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Kapitel 19


Torgo erwachte nach einer fast schlaflos verbrachten Nacht, als sich das fahle Licht des herauf dämmernden Tages durch das Fensterloch des Verlieses stahl. Sein Sohn Urgo, der neben ihm an den Ketten hing, hatte kein Auge zu getan.

„Vater?“, fragte er halblaut.

„Ja, mein Sohn?“, gab Torgo zurück.

„Heute ist es so weit, nicht wahr?“, fragte Urgo bedrückt. „Heute sollen wir sterben!“

„Dies hängt von Gottes Ratschluss ab, „erklärte Torgo. „Jeder Tag unseres Lebens kann auch der unseres Todes sein. Nicht uns kommt es zu, dies vorher zu wissen.“

„Du willst mich trösten, mir Mut machen! Mut, dem Tod ins Auge zu sehen!“

„Du wirst nicht sterben, mein Sohn“, versicherte Torgo, „nicht, solange Blut durch meine Adern fließt. Und wenn Gott will, kehren wir beide zurück zu unseren Lieben. Zu Bethseba und …“

„Miriam“, vollendete Urgo leise. Er war überrascht, dass ihm der Name von Jargos Tochter über die Lippen kam, doch Torgo lächelte wissend.

„Du hast oft an sie denken müssen, nicht wahr?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.

„Ich hatte selten Zeit dazu.“ Urgo schüttelte jedoch den Kopf. „Und jetzt weniger denn je! Es ist seltsam, dass gerade jetzt mir das Mädchen in den Kopf kommt. Sie gleicht so wenig einer Gefährtin, wie ich sie mir wünsche, und ihre unheimliche Gabe, Dinge vorher zu sehen und Gedanken zu übermitteln ist mir nicht angenehm.“

„Für diese Gaben kann sie nichts, Urgo; der Herr hat sie ihr zuteilwerden lassen und sie muss mit ihnen leben. Das mag gewiss nicht einfach sein. Doch ist es wahrscheinlich dies, was sie dir heute Morgen ins Gedächtnis ruft.“

Urgo wurde leicht verlegen. Etwas sagte ihm, dass dies nicht stimmte. Miriam entsprach gewiss nicht dem Ideal von einem Mädchen, das junge Burschen in sich zu tragen pflegten. Jargo hatte sie fast wie einen Jungen erzogen. Aber vielleicht war sie gerade deshalb interessant. Sie war eben anders als die anderen Geschlechtsgenossinnen! Doch Urgo hatte kaum Mädchen gekannt, bevor Miriam in der Oase Hamada auftauchte. Aber schon die Umstände dessen waren ungewöhnlich. Dennoch wünschte er, sie wiederzusehen. Falls es ein Wiedersehen überhaupt geben konnte, nach dem, was Torgo und ihm heute bevorstand.

Die Männer, welche Taaf für den Überfall auf den Diwan angeworben hatte, erwachten gleichfalls am frühen Morgen. Der Grund hierfür war der Geruch von Verbranntem, und waren die Rauchschwaden, die der Wind in kurzen, heftigen Böen aus der Gegend von Sodom herüber trieb. Jambor, der Anführer der Truppe, der plante, wie er Taaf versprochen hatte noch einige Männer anzuwerben, um die Zerstörung des Diwans genügend nachhaltig bewerkstelligen zu können, kroch aus seinem lumpigen Zelt und blinzelte in die Morgensonne.

„Bei Verunha!“, entfuhr es ihm betroffen. Dort wo man üblicherweise die Silhouette der Mauern und Häuser von Sodom sah, zeigte sich jetzt ein rauchverhülltes Trümmer­feld. Und aus Sodom und Umgebung waren zahlreiche Flüchtlinge in Richtung Gomorrha unterwegs. Sie kamen mit Karren, auf die sie ihre wenige, gerettete Habe gepackt hatten, mit Tragtieren, Eseln, Pferden und Kamelen oder trugen, was sie aus dem Feuer retten konnten, auf dem Rücken. Einige wenige zusammengeschnürte Säcke enthielten offenbar alles, was ihnen geblieben war. Und sie waren schon nahe! Bei einigen von ihnen konnte man bereits die Gesichter erkennen. Jammernd und klagend ergoss sich der Flüchtlingsstrom auf Gomorrha zu, wo die armen Teufel fürs erste eine Bleibe zu finden hofften.

„Bei Verunha!“, wiederholte Jambor, „was muss ich sehen! Es hat den Göttern gefallen, Sodom neuerlich zu vernichten! Sie mögen wenigstens Gomorrha gnädig sein!“

Er kroch in sein Zelt zurück und weckte die anderen. „Wacht auf!“, rief er. „Männer, wir bekommen Besuch aus Sodom! Oder von dem, was einmal Sodom war. Offenbar hat das Feuer die ganze Stadt vernichtet, und jetzt wälzt ein Flüchtlingsstrom auf uns zu. Gebt acht, dass uns nichts gestohlen wird! Leute, die ihre Habe verloren haben, sind zu allem fähig!“

Es war einigermaßen seltsam, dass ausgerechnet er, der eine Diebesbande anführte, vor Dieben warnte.

„Vielleicht“, brummte einer und rieb sich den Schlaf aus den Augen, „kommen sie uns wie gerufen! Da werden wohl etliche nichts dagegen haben, sich im Diwan schadlos zu halten! Und wir werden mit ihnen nicht zu teilen brauchen, sie werden mit dem zufrieden sein, was sie zwischen ihre Finger kriegen!“

„Du hast recht.“ Jambor grinste, „das ist ein guter Gedanke! Es wird nicht lange dauern, bis die ersten von ihnen bei uns sind. Und dann wird es sich zeigen, wer für uns in Frage kommt.“

Die Priesterin Veiha und ihre Gehilfinnen rüsteten sich bereits zum morgendlichen Götzendienst. Doch das Wasser aus dem geweihten Brunnen, dass sie bei ihrer morgendlichen Waschung zu benutzen pflegten, dampfte in hellen Schwaden aus dem Kessel und war unerträglich heiß.“

„Schöpft es in Krüge und lasst es kalt werden“, riet Veiha. „Wenn die ersten Gläubigen zum Gebet erscheinen, müssen wir perfekt und geschminkt sein. Heute ist der Tag des Traubentanzes. Steckt Dolden von Wein­trauben in euer Haar. Und bringt den gepressten Saft herbei, der geweiht und an die Gläubigen ausgeschenkt werden soll!“

Sie war schon geschäftig bei der Sache an diesem Morgen. Die Königin schlief noch an er Seite ihres Gatten Bobolam. Noch war es still im Palast. Der König selbst war noch schlaftrunken, doch allmählich drängten sich Gedanken in sein Hirn, Gedanken, die er gern abgewehrt hätte, die aber hartnäckig wiederkehrten. In der Nacht hatte sich nichts Besorgniserregendes ereignet, und die Geräusche der erwachenden Stadt klangen an diesem Morgen wie an jedem anderen vorher. Bald würden dumpfe, weithin hallende Gongschläge aus dem Tempel den Beginn der Weintrauben-Andacht verkünden. Mochte Veiha die Reife der Trauben feiern, sie würde heute nicht viele Andächtige begrüßen können. König Bobolam wusste, dass es das Volk von Gomorrha heute woanders hinzog, in die Kampfarena, wo man ein blutiges Schauspiel erleben konnte. Das Bild des verurteilten Prinzen kam Bobolam in den Sinn. Der Mann hatte keine Furcht erkennen lassen. Seine Sorge galt nicht ihm selbst, sondern den Bewohnern von Gomorrha. Ja, selbst um dessen König hatte er sich gesorgt, und eindringlich geraten, die Stadt so bald als möglich zu verlassen! Unter Kopfschütteln löste sich Bobolam sanft aus der Umarmung seiner Gattin und betrachtete sie, wie sie sorglos lächelnd in ihren Kissen ruhte. Vielleicht hat sie recht, dachte er, und ich mache mir unnötige Sorgen, und es hatte Prinz Torgo wirklich nur auf eine Rücknahme des Urteils abgesehen. Der König war in weicher Stimmung und betrachtete seine schlafende Gattin mit einem Gefühl aufwallender Zärtlichkeit. Sie ist, trotz ihrer Jahre, noch ein Kind, fand er, und macht sich keine Sorgen, so wie ich – weder um andere noch um sich selbst. Es scheint, das kommt einfach daher, dass sie nicht viel denkt. Möglicherweise ist das sogar besser so.

Keine Gedanken machte sich an diesem Morgen auch Hafiz Erdoman. Er schlief in seinem Schlafgemach im Diwan nach einer ausgiebigen Nacht mit seinem Freund Shoter, dessen er allerdings allmählich überdrüssig zu werden begann. Nun ruhte er aus, im sicheren Gefühl, dass seine Geldsäcke prall gefüllt waren. Und er selbst war gesättigt, in jeder Hinsicht; da hatten trübe Ahnungen und Befürchtungen keinen Raum. Malaba hörte sein Schnarchen bis nebenan, wo sie selbst ruhte. Dieses Konzert begleitete sie jede Nacht und sie war bereits daran gewöhnt. Wenn es gar zu laut wurde, drückte sie einfach ein Kissen an ihre Ohren. An diesem Morgen war sie jedoch bereits wach und dachte an die Tänzerin Morimba. Denn sie hoffte, sich noch heute einen fetten Kuppelpelz zu verdienen. Da war nämlich ein reicher Handelsmann, der auf diese Frau alle beide Augen geworfen hatte, seit er sie in all ihrer verlockenden Weiblichkeit tanzen sah. Dieser Mann hatte Malaba versprochen, dass es ihr Schaden nicht wäre, wenn sie ihm helfen würde, Morimba ihm gefügig zu machen. Und er würde Wort halten, das wusste sie. Sollte er sich nicht kleinlich zeigen, würde Malaba es auch schaffen, dass sich Morimba ihm nicht verweigerte. Schließlich fühlte Esther sich im Diwan noch immer nicht daheim, sie wollte fort, das war ihr anzumerken. Und jetzt bot sich für dieses sonderbare Weib die günstigste Gelegenheit, und das bereits nach so kurzer Zeit! Malaba hatte es Morimba prophezeit und Recht behalten! Eben dröhnten die Gongschläge aus der Säulenhalle von Verunhas Tempel laut und dumpf, als der Töpfer seine Ware und seine Töpferschale zwecks Anfertigung einer neuen Vase vor seinem Gewölbe aufstellte; er war bereit, mit seinem Tagewerk zu beginnen. Einige Beter eilten an ihm vorbei zum Tempel, andere wanderten durch die überdachte Bazarstraße, um sich nach den sich öffnenden Warenläden umzusehen, in denen die Händler begannen, ihre Waren feilzubieten. Auch der Goldschmied kam die Straße entlang und blieb vor seinem Schwager stehen. „Nun, wie steht es?“, fragte er diesen nach einer kurzen Begrüßung.

„Ich möchte heute nicht in Hafiz Erdomans Haut stecken.“

„Ich auch nicht!“

„Ich habe selten einen so hasserfüllten Menschen gesehen wie diesen hässlichen fremden Priester.“

„Einerlei, er hat gut bezahlt! Morgen ist er schon nicht mehr in der Stadt. Hafiz Erdoman wird ihm nichts anhaben können, und ich finde, er hat einen Denkzettel verdient. Manch einer hat seine guten Schekel im Diwan gelassen, Hafiz hat viele Feinde. Skrupel kennt er jedenfalls nicht. Gehst du heute in die Arena?“

„Nein, ich mache mir nichts aus solch blutigem Spektakel. Ich habe noch einige große Vasen fertig zu machen, welche die Karawane nach Bab-Illu mitnehmen will. Vor dem Stadttor sind unzählige Leute aufgetaucht! Flüchtlinge aus Sodom! Die Stadt soll in der vergangenen Nacht völlig vom Feuer vernichtet worden sein! Und mehr als das, die Ebene des Siddim–Tales rutscht, sagt man, zum Salz–See hinab! Das Feuer soll aus der Erde gekommen sein. Ganze Spalten sind aufgebrochen, aus denen die Flammen schossen. Sie sollen nicht zu löschen gewesen sein!“

„Das mag schlimm gewesen sein; doch hat es ein Gutes, wenn Sodom nicht mehr ist, hat Gomorrha keine Konkurrenz mehr! Unsere Geschäfte werden künftig noch mehr blühen. Denn die Dörfer Adama und Zeboim zählen ja nicht. Übrigens, ist dort nichts passiert?“

„Darüber gibt es noch keine Kunde! Gehabe dich wohl, Schwager! Es mag sein, dass ich in die Arena schaue, um zu sehen, wie sich der fremde Prinz gegen die Löwen verteidigt. Aus dem Palast erzählt man sich ja Wunderdinge über ihn!“

Taaf wurde durch die lauten Gongschläge aus seinem Schlummer geweckt. Erschrocken fuhr er in die Höhe. Gleich darauf entrang sich ein schmerzliches Krächzen seinem Mund. Er hatte sich den Kopf angestoßen. Allmählich besann er sich darauf, wo er sich befand, denn seine Umgebung schien ihm äußerst ungewohnt. Er hatte nämlich in seinem neuen Tachtirwahn geschlafen, der im Kamelstall der Karawanserei abgestellt worden war, um auf dem Rücken seines Tragtieres aufgeschnallt zu werden. Die Reise nach Bab-Illu sollte ja bald beginnen. Taaf befand sich jedoch nicht allein in dem sänftenartigen, geflochtenen Gehäuse. Nein, Taaf war in der allerbesten Gesellschaft, die sich für einen Hohepriester des Bel nur denken lässt, ihm gegenüber befand sich nämlich der Götze selbst! Bel war zwar sorgfältig in Strohmatten verpackt vor jeglicher Unbill und den Blicken Unberufener geschützt, doch als Taaf dieses Paketes ansichtig wurde, entrang sich ihm ein zweites Krächzen, doch diesmal war es ein Laut des Entzückens! Er und Bel, beide harrten sie nun gemeinsam des Beginns der großen Wüstenreise nach Bab-Illu, der Stadt mit dem Wunderturm! Doch während dieser Reise würde er nicht mehr bei Bel übernachten können. Denn es würde noch einen Reisegefährten geben, Esther! Blume, wie er sie zu nennen pflegte, würde nach Taafs Vorstellungen Bels tanzende Priesterin sein! Freudengefühle erfüllten ihn und machten ihn ­vollends wach.

„Es ist ein Glückstag heute!“, rief er aus. „Einer der glücklichsten Tage meines Lebens! Und ich habe dieses Glück wohl verdient! Wohlan, so will ich diesen Tag denn auch froh beginnen!“

„Er öffnete die Türe des Tachtirwahns und schälte sich aus der Decke, in die er zum Schutz gegen die nächtliche Kälte gehüllt war. Und sein krummer, verletzter Körper schaffte sogar einen Sprung ins Freie, wo er sich von Wärtern, die sich um die Kamele kümmerten, überrascht, angeglotzt sah.

„Was starrt ihr mich so an?“, fuhr er die braunen Kerle an. „Kümmert euch lieber um die Kamele, füttert und tränkt sie tüchtig, ihr Nichtsnutze! Bald kriegen sie nichts Vernünftiges mehr in Kehlen und Magen!“ Und da er sich für den Weg nach Bab-Illu der Karawane angeschlossen hatte, gedachte er auch noch ausgiebig für sein eigenes Wohl Sorge zu tragen. Doch in der Karawanserei fand er den Speisenwirt in heller Aufregung.

„Was ist denn so Besonderes los heute?“, fragte Taaf verwundert. „Doch nicht der Kampf schafft dir solche Verwirrung?“

„Es ist wegen Sodom“, antwortete jedoch der Gefragte. „Die Stadt ist abgebrannt; unausgesetzt treffen Flüchtlinge ein und verlangen Nahrung; die meisten, scheint es, können nicht bezahlen! Und außerdem sind hier auch noch andere, seltsame Reisende aufgetaucht. Sie kamen auf Pferden an und haben merkwürdig geformte Schädel, sieh, dort trüben sitzt einer und trinkt!“

„Das ist ein Hethiter“, stellte Taaf fest, „ein Mann aus dem Reich des Königs Schupiluliuma! Diesen Leuten traut man nichts Gutes zu. Der fremde König führt gerne Krieg!“

„Na, hoffentlich lässt er Gomorrha in Frieden“, brummte der Wirt, „wir haben hier jetzt Sorgen genug!“

Doch der Fremde, welche an die Existenz eines machtgierigen Königs gemahnte, kümmerte Taaf nicht, er hatte andere Probleme. Nach einer ausgiebigen frühen Mahlzeit brach er auf und lief durch die Bazarstraße, so rasch ihn seine krummem Beine tragen mochten, dem Diwan zu. Dort öffneten eben die beiden Nubier, die ihn verprügelt hatten, das Tor für die ersten Besucher. Sie erkannten Taaf und warfen ihm misstrauische Blicke zu. Taaf konnte nicht an sich halten und spuckte ihnen vor die Füße. Doch die Nubier taten, als hätten sie nichts bemerkt und fuhren in ihrer Arbeit fort; das Tor zum Diwan bestand aus zwei schweren, holzgeschnitzten Flügeln, die mit einem mächtigen Schloss aus Kupfer prunkten. Taaf ballte drohend die Fäuste, als die Nubier im Inneren des Lokals verschwanden. Immer mehr belebte sich die Bazarstraße mit ziellos umherirrenden Fremden, und die Katastrophe von Sodom war in aller Munde. Und allenthalben sprach man von dem Glück, dass Gomorrha unberührt geblieben war. Man schrieb es der Macht der Schutzgöttin Verunha zu, und viele suchten den Tempel auf, um ihr für die Rettung ihres eigenen Lebens zu danken. Nun aber lief ein Ausrufer des Königs durch die Straßen und verkündete das Spektakel in der Arena.

„Ich habe nicht darauf vergessen“, kicherte Taaf. „und werde pünktlich dort sein das ist gewiss!“

Doch dunkle Rauchschwaden, die aus Sodom herüber geweht wurden, verdunkelten die Sonne. Sie waren Sendboten des Unheils und kündeten von Schrecken und Leid. Auch die Orte Adama und Zeboim waren zu dieser Stunde von Flüchtlingen überflutet. Die ganze Senke des Siddim-Tales war in Bewegung geraten und die Gluthitze wandernder Lavaströme mischte sich zischend mit dem Wasser des Salzmeeres, worin sie nach und nach versank.


TORGO
Prinz von Atlantis