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Johanna Lindbäck

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Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann

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Inhalt

JULIA

RASMUS

JULIA

RASMUS

JULIA

RASMUS

JULIA

RASMUS

JULIA

RASMUS

JULIA

RASMUS

JULIA

RASMUS

JULIA

RASMUS

JULIA

RASMUS

JULIA

RASMUS

JULIA

RASMUS

JULIA

RASMUS

JULIA

RASMUS

JULIA

RASMUS

JULIA

RASMUS

JULIA

RASMUS

JULIA

RASMUS

JULIA

RASMUS

JULIA

RASMUS

JULIA

RASMUS

JULIA

RASMUS

JULIA

RASMUS

JULIA

RASMUS

JULIA

RASMUS

JULIA

RASMUS

JULIA

RASMUS

JULIA

RASMUS

JULIA UND RASMUS

DANK

JULIA

Als sie auf die Brücke rauffuhren, die das Festland mit den Inseln verband, schickte sie Isak eine SMS. »Von jetzt an im Flaschenpost-Modus. Kuss!«

Es war erst zwanzig nach acht, also entweder schlief er, oder sie waren dabei, das Auto zu packen, um dann auch wegzufahren. Aber später, wenn er es sehen würde, dann würde er irgendwas in der Art von »Go for Dalarö!« oder »Kuss!« zurückschreiben. Schwindelerregend.

Dass sie in einem Auto saß und mit einem Typen textete, der ihr Freund war, und dass dieser Freund Isak war. Dass sie ihm Sachen wie »Kuss!« schrieb. Dass sie gerade noch Mittsommer zusammen gefeiert hatten. Als ob das total normal wäre. Julia hatte sich noch nicht daran gewöhnt. Morgen hatten sie Zweiwöchiges. In diesen zwei Wochen hatten sie sich siebenmal getroffen, aber immer noch kribbelte es vor Aufregung, wenn sein Name auf dem Handydisplay auftauchte. Erst mal, weil er es war, und dann, weil er möglicherweise enttäuscht klingen könnte, oder noch schlimmer: verärgert, und weil er sagen könnte: »Wir müssen mal reden, richtig?«. Weil er alles kapiert haben könnte.

»Jetzt wird es vielleicht weniger.« Ihr Vater nickte zum Auto vor ihnen, das plötzlich über einen Meter weiterfahren konnte.

Es würde nicht weniger werden, und das wussten sie beide. Obwohl es Montag nach Mittsommer war und der Urlaub für viele sicher längst begonnen hatte, stand hier alles. Das sollte eigentlich niemanden mehr schockieren, vor allem nicht, wenn derjenige fünfzehn Jahre lang über die Skurubron gefahren war. Hier war immer Stau. Trotzdem hatte Papa darauf bestanden, dass sie im Morgengrauen aufstanden, um zeitig loszukommen. Soll heißen, genau zur morgendlichen Rushhour. Jetzt saß er da und seufzte abwechselnd und trommelte ungeduldig aufs Lenkrad, während sie sich im Halbmetertakt vorwärtsschoben.

»Kannst du damit nicht mal aufhören?«, bat sie. »Was soll eigentlich der Stress? Wir haben doch keinen Termin.«

»Ne, klar … Ich will einfach ankommen. Und dann müssen wir noch einkaufen, und …«

Julia sagte nichts, sondern versuchte ruhig zu atmen und sich nicht aufzuregen. Ließ den Blick über die Autos um sie herum wandern, über das Wasser, den Skurusund und die schlossigen Villen mit Ufergrundstück. Astrid wohnte auch in so einem Haus, das man von hier aus aber nicht sehen konnte.

Astrid ist scheißegal. Es sind Ferien. Freu dich. Denk an Isak. Mhm, supersüß. Denk an ihn.

»Muss dieses Jahr draußen irgendwas gemacht werden? Streichen oder so?«, fragte Julia.

»Doch, ich hatte vor, den Schuppen zu streichen.«

»Das kann ich machen.«

Ihr Vater sah sie erstaunt an. »Ach so? Ja, klar.«

Julias großer Bruder Arvid beklagte sich immer, dass ihre Eltern das Konzept Ferien nicht begreifen würden. Er hingegen tat das und wollte nicht »wie ein armer Irrer schuften«, wenn er mal frei hatte. Arvid fand, dass er und Julia, sowie sie draußen am Sommerhaus ankamen, mit einer anstrengenden Sache nach der anderen zugeknallt wurden.

»Ja, ich habe Lust, was zu arbeiten«, erklärte sie nun. »Holz hacken oder den Graben freischaufeln oder was in der Art. Wovon man hinterher richtig fertig ist.«

So fertig, dass man abends nicht mehr wach liegen und grübeln kann. Nicht einmal über eine supersüße Person. Man fällt einfach ins Bett. Der Zustand wäre so schön.

Ihr Vater nickte. »Wir finden bestimmt was von dem Kaliber.« Dann legte er ihr den Arm um die Schulter. »Fühlt sich doch trotzdem gut an, mal rauszukommen, oder, mein Schatz?«

Trotzdem. Er und Mama meinten, sie wäre enttäuscht. Und ja, das war sie schließlich auch, aber nicht wegen dem, was sie glaubten. Obwohl, schon wegen dem. Auch. Plus wütend. Plus Schnauze voll. Und traurig.

Der Plan war ja gewesen, dass Julias beste Freundin Karin diese Woche mitkommen sollte. Genau wie sie in den letzten sechs oder sieben Jahren mitgekommen war. In der guten alten Zeit, als das eine Tradition war, die keine von ihnen missen wollte, nannte Karins Vater das immer ihre »Sommerlagerwoche«. Zu Beginn des Sommers immer eine gemeinsame Woche in Julias Sommerhütte, bevor Karin mit ihrer Familie in Urlaub fuhr.

Jetzt, in der bösen neuen Zeit, war Karin keine beste Freundin mehr. Julia und sie hatten seit dem letzten Schultag nichts voneinander gehört, und nicht mal da hatten sie miteinander geredet. Karin hatte nur ein kurzes und pflichtschuldiges »Tschüss« von sich gegeben und war abgehauen. Ihr letztes wirkliches Gespräch hatte vor anderthalb Monaten stattgefunden, genauer gesagt, vor dreiundvierzig Tagen. Vier drei. Das war total krank. Noch nie zuvor hatten sie sich eine so lange Zeit nicht gesprochen. Andererseits hatte Julia auch noch nie einen Freund gehabt. Und definitiv keinen Isak.

Am Samstag war Karin für eine Woche Mallorca zusammen mit ihrer Mutter und ihrer neuen besten Freundin Astrid plus deren Mutter in ein Flugzeug gehüpft. Eine »Mädelstour« anstelle der Sommerlagerwoche. Die Reise war ein Geschenk dafür, dass Karin und Astrid die neunte Klasse abgeschlossen hatten, so hart gekämpft hatten, sich selbst so viel wert waren, bla, bla, bla. Julia hatte auch die Neunte abgeschlossen und hatte auch verdammt hart gekämpft, und sie war es sich vielleicht auch total wert, aber sie kriegte keine herrlichen Sommerreisen.

»Laut Vorhersage wird es angeblich mindestens eine Woche schön und warm, wir werden also bestimmt baden gehen können«, sagte ihr Vater in dem aufmunternden Ton, den er immer anschlug, wenn er nicht zu offensichtlich tröstend, sondern eher normal wirken wollte. Und als ob das mit dem Baden eine Aktivität wäre, die er sich jetzt im Auto ausgedacht hätte. Wow, da gibt es bestimmt einen Strand, und weißt du was, da könnten wir doch baden! Als ob sie das nicht jeden Sommer machen würden. Und als ob nicht alle in diesem Auto wüssten, dass das Wasser noch ein paar Wochen lang eiskalt sein würde. Da spielte es überhaupt keine Rolle, ob die Sonne schien, es würde vor Mitte Juli doch keine erträgliche Badetemperatur geben. Frühestens. Bis dahin blieb das Untertauchen mehr ein Überlebenstraining als ein herrliches Bad. Richtig herrlich baden – das machte man auf Mallorca.

»Hm«, knurrte Julia nur. »Sollen wir dann auch die Farbe für den Schuppen kaufen, oder gibt es die schon?«

»Wir müssen wohl welche kaufen.«

»Heute?«

»Wenn du gleich loslegen willst?«

»Will ich.«

»Siehst du, wie gut, dass wir früh losgefahren sind.« Er lächelte sie an. »Jetzt können wir nämlich noch bei Fredells vorbeifahren.«

Irgendwie fühlte es sich doch auch schön an, auf dem Weg nach Dalarö zu sein. Die erste Woche, sie und Papa. Nächste Woche fing Mamas Urlaub an. Normalerweise würde das Julia jetzt schon ungeduldig machen. Nur sie und die Eltern, zwei Wochen lang in der Hütte. Dem Ort, an dem nichts los war. Niemals. Man mähte den Rasen, reparierte irgendwas auf dem Grundstück oder am Haus, badete, grillte, las Bücher, döste in den Liegestühlen – oder drinnen auf den Sofas, falls es bewölkt war –, trank Kaffee, ging früh ins Bett. Und am nächsten Tag dasselbe von vorn. Und am übernächsten, und am überübernächsten. Jahr um Jahr. Keine Variation. Sie langweilte sich immer so schrecklich, wenn sie ohne Karin da war.

In diesem Sommer war es genau das, wonach sie sich sehnte. Sie hatte sich selbst dafür entschieden, jetzt mit Papa mitzufahren, anstatt zu Hause zu bleiben und auf Mama zu warten, die noch eine Woche arbeiten musste. Was könnte sie denn da schon tun? Rumsitzen und einsam die Wände anstarren? Da war es auf Dalarö viel besser.

Hazel Grace in Das Schicksal ist ein mieser Verräter sagt, dass sie sich in Augustus Waters auf dieselbe Weise verliebt hat, wie man einschläft. Erst langsam, und dann alles auf einmal. Bisher war Julia mit Isak in der langsamen Phase gewesen, und das war okay. Sie waren vollauf mit Schulabschluss, Fußballcamps und allen möglichen anderen Dingen beschäftigt gewesen.

Es machte nichts, dass die Dinge in der falschen Reihenfolge passierten, wenn man sie nur zurechtrückte, und darum ging es in diesem Sommer. Dalarö war der perfekte Ort. Lahmes Netz, alter, träger Trott und keine anderen Menschen, mit denen man was unternehmen konnte. Dieses Jahr nicht mal Arvid. Mit anderen Worten, fantastische Voraussetzungen, sich nach allem, was passiert war, erst mal zu entspannen und durchzuatmen. Anfangen, es zu verstehen. Und sich dann zu langweilen. Anfangen, Sehnsucht zu haben. Isak zu vermissen. Dann würde sie schon kommen, die richtige, echte, Alles-auf-einmal-Verliebtheit. Die rund um die Uhr bestehen blieb und nicht nur hier und da mal kurz aufblühte. Isak war nett, lustig und voll gut. Julia mochte ihn total gern. Das Einzige, was fehlte, war, verliebt zu sein. Aber das hier fühlte sich sehr nah dran an. Denn wenn es nicht passierte … Dann würde sie komplett allein sein. Kein Isak, keine Karin. Und Karin würde noch mehr recht kriegen. Julia war eine verdammte Bitch.

RASMUS

»Hast du das gesehen! Ha!« Rasmus’ Mutter winkte und zeigte aufgeregt in alle Richtungen, noch ehe sie überhaupt aus dem Auto ausgestiegen war. »Sieh nur!«

Die Hütte! Die Veranda! Der Rasen! Die Natur! Bäume und Büsche und alles! Vogelzwitschern! Blauer Himmel! Sonne!

Sie war komplett aus dem Häuschen, und einen Moment lang dachte Rasmus, sie würde vor Glück in Ohnmacht fallen.

»Es sieht genauso aus wie auf den Bildern. Oh, das hier ist jede einzelne Krone wert, das weiß man jetzt schon!«

Sie eilte zum Haus. Kriegte die Tür nach einigem Kämpfen mit dem Schloss auf, und dann ertönten weitere glückliche »Oh!!!« von drinnen.

Im späten Frühjahr war in ihrem Viertel eine Fassadenrenovierung angefangen worden. Alle Fenster und Balkontüren wurden mit Plastik zugehängt, und das würde auch fast den ganzen Sommer so bleiben. Vermutlich bis Mitte August. Wenn man wissen wollte, wie das Wetter war, oder ob es Morgen oder Abend war, dann musste man entweder eine Wetterapp bemühen, auf die Uhr schauen oder in den Hof hinausgehen. Eine Treppe runter. Rasmus hatte sich noch nie vorher Gedanken darüber gemacht, wie viel es ausmacht, ein Fenster zu haben, oder vor allem: keins zu haben. Hatte nicht begriffen, was für ein Luxus es war, die Vorhänge aufziehen zu können und direkt eine Menge über die Welt da draußen zu erfahren. Oder frische Luft reinlassen zu können.

Seine Mutter seufzte jeden Morgen und starrte hasserfüllt auf das Plastik, wenn sie in die Küche kam. Mal sagte sie »wie soll man das bloß aushalten«, mal »was denken die sich eigentlich dabei« und mal »das ist so schrecklich.« Dann nahm sie Sivan, ihre Katze, auf den Arm. »Du armes Ding. Bestimmt bist du auch traurig, oder, mein Schnäuzelchen?«

Rasmus hatte gedacht, die schlechte Laune würde vergehen, wenn sie sich erst mal daran gewöhnt hatten, denn was sollten sie sonst tun?

Ja, offensichtlich eine Sommerhütte mieten. Ein richtiges Haus auf dem Land. Auf einer Insel. Draußen im Schärengarten. Zwar konnte man die ganze Strecke dorthin mit dem Auto fahren, aber es lag draußen im Schärengarten.

Solche Ferien machten sie sonst nie. Sie kannten nicht einmal Leute, die Landhäuser auf Inseln hatten, die sie möglicherweise hätten besuchen können. Er konnte sich nicht erklären, wie Mama sich das jetzt hatte leisten können. Eines Tages im Mai kam sie plötzlich von der Arbeit nach Hause und knallte ein Papier auf den Küchentisch.

»So, jetzt! Drei Wochen ab Mittsommer gehört das uns!«

Fünfzig Quadratmeter, zwei Zimmer und Küche. In der Nähe vom Wasser. Dalarö.

»Ne, oder?«

»Aber hallo!«, erwiderte sie. »Man muss raussehen können, wenn Sommer ist, sonst überlebt man den Winter in diesem Land nicht.«

Er las noch einmal. »Okay … Aber sind solche Häuser nicht schweineteuer?«

»Eigentlich schon. Aber ich bin schließlich gut im Verhandeln.« Sie sah zufrieden aus. »Das gehört einer Kusine von Sussi bei der Arbeit, und die sind gerade dabei, sich scheiden zu lassen und können sich auf rein gar nichts einigen. Ich habe nicht auch nur die Hälfte von dem ganzen Gerede begriffen. Das Wichtigste ist aber, dass alles so schnell ging, und die Cousine hatte keine Lust, jede Woche Stress mit neuen Mietern zu haben, und so haben wir uns auf drei Wochen gedealt. Ich habe einen netten Freundschaftspreis bekommen.«

»Wow.«

»Oder?! Ich habe vor, die ganze Zeit dortzubleiben, auch wenn das Wetter schlecht ist. Stell dir vor, einfach rausgehen und morgens einen Kaffee auf dieser Veranda trinken. Oder baden gehen, wann man will. Oder einfach nur auf dem Sofa abhängen und das Tageslicht sehen.«

Sie klang voll episch, als sie alles beschrieb, was man tun konnte. »Und Sivan kann raus und rein laufen.« Sie nickte zu dem plastikverklebten Küchenfenster. »Das schlägt diese Sauna hier doch um einiges, oder? Willst du eine Weile mitkommen?«

Auf der einen Seite: in einer abgeklebten Wohnung in Hagsätra schwitzen. Im Grunde mit allen Kumpels und allem um die Ecke, aber … Auf der anderen Seite: sich in einer Schärengartenhütte befinden und vielleicht von Wellengluckern und frischen Winden durch das offene Schlafzimmerfenster geweckt werden. Oder vielleicht nicht richtig, denn es stand da ja nicht, dass die Hütte am Wasser lag, sondern nur in der Nähe. Aber in der Nähe war schon gut genug. Da im Grunde dann ohne Kumpel, aber das machte vielleicht nicht so viel aus. Vielleicht fast gar nichts?

»Ich komme auf jeden Fall ein paar Tage am Anfang mit, dann sehen wir weiter«, antwortete er.

Jetzt waren sie hier. Mit Tageslicht und Fenstern, die man öffnen konnte, und einer Veranda, die perfekt für den Morgenkaffee war.

Rasmus packte den Katzenkorb mit der laut protestierenden Sivan (sie hasste Autofahren genauso wie in dem Korb sitzen zu müssen), und ging hinter Mama her, um das Haus zu inspizieren.

Es war hüttig. Roch muffig. Komische Möbel, die nicht wirklich zusammenpassten. Typisch Sommerhütte eben.

Vom Eingang kam man in ein Wohnzimmer, wo das Sofa laut Mamas Beschreibung offenbar ein Schlafsofa war. In einer Ecke stand ein kleiner dicker Fernseher. Das Wohnzimmer ging in eine enge Küche über. Dann gab es noch ein Badezimmer mit Dusche. Und ein längliches Schlafzimmer mit einem Stockbett. Offensichtlich das Kinderzimmer, denn da stand ein Bücherregal mit einer Menge alter Spiele und Spielsachen und so. Vor dem Fenster ein Donald-Duck-Rollo.

»Perfekt, oder?!«, war Mamas Urteil zu allem. Ausgesprochen im immer gleichen übereifrigen Sag-dass-du-es-toll-findest-Ton, den sie draufhatte, seit sie von der Hauptstraße abgebogen und in die Umgebung mit den Sommerhäusern gefahren waren. »Willst du das Schlafzimmer? Ich kann das Sofa nehmen.«

Rasmus nickte. »Klar.«

»Oh, das wird alles so schön werden!« Sie umarmte ihn fest und knallte ihm einen lauten Kuss auf die Wange. »Und es ist so toll, dass du mitgekommen bist, Jasse! Jetzt werden wir uns einfach nur entspannen und genießen und das Geld nach Strich und Faden ausnutzen. Das haben wir wirklich verdient. Du vor allem. Lass uns mal das Auto auspacken, dann fahren wir und kaufen ein. Du hast doch bestimmt schon Hunger, oder?«

Sie drehte sich wieder dem Grundstück zu, machte eine ausladende Geste zu all dem Grün, dem blauen Himmel, dem Licht, den Düften. »Verstehst du?«

Sag, dass du es toll findest.

»Ne, wieso?«, fragte er gespielt verwirrt. »Was meinst du?«

JULIA

08:27 Uhr. Anfang okay. Für gut befundener erster Ausschlafmorgen auf dem Lande.

Sie hörte Papa da draußen rumklappern, also griff sie nach ihrem Pullover und Arvids alten Shorts. Die waren ihr zu groß, aber das war ja gerade schön daran. Echte Sommerklamotten.

»Muskelkater?«, erkundigte sich Papa, als sie rauskam.

»Bisschen.«

»Aber gut geschlafen?«

»Yes.«

Er nickte aufmunternd.

Sie waren so vorsichtig geworden, Mama und er. Vor allem er. Klar wussten sie, dass zwischen Karin und ihr was vorgefallen war, aber die Verhöre, die Julia erwartet hatte, blieben aus. Sie hatte gedacht, dass sie viel mehr fragen, und im schlimmsten Fall in dem Versuch, alles »wie immer« werden zu lassen, Karins gesamte Familie zum Abendessen einladen würden. Bis zu diesem Frühjahr hatten sie sich genauso normalanstrengend und ärgerlich verhalten wie alle anderen Eltern. Aber jetzt zeigten sie sich plötzlich seltsam hellhörig. Zum ersten Mal in fünfzehn Jahren schienen sie nicht nur zu merken, wenn sie über irgendwas nicht reden wollte, sondern es auch zu respektieren. Sehr seltsam, aber auch sehr schön.

Papa goss sich einen Tee auf und hielt ihr dann fragend den Topf hin. Auf Mallorca war sicher Frühstück draußen angesagt. Smoothie und Obstsalat in einem schicken Café. In den hübschesten neuen Shorts, versteht sich. So kickt man eine coole Mädelstour in Gang!

Julia kannte Papas Antwort schon, wenn sie so etwas hier vorschlagen würde. »Wir haben doch grade erst eingekauft. Was fehlt dir?« Oder: »Ja klar, ich kaufe Joghurt, dann kriegst du morgen einen Smoothie.« Also machte es gar keinen Sinn, was zu sagen. Genau wie es keinen Sinn gemacht hatte, zu fragen, ob sie mit nach Mallorca fahren dürfte. Astrid hatte Julia und Karin vor den Faschingsferien von der Reise erzählt und gesagt, dass sie die Wohnung von irgendwelchen Freunden haben könnten, superschön, große Fenster, Terrasse, am Meer, bla, bla. Sie hatte netterweise vorgeschlagen, dass Julia und Karin und ihre Mütter auch mitkommen könnten. Karin lächelte und machte total verknallt und angefixt oh wow!, und Julia versuchte dranzubleiben. Wie man das in so einer Lage muss. Sie sagte, sie würde klar zu Hause fragen, aber das hatte sie nicht getan. Sie wusste schon, welche bedauernde Miene ihre Mutter auflegen würde. »Nächsten Sommer vielleicht.« Soll heißen: Wenn Papa dann einen Job hat. Aber bis dahin: keine Auslandsreisen. Und eine Menge anderer Sachen auch nicht. Als Julia am nächsten Tag mit Astrid und Karin redete, sagte sie, dass sie nicht könnte, weil ihre Mutter in der Woche arbeiten würde. Was ja stimmte, aber das war natürlich überhaupt nicht der Grund, warum es stattdessen Dalarö wurde. Damals Astrids und Karins enttäuschte Gesichter. »Och, neee, wie schade.«

Die hatten doch wirklich enttäuscht ausgesehen, oder? Kein Fake?

Nicht, dass eine vermeintliche Enttäuschung irgendwas an ihren Mallorcaplänen geändert hätte. Julia hatte vielleicht erwartet, oder gehofft?, dass Karin ein bisschen zögern würde, wenn sie nicht mitkommen konnte. Aber nein, keine Rede davon.

Ein paar Tage später, als Julia und Karin allein waren, hatte sie Karin gefragt, ob sie Lust hätte, trotzdem im Sommer mit nach Dalarö zu kommen.

»Klar, aber das können wir ja später noch entscheiden«, antwortete Karin. Aber das Später war dann nie gekommen, obwohl Julia es noch ein paarmal angedeutet hatte.

Julia ließ einen Teebeutel in den Becher fallen und machte sich zwei Käsebrote mit Gurke. Einen Teller Dickmilch. Cornflakes. Ein paar Rosinen. Dasselbe alte, übliche Frühstück wie immer, sie in den alten Shorts ihres Bruders. So kickt man langweilige Hüttenferien in Gang.

Papa schob die Papiere beiseite, die auf dem Küchentisch ausgebreitet waren. Das war der eine seiner Sommerjobs: ein paar Artikel für irgendeine Loserzeitschrift mit knapp fünfzig Abonnenten fertigzuschreiben. Sein zweiter Sommerjob, der richtige, ging in ein paar Wochen los, da würde er in einer Wohngemeinschaft für Entwicklungsgestörte in Nacka arbeiten. Derselbe Ort, wo er schon während des letzten Jahres nebenher gearbeitet hatte. Während er die Ausbildung zum Bibliothekar machte. Es funktionierte einfach nicht mehr, nur freier Journalist zu sein, davon konnte man nicht leben. Die Bibliothek war sein Plan B. Weder Karins noch Astrids Eltern studierten, hatten Sommerjobs oder arbeiteten noch nebenher. Das sollte man ja auch eigentlich nicht mehr nötig haben, wenn man irgendwie vierzig ist. Astrids Mutter hatte nicht mal einen Job, weil Astrids Vater offenbar so viel verdiente, dass sie, seit die Familie vorigen Sommer aus London nach Hause gezogen war, nur »ein bisschen beratend tätig« sein musste. Das schien hauptsächlich darin zu bestehen, rumzuflanieren und frei zu haben, wann sie wollte, ohne sich auch nur im Geringsten Sorgen machen zu müssen.

Karins Eltern brauchten für ihre beruflichen Karrieren auch nicht gerade verzweifelt einen Plan B. Die mussten nur über Mädelstouren nach Mallorca nachdenken und wohin der große Sommerurlaub gehen sollte. Die Amalfiküste in Italien? Oder ein Inselhopping in Griechenland?

Das Einzige, was in Julias Familie im Sommer organisiert wurde, war die Anzahl Wochen, die sie ihre Sommerhütte vermieten mussten, um sie sich noch leisten zu können. Im Juli dann würde eine Familie mit Kindern aus Göteborg kommen. Vor Mittsommer hatte ein holländisches Rentnerpaar sie für zwei Wochen gemietet gehabt. Ihre Stammgäste. Die Holländer waren irgendwie zum fünften Mal hier. Gestern, als Julia den Arbeitsurlaub damit gestartet hatte, den Rasen zu mähen und die Gartenmöbel einzulassen, hatte ihr Vater gewaschen und nach den Gästen geputzt.

»Wie wäre ein Tag zum Ausruhen?«, fragte er. »Wir können mal runtergehen und die Wassertemperatur checken.«

»Nein, wir machen jetzt den Schuppen fertig. Das ist doch besser, oder? Wir wissen doch, dass das Wasser immer noch saukalt ist.«

Ihre Mutter sagte, sie würde sticken, um sich zu entspannen. Eigentlich war sie nicht wahnsinnig an Wandbehängen mit schlauen Sprüchen oder Paradekissen mit verschnörkelten Blumensträußen interessiert. Sie machte das, weil man an nichts anderes denken konnte, wenn man gezwungen war, Stiche zu zählen und auf Muster zu achten.

Das Streichen des Schuppens funktionierte ungefähr genauso. Man musste nichts rechnen, aber es war trotzdem unerwartet wirkungsvoll. Mit einem Pinsel in der Hand war es viel leichter, nicht in so Sachen zu versacken, an die man am liebsten nicht denken wollte. Ob Karin da auf Mallorca aufwachte und auch nur eine einzige Sekunde an Julia und Dalarö dachte. Ob sie von Isak gehört hatte und deshalb vor Zorn rauchte. Ziemlich gut möglich. Also, dass sie noch mehr rauchte, als sie es schon getan hatte.

Julia war es gestern gelungen, sich komplett von Insta fernzuhalten. Schon klar, dass da mindestens zehn Bilder von Mallorca waren, und das würde sie nur wahnsinnig machen. Karin und Astrid würden es so herrlich haben. Alles und alle würden das Allerbeste, Schönste und Wunderbarste sein. Alle außer Julia, denn die landete vermutlich unter das Schlimmste und Übelste. Wie lange konnte man wegen eines Jungen sauer sein? Bis August, wenn die Schule wieder anfing? Das ganze Jahr? Den Rest des Lebens?

Sie wünschte, dass es ihr weniger ausmachen würde. Dass sie aufhören würde, die Tage zu zählen, seit sie das letzte Mal miteinander geredet hatten, und stattdessen an andere Sachen zu denken. Zum Beispiel, mit Isak zusammen zu sein. Sich in ihn verlieben. Glücklich sein. Freude wählen. Sich über ein Zweiwöchiges mit ihm freuen, anstatt jeden Abend, an dem sich Karin nicht meldete, mit einem Kloß im Hals zu denken: »Okay, also noch ein Tag.« Und dann in einem Ewigkeitsloop mit all ihren Greatest Hits zu landen und wie cool sie es zusammen gehabt hatten.

»Ich will auf jeden Fall mit dem Schuppen weitermachen«, erklärte sie. »Aber geh du ruhig baden.«

»Ne, natürlich nicht«, erwiderte ihr Vater. »Dann machen wir weiter.«

Als sie nach der Mittagspause gerade wieder angefangen hatten, zeigte Julias Vater mit dem Pinsel auf die eine Ecke des Grundstücks.

»Ist das die von Myréns oder ein neuer Star?«

Eine grau-weiße Katze war neben ihrer Hecke angeschlichen gekommen. Sie zog eine Leine hinter sich her. Die von Myréns war schwarz-weiß, und Julia hatte sie noch nie angeleint gesehen.

»Neuer Star«, entschied sie und sah der Katze nach, als sie sehr bedächtig ein paar vorsichtige Schritte vorwärts machte. »Ob das eine Drinnenkatze ist, weil sie eine Leine hat? Wenn sie nun abgehauen ist?«

Sie tauschten einen Blick. Sollten wir …?

Nach einer lustigen Zusammenarbeit mit Überfällen aus mehreren Richtungen, Ablenkmanövern und einer schlauen Katze, die sich nicht so leicht reinlegen ließ, gelang es ihnen, die Leine zu packen. Julia hielt sie fest, und die Katze schob sich so weit wie möglich weg von ihr in die Hecke. Als sie versuchte, sie zu locken und sanft herauszuziehen, bewegte sie sich doch keinen einzigen freiwilligen Zentimeter, also machte Julias Vater sich auf, um den Besitzer zu finden. Als er zurückkam, war ein Typ bei ihm, den sie noch nie gesehen hatte. Definitiv kein Myrén, denn die waren schon fast in Rente, und ihre Kinder, die manchmal zu Besuch kamen, waren bestimmt um die dreißig. Und außerdem Mädchen. Dieser Typ hier war in ihrem Alter. Ein neuer Star.

Im vergangenen Jahr hatte sie vor der Entscheidung, auf welche Schule sie nach der Neunten gehen würde, eine Menge Gymnasiumsbroschüren und -webseiten durchgeschaut. Alle waren voller Fotos von fröhlichen und enthusiastischen Jugendlichen, die paarweise oder in Gruppen saßen und sich unterhielten und lachten. Alle schienen wahnsinnig glücklich darüber zu sein, sich in einem Laborsaal zu befinden, oder auch nur einen Stift halten zu dürfen. Habe hier auf einem Schulkorridor the time of my life!

Karin und sie versuchten immer herauszufinden, ob das auf den Bildern richtige Schüler waren, oder ob das Profibilder mit Fotomodellen von irgendeiner Agentur waren, die sich auf »normale Leute« spezialisiert hatte. Wenn es richtige Schüler waren, dann war doch seltsam, dass niemand mit einem bad-hair-day, hässlichen Klamotten oder jemand, der mehr indie war oder einfach nur müde, zufällig mit auf ein Bild geraten war. Keiner auf den Bildern hatte Pickel, Piercings oder in komischen Nuancen gefärbte Haare. Und natürlich war niemand fett. Alle sahen extrem in der Wolle gewaschen, nett und normal hübsch aus.

Dieser Typ hier könnte ohne Weiteres in eine solche Schulbroschüre passen. Das Einzige, was momentan nicht recht stimmte, waren seine Klamotten, denn er trug eine graue Adidas-Jogginghose. Vororthose oder Entspannen-auf-dem-Land-Hose? Für eine Schulbroschüre in jedem Fall das Falsche. Sein mittelblondes Haar war außerdem zu lang und schon an der Grenze zu indie. Es sah aus, als hätte er vor einem Monat den Friseurtermin verpasst. Jetzt war die Haartolle dabei, sich über die Augen zu schieben, und im Nacken lockte es sich auf eine etwas zu wilde Art. Aber wenn man das regelte und die Jogginghosen gegen Jeans austauschte, dann würde man ihn gut in einen Laborsaal schieben oder mit der Anweisung zu lachen und sich zu freuen an einen Schrank lehnen können.

»Hat sich die Ausreißerkatze hier versteckt?«, fragte er.

»Folge einfach der Leine.« Julia zeigte auf die Hecke und der Typ kniete sich hin, sodass er zwischen die Büsche schauen konnte. Auf der Oberseite seiner rechten Hand war etwas Gemaltes, das aussah wie eine Karte oder ein Labyrinth. Schwarze Striche, die von einem Mittelpunkt ausgingen. Einer ging ein Stück das Handgelenk hinauf, ein anderer schnörkelte sich um den Zeigefinger. Hier und da wurden sie von kleinen Bildern unterbrochen, sie konnte aber nicht richtig sehen, was die darstellten. War das eine Tätowierung? In dem Fall die ungewöhnlichste, die sie je gesehen hatte.

»Es ist unsere«, stellte er fest, nachdem er nachgeschaut hatte. »Hallo da drinnen, Sivan.«

Das waren offensichtlich die magischen Worte, denn die Katze kam sofort raus.

»Was für ein Abenteuer du da unternommen hast«, sagte der Typ mit sanfterer Kinderstimme. Er kraulte die Katze über Ohren und Rücken, und sie drückte sich ein paarmal gegen seine Hand, um sich dann auf den Rücken zu legen und die »Streicheln!«-Position einzunehmen. Der Typ gehorchte. Kraulte ihr den Hals und den Bauch. Es sah ein wenig grob aus, aber die Katze mochte es offensichtlich, denn sie schloss die Augen und schnurrte. Der Typ sah auch superzufrieden aus, und Julia musste sich mächtig zusammenreißen, um nicht in ein »oh noooh!« auszubrechen.

»Dann heißt sie also Sivan?«, fragte sie, um etwas anderes zu sagen. »Goldiger Name.«

»Für eine goldige Katze, ja«, sagte er und warf ihr einen auffordernden Blick zu. Dann lächelte er aber schnell und nahm Sivan auf den Arm. »Nett, dass ihr sie eingefangen habt. Vielen Dank.«

»Kein Thema«, antwortete Julias Vater.

Der Typ ging los, drehte sich nach ein paar Schritten aber um. »Sagt mal, ist das hier mit dem Netz völlig hoffnungslos, oder gibt es irgendeinen geheimen Ort mit vier Balken?«

»Der Steg«, antworteten Julia und ihr Vater im Chor. Papa zeigte nach links. »Du weißt schon, der kleine Strand hier unten in der Bucht? Da funktioniert es meistens, seltsamerweise.«

»Aha, okay.« Der Typ nickte. »Danke! Nochmals.«

»Wo wohnt er?«, fragte Julia, als er verschwunden war.

»Bei Fredde und Sanna«, antwortete Papa. »Er und seine Mutter. Und die kam mir irgendwie bekannt vor, aber ich komme nicht drauf, woher. Vielleicht geht sie ins Fitnessstudio?«

»Und die sind jetzt zu Besuch, oder haben sie es gekauft?«

»Nicht, soweit ich weiß. Vielleicht sind es Freunde.«

Julia sah den Weg hinunter. »Hast du gesehen, was er hier hatte?« Sie nahm ihre eigene Hand. »Was das war?«

Ihr Vater schüttelte den Kopf.

RASMUS

»Sag ruhig, wenn es Stammplätze gibt, denn jetzt hab ich gerade das Gefühl, bei euch geschnorrt zu haben.« Rasmus saß auf dem Steg, als das Nachbarmädchen ankam, und es war so offensichtlich, dass sie aus demselben Anlass dort war wie er. Einerseits, weil sie ihre Schritte direkt zum Steg lenkte, und andererseits, weil es gegen sieben Uhr abends war und die Luft kühl. Da wollte niemand mehr baden. Nicht einmal übereifrige, kälteunempfindliche Kleinkinder.

»Bisher ist alles in Ordnung«, sagte sie, und der Steg schaukelte ein wenig, als sie ihn betrat. »Aber wenn du plötzlich zehn Freunde einlädst … Exakt hier haben meine Familie und ich seit Hunderten von Jahren unsere Mails gecheckt. Da ist mein Platz, dort der von meinem Bruder. Das wissen alle

Sie machte ihre Stimme zittrig und alt und auch ordentlich aufgebracht, und Rasmus nickte.

»Meine zehn Freunde und ich versprechen zu gehen, sowie dein Bruder erscheint.«

»Gehen musst du nicht, aber es ist schon gut, wenn du gleich mal die Regeln kapierst. Auf dieser Insel ist es ein bisschen so, wie man früher gespielt hat, man muss sich an dieser Stelle hier drängeln, wenn man modern sein will. Aber er kommt erst im August hierher. Mein Bruder.«

»Okay.«

Sie sah ihn unverwandt an. »Ist das ein richtiges Tattoo?«

Das Mädchen zeigte auf seine Hand, und Rasmus schüttelte den Kopf.

»Nein, das ist nur Gekritzel. Mit Filzstift.«

»Was ist es denn? Ein Labyrinth oder eine Karte?«

»Ooch, irgendwas dazwischen. Ich weiß nicht, habe nicht genauer drüber nachgedacht.«

»Darf ich sehen?«

Er rückte ein bisschen näher, gleichzeitig tat sie das auch, und sie stießen fast zusammen. Landeten jedenfalls unerwartet dicht beieinander. Vielleicht zu dicht. Sie oh-entschuldigte sich sofort mit etwas roten Wangen, machte einen Ansatz, wieder ein Stück zurückzurutschen.

»Alles gut«, sagte Rasmus schnell und reflexhaft, wie man es üblicherweise tut, aber sowie die Worte seinen Mund verlassen hatten, wusste er schon, dass wirklich alles gut war. Seltsamerweise. Manche Menschen können zehn Meter entfernt stehen und sich unserer persönlichen Atmosphäre aufdrängen, andere sitzen fast auf einem und sind kein bisschen anstrengend.

»Die Brille«, erklärte sie und blieb sitzen. »Ich habe sie zu Hause vergessen.«

»Aha.« Er hielt die Hand noch ein bisschen weiter hoch. »So besser?«

Siehst du jetzt?

»H«, las sie auf dem Mittelpunkt. »Und das bedeutet …?«

»Hagsätra. Da wohnen wir.«

Sie saßen so nah beieinander, er im Schneidersitz und sie kniete, und ihre Knie berührten direkt sein Bein. Seinen Oberschenkel. So eine leichte und nicht störende, sanfte Berührung, die man wahrscheinlich vergessen und nach einer Weile nicht bemerken würde, wenn der Körper sich daran gewöhnt hat, und nicht mehr die ganze Zeit einen Haufen Gefühlssignale rausschickt, um Hallo!, zu signalisieren, pass mal auf, hier passiert was!

Er hatte über dieses Phänomen in Biologie gelesen, aber Rasmus erinnerte sich nicht mehr, wie genau das funktionierte oder wie lange es in der Regel brauchte. Er spürte nur, dass es in diesem Moment voll pulsierte, blitzschnelle Signale in vollem Strom von diesem Punkt auf seinem Oberschenkel. Keine Chance, sie zu vergessen. Ihr Knie, nur eine Lage Stoff entfernt, Hallo, das KNIE von jemand anders!

»Und dann fahrt ihr in die Sonne ans Meer auf D für Dalarö?« Er nickte und versuchte sich auf das zu konzentrieren, was sie sagte, und nicht auf das Pulsieren.

»Ääh … dass Urlaub Geld kostet?«, riet sie beim Dollarzeichen.

»Doch, schon, aber mehr, dass Mama von jedem Gehalt ein Los kauft. Gestern, als wir einkaufen waren.«

»Ne echt, hat sie gewonnen?« Das Mädchen sah ihn an, und ihr Knie war gleich noch etwas mehr zu spüren, als sie ihre Sitzhaltung änderte.

Nein, echt. Macht nichts. Bleib ruhig sitzen.

»Neiiin, niemals.«

Sie hatte eine Menge Sommersprossen auf Nase und Wangen und Oberlippe. Die hatten exakt dieselbe Farbe wie ihre Sonnenbräune und waren deshalb ziemlich unsichtbar, wenn man nicht genau hinsah. Oder so nah kam. Sie gingen weiter über den Hals, und – wie er vermutete – unter den Kragen ihres Fleecepullovers.

»Ein einziges Mal vor Ewigkeiten hat sie tausend Kronen gewonnen, aber ansonsten kriegt sie nur ab und zu mal ein Freilos«, erzählte er. »Gestern nicht mal das.«

»Schade. Aber warte ab, plötzlich passiert es.« Sie lächelte ihn an. Als er sie am Vormittag getroffen hatte, waren ihre Haare mit Klemmen zu einem Dutt locker hochgesteckt gewesen. Vielleicht eine Arbeitsfrisur. Jetzt waren sie frisch gewaschen, immer noch feucht und offen. Wenn sie ein bisschen vorgebeugt saß, fielen sie ihr ums Gesicht. Dunkelbraun und schulterlang. Halblanger Pony, den sie ab und zu hinter die Ohren zu schieben versuchte, der aber zu kurz war, um dort zu bleiben und deshalb sofort wieder nach vorn fiel.

Wie zeichnet man Shampooduftwölkchen? Fluffige Wölkchen, vielleicht? Mit guten Sachen darin. Blumen, Äpfel und Pfirsiche. Sodass man versteht, dass es keine Denkblasen sind.

Hoffentlich roch er nicht nach Schweiß. Nicht, dass er heute irgendwas Anstrengendes getan hätte, aber trotzdem. Die letzte Dusche war heute Morgen gewesen. Das fühlte sich hier neben ihr viel zu lange her an.

»Sivan?«, sagte sie zu der Tierpfote, die er zu zeichnen versucht hatte. Er hatte nur eine vage Ahnung davon gehabt, wie Katzenpfoten aussehen, und Sivan hatte in Sachen Detailstudium nicht mitarbeiten wollen.

»Die goldige Katze«, fügte sie hinzu, und Rasmus musste lächeln.

»Gut, dass du die Regeln schon verinnerlicht hast.«

»Das war nun nicht sonderlich schwer.« Sie sah ihn nicht an, als sie das sagte, aber ihr Lächeln war aus ihrer Stimme zu hören. »Warum wird es hier grün?«

Wenn er gewusst hätte, dass sein unstrukturiertes Gekritzel auf diese Weise inspiziert werden würde, dann hätte er ein paar interessantere Sachen gewählt, und entweder eine Karte oder ein Labyrinth gezeichnet. Und zuerst mal alles genau durchdacht. Nun hatte er gestern Abend beim Fernsehen nur auf gut Glück ein paar selbstverständliche und deshalb etwas langweilige Sachen hingeworfen. Kein Plan. Ein Strich zum Beispiel wurde mitten in allem grün, und das war wahrscheinlich, weil seine Mutter in dem Moment Kaffee gemacht hatte, weshalb er eine Pause einlegte. So in der Art.

»Ja, also …«, begann er. »Auf Frage A antworte ich ›weiß nicht‹. Ich sollte echt eine bessere Story haben, aber …«

»Die hast du doch.« Sie fing an aufzuzählen. »Hagsätra, die goldige Katze, das Los.«

»Schon, aber eine noch bessere. Ich habe überhaupt nicht darüber nachgedacht, was es werden sollte. Oder in welchen Farben.«

Er drehte den Arm herum, sodass sie den letzten Punkt auf dem unteren Teil des Handgelenks sehen konnte. Das war die einzige Sache, die ein bisschen smart war. Ein Drache. Im Grunde war der auch grün, und zufällig war er dem Bolibompa-Drachen aus dem Kinderprogramm sehr ähnlich geraten. Man könnte also meinen, er habe gestern Kinderfernsehen geschaut, doch das hatte er nicht, und das war auch nicht die Bedeutung des Drachen.

»Here be dragons?«, riet sie.

»Genau!«, rief er beeindruckt und erstaunt. »Dass du das verstanden hast! Ich meine, ich glaube nicht, dass so viele, also, dass die Leute das wissen, oder?«

»Leute? Hallo?« Das Mädchen verdrehte gespielt die Augen, um zu zeigen, dass man auf »Leute« sowieso nicht rechnen konnte, und dann lächelte sie. Sehr zufrieden. »Wie cool.«

warHic sunt dracones