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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1.

„Rrrrums!“ sagte Batuti, der hünenhafte Gambia-Neger.

Dan O’Flynn rieb sich das Kinn. Matt Daviles kratzte sich mit der scharfgeschliffenen Spitze seiner Hakenprothese im Haaransatz. Sie standen an Deck der aufgeslippten „Isabella VIII.“ und lauschten dem Rumoren, das aus dem Achterschiff drang – immer dann, wenn für eine Weile der Krach der Hämmer, Beitel und Äxte verstummte, mit denen der Schiffsrumpf vom Muschelbewuchs befreit wurde.

„Rrrrack!“ fuhr Batuti in seinen lautmalerischen Beschreibungen fort. Sein weißes Prachtgebiß blitzte in dem schwarzen Gesicht. „Kleines Seewölfe wild wie junges Tiger, eh?“

Dan O’Flynn nickte nur.

Er konnte es immer noch nicht ganz fassen, daß sie die beiden Jungen, die Batuti „kleines Seewölfe“ nannte, wirklich und wahrhaftig an Bord hatten. Und den anderen ging es genauso. Sie waren in den Hafen von Tanger eingelaufen, um die „Isabella“ der dringend nötigen Generalüberholung zu unterziehen. Der Zufall hatte sie in jenes Zelt auf dem Platz im Gewirr der Gassen geführt, in dem eine Gruppe von Gauklern ihre Vorstellung gab. Die Attraktion war ein ziegenbärtiger Zauberer namens Kaliban, der einen kleinen Jungen verschwinden und in der nächsten Sekunde am anderen Ende der Bühne wieder auftauchen ließ. Ein unglaublicher Trick! Unglaublich jedenfalls solange, bis Dan O’Flynn auffiel, daß dieser schwarzhaarige Junge mit den eisblauen Augen Philip Hasard Killigrew, dem Seewolf, wie aus dem Gesicht geschnitten war.

Als Dan das erkannte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

Zwillinge! Das war der Trick des Zauberers: er arbeitete mit zwei Jungen, die sich ähnelten wie ein Ei dem anderen. Und danach brauchte Dan nur noch zwei und zwei zusammenzuzählen, um zu begreifen: diese Zwillinge waren niemand anders als die verschollenen, totgeglaubten Söhne des Seewolfs.

Hasard hatte es zuerst nicht glauben wollen.

Trotz der Versicherung, daß die beiden Jungen auch eine gewisse Ähnlichkeit mit Gwen hätten, seiner toten Frau, Dans Schwester. Zu deutlich stand ihm noch die Szene vor Augen, als ihm sein Todfeind, der degradierte Hauptmann Isaac Henry Burton, mit seinem letzten Atemzug entgegengeschleudert hatte, er brauche seine Kinder nicht länger zu suchen, da sie beide tot seien. Aber dann hatte Hasard selbst die Vorstellung der Gaukler besucht. Und danach gab es auch für ihn keinen Zweifel mehr: er hatte seine Söhne gesehen, Hasard und Philip. Der sterbende Burton mußte noch in seiner Todesstunde von dem Wunsch beseelt gewesen sein, seinem Feind einen letzten, vernichtenden Schlag zu versetzen.

Die Zwillinge lebten!

Und für den Seewolf gab es kein Zögern: er würde seine Söhne mitnehmen. Das Recht war auf seiner Seite – das Recht des Vaters auf seine Kinder. Nur konnte man das den Zwillingen nicht erklären. Sie hatten ihren Vater nie gesehen, waren im Orient aufgewachsen und sprachen nur Türkisch. Heimlich hatten die Seewölfe die beiden Jungen auf die „Isabella“ entführt. Und jetzt hämmerten sie in der Kammer im Achterschiff gegen die Tür, weil sie ’rauswollten – „wild wie junges Tiger“, wie es Batuti sehr treffend ausgedrückt hatte.

Philip Hasard Killigrew marschierte mit langen Schritten auf dem Achterkastell hin und her.

Er zerbrach sich den Kopf. Am liebsten wäre er sofort ausgelaufen, aber das ging nicht, weil sich die Arbeiten an der „Isabella“ noch eine Weile hinziehen würden. Und inzwischen mußte, er aufpassen, daß niemand auf die Idee verfiel, die beiden verschwundenen Jungen bei ihm an Bord zu vermuten. Er mußte sich etwas einfallen lassen, um seinen Söhnen zu erklären, daß sie sein Fleisch und Blut seien.

Verdammt und zugenäht, dachte er.

Wie sollte er zwei Türkisch sprechenden Kindern in der Zeichensprache erklären, daß es einen eindeutigen Beweis für ihre Identität damals gäbe: die Haifisch-Symbole, die ihnen ihre Entführer damals auf die Schulterblätter tätowiert hatten? Wie sollte er sie überhaupt dazu bringen, zuzuhören – so, wie sie sich gebärdeten? Als Vater konnte man schließlich keine Gewalt anwenden, oder?

Es war überhaupt ziemlich schwierig, nach sieben Jahren plötzlich die Vaterrolle für zwei Jungen zu übernehmen, die noch dazu ziemlich ausgekocht, flink und kampfkräftig geraten waren. Hasard hätte sich am liebsten die Haare gerauft, und allmählich hatte er das Gefühl, daß es leichter sei, mit einem tropischen Wirbelsturm oder einer spanischen Kriegsflotte fertigzuwerden als mit seinen neuen, ungewohnten Pflichten.

Er seufzte unterdrückt.

Big Old Shane, der ehemalige Schmied der Feste Arwenack, beobachtete ihn mit einem leicht amüsierten Funkeln in den Augen. Donegal Daniel O’Flynn senior stampfte mit seinem Holzbein auf die Planken.

„Als Großvater würde ich meine neuen Enkel ja gern mal richtig ’rannehmen“, brummte er. „Wetten, daß man denen erst mal gründlich die Flausen austreiben muß?“

„Quatsch“, knurrte Hasard.

„Ha! Sie sind halbe O’Flynns, nicht? Ich habe sieben O’Flynn-Söhne großgezogen …“

„Indem du sie jeden Tag mit deinem verdammten Holzbein verdroschen hast“, sagte Dan von der Kuhl. „Deshalb sind sie dir ja auch alle ausgerückt, du Musterbild von einem Vater!“

„Ha! Hat es dir etwa was geschadet, du Rotzlümmel? Könntest du vielleicht heute auf diesem Kahn mit deinen Navigationskenntnissen angeben, wenn dir dein alter Vater nicht beizeiten eingebläut hätte, wie sich ein echter O’Flynn zu benehmen hat, he?“

Dan grinste still vor sich hin.

So unrecht hat das alte Rauhbein gar nicht, dachte er. Wenn sein Vater nicht versucht hätte, ihn mit dem abgeschnallten Holzbein in die langweilige Lehre bei einem Sargtischler zu prügeln, wäre er nie als sechzehnjähriges Bürschchen von zu Hause ausgerissen. Dann hätte er sich nicht in der legendären Schlacht vor der „Bloody Mary“ auf Hasards Seite schlagen können, wäre nicht auf Francis Drakes „Marygold“ gelandet und natürlich auch nicht auf der „Isabella“.

„Die nehmen noch das Schiff auseinander“, unkte Ferris Tucker, der riesige rothaarige Zimmermann.

„Na und?“ nahm Dan Partei. „Das würde ich auch, wenn mich jemand so mir nichts, dir nichts verschleppt hätte.“

„Batuti geht Türken klauen“, erbot sich der schwarze Herkules. „Mit Türken, was spricht Spanisch, wir können kleine Tiger alles erklären.“

„He!“ sagte Dan. „Die Idee ist ausgezeichnet!“

So übel war die Idee wirklich nicht. Nur leider undurchführbar. Wenn sie einen Einheimischen in die Sache hineinzogen, würde der natürlich später den Mund nicht halten. Und sie konnten nach allem schließlich nicht auch noch einen Türken entführen. Hasard stemmte die Fäuste in die Hüften und machte Anstalten, Dan und Batuti anzupfeifen, weil er ein Ventil brauchte.

„Wollen wir die beiden übrigens da unten verhungern lassen?“ fragte Big Old Shane dazwischen.

Hasard schluckte.

Dann holte er tief Luft.

„Kutscher!“ brüllte er. Und nach kurzem Überlegen: „Bill! Wo steckt der Bengel, in drei Teufels Namen?“

Der schlaksige, noch nicht erwachsene Schiffsjunge flitzte bereits herbei. Er war der jüngste der Crew, und Hasard nahm an, daß sich die Zwillinge vor ihm vielleicht am wenigsten fürchten würden. Der Kutscher, Koch und Feldscher auf der „Isabella“, hatte bereits eine kräftige Suppe vorbereitet, und die trug er jetzt in einer dampfenden Schüssel über den Niedergang.

Bill, Hasard und Big Old Shane folgten ihm, wobei Hasard das Bedürfnis fühlte, sich heftig am Kopf zu kratzen. Es war schon eine vertrackte Sache, wenn die eigenen Söhne einen anstarrten wie den leibhaftigen Kinderklau. Bei der ersten Begegnung hatte er von Hasard junior einen brettharten Tritt vor’s Schienbein kassiert und einen Fausthieb zum Kinn, der auch nicht von schlechten Eltern war. Und irgend jemand hatte dazu im Hintergrund gemurmelt, daß der Apfel eben nicht weit vom Stamm falle.

Der Kutscher hob die Brauen, als er das Gehämmer der kleinen Fäuste hörte, die von innen gegen die Tür trommelten.

Big Old Shane schüttelte sein graues Haupt.

„Ruhe!“ donnerte er. Und danach war wunderbarerweise wirklich Ruhe, obwohl die Jungen das Wort bestimmt nicht verstanden hatten.

Shane schloß die Tür auf.

Zwei drahtige kleine Gestalten wichen zurück, aber nicht etwa ängstlich, sondern wachsam und sprungbereit. Die beiden trugen jetzt einfache Hemden und die Schifferhosen, die Will Thorne, der Segelmacher, in aller Eile zurechtgestichelt hatte – weiße für Philip, blaue für Hasard. Sonst sahen sie sich wirklich zum Verwechseln ähnlich. Sie waren groß für ihr Alter. Und auch ein ganzes Stück gewitzter, als es Siebenjährige normalerweise zu sein pflegten. Das mochte an dem abenteuerlichen Leben liegen, das sie geführt hatten und von dem der Seewolf so gut wie nichts wußte.

Mißtrauisch glitten ihre blauen Augen über die freundlichen Gesichter.

Der Kutscher hielt die Suppenschüssel hoch. Bill grinste breit und versuchte, vertrauenerweckend auszusehen. Aber wenn er geglaubt hatte, die beiden würden ihn als Kameraden akzeptieren, weil er selbst noch ein halbes Kind war, sah er sich gehörig getäuscht.

Angst hatten Philip Hasard Killigrews Söhne nicht für einen Penny.

Jedenfalls zeigten sie sie nicht. Obwohl sie ja eigentlich nur annehmen konnten, daß man sie – nicht ungewöhnlich im Orient – geraubt hatte, um sie zu verkaufen oder als Arbeitskräfte auszunutzen. Sie wollten hier ’raus. Und wenn der Kutscher gewußt hätte, wie dringend sie das wollten, wäre er sicher nicht so mir nichts, dir nichts mit der Suppenschüssel in Richtung Tisch marschiert.

Eine Sekunde später flog die Schüssel haarscharf an Bills Kopf vorbei, die Suppe platschte auf den Boden, und zwei kleine Jungs schienen sich in geölte Blitze zu verwandeln.

Zu ihrem Pech drängten sich ein paar Männer zu viel vor der schmalen Tür.

Der Seewolf empfing schon wieder mal einen Tritt und packte den Täter am Schlafittchen. Big Old Shane hievte das zweite zappelnde Kerlchen am Kragen in die Höhe. Philip und Hasard schrien auf Türkisch Zeter und Mordio, wehrten sich mit Nägeln und Zähnen, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes, und es kostete einige Mühe, sie wieder in die Kammer zu verfrachten und die Tür zu schließen.

Big Old Shane betrachtete versonnen seinen Zeigefinger, auf dem sich zwei Reihen kleiner, scharfer Zähne abzeichneten. Dann blickte er Hasard an und grinste.

„Erinnert mich an Sir John auf Arwenack“, sagte er. „Den hast du auch mal gebissen, als du noch ein sechsjähriger Rotzlümmel warst.“

„Sir John war ja auch ein altes Ekel, das seine Söhne dauernd schikanierte“, knurrte Hasard.

Und dann fluchte er grimmig, weil ihm einfiel, daß er selbst seine Söhne regelrecht entführt hatte und daß sie ihn vielleicht für etwas viel Schlimmeres als ein altes Ekel hielten.

Eine halbe Stunde später hatte der Kutscher eine neue Suppenschüssel und zwei Teller auf den Tisch in Hasards Kammer gestellt.

Am Kragen packen und vor die Fleischtöpfe setzen, lautete sein Rat. Das würden die Bengel schon kapieren. Und Hasard hatte diese heikle Aufgabe dem alten Shane übertragen. Man war ja schließlich der Vater und wollte sich nicht dauernd als Buhmann exponieren.

Big Old Shane lächelte schon wieder in sich hinein, als er vor der Tür stand, hinter der gerade eine türkische Debatte im Tonfall gereizter Wildkatzen im Gange war.

Dan O’Flynn drehte den Schlüssel, was drinnen natürlich zu hören war.

Old O’Flynn stützte sich auf seine Krücken und blinzelte neugierig. Und irgendwie sah er sogar ein bißchen selbstzufrieden aus, als die Zwillinge, die ja schließlich halbe O’Flynns waren, aus der Kammer schossen wie die Kastenteufel.

Zwei Sekunden später war es allerdings damit vorbei. Da hatten die mächtigen Fäuste des Schmieds von Arwenack je einen zappelnden Jungen am Kragen und schüttelten sie ein bißchen. Woraufhin die beiden dann tatsächlich aufhörten zu beißen, zu kratzen, um sich zu treten und zu spucken.

Mühelos schleppte sie Shane in Hasards Kammer und pflanzte erst den einen, dann den anderen nachdrücklich auf einen Stuhl.

Da saßen sie nun. Wütend. Kampflustig. Aber logischerweise auch hungrig – und der Kutscher hatte sich mit der Suppe eine Menge Mühe gegeben.

Philip sah Hasard an. Hasard sah Philip an. Beide schossen noch einen mißtrauischen Blick auf die Männer an der Tür ab – und dann schnappten sie sich die Löffel und begannen zu essen.

„Verschwindet“, knurrte der Seewolf in Richtung auf Dan, den Kutscher und Old O’Flynn. „Ihr habt es schließlich auch nicht gern, wenn euch jemand dauernd in die Suppe starrt, oder?“

„Man darf ja wohl noch …“ brummte der alte O’Flynn beleidigt.

Was man „ja wohl noch durfte“, verlor sich im Dämmerlicht des Niedergangs. Big Old Shane lehnte mit verschränkten Armen an der Tür. Hasard schnappte sich die letzte Whiskyflasche, original schottisch, und genehmigte sich erst mal einen guten Schluck von dem Stoff, mit dem bekanntlich alles besser ging.

Die Zwillinge vertilgten die Suppe bis zum letzten Tropfen.

Hasard lächelte. Zeichensprache war zwar ein höchst ungenügendes Verständigungsmittel, aber man konnte es ja mal versuchen.

Er klopfte sich auf die Brust.

„Philip Hasard Killigrew“, sagte er langsam und deutlich. Dann wies er nacheinander auf die beiden Jungen. „Philip! Und Hasard!“

Hasard junior funkelte ihn an.

Beredt tippte er auf seine eigene Brust. „Ali!“ fauchte er. Und mit einer Geste zu seinem Bruder: „Abu!“. Sein Zeigefinger spießte den Seewolf fast auf. Was er dabei sagte, war nicht zu verstehen. Aber freundlich klang es nicht gerade.

„Heiliger Bimbam“, stöhnte Philip Hasard Killigrew.

Seine Sprößlinge redeten immer noch auf Türkisch auf ihn ein. Unisono rutschten sie von ihren Stühlen und marschierten unter heftigem Nicken zur Tür. Der Seewolf war verblüfft und merkte fast zu spät, daß das eine neue, raffiniertere Form von Fluchtversuch war.

„Die schlagen ihrem Vater nach“, brummte Big Old Shane, als er die beiden wieder am Kanthaken hatte.

Diesmal brauchte er sie nicht hochzuhieven, da sie einigermaßen freiwillig in ihre Kammer zurückgingen. Das gegen den graubärtigen, knorrigen Riesen kein Kraut gewachsen war, hatten sie inzwischen gemerkt. Und so schlau, daß sie ihre Kräfte nicht unnütz vergeudeten, waren sie mit ihren sieben Jahren offenbar auch schon.

„Heiliger Bimbam“, wiederholte Hasard erschüttert, als die Tür ins Schloß fiel.

Big Old Shane grinste vielsagend.

„Was willst du?“ fragte er gelassen. „Das sind eben keine braven Sonntagsschüler, das sind zukünftige Seewölfe.“

Womit er zweifellos den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.

2.

Der portugiesische Hafenkommandant von Tanger, ein dicklicher Mensch namens Don Pedro Estrade, saß in seinem Amtszimmer und betrachtete stirnrunzelnd die Versammlung, die sich vor ihm aufgebaut hatte.

Ein hagerer, ziegenbärtiger Mann mit einem Habichtsgesicht, der einen schwarzen, mit geheimnisvollen Symbolen bestickten Umhang um die Schultern trug.