Buchinfo

Gefangen auf einer einsamen Insel – noch immer ist das grausame Realität für Grace und ihre Freunde. Als sie plötzlich auf ein verstecktes Boot stoßen, können sie es kaum fassen. Sie sind gerettet! Doch anstatt aufs offene Meer hinaus treibt es sie immer wieder zu der Insel zurück. Die Freunde schöpfen neue Hoffnung, als sie an einer der Buchten auf eine Gruppe Jugendlicher treffen. Sie versprechen ihnen zwar, sie nach der großen Neumondparty von der Insel zu bringen, doch Grace fühlt, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht und sie vorsichtig sein müssen. Vor allem die Anführerin verhält sich irgendwie verdächtig. Ist sie etwa die Frau aus Graces Albträumen? Wenn ja, wird sie sie bestimmt nicht einfach so gehen lassen …

Autorenvita

Siobhan Curham

© privat

Siobhan Curham ist eine mehrfach ausgezeichnete englische Autorin. Für Dear Dylan erhielt sie 2010 beispielsweise den »Young Minds Book Award«. Neben ihrer Autorentätigkeit leitet sie außerdem Schreibworkshops und ist sehr aktiv in ihrem Online-Forum für junge Autoren.

Titelseite

Für Seelenverwandte überall 

Prolog

Hortense zündet die letzte Kerze an und tritt einen Schritt vom Altar zurück. Rauchschwaden wabern durch die Dunkelheit wie geisterhafte Schlangen und erfüllen die Luft mit Salbeiduft. Aus ihrer Tasche zieht sie ein kleines hölzernes Püppchen und legt es in die Mitte des Altars.

Plötzlich beginnt der Wind in den Bäumen zu rauschen. Es klingt wie ein nervöses Keuchen – als ob die Insel ahnt, was gleich geschehen wird.

Während Hortense auf die Puppe blickt, macht sich eine ungewohnte Mischung aus Anspannung und Vorfreude in ihr breit. Blass leuchtet der sichelförmige Halbmond am Himmel. Nur noch wenige Tage und er wird ganz und gar verschwunden sein. Nur noch wenige Tage und die Dunkelzeit des Mondes wird anbrechen, und sie kann endlich beenden, was sie vor all den Jahren begonnen hat.

Hortense dreht sich um und tritt zu einem Weidenkorb, der auf der Lichtung steht. Als sie behutsam den Deckel anhebt, erscheint der Kopf einer Schlange. Ihre glatte Haut glänzt im Schein der Kerze. Hortense nimmt die Schlange vorsichtig aus dem Korb und hält sie hoch über sich. Zischend wölbt sie sich gen Himmel.

»Papa Labas, schenk mir deine Kraft!«, ruft Hortense. Dann senkt sie die Arme und legt sich die züngelnde Schlange um den Hals. Hortense erschaudert, als die kalte Haut des Tieres die ihre berührt. Schließlich beginnt sie zu tanzen, wiegt sich langsam hin und her, bis es sich so anfühlt, als ob sie und die Schlange eins wären. Sie schließt die Augen und spürt, wie sich die Kraft in ihr ausbreitet, heiß und drängend wie ein Buschfeuer.

Hortense legt die Schlange in den Korb zurück und schreitet zum Altar. Aus ihrem Gürtel zieht sie ein kleines gebogenes Messer und hält es ins Mondlicht. Dann greift sie nach der Puppe – und sticht ihr mit einem gezielten Hieb die Augen aus.

Kapitel 1

Ich treibe irgendwo in dem merkwürdigen Niemandsland zwischen Wachen und Schlafen. Cruz’ Arm liegt um meine Taille und drückt meinen Körper sanft in den Sand unter uns, während meine Gedanken davongleiten, zurück in den Traum.

Dieses Mal fehlt das Feuer. Ebenso der stickige Rauch und das schreiende Baby. Dieses Mal höre ich nichts als Hortenses Gesang und nehme nichts weiter wahr als einen verschwommenen gelben Schimmer. Bis langsam das Gesicht eines wunderschönen Mädchens erscheint, wie auf einem alten Polaroid-Foto. Sie hat glänzende schokoladenfarbene Haut und dunkle braune Augen. Als sie mich anlächelt, läuft ihr eine Träne die Wange hinab. Sie öffnet den Mund, um etwas zu sagen, doch bevor sie das erste Wort aussprechen kann, schießt mit gefletschten Zähnen eine Schlange zwischen ihren Lippen hervor.

Sofort bin ich hellwach. Das Herz klopft mir bis zum Hals. Cruz zieht mich dichter an sich.

»Grace«, flüstert er mir ins Ohr. Seine Stimme klingt heiser und verschlafen.

Ich gestatte meinem Körper, in seinem zu versinken, sich zu entspannen, sauge seine Wärme auf, während ich versuche, in meinem Kopf Klarheit zu schaffen, um wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden.

Der Gesang, das Mädchen, die Schlange – es war alles nur ein Traum. Jetzt bin ich wach. Cruz liegt direkt neben mir. Belle, Floh und Dan schlafen auf der anderen Seite der Palmen. Alles ist gut. Jedenfalls so gut, wie es eben sein kann, wenn man auf einer einsamen Insel gestrandet ist, die vom Geist einer Voodoo-Königin beherrscht wird.

Beim Gedanken an Hortense bricht mir eiskalter Schweiß auf der Stirn aus. Reiß dich zusammen, Grace, beschwöre ich mich selbst, flipp jetzt bloß nicht aus! Schnell denke ich an das Boot, das wir gestern gefunden haben, und daran, dass wir im Morgengrauen aufbrechen werden. Allerdings … wenn Hortense in meinen Kopf eindringen kann, weiß sie dann nicht auch, was wir vorhaben? Wird sie nicht versuchen, uns aufzuhalten? Reglos warte ich auf die Stimme, auf das Flüstern in meinem Kopf. Doch ich höre nichts als das Zischen und Knacken des Regenwalds und das Geräusch der Wellen, die sich am Strand brechen. Seit Hortense gestern versucht hat, mich zu sich zu locken, und wir Belle gerettet haben, habe ich weder ihre Stimme gehört noch ihre Gegenwart gespürt. Vielleicht hat Cruz recht. Vielleicht habe ich den Fluch gebrochen, indem ich mich geweigert habe, mit ihr zu gehen. Vielleicht ist der Albtraum wirklich vorbei.

Cruz drückt mich noch enger an sich, als ob er spüren würde, dass ich an ihn denke. Als sein Atem über mein Haar streift, beginnt die Haut an meinem Körper zu prickeln. Ganz vorsichtig drehe ich mich so um, dass ich ihn ansehen kann. Ein Teil von mir wünscht sich, dass er aufwacht, aber ein anderer Teil von mir ist froh, dass er schläft. Wenn er wach ist, muss ich mich zurückhalten, ihn nicht die ganze Zeit anzustarren, um nicht völlig liebeskrank zu wirken. Jetzt aber kann ich ihn so lange anschauen, wie mein Herz es verlangt. Ich betrachte die vielen schwarzen Locken, die sich über sein Gesicht ergießen, den scharfen Umriss seiner Wangenknochen und die Bartstoppeln, die sein Gesicht verdunkeln wie Schatten. Dann schweifen meine Augen weiter zu seinem Mund und den beiden Stellen, an denen sich Grübchen eingraben, wenn er lächelt.

Es ist schwer zu glauben, dass dieser Mund vor ein paar Stunden die Worte »Ich liebe dich« ausgesprochen hat. Ob er das wirklich ernst meint? Kann er mich tatsächlich jetzt schon lieben? Wir kennen uns schließlich erst seit ein paar Tagen, auch wenn uns seitdem so viel passiert ist, wie manch anderem im ganzen Leben nicht. Damals, als ich nicht so recht wusste, ob Todd, mein Exfreund, der Richtige für mich ist, habe ich meine Mom gefragt, woher man eigentlich weiß, dass man verliebt ist. Darauf hat sie mich ganz traurig angelächelt und gesagt: »Ach, mach dir darüber keine Gedanken, Süße, das merkst du dann schon. Es heißt zu Recht, dass man sich Hals über Kopf verliebt oder mit Haut und Haar. Eigentlich ist es, als würdest du mit offenen Augen und Armen vom Empire State Building springen: Du weißt, dass dein Herz vielleicht irgendwann in Stücke bricht, aber es ist dir egal.«

Bei dem Gedanken an Mom füllen sich meine Augen mit Tränen. Wie es ihr wohl inzwischen geht? Wir sind schon so lange verschollen. Ich liebe dich, Mom, sage ich in Gedanken. Ich liebe dich und ich bin ganz bald wieder zu Hause. Ich bete, dass sie mich irgendwie über eine telepathische Mutter-Tochter-Verbindung bis nach Los Angeles hören kann.

Schließlich blinzle ich die Tränen weg. Wie friedlich Cruz aussieht – als wäre im Schlaf die ganze Aufregung der vergangenen Tage in den Sand geflossen. Als er sich bewegt, kommt sein Gesicht meinem so nahe, dass sich unsere Lippen berühren. Meine inneren Cruz-Sensoren schalten sich sofort ein und lassen mein Herz schneller schlagen.

»Hallo.« Er zieht mich an sich.

»Hallo«, wispere ich zurück.

Seine Finger gleiten unter mein T-Shirt, worauf mir sofort eine wohlige Wärme den Rücken hinaufkriecht. Vorsichtig umfasst er eine meiner Brüste. Ich stöhne unwillkürlich auf, woraufhin er sofort innehält. Vermutlich glaubt er, dass er zu weit gegangen ist. Aber das ist er nicht, absolut nicht. Meine Lippen finden seine. Wenn Synchronküssen eine olympische Disziplin wäre, wären wir jetzt auf Goldmedaillen-Kurs. Cruz rollt sich auf mich und flüstert mir etwas auf Spanisch ins Ohr.

»Was bedeutet das?«, frage ich leise.

»Du bist wunderschön«, flüstert er atemlos.

»Grace, Cruz, seid ihr wach?«

Beim Klang von Flohs Stimme zucken wir zusammen. Cruz rollt sich sofort neben mich in den Sand zurück.

»Was ist denn?«, rufe ich und streiche mein T-Shirt glatt. In dem blassen Mondlicht kann ich undeutlich Flohs schmale Silhouette vor den Bäumen ausmachen.

»Es ist wegen Belle.«

Sofort zieht sich mir der Magen zusammen. Ich richte mich auf. »Was ist mit ihr?«

Floh kommt näher. Sein T-Shirt ist verknittert und seine schwarzen Haare sind vom Schlaf völlig zerzaust. »Sie jammert und stöhnt, als ob sie einen ganz fürchterlichen Albtraum hätte. Aber ich bekomme sie nicht wach.«

Ich reiche Cruz die Hand, um ihm aufzuhelfen, bevor wir um die Bäume herum zu Dans und Belles Schlafplatz hasten. Aus Dans Handtuch-Kokon erklingt leises Schnarchen. Neben ihm aber atmet Belle flach und zuckend, als würde sie nach Luft ringen. Wir kauern uns um sie herum.

»Belle«, rufe ich ihr ins Ohr. »Belle, wach auf!«

Sie stößt ein Stöhnen aus, als hätte sie Schmerzen.

»Was ist bloß mit ihr?« Flohs Stimme zittert.

Cruz beugt sich vor und packt Belle an der Schulter. »Wach auf, Belle«, sagt er und schüttelt sie sanft.

Ihre Stirn zuckt, aber ihre Augen bleiben geschlossen.

»Belle, Süße, du musst aufwachen!«, ruft Floh.

Dan schreckt hoch wie eine Mumie in einem Horrorfilm, die sich aus dem Grab erhebt. »Was ist los?«, schreit er und blickt wild und kampfbereit um sich.

»Alles gut, wir versuchen nur, Belle aufzuwecken«, erkläre ich.

Dan starrt mich an, als hätte ich sie nicht mehr alle. »Was geht denn jetzt ab? Ist doch mitten in der Nacht.«

»Ich weiß, aber sie scheint einen schrecklichen Albtraum zu haben«, sagt Floh.

»Das Gefühl kenne ich.« Dan lässt sich seufzend zurück in den Sand fallen.

»Vielleicht sollten wir ihr Lieblingslied singen?«

»Wie jetzt?«, murmelt Dan.

»Das macht man, um Koma-Patienten zurückzuholen«, erklärt Floh. »Ich hab das mal in Die schlimmsten Katastrophen der Welt gesehen. Es ging da um ein Mädchen, das im Koma lag, nachdem es sich Krokodil-Aids eingefangen hatte …«

Dan streckt den Kopf unter dem Handtuch hervor. »Bitte was?«

»Krokodil-Aids.« Floh runzelt die Stirn. »Mein Gott, es war Die schlimmsten Katastrophen der Welt! Jedenfalls … Weil das Mädchen ein riesiger Beyoncé-Fan war, hat ihre Mom ihr ein paar Titel auf den iPod gespielt, und schon nach der ersten Werbeunterbrechung war sie wieder da.«

»Deshalb träller ich jetzt noch lange nicht Single Ladies«, murmelt Dan. »Mann, Belle ist nach dem ganzen Mist von gestern einfach nur grottenfertig. Lasst sie doch schlafen.«

Belles Gesicht glänzt vor Schweiß, aber als ich es berühre, fühlen sich ihre Wangen eiskalt an. »Ich weiß nicht«, sage ich. »Sie sieht wirklich nicht gut aus. Sollen wir mal versuchen, sie aufzusetzen?«

Cruz hilft mir, Belle in eine sitzende Position zu bringen. Und tatsächlich scheint sie dadurch aufzuwachen.

Verschlafen murmelt sie: »Was ist das für ein Geruch?«

Sofort stellen sich mir die Nackenhaare auf. »Was meinst du?« Ich starre Belle an. Nimmt sie etwa den gleichen seltsamen Geruch wahr wie ich, wenn Hortense in der Nähe ist? Ich atme tief durch die Nase ein, aber alles, was ich rieche, ist der feuchte, erdige Duft des Regenwalds.

»Beau-Belle«, sagt Floh laut. »Los, komm, Süße, du musst aufwachen.« Er beugt sich vor und schüttelt sie.

Belles Lider flackern, dann öffnet sie langsam die Augen.

»Gott sei Dank.« Floh drückt sie fest an sich.

Cruz und ich lehnen uns zurück und lächeln uns erleichtert zu.

»Schön, sie ist wach. Dann können ja jetzt alle weiterpennen«, grunzt Dan unter seiner Decke aus Handtüchern.

Belle runzelt die Stirn. »Warum ist es denn so dunkel?«

»Weil Nacht ist«, seufzt Dan. »Die Zeit, in der normale Menschen versuchen zu schlafen.«

»Und heute Nacht sieht man den Mond kaum«, sagt Floh und legt den Arm um sie.

»Aber ich …« Belle schiebt Floh von sich weg und schaut gehetzt um sich. »Ich kann einfach gar nichts sehen.«

Floh starrt sie an. »Wie meinst du das?«

Belle fängt an zu zittern, die Augen weit aufgerissen vor Angst. »Oh mein Gott! Ich glaube, ich bin blind!«

Kapitel 2

Wie der Blitz springt Dan auf und hockt sich vor Belle. »Was soll das heißen, du kannst nichts sehen?«

Statt einer Antwort schluchzt Belle laut auf und schaut mit leerem Blick in seine Richtung. In ihren Augen steht Panik.

Floh nimmt ihre Hand. »Ich bin es, Jimmy. Ich bin direkt neben dir, Süße. Alles ist gut.« Er dreht sich entsetzt zu mir um.

Ich beuge mich vor und greife nach Belles anderer Hand. »Du kannst wirklich nichts sehen?« Mein Blick wandert zum Himmel. Über uns ist der Halbmond hinter den Wolken hervorgekommen. »Schau mal nach oben. Kannst du das Mondlicht sehen?«

Belle hebt den Kopf und zwinkert heftig. »Nein.« Ihre Stimme zittert. »Was ist mit mir passiert?«

Auch Cruz’ Blick ist ein einziges Fragezeichen. »Vielleicht hat es etwas mit dem zu tun, was du durchgestanden hast«, sagt er leise zu Belle. »Manchmal macht unser Körper zu, wenn wir einen Schock erleiden. Wie eine Art Schutz, verstehst du?«

Belle schüttelt den Kopf. »Das ergibt doch gar keinen Sinn.« Sie umklammert Flohs Hand. »Oder, Jimmy? Vor was sollte es mich schützen, blind zu sein?«

Floh aber nickt. »Er könnte recht haben, Süße. Ich bin ziemlich sicher, dass ich so was schon mal in Notaufnahme – Das wahre Leben gesehen habe. Es ging da um ein Mädchen, das einen schrecklichen Autounfall hatte und taub wurde, weil sie so traumatisiert war, nachdem …«

»Ich will einfach nur wieder etwas sehen!«, schreit Belle und entreißt ihm ihre Hand. »Ich will einfach – nur – sehen!« Sie kauert sich zusammen und schluchzt los.

Floh starrt sie verstört an. »Bitte entschuldige. Ich wollte nur, dass du dich besser fühlst.«

Doch seine Worte gehen in Belles Schluchzen unter.

Ich blicke den Strand hinauf, wo die dunkle Silhouette des Regenwaldes lauert wie ein riesiges geöffnetes Maul, das darauf wartet, uns zu verschlingen. Wut überkommt mich und ich springe auf.

Floh schaut mich fragend an. »Gracie, was ist?«

Aber ich kann nicht antworten. Denn sonst müsste ich alles über Hortense erzählen und würde Belle dadurch noch mehr in Panik versetzen.

»Ich muss kurz etwas nachsehen«, sage ich und weiche Cruz’ Blick aus. »Aber ich bin gleich wieder da.«

Ohne auf die Rufe der anderen zu achten, renne ich den Strand hinauf. Das Herz klopft mir bis zum Hals vor Angst, doch die Wut drängt mich vorwärts. Belle wurde entführt und jetzt ist sie blind. Jenna, Cariss, Ron und Todd treiben irgendwo mitten auf dem Ozean in einem kaputten Boot herum – und all das wegen eines bescheuerten Fluchs, den ich irgendwie zum Leben erweckt habe.

Warum kannst du die anderen nicht einfach in Ruhe lassen?, rufe ich Hortense in Gedanken zu. Wenn ich es bin, die du willst, dann nimm mich. Aber halt die anderen da raus.

»Grace?« Cruz ist mir nachgelaufen und packt mich an der Schulter. »Was hast du vor?«

»Ich werde sie finden«, sage ich keuchend und versuche, zu Atem zu kommen. »Das Ganze muss ein Ende haben!«

Cruz dreht mich zu sich herum. »Wovon sprichst du?«

»Hortense.« Ich senke die Stimme zu einem Flüstern. »Es ist ihre Schuld, dass Belle blind ist. Garantiert. Wir haben vielleicht gedacht, dass es vorbei ist – aber das stimmt nicht. Es ist erst vorbei, wenn ich zu ihr gehe. Ich bin es, die sie will. Denn ich war es, die ihren bescheuerten Fluch wieder heraufbeschworen hat.«

Cruz schüttelt den Kopf. »Nein. Das hat nichts mit dir zu tun. Es ist nicht deine Schuld.«

»Aber Hortense will mich. Warum, weiß ich nicht, aber nur aus diesem Grund sind wir hier gestrandet. Sie hat es mir selbst gesagt. Ich bin es leid, dass andere darunter leiden.« Entschlossen laufe ich weiter in Richtung Wald.

Cruz springt vor mich und versperrt mir den Weg.

»Lass mich bitte durch!« So wütend, wie ich bin, verspüre ich tatsächlich für einen Moment das Bedürfnis, ihn zur Seite zu schieben.

»Nein.«

»Du musst mich gehen lassen.«

»Zu ihr? Bist du verrückt?« In seinem Blick steht das pure Entsetzen. »Ich habe dir das Leben gerettet, schon vergessen? Und das bedeutet, dass ich auf immer und ewig für dich verantwortlich bin. Darum: never ever.«

Ich denke an den Moment auf dem Boot zurück, als ich beinahe ertrunken wäre und Cruz mich in Sicherheit gebracht hat. Und ich denke an alles, was er seitdem für mich getan hat. Meine Wut verraucht. Stattdessen überkommt mich tiefe Erschöpfung und ich sinke in mich zusammen.

»Verdammt, Cruz. Warum musstest du das sagen?«

Er lächelt. »Komm her.«

Sobald ich mich in seine Arme fallen lasse, wird mir klar, wie wahnsinnig mein Vorhaben war. Wer garantiert mir, dass Hortense die anderen in Ruhe lässt, wenn ich in den Wald presche und mich ihr aufdränge? Und wie sollte diese Harakiri-Aktion Belle das Augenlicht zurückgeben? Oder Jenna und die anderen in Sicherheit bringen? Tatsache ist, dass ich nicht die geringste Ahnung habe, was Hortense vorhat oder was sie eigentlich will.

»Ich möchte einfach nur, dass alles wieder in Ordnung kommt«, flüstere ich in Cruz’ T-Shirt.

»Das wird es auch.« Cruz tritt lächelnd einen Schritt zurück. »Sieh doch!« Er zeigt nach oben. Hinter einer Wand aus goldfarbenen Wolken nimmt der Himmel eine tintenblaue Farbe an. »Sobald die Sonne ganz aufgegangen ist, sind wir hier weg.«

Ich zwinge mich zu nicken. Wie gern würde ich glauben können, dass es so einfach ist. Aber wenn sich Hortense die Mühe gemacht hat, mich auf die Insel zu holen, wird sie mich dann einfach kampflos gehen lassen?

Seufzend blicke ich über meine Schulter zum Regenwald. So still wie jetzt habe ich ihn seit unserer Ankunft noch nie erlebt, aber gut fühlt sich das nicht gerade an. Eher wie die Ruhe vor dem Sturm.

»Na, läufst du jetzt nicht mehr davon wie ein Macaca-de-cheiro?«, fragt Cruz grinsend.

»Wie ein was?«

»Wie ein Macaca-de-cheiro. Das ist eine Affenart aus Costa Rica. Sie können sehr schnell rennen – genau wie du.«

»Ah, verstehe. Okay, ich verspreche, ich laufe nicht mehr weg wie ein Macaco-de-cheerio oder wie auch immer das heißt.« Ich nehme Cruz’ Hand und wir gehen zurück, den Strand hinunter. »Aber von jetzt an erinnerst du mich auch nicht mehr ständig daran, dass du mir das Leben gerettet hast. Das ist einfach nicht fair. Wie soll ich je einen Streit mit dir gewinnen, wenn du immer diese Karte ausspielst?«

Cruz lacht. »Aber es ist die Wahrheit!«

»Cruz!«

»Okay, schon gut.«

Ich drücke seine Hand ganz fest.

Bald schon erreichen wir die anderen.

»Was war denn gerade los, Gracie?«, fragt Floh sofort. »Warum bist du weggelaufen?«

Er schaut mich genauso erwartungsvoll an wie Dan. Belle sitzt noch immer zusammengekauert da.

»Tut mir leid«, murmle ich. »Ich hab wohl einfach die Nerven verloren.«

Dan springt auf und umarmt mich. »Die letzten Tage waren ziemlich crazy, was?«

Ich nicke. Allein die Tatsache, dass Dan Charles mich umarmt, beweist, wie verrückt alles gewesen ist – in unserem früheren Leben an der Dance Academy haben wir kaum ein Wort gewechselt. Wahrscheinlich war ich immer irgendwie misstrauisch, wegen all der Gerüchte um seinen Bruder und dessen Gang. Ganz schön dämlich.

So hat es wenigstens ein Gutes, dass wir auf dieser verdammten Insel gefangen sind: Ich hab kapiert, wie viel man verpasst, wenn man Leute verurteilt, ohne sie wirklich zu kennen.

Mein Blick wandert zu Floh, der Belle sanft übers Haar streicht.

Cruz läuft zu einer der Lebensmittelboxen, die wir aus dem Boot gezogen haben, und holt ein paar Dosen heraus. »Wollen wir vielleicht etwas essen? Wir sind sowieso wach. Und zum Segeln brauchen wir unsere ganze Kraft.«

»Gute Idee.« Floh grinst. »Was meinen Sie dazu, M’Lady?«, sagt er mit gespielt britisch-aristokratischem Tonfall. »Wären Sie zu einem Überraschungs-Hot-Dog zu so früher Stunde bereit?«

Belle runzelt die Stirn und wischt sich eine Träne von der Wange. »Und was ist die Überraschung?«

»Dass es keine beknackte Kokosnuss ist«, sagt Floh wieder in seinem echten New Yorker Slang.

Alle lachen, und selbst Belle verzieht den Mund zu einem Lächeln.

Floh legt den Arm um sie. »Wir sind schon sehr bald hier weg, Zuckerschneckchen. Und dann bringen wir dich auf schnellstem Wege ins Krankenhaus, wo sie herausfinden werden, was dir fehlt. Ehe du dich versiehst, bist du wieder die Alte.«

Belle nickt tapfer, aber ich sehe im Mondlicht noch immer Tränen in ihren Augen glitzern.

Als Cruz eine Dose mit Hot Dogs herumreicht, muss ich an den Mann denken, dessen Vorräte wir jetzt essen und dem das Boot gehört hat – und sofort ist mein Appetit im Keim erstickt. Seit wir hier sind, sind viele schreckliche Dinge geschehen, aber dass sich der Mann direkt vor unserer Nase in den Canyon gestürzt hat, war einfach zu entsetzlich, um es zu verkraften. In seinem Tagebuch stand, dass er auf der Insel war, um herauszufinden, was an der Legende um Hortense dran ist – um zu erfahren, ob es sie wirklich gibt. Ich denke daran, wie Hortense im Regenwald hinter uns her war und mir ihr keuchender Atem durch Mark und Bein ging. Was hat sie dem Mann angetan, dass er solche Angst vor ihr hatte? Dass er lieber in den Tod gesprungen ist, als sich ihr zu stellen? Ich fröstle und schaue erneut zum Himmel hinauf. Hoffentlich wird es bald hell.

»Wie es wohl den anderen geht?«, fragt Floh und starrt betroffen aufs offene Meer.

Zitternd folge ich seinem Blick. In der Dunkelheit wirkt das Meer, als wäre es unendlich.

»Zumindest war kein Sturm mehr«, sagt Floh. »Sie dürften eine ruhige Nacht gehabt haben. Wenn sie nicht inzwischen gerettet sind.«

Ich entspanne mich ein wenig. Wenn die anderen gefunden wurden, ist die Küstenwache vielleicht schon auf dem Weg zu uns.

»Ich kann immer noch nicht fassen, dass die ohne uns abgehauen sind«, murmelt Dan.

Cruz nickt, sagt aber nichts weiter. Ich weiß, er ist nach wie vor wütend, dass sie das Boot gestohlen haben.

»Ach kommt schon, Leute. Wir sind doch auch bald hier weg«, sage ich mit so viel gespielter Begeisterung in der Stimme, dass es klingt wie ein Werbespot. Keiner antwortet.

Da sehe ich einen Vogel, der vom Regenwald über den Strand Richtung Meer fliegt. Wäre ich doch auch ein Vogel. Könnte ich doch bloß den ganzen Weg nach Los Angeles zurückfliegen – zurück zu Mom und Dad und zu meiner Katze Tigger, denke ich mit einem Kloß im Hals. Cruz legt seine Hand auf meine Schulter und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. Ich atme tief durch und zwinge mich, ihn anzulächeln. Ich darf jetzt nicht aufgeben, nicht jetzt, wo wir so knapp davor sind, von hier wegzukommen.

»Wollen wir uns langsam fertig machen?«, fragt Floh. »Damit wir aufbrechen können, sobald die Sonne aufgeht?«

»Ja, das sollten wir!«, bestätigt Cruz und läuft mit Dan zum Boot. Floh umarmt Belle kurz, bevor er aufspringt und beginnt, seine Sachen zu packen.

»Ich bleibe bei dir sitzen, Belle«, sage ich, um sie ein wenig zu beruhigen, und rutsche näher an sie heran.

»Warum bist du vorhin weggelaufen?«, flüstert Belle mir zu.

Ich suche nach einer Antwort, die irgendwie logisch klingt und Belle nicht beunruhigt. »Ich weiß auch nicht. Frust, schätze ich, oder Ohnmacht. Ich wollte einfach denjenigen suchen, der hinter all dem verrückten Zeug steckt, das hier passiert ist.«

Belles Blick bleibt leer. »Den, der mich entführt hat?«

»Hmm, ja.«

»Weißt du denn, wer das war?«

Sofort wird mir so heiß, als stünde mein Gesicht in Flammen. »Nein, natürlich nicht.«

»Bist du sicher?«

»Klar bin ich sicher!«

Wie angespannt Belle wirkt! Vielleicht sollte ich ihr doch einfach erzählen, was ich weiß – oder zumindest was ich glaube, über Hortense zu wissen.

Dann aber sehe ich die zerrissene Kette von Belles Mom in ihrer Hand glitzern. Und erinnere mich, was Floh uns erzählt hat: dass man bei ihrer Mom kurz vor unserer Abfahrt Krebs diagnostiziert hat. Ich kann ihr nichts sagen. Es würde sie nur noch fertiger machen.

»Wir wissen nicht mehr als du«, versichere ich ihr. »Als wir dich in dem Vulkan gefunden haben, war der, der dich dort hingebracht hat, schon weg.«

Belle verzieht misstrauisch das Gesicht. Überzeugt wirkt sie nicht gerade.

»Ich gehe noch mal kurz zum Wasser runter und wasch den Sand aus meinen Turnschuhen«, ruft Floh uns zu. »Bist du okay, Beau-Belle?«

Belle nickt.

»Cool. Ich brauche nicht lange. Danach helfe ich dir, dein Zeug zu packen, okay?«

»Ist gut.« Sobald er gegangen ist, dreht Belle den Kopf in meine Richtung. »Halt meine Hand, Grace«, flüstert sie.

Vorsichtig nehme ich ihre Hand und drücke sie sanft. Trotz der feuchtwarmen Luft ist sie kalt wie Eis. »Bald ist alles wieder gut«, sage ich leise.

Sie schließt die Augen und lehnt sich an mich. »Danke«, seufzt sie.

Ich blicke zu Cruz hinüber. Dan und er sind dabei, das Segel des Bootes zu überprüfen. Gerade will ich Belle davon erzählen, als Floh mit panischem Gesichtsausdruck und nach Luft schnappend auf uns zugerannt kommt.

»Stimmt was nicht?«, rufe ich ihm entgegen.

»Wieso?«, fragt Belle und drückt meine Hand fester.

»Floh ist zurück«, sage ich, und zu ihm: »Was ist denn?«

Floh steht einfach nur japsend und mit weit aufgerissenem Mund da, bekommt aber keinen Ton heraus.

»Hey, was geht?«, fragt Dan und kommt mit Cruz herüber.

»D-das Boot«, stottert Floh.

»Es ist alles in Ordnung damit, Dan und ich haben es gerade gecheckt«, sagt Cruz.

»Nein, nicht dieses Boot. Unser Boot. Dein Boot – das, das die anderen genommen haben«, sagt Floh. Er ist totenbleich.

Sofort wirkt Cruz alarmiert. »Was ist damit?«

Floh schluckt. »Es ist an den Strand gespült worden. Leer. Es ist ein einziges Wrack.«

Kapitel 3

Während wir den Strand hinunterlaufen, muss ich die ganze Zeit an Jenna denken. An ihre leise, ängstliche Stimme, als wir während des Sturms im Schiffsbauch gefangen waren und der ganze Albtraum begann.

Etwas Dunkles lässt sich am Ufer ausmachen. Es sieht aus wie ein gestrandeter Wal. Doch als ich näher komme, erkenne ich, dass es ein Bootsrumpf ist. An der Seite prangt ein riesiges Loch, das aussieht, als ob jemand ein großes Stück herausgebissen hätte.

»Oh nein.« Meine Knie geben nach und ich sinke auf den nassen Sand. Meine Gedanken schwirren wild durcheinander und bleiben an dem Moment in der Vergangenheit hängen, an dem ich allein an Deck zurückgeblieben war und dachte, mich würden die Wellen mit sich reißen. Die Vorstellung, dass genau das den anderen tatsächlich geschehen ist, ist einfach unerträglich und nimmt mir schier die Luft.

Floh tigert auf und ab. »Ich kapier das nicht. Ich kapier’s einfach nicht. Es gab doch keinen Sturm. Es war absolut ruhig!«, schreit er zum Himmel hinauf, als würde er es den Wettergöttern zubrüllen.

»Könnte mir bitte jemand helfen?«, ruft Belle.

Ich wische mir die Tränen von den Augen und rapple mich auf.

Obwohl wir Belle gebeten haben, bei den Bäumen zu warten, stolpert sie blind über den Strand auf uns zu.

»Ich hole sie«, sagt Floh.

Dan und Cruz machen sich daran, das Boot zu begutachten. Für einen Moment kann ich mich vor lauter Angst kaum noch rühren. Ich weiß nicht, ob ich noch mehr sehen will. Trotzdem zwinge ich mich, zu ihnen hinüberzulaufen. Das Meerwasser klatscht eisig gegen meine warmen Füße und lässt meinen ganzen Körper erschaudern.

»Wie … Wie schlimm ist es?«, frage ich sie von der anderen Seite des Bootes.

»Sehr schlimm«, antwortet Dan. So ernst habe ich ihn noch nie erlebt.

Cruz schüttelt nur ungläubig den Kopf.

Ich unterdrücke einen Würgereiz, während ich um den zerschmetterten Schiffsrumpf laufe. Das Wasser klatscht mir an die Beine.

Das Innere des Bootes ist nichts als eine leere Schale. Das Deck ist herausgerissen und lediglich die Bodenbretter des Schiffsbauchs sind übrig. »Wie kann denn so was passieren? Ich begreif das nicht.« Ein Gefühl der Ohnmacht übermannt mich.

Cruz runzelt die Stirn. »Ich weiß auch nicht. Sicher, sie könnten in einen Sturm geraten sein, aber das hätten wir eigentlich mitkriegen müssen. Ohne Motor sind sie nicht weit gekommen. Und dass das Boot so schwer beschädigt ist …« Er hockt sich hin und untersucht das Loch im Rumpf. »Sieht aus, als wären es Steine gewesen. Aber wie kann das sein?«

Alle sehen sich fragend an.

»Die Rettungswesten sind auf jeden Fall weg. Vielleicht haben sie sich ja damit retten können.« Mein verzweifelter, hoffnungsvoller Blick wandert zu Dan, als ob ausgerechnet er wüsste, was sich abgespielt hat.

Doch er hat nur Augen für etwas anderes, hinter mir, auf dem Meer. »Oh … schaut mal, da!«

»Was?« Ich versuche, seinem Blick zu folgen.

Etwas Rechteckiges, Weißes treibt auf uns zu, wird von einer Welle erfasst und von ihr an den Strand gespült, als würde sie höhnen: Ihr glaubt, die Sache mit dem Boot ist schlimm? Dann schaut mal, was ich jetzt für euch habe.

Mein Herz setzt aus. Es ist ein Koffer – ein Beautycase. Jennas Beautycase. Mit großen Schritten laufe ich darauf zu, packe ihn am Griff – und sinke zu Boden, den kleinen Koffer an mich gedrückt, als wäre er Jenna selbst.

»Warum musstet ihr auch abhauen?«, schreie ich. »Warum?«

Sofort versammeln sich Cruz, Dan, Floh und Belle um mich herum.

»Ganz ruhig«, sagt Cruz sanft. »Du hast recht, die Rettungswesten sind nicht da. Vielleicht haben sie sich ja wirklich gerettet.«

»Genau«, sagt Dan. »Vielleicht hat sie sogar jemand aufgenommen, bevor das Boot gecrasht ist.«

»Niemals wäre Jenna ohne ihr Beautycase von Bord gegangen«, schluchze ich.

»Stimmt«, sagt Floh. »Aber möglicherweise war es eine Rettung in letzter Sekunde und sie hatte einfach keine Zeit, ihn mitzunehmen.«

Ich klammere mich verzweifelt an den Gedanken, dass es so gewesen sein könnte.

»Und, was machen wir jetzt?« Floh schaut in die Runde.

»Was meinst du?«, fragt Belle nervös zurück.

»Wollen wir trotzdem noch mit dem Boot losfahren? Ich meine … hallo, wir haben nicht mal Rettungswesten.«

Alle Blicke wandern zu Cruz. Er wirkt unentschlossen. »Das Boot, das wir gefunden haben, ist in einem viel besseren Zustand als das hier …«

»Sehr witzig«, sagt Dan mit einem Blick auf das Wrack.

»Nein, ich meine, auch als sie losgefahren sind, war dieses Boot nicht seetüchtig«, ergänzt Cruz. »Sonst wäre ich doch längst mit euch allen von hier abgehauen! Im Sturm sind viel zu viele wichtige Teile kaputt gegangen. Aber das Boot, das wir jetzt haben, ist in Ordnung.«

»Was, wenn wir auch in einen Sturm geraten?«, fragt Floh.

»Wir können nicht hierbleiben«, ruft Belle so laut, dass wir alle aufspringen.

»Wir müssen vorsichtig sein, Süße«, sagt Floh behutsam.

»Wir können nicht hierbleiben!« Belle kreischt jetzt beinahe.

Wir anderen wechseln Blicke.

»Schon gut«, sage ich schließlich. »Wir brechen auf, sobald die Sonne aufgegangen ist. Okay?«, rufe ich den anderen zu.

»Okay«, stimmen Dan und Cruz zu, und, mit einem deutlichen Zögern, auch Floh.

Mein Blick wandert zur Silhouette des Vulkans, der über dem Regenwald aufragt. Hinter ihm nimmt der Himmel eine violette Färbung an. »Es dauert nicht mehr lange.« Ich nehme Belles Hände in meine. Sie sind immer noch eiskalt. »Du frierst ja. Komm, lass uns zum Feuer zurückgehen.«

Mit Jennas Koffer in der Hand führe ich Belle zum Lagerfeuer zurück und lege ein paar neue Scheite auf. Die Flammen züngeln hungrig hervor.

»Ich muss hier weg, Grace«, flüstert Belle. »Ich muss zu meiner Mom.«

»Ich weiß. Und du wirst auch zu deiner Mom zurückkommen.« Ich setze mich neben sie und lege ihr den Arm um die Schulter. Dann spähe ich zum Strand hinauf, zu den schattenhaften Umrissen des Regenwalds. Eine Gänsehaut kriecht mir über den Rücken.

Bist du da?, rufe ich Hortense in Gedanken zu, doch die einzige Antwort, die ich erhalte, ist der Schrei eines Papageis.

»Cruz bringt uns hier weg«, sage ich mit fester Stimme und versuche, auch mich selbst davon zu überzeugen. »Hörst du? Die Vögel erwachen. Es dauert nicht mehr lang bis zum Sonnenaufgang.«

»Auf geht’s Beau-Belle, lass und deine Sachen packen«, sagt Floh bemüht euphorisch. Er kommt zu ihr herüber und hilft ihr auf, während Dan und Cruz das Bootswrack weiter den Strand hinaufziehen. Da fällt mein Blick wieder auf Jennas Koffer in meiner Hand und ich verspüre den plötzlichen Drang, ihn zu öffnen. Das Wasser tropft mir über die Finger, als ich den Verschluss löse. Im Innern ist es für Jennas Verhältnisse erstaunlich unordentlich, aber natürlich musste sie sehr eilig zusammenpacken, als sie beschlossen haben, ohne uns aufzubrechen. Der Schmerz zerdrückt mir schier das Herz. Eine jahrelange Freundschaft ist nicht über Nacht ausgelöscht, schätze ich, egal, wie sich die Dinge zwischen uns entwickelt haben.

Ich denke an meine letzte Begegnung mit Jenna zurück. Sie hat vom Boot auf mich heruntergeblickt, und ich habe sie angefleht zu bleiben. War dies wirklich unsere allerletzte Begegnung? Ich verdränge die Vorstellung und nehme ihr Glätteisen aus dem Koffer. Schon der Gedanke an ein Glätteisen wirkt jetzt absurd. Was haben all diese Dinge für eine Bedeutung – Glätteisen, Make-up, der neueste Look – wenn man jeden Moment dem Tod ins Gesicht sehen könnte?

Ich wühle weiter, bis ich plötzlich den Umschlag eines kleinen, gebundenen Buches ertaste. Ich schlage es auf. Die erste Seite ist in Jennas Handschrift beschrieben, aber durch das Wasser ist die Tinte verlaufen, sodass die Wörter zu einer langen gewellten Linie verschmolzen sind.

Ist dies ihr Tagebuch? Eine seltsame Mischung aus Schuldgefühlen und Verlangen überkommt mich. Natürlich weiß ich, dass man nicht in den privaten Gedanken eines anderen schnüffelt, aber es könnte die einzige Möglichkeit sein, Jennas Stimme noch einmal zu hören. Vorsichtig blättere ich eine Seite weiter hinten auf. Auch dort sind die meisten Wörter verschwommen, nur wenige Zeilen sind lesbar:

Ich kann nicht fassen, dass ich G beinahe erzählt hätte, dass ich mit Todd geschlafen habe, noch dazu jetzt, wo wir hier feststecken auf dieser 

Bitte? Ich halte das Blatt hoch, ins Licht des Feuers, aber meine Augen haben mich nicht getäuscht. Hier steht es, schwarz auf weiß. Jenna hat mit meinem Freund geschlafen. Aber wann denn, bitte schön? Meine Gedanken fahren Karussell. Etwa auf der Insel? Oder noch zu Hause? Hier kann es eigentlich nicht passiert sein – es wäre so gut wie unmöglich für die beiden gewesen, sich wegzuschleichen, ohne dass es jemand mitbekommen hätte. Das heißt 

Als ich daran denke, wie Jenna mich in den Wochen vor unserer Abfahrt immer wieder gelöchert hat, ob ich während der Kreuzfahrt mit Todd schlafen würde, beginnen meine Hände zu zittern. Ich lege das Notizbuch zur Seite. Meine Gedanken wandern zu dem Sturm zurück, in den Schiffsraum. »Grace, es tut mir so leid. Ich muss dir was sagen«, hat Jenna angefangen, gleich nachdem sie mich gefragt hat, ob wir sterben müssen.

War es das, was sie mir erzählen wollte? Wollte sie ihr Gewissen bereinigen? Ich ziehe meine Knie an die Brust und atme langsam und tief ein. Auch wenn Todd und ich Schluss gemacht haben, ist es, als hätte sich Jenna aus dem Notizbuch erhoben und mir einen Schlag in die Magengrube versetzt. Ich nehme es wieder in die Hand und stehe auf. Die ganze Zeit habe ich gegrübelt, was ich wohl getan habe, dass sie sich so komisch verhält. Dabei war sie es, die mit meinem Freund geschlafen hat. Es war schlimm genug, herauszufinden, dass sie auf ihn steht, aber das ist wirklich Hochverrat. Und es spielt keine Rolle, dass Todd und ich nicht zusammengepasst haben. Sie war angeblich meine beste Freundin.

Ich beginne, um das Feuer herumzutigern. War ich ihr so egal? Sie hat mich die ganze Zeit über angelogen. Hat mir das Gefühl gegeben, dass sie die Einzige war, auf die ich zählen konnte, und in Wirklichkeit … Aber vielleicht ist sie tot. Die Tragweite dieser Erkenntnis lässt meine Wut sofort verstummen. Mit einem letzten Blick auf das Notizbuch schmeiße ich es ins Feuer. Eine Rauchwolke steigt in den Himmel.

»Grace, Süße, ist alles okay?«, ruft Floh mir von der Baumgruppe her zu, wo er gerade Belle beim Packen hilft.

»Ja, alles gut«, murmle ich und schaue noch einmal in das Beautycase. Etwas Glitzerndes, Silbernes fällt mir ins Auge und ich betrachte es genauer. »Oh nein!«

»Was ist denn?« Floh kommt sofort angelaufen.

Um Jennas Nagellackentferner ist ein Silberkettchen geschlungen. Ich nehme es ab und halte es in das Licht des Feuers. Ein Anhänger baumelt daran, ein Anhänger, in den eine Schlange eingraviert ist, über dem Buchstaben H – H wie Hortense.

»Das Amulett!«, ruft Floh aus. Ich nicke wie betäubt.

Floh kratzt sich verständnislos am Kopf. »Wie zum Teufel ist das dort gelandet? Was hast du denn damit gemacht, nachdem du es wiedergefunden hattest?«

Ich versuche, meine Gedanken zu lenken, und tatsächlich wandern sie zu dem Tag zurück, als der Anhänger zum letzten Mal aufgetaucht ist, neben dem HILFE-Zeichen, das wir in den Sand gegraben hatten. Ich habe das Amulett mit aufs Boot genommen – und ins Meer geworfen. Wie also ist es in Jennas Beautycase geraten? Da schießt mir in den Kopf, was mir Hortense im Wald zugeflüstert hat: Sie hat Jenna alles, was sie mir angetan hat, zurückgezahlt. Wollte sie mir auf diesem Weg mitteilen, dass sie es war, die das Boot zerstört hat? Hat sie Jenna meinetwegen getötet? Was ist mit den Zeilen in dem Notizbuch, den einzigen, die lesbar waren? Hat Hortense sie auf irgendeine Weise vor dem Wasser geschützt – damit ich sie lese? Damit ich die Wahrheit herausfinde?

»Wo ist Cruz?«, frage ich panisch.

»Gleich da vorne beim Boot, Süße.« Floh nimmt meinen Arm. »Was ist denn?«

»Ist alles in Ordnung, Grace?«, ruft Belle hinter den Bäumen hervor.

»Ja, alles gut«, rufe ich zurück, aber meine Stimme ist zu schrill. Ich drehe mich zu Floh um. »Wie ist das Medaillon in ihrem Koffer gelandet?«, flüstere ich. »Ich habe es doch ins Meer geworfen.«

Floh starrt mich an. »Wieso hast du das getan?«

Verlegen bohre ich meine Zehen in den Sand. »Ich … ich hab mich damit unwohl gefühlt. Weil es immer wieder einfach so aufgetaucht ist.«

Floh hebt eine Augenbraue. »Dann ist es wahrscheinlich wieder angespült worden und Jenna hat es eingesteckt. Du weißt doch noch, wie sie ausgeflippt ist, als es das erste Mal verschwunden war.«

Ich nicke und atme tief durch. Ich will ihm so gerne glauben. Wirklich. Doch die Angst hat sich in meinen Gedanken festgebissen.

»Okay, Leute, seid ihr so weit?«, ruft Cruz und kommt auf uns zu.

Ich drehe mich zum Feuer um und lasse den Anhänger in die Flammen fallen.

Es ist mir egal, was Jenna mit Todd gemacht hat, rufe ich Hortense im Kopf zu. Lass mich einfach in Ruhe. Lass uns alle in Ruhe!

Ich warte auf ihre Antwort, darauf, dass ihre finstere Stimme zu mir zurückschallt, aber wieder kommt nichts. Alles, was ich höre, sind Schritte im Sand hinter mir. Ich wirble herum. Es ist Belle, die nach meiner Hand tastet. Ich nehme ihre und drücke sie fest. Dann atme ich tief durch.

»Lasst uns aufbrechen«, sage ich. Auch wenn Stürme draußen auf dem Meer lauern. Ich muss weg von dieser Insel. Weg von Hortense, bevor sie mich in den Wahnsinn treibt.

Kapitel 4

Als sich das Boot vom Ufer entfernt, beginne ich unkontrolliert zu zittern. Es ist so weit. Wenn Hortense vorhat, uns mit irgendeinem Trick zum Bleiben zu zwingen, muss sie jetzt etwas tun. Mein Hals ist so zugeschnürt, dass ich kaum noch Luft bekomme. Ich schließe die Augen und denke an Mom. Bevor Dad uns verlassen hat und Moms Leben zerplatzt ist wie ein Ballon, war sie ein absoluter Yoga-Freak. Als ich vor ein paar Jahren wegen einer Mathearbeit die Krise geschoben habe, hat sie mir beigebracht, mich auf meine Atmung zu konzentrieren, um ruhig zu bleiben. Ich stelle mir ihre Stimme vor, die mir Anweisungen gibt: »Durch die Nase einatmen, Süße, durch den Mund ausatmen. Ein durch die Nase und aus durch den Mund.«

Die ganze Zeit, während Dan und Cruz das Segel bedienen, versuche ich, genau so zu atmen. Eine plötzliche Brise bläht den ausgeblichenen Stoff auf und das Boot nimmt Fahrt auf. Erst als wir schon mehrere Minuten unterwegs sind, wage ich es, zurückzublicken. Im Licht des Sonnenaufgangs leuchtet die Spitze des Vulkans so glühend rot, als würde er im nächsten Moment ausbrechen. Mein Blick wandert zum Strand hinab. Der helle Sand ist mit den versengten Resten unseres Feuers gesprenkelt und direkt in der Mitte prangt noch immer unser HILFE-Zeichen aus Stöcken. Ich denke an unsere Ankunft zurück und wie wunderbar und einladend die Insel nach dem Horror des Sturms gewirkt hatte. Wenn wir damals schon gewusst hätten … Ich wende mich ab und blicke aufs Meer. Mein Herz wummert wie ein ganzes Schlagzeug.

B, bete ich still.