt und sich abzutrocknen beginnt, fügt er hinzu: „Aber der kennt ganz offenbar dich.“

Nachts holte Lukas sich in Erinnerung an diese Szene einen runter, nicht lustlos mechanisch, sondern wirklich schön. Na klar wurde die Handlung etwas ausgeschmückt, indem er diesmal nach Josephs Schwanz langte, ihn befühlte und befummelte, bis er imposante Haltung annahm, und dann auf die Knie und seinen Mund – und so weiter. Und von diesem deutlich interessanteren Fortgang beseelt, war sein letzter Gedanke vor dem Einschlafen ,Wenn ich ihn das nächste Mal treffe, biete ich ihm Sex an.’

Und das nächste Mal ergab sich gleich am nächsten Morgen, als sie sich im Vorzelt über den Weg liefen. Und da Lukas es sich irgendwann zur Regel gemacht hat, angstbesetzte Dinge ohne Umschweife im Stil von ,Augen zu und durch!’ auszusprechen, wollte er gerade den Mund aufmachen, aber Joseph kam ihm zuvor.

„Stell dir vor, alter Kumpel, in zwei Wochen werd ich heiraten. Und ich wollte unbedingt, dass du der erste bist, der das hier erfährt.“

Na ja, und am Abend reichte er die Details nach. Daheim in Schweden gab es eine Frau namens Lisa, und mit der war er schon zusammen gewesen, bevor er eingefahren war. Und sie war von ihm schwanger gewesen und hatte bald Sohn Ingmar zur Welt gebracht, mittlerweile schon ein hübscher Knabe von neun Jahren. Und um Mutter und Kind für die Zukunft eine bessere soziale und rechtliche Basis zu sichern, sollte halt diese Hochzeit stattfinden.

Und das Beste daran wusste Joseph selbst noch nicht, denn als er später seinen Chef informierte, war der gleich zum Zirkusdirektor, weil er gewittert hat, dass sich daraus eine wunderbar werbewirksame PR-Aktion zaubern ließ.

 

Eine Manegenhochzeit im Circus Romanelli hat man sich wie ein Zwischending vorzustellen zwischen einer Hochzeit von Herrn Hinz und Fräulein Kunz – beziehungsweise dem Prinzen von Sowieso und der Prinzessin von Dingsda. In der in ein Blumenmeer verwandelten Manege ein kunstvoll improvisierter Altar, flankiert von zwei herausgeputzten Schimmeln aus der Pferdegruppe. Auf den unteren Stuhlreihen rund herum sämtliche Zirkusmitglieder in ihren Kostümen oder Uniformen und auf der Orchester-Empore die Musiker im schwarzen Frack.

Da die Trauung zweisprachig vonstatten gehen soll, ist eigens ein auch Schwedisch sprechender Pfarrer angereist, und da die ganze Sache ja hauptsächlich zu Werbezwecken in dieser Großartigkeit angelegt wurde, hat im Mittelgang ein kleines Fernsehteam sein Lager aufgeschlagen.

Und dann wird’s ernst, Herr Kapellmeister, bitte den Hochzeitsmarsch, und Vorhang auf für den Auftritt des Brautpaars. Joseph sieht blendend aus im schwarzen Nadelstreif mit weißer Nelke im Knopfloch – na klar, kein kleiner Straßendealer, sondern der Drogenkönig von Schweden. Und an seiner Seite Braut Lisa im knappen weinroten Kleid mit nur etwas Tüll – na klar, sie ist eine waschechte Lappin und in der Jugend vom Großvater zur Schamanin ausgebildet worden und hat im Winter alleine raus in den Wald gemusst und ein Rentier erlegen und abhäuten – also kein Schleier, keine Schleppe, kein Barbie-Gedöhne.

Nach einer Weile zweisprachig gutgemeinter Worte endlich der Auftakt zum entscheidenden Teil – die Schicksalsfrage, die Ringe, der Kuss. Und gerade, als Lisa ihrem Joseph den Ring ansteckt, flüstert Lukas der neben ihm sitzenden Trapez-Artistin Yvonne zu: „Ich hab da so ein eigenartiges Gefühl, dass ich der erste sein werde, der diese Ehe bricht.“

Die Kanadierin schaut ihn verdutzt an und fragt: „Wieso? Was findest du denn an dieser Frau?“

„Du Dummerchen“, gibt er leise zurück und schüttelt sacht den Kopf. „Wer redet denn von der Frau?“

Yvonne hebt eine Hand vor den Mund, um ein Lachen zu unterdrücken, und als sie wieder nach vorn schauen, hat eins der Pferde seine Art von Rufzeichen hinter den frivolen Gedanken gesetzt und ein Mordsrohr ausgefahren.

 

Nach der Hochzeit verschwand das Brautpaar übers Wochenende in ein Nobelhotel, welches diese nette Geste aus PR-Gründen beigesteuert hatte, und anschließend blieb Lisa noch einige Tage bei ihrem Joseph und flog dann zurück nach Schweden. Und eigentlich so, als wäre überhaupt nichts geschehen, nahmen die beiden ungleichen Freunde ihre Herrenabende wieder auf, an denen es ihnen mit einfachsten Mitteln gelang, den rundum erschöpfenden Arbeitsalltag abzustreifen und sich für ein paar Stunden wie lebendige Wesen zu fühlen.

Und dann kam dieser Abend, an dem Joseph wie üblich „Hereinspaziert!“ rief und Lukas beim Eintreten das gedämpfte Licht auffiel. Und als er den Kopf zur Seite wendet, erstarrt er und hält den Atem an, denn in einer Ecke der gepolsterten Bank sitzt Joseph – höchst unüblich, nämlich nackt und bequem ausgestreckt und damit beschäftigt, mit bedächtig langsamen Bewegungen einer Hand sein ölglänzendes Mordsrohr zu massieren.

Und im Gegensatz zu Lukas’ entgeistertem Blick, schaut Joseph ihn ruhig und mit einem Hauch von einem Lächeln an und meint: „Na, was ist denn? Warum benimmst du dich plötzlich wie ein kleines Mädchen?“ – und nach einer kleinen Unterbrechung, um hörbar Luft einzusaugen, weil die massierende Hand gerade wieder die Eichel erreicht und reizüberflutet hat: „Komm schon, setz dich her und bau uns mal ’nen schönen großen Joint.“

Tatsächlich findet Lukas insoweit seine Fassung wieder, dass er sich in die andere Ecke der Bank setzt und vom Tisch das nötige Zubehör zusammensucht, wobei sein suchender Blick immer wieder zu Joseph abschweift und dort zwischen der beeindruckenden Handarbeit und dem rätselhaften Lächeln auf und ab pendelt.

„Erzähl mir was Schönes“, sagt Joseph fast liebevoll, als Lukas dem Joint den letzten Schliff gibt. Und als er ihn anraucht und seine Erektion in der Jeans nicht mehr weiß wohin, überlegt er, womit man einem nackten Drogenkönig von über hundert Kilo wohl eine Freude machen könnte, in einer solchen kein bisschen billigen oder primitiven – sondern eigenartig feierlichen Ausnahmesituation.

„Zum aktuell bearbeiteten Thema“ – beginnt er nach einer Weile strohtrocken und gestelzt wie ein Jura-Dozent, wobei er jedoch einmal ganz deutlich auf Josephs Schwanz schaut – „bleibt zu ergänzen, dass einer meiner Liebsten auf Bali Kadek heißt. Und obwohl er super gebaut ist und nicht mehr mit einer Arschtunte gemeinsam hat als beispielsweise Arnie Terminator, sagt er, dass er sich ohne ab und zu mal was hinten drin nur wie ein halber Mensch fühlt.“

Nach einem tiefen Zug reicht er den Joint weiter und versucht mit einem ebenso tiefen Blick in Josephs Augen zu ergründen, wie der Auftakt der schönen Geschichte bei ihm ankommt.

„Kadek wohnt in einem kleinen Haus ohne direkte Nachbarn, und als ich einmal bei ihm anklopfte, rief er mich auf die Dachterrasse. Er war in Gesellschaft zweier Jünglinge, ebenso attraktiv wie stolz, echte Balinesen halt. Alle drei waren nackt, und Kadek lag bäuchlings auf einer Matratze und wurde von einem der beiden gefickt. Und der andere saß daneben und schaute mit einer Ruhe und Konzentration zu, als lernte er gerade etwas, das für sein weiteres Leben von unermesslicher Bedeutung war.“

Der Joint wandert hin und her, wobei der Zuhörer unverändert den Erzähler fixiert, während dessen Blick immer weniger auf und ab wandert, sondern doch immer häufiger bei diesem gewaltigen Schwanz verweilt, den Joseph mit gleichbleibender Intensität massiert.

„Und – weiter?“, ermuntert er Lukas, drückt den Joint aus und langt nach einem kleinen Handtuch.

„Na ja, ich habe mich fürs erste dazugesetzt und mitverfolgt, wie Kadek gelegentlich seine Stellung änderte und die Jünglinge sich beim Ficken immer wieder ablösten. Und das Faszinierende daran war: Es gab nicht die geringste Eile, sondern es hatte etwas Meditatives, so was wie ein Ritual. – Verstehst du? Nicht wie vom Teufel getrieben, sondern wie ein Geschenk der Götter.“

Joseph schaut Lukas weiter ruhig an und reibt das Öl von seinem Schwanz. Dann fasst er ihn am Schaft, drückt ihn nach unten und sagt: „Hier, probier mal an. Ich glaub, das ist genau deine Kragenweite.“

 

Zwar kannte Lukas seine Kragenweite nicht, sehr wohl jedoch die unwiderstehliche Faszination, die ein großer Schwanz auf ihn ausübte. Und so glitt er in einer fließenden Bewegung von der Bank und zwischen Josephs Beine und griff mit beiden Händen nach dem Objekt seiner Begierde und näherte seinen Mund an und – hielt dann inne und tat nicht das, worauf Joseph nach seiner gründlichen Vorbereitung von eigener Hand nur allzu scharf war.

Stattdessen beginnt er damit, in allerlei Variationen mit dem Schwanz zu spielen und lässt Joseph irgendwann unterwegs wissen: „Ach weißt du, mir fällt gerade noch was Schönes zu diesem so phantastisch anstehenden Thema ein.“

Joseph atmet schwer und zittert fast vor Erregung, lässt sich aber auf das Spiel ein.

„Also“, beginnt Lukas und fährt mit einer Hand über den Schwanz bis hinab zu den Eiern – und mehrmals wieder ganz rauf und ganz runter – und dann über die Eier hinweg, wo er die Sackhaut fasst und weiter nach unten zieht, bis der ohnehin beachtliche Apparat noch um ein ganzes Stück länger und gewaltiger wirkt.

„Von den alten Chinesen kann man ja eine Menge nützlicher Sachen lernen – wie zum Beispiel diese hier: …“

– Er lässt vom Sack ab und zwingt stattdessen die Vorhaut so weit über die maximal aufgepumpte Eichel, bis er sie dort auf eine Weise packen kann, als wolle er einen Luftballon zuknoten. –

„Wenn du lange in zu kleinen Schuhen unterwegs warst, und deine Füße schmerzen, dass es kaum noch auszuhalten ist …“

– Er zieht den Schwanz nur an der Vorhaut gehalten weit nach unten und lässt ihn dann gegen die Bauchmuskeln schnellen, und gleich nochmal und nochmal, weil ihn dieses Geräusch ganz wunderbar aufgeilt. –

„… und du kommst endlich nach Hause, dann zieh die Schuhe nicht gleich aus …“

– Mit einer unter dem Sack angesetzten Faust schiebt er die Eier maximal nach oben und schlägt den Schwanz mit Kraft in die andere Handfläche wie einen wahrhaftigen ,Knüppel aus dem Sack’. –

„… sondern geh erst noch dreimal ums Haus herum, denn …“

– und an dieser Stelle schaut er Joseph in die Augen, stülpt dann seine Lippen über die zum Bersten pralle Eichel und fährt einmal langsam auf und ab, um dann zu schließen: „… denn umso größer wird anschließend dein Wohlgefühl sein.“

 

Und dieses Wohlgefühl fiel beträchtlich aus und wurde bald sogar harmonisch verteilt, denn irgendwann meinte Joseph: „Wart mal schnell!“

Während er mit ein paar Handgriffen den Tisch verschwinden und ein Bett entstehen lässt, steigt Lukas endlich aus seinen Klamotten. Und kein Wunder wird eine Seite seines Slips mittlerweile von einem feuchten Fleck solcher Größe geziert, als sei dort eine Tube KY ausgelaufen.

Wortlos verständigen sie sich auf eine 69-Position, eine seitliche und schön bequeme, in der man es eine kleine Ewigkeit aushalten kann. Jedenfalls lange genug, bis beide fast zeitgleich zum Schuss kommen und wie um die Wette solche Mengen von Sperma verspritzen, dass am Ende nicht nur ihre Körper besprenkelt waren, sondern dass sie vor dem Schlafengehen doch besser ein trockenes Laken aufzogen.

Und Lukas’ letzte Erinnerung war die, dass er in eine Stellung gekrochen war, die es ihm erlaubte, mit Josephs Schwanz im Mund einzuschlafen wie ein zufrieden nuckelndes Wonnebaby.

 

Auf diese beachtliche Art und Weise hatten ihre Herrenabende eine ganz neue Dimension erhalten. Zur sexuellen Komponente hatte Joseph von Anfang an – und selbstverständlich wortlos – zu verstehen gegeben, dass er diese ausschließlich in ,Netto’-Version wünschte: Kein Knutschen, kein Streicheln, kein Säuseln, sondern die Konzentration aufs Wesentliche – jedenfalls auf sein Verständnis davon, und das bestand aus manueller und oraler Stimulation.

Damit konnte Lukas, obwohl eigentlich ein Anhänger ganzheitlichen Herangehens, gut leben. Allerdings gab es dann doch eine kleine Ausnahme von der Regel, wenngleich in eine vollkommen unvorhersehbare Richtung.

So unterbrach Joseph ihre oralen Schwelgereien einmal mit seinem typischen ,Wart mal schnell’. Dann greift er in ein Fach und wirft Lukas ein Kondom hin, geht auf allen Vieren in Stellung und äußert trocken: „Ich glaub, ich bin langsam alt genug, um das mal auszuprobieren.“ – Und als Lukas vor Überraschung keinerlei Reaktion zeigt, dreht Joseph den Kopf zu ihm und fügt hinzu: „Na mach schon! Oder muss ich dich etwa mit vorgehaltener Waffe dazu zwingen?“

 

Es war November geworden, der Zirkus war für sein letztes Gastspiel nach Bremen gezogen, und plötzlich war Joseph weg, verschwunden, vom Erdboden verschluckt. Sie hatten sich beim Abbau in Hannover ,bis morgen’ voneinander verabschiedet und in dem üblichen Tohuwabohu aus den Augen verloren.

Lukas war verwirrt, er war ratlos, er war enttäuscht, aber all diese Gefühle dienten seiner Psyche nur zu dem Zweck, sich vor dem weitaus schmerzlicheren zu schützen – vor einer unsäglich tiefen Traurigkeit. Er schleppte sich durch die wieder quälende Monotonie und zählte die Tage bis zum Saisonschluss, wenn es für vier Monate nach Bali gehen würde – allerdings dann wohl auch wieder für acht endlose Monate in sein Hühnerabteil.

Alles ging wieder seinen gewohnten und zermürbenden Gang, bis Lukas eine Woche vor Saisonschluss im Zirkusbriefkasten eine Benachrichtigung fand: Hauptpost, Einschreiben, Päckchen. Bei erster Gelegenheit fuhr er hin, bekam einen länglichen Karton ausgehändigt, ihm unbekannter Absender, aber Briefmarken aus Schweden.

Als er ihn in seinem Abteil ungeduldig öffnet, findet er zwei separat verpackte Kartons, die vom Format her Weinflaschen oder etwas von ähnlicher Dimension enthalten mögen. Im ersten findet er eine längliche Sperrholzschachtel, und als er den Deckel öffnet, liegt dort auf reichlich schwarzem Seidenstoff gebettet – ein erigierter Prachtschwanz aus hautfarbenem Marzipan.

Er ist derart perplex, dass ihm erst nach einer ganzen Weile ein aufgerollter und mit roter Schleife zusammengehaltener Briefbogen auffällt. Er entfernt die Schleife, entrollt den Bogen und liest:

 

Servus alter Freund!

 

Hast wohl schon gedacht, ich hätt dich vergessen. Ich musste mal eben für was Wichtiges weg und konnt mich nicht lange verabschieden.

Die Leckereien hat Lisa in ihrer Konditorei genauestens nach dem Vorbild angefertigt. Eine für dich und eine für deinen Freund auf Bali. Den Namen hab ich vergessen. Jedenfalls der, der sich ohne was hinten drin nur wie eine halbe Portion fühlt oder so ähnlich. Den kannst du mal unbekannt von mir grüßen und ihm sagen, dass ich viel über seine Worte nachgedacht habe.

Ach ja, und unter diesem Seidenzeugs ist noch was für dich. Schau mal nach, bevor du weiterliest.

 

Lukas findet einen länglichen Briefumschlag, und als er ihn öffnet, sieht er zu seinem Schock, dass er voller Fünfhunderter ist. Seine Kinnlade klappt herunter, und er sitzt wer weiß wie lange mit leergefegtem Hirn, bevor er wie unter Narkose weiterliest:

 

Es müssten zwanzig sein. Und mach dir keine Sorgen, ich hab noch jede Menge mehr für mich selbst. Und in Zukunft wird auch immer mal wieder was hinzukommen. Gute Kumpel sind halt Gold wert. Und gelernt ist gelernt. Und aus Fehlern wird man klug.

Und darum schreib dir hinter die Ohren: Keine Geschäfte mehr mit lebenden Sachen! Ist viel zu unsicher. Vielleicht geht auf Bali ja was mit Marzipanspielzeug. Such dir jedenfalls mal was Vernünftiges. Bist ja nicht auf den Kopf gefallen. Es war mir ein Vergnügen. Ich wünsch dir was!

 

Habe die Ehre – Joseph